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Bodo legte den ruhig gelesenen Brief langsam auf den Tisch, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schloß in tiefem Nachdenken die Augen, um die von dem verstorbenen Vater ausgesprochenen Wünsche in ihrer ganzen inhaltsschweren Bedeutung vor seinem innern Auge noch einmal vorüberziehen zu lassen. Nicht der eigentliche Inhalt des Briefes, der moralische Zwang, der ihm trotz des Vaters Versicherung vom Gegenteil darin auferlegt wurde, vielmehr der gänzliche Umschlag, der dadurch in seinem von der Heimat geträumten Stillleben hervorgebracht wurde, rief die erste Gärung in seinem Innern hervor. Jedoch auch diese ging sehr bald vorüber. Seine gute Natur warf alles seine Seele Belastende wie eine unbrauchbare Schlacke auch diesmal zur Seite und mit munterem Sinn griff er den unerwarteten Feind an, der die Harmonie seiner Gedanken und Gefühle gleich in den ersten Stunden nach seiner Rückkehr stören wollte.
Nachdem er den Brief noch einmal flüchtig angesehen, legte er die Hand darauf, als wollte er seine bösen Einflüsse damit niederdrücken, und sagte:
»Also er hat ein Testament gemacht, der gute Vater? So! Was soll das eigentlich heißen? Er hat nur einen Sohn zum Erben und hinterläßt ein Testament für den Fall, daß derselbe sich nicht seinen Wünschen fügt. So verstehe ich es, und nur so kann ich es verstehen. Sicher also hat er alte Verpflichtungen gegen die Familie seines Schwagers zu erfüllen; und denen muß ich meine Rechte, meine Interessen unterordnen. Nun gut, es sei so, ich füge mich – aber unter diesen Umständen darf ich mich jetzt noch nicht als Erben betrachten und keine Ansprüche hegen. Der Besitz meines Vaters ist noch unantastbar für mich, bis die Verhältnisse nach seinem Willen geregelt sind. Gut, das hatte ich zwar nicht erwartet, das ist nicht angenehm, aber es wird sich ertragen lassen. –
Doch was soll ich nun zu dem andern Punkte sagen, der Heirat? Ich soll also heiraten? Freilich, den Jahren nach bin ich reif genug dazu, aber trage ich auch Verlangen und Sehnsucht danach? Ich glaube nicht. Und wie denn, also auf Befehl soll ich eine mir auserwählte, mir bestimmte Dame heiraten? Ich, der ich mich niemals ohne innersten Widerspruch habe in die nackten Vorschriften und Befehle schicken können, die eine außer mir stehende Macht und Einsicht mir aufgedrungen hat? Der ich, um frei, unabhängig, mein eigener Herr zu sein, eine so schöne Stellung aufgegeben habe? Das ist ein Punkt, bei dem wohl überlegt sein will, ob ich ihn überhaupt vollbringen kann. Und wenn ich diese Dame nun nicht fände, wie mein Vater mir gesagt, nicht so liebenswürdig, so begehrenswert – wie dann? Soll ich sie trotzdem heiraten, nur um meines Vaters einziger Erbe und ein wohlhabender Mann zu sein? Ist denn reich und wohlhabend sein das einzige und höchste Gut auf Erden? Gibt es nicht noch ein anderes höheres Glück?« –
Er schwieg einen Augenblick still, und sein Kopf sank in tiefem Sinnen auf seine Brust hinab. Plötzlich aber erhob er ihn wieder und fuhr in lebhafterem Tone zu sprechen fort: »Nein, ich liebe die Weiber nicht: wenigstens so nicht, wie ich sie bisher kennen gelernt. Alle, alle, wie und wo sie mir entgegentraten, in Palästen und Hütten, waren wohl hübsch ausgestattete Puppen, aber keine Menschen; durch Künstelei und äußeren Zierrat begehrlich gemacht Spielzeuge, aber keine erhabene gediegene Schöpfung, wie sie der Mann an seiner Seite, seinem Herzen, seiner Seele liebt. – Und wird Clotilde von Grotenburg eine Andere sein, als ihre Schwestern aus der großen Welt? Ich glaube es kaum, nach allem, was ich von den Grotenburgs weiß. Nein, ich trage nicht einmal das Verlangen in mir, sie zu sehen, sie zu prüfen. Sie gefällt mir schon darum nicht, weil sie mir empfohlen wird, denn ein Weib, ein wirklich liebenswürdiges Weib, muß im eigenen, nicht erborgten Glanze an uns herantreten, wie das Licht aus der Wolke, wie der Quell aus dem Mutterschoß der Erde, es muß sich selbst empfehlen, dadurch, daß es uns erwärmt und erfrischt. O Vater, nein, nein, ich zürne Dir nicht, ich grüble auch nicht über Ursache und Wirkung nach, aber als ein Verhängnis, welches über mir schwebt und dem ich nicht entgehen kann, werde ich deinen Wunsch nicht betrachten, sondern als Mann werde ich überlegen und handeln, darauf verlaß dich, selbst wenn mir mein ganzes Erbe darüber zu Grunde gehen sollte. Ja, ja, so steht es mit mir, und ich freue mich, daß ich so rasch mit mir einig bin. Nun komme, was kommen will, ich bin für alles gerüstet!«
*
Obgleich Bodo von Sellhausen sich seine erste Nacht unter dem heimatlichen Dache angenehmer und wolkenloser vorgestellt hatte, so schlief er doch von Mitternacht an ruhig und ungestört bis zum fast hellen Morgen fort. Als er sich erhob, fühlte er nur eine gewisse Mattigkeit in seinen Gliedern und die gewohnte geistige Frische wollte ihm nicht gleich zu Gebote stehen.
Nachdem er sich angekleidet, trat er ans Fenster seines Wohnzimmers, das er schon behaglich durchwärmt fand, und zog den Vorhang auf. Aber da draußen in seinem lieben Tale hatte sich das klare Licht des Tages auch noch nicht durchgerungen, ein trüber Nebel lag auf Nähe und Ferne, und so blieb ihm die Aussicht ins Freie, wie die Zukunft seines Lebens, tief hinter rätselhaften Schleiern verborgen.
Er klingelte nach dem Frühstück und begab sich dann daran, seinen Koffer zu leeren und die gewohnte Ordnung in Kasten und Fächern herzustellen, was notwendig mit dazu gehört, wenn man sich daheim vollkommen behaglich fühlen soll. Bald darauf kam der Kaffee mit seinem Zubehör, und die aufwartende Magd, nachdem sie den »schönsten guten Morgen« geboten, fragte mit bescheidenem Wesen, ob der gnädige Herr wohl geneigt sei, den Verwalter zu empfangen, und zu welcher Zeit er den Besuch desselben befehle.
»Laß ihn recht bald kommen, Rieke,« erwiderte Bodo, nachdem er den Morgengruß zurückgegeben, »ich freue mich, Herrn Hinz bei mir zu sehen.«
Wenige Augenblicke später trat der Angemeldete ein, ein rüstiger Mann mit starkgebräuntem Gesicht, vollem blonden Bart und einer Miene, die sowohl aufrichtige Freude, seinen jungen Gebieter daheim zu begrüßen, wie respektvolle Ergebenheit gegen denselben verriet. Trotz des Wochentages erschien er im Sonntagsrock, und unter dem linken Arme trug er zwei große dicke Bücher, und in der rechten Hand einen schweren ledernen Beutel mit Geld.
»Guten Morgen, mein lieber Herr Hinz,« begann Bodo das Gespräch und reichte ihm leutselig die Rechte hin. »Da sind Sie ja – ah, legen Sie ab – dahin, da ist Platz – und nun, wie geht es Ihnen?«
Der Verwalter, durch diesen freundlichen Empfang seitens des für so vornehm gehaltenen Herrn höchst wohltuend berührt, legte Bücher und Geld auf einen Nebentisch und drückte herzlich und bieder die so lange hingehaltene Hand. Dann, nach wiederholter Aufforderung dazu, nahm er mit an dem Tische Platz und begann, nach Art treuherziger Landleute, eine Menge Fragen auszusprechen, die er, ohne eigentlich ihre Beantwortung abzuwarten, mit der Entschuldigung schloß, daß er nicht zu Hause gewesen, als der Herr Legationsrat so unerwartet auf dem Gute eingetroffen.
Bodo setzte unterdessen sein Frühstück fort, und unter gemächlichen Gesprächen über die nächste Vergangenheit, den verstorbenen alten Herrn, das Gut und dergleichen Dinge verstrich eine halbe Stunde sehr bald.
Da aber fielen plötzlich Bodos Blicke auf die großen Bücher, und er fragte: »Aber was haben Sie denn da für Folianten, mein lieber Hinz?«
Der Verwalter erhob sich sogleich, verbeugte sich ehrerbietig und entgegnete: »Nach Ihres Herrn Vaters Tode, Herr Legationsrat, habe ich die Bücher des Gutes wie schon in früheren Tagen geführt. Die eingelaufenen Gelder habe ich bis vorige Woche an den Sachwalter des gnädigen Herrn in B... abgeliefert, und nur die in diesem Beutel befindliche Summe ist von den letzten Marktverkäufen übrig geblieben. Ich komme nun, um Sie zu bitten, die Bücher mit mir durchzugehen, sich von deren Richtigkeit zu überzeugen und dann das Geld in Empfang zu nehmen, da ich nun nicht mehr nötig habe, dasselbe nach der Stadt zu bringen. O, ich bin recht froh, durch Ihre Ankunft meiner bisherigen Verantwortung überhoben zu sein, und hoffe, Sie werden bei genauer Prüfung finden, daß ich in Ihrer Abwesenheit meine Pflicht nach Kräften erfüllt habe.«
Bodo konnte die letzten Worte des ehrlichen Mannes nicht mehr abwarten, er mußte sich wie zufällig nach dem Fenster wenden, denn er fühlte selbst, wie eine leichte verräterische Blutwelle unwillkürlicher Erregung ihm aus dem Herzen in den Kopf stieg. Rasch aber bezwang er sich, drehte sich wieder herum und sagte zum größten Erstaunen des Verwalters:
»Mein lieber Hinz, behalten Sie Bücher und Geld einstweilen. Beides ist in den besten Händen, und tun Sie damit wie bisher. Ich übernehme das Gut erst am ersten August des nächsten Jahres, und bis dahin möchte ich mehr als Gast, denn als Herr desselben angesehen werden.«
Der Verwalter wußte nicht, ob er seinen Ohren trauen sollte und starrte den so seltsam Redenden verwundert an. Eine solche Mitteilung hatte er nicht im geringsten erwartet.
»Wie,« sagte er, wiederholt stockend, »höre ich recht? Sie wollen das Gut nicht von heute an selbst bewirtschaften, nicht die Bücher führen und das Geld einkassieren?«
»Nein, Hinz, Sie haben ganz recht gehört. Von meiner persönlichen Bewirtschaftung kann überhaupt noch lange keine Rede sein, denn ich will mich erst, hoffentlich mit Ihrem Beistande, zu einem praktischen Landwirt bilden, und dazu gehört, wie Sie wissen, Zeit. Fahren Sie also in Ihren Bemühungen, die ich dankbar anerkenne, ruhig fort, seien Sie wie bisher ein treuer Verwalter, und so führen Sie allein die Bücher und geben Sie das Geld dahin, wo es seither gesammelt ist.«
Der Verwalter konnte sich noch immer nicht von seiner Verwunderung erholen, da er indessen den Ernst und die Ruhe wahrnahm, mit welcher der Erbe seines ehemaligen Herrn seine Meinung aussprach, so blieb ihm nichts anderes übrig, als ihm Folge zu leisten, und so verabschiedete er sich nach einer Weile, um flugs Fräulein Treuhold aufzusuchen und ihr die unerhörte Neuigkeit zu verkünden: daß sich der Herr Legationsrat nicht als Herr von Sellhausen, sondern nur als Gast im Hause seines Vaters bekenne, was ja ganz schnurstracks allen ihren Erwartungen entgegenlaufe.
Die alte Dame, die den Verwalter mit den Büchern zu dem jungen Herrn hatte gehen sehen, schien durchaus nicht übermäßig verwundert, als sie ihn dieselben wieder zurücktragen sah und gleich darauf jene Mitteilung hörte. Allerdings nahm ihr ehrwürdiges Gesicht eine überaus verlegene Miene an, und sie errötete sogar, als sie sagte: »Das ist ja seltsam, Herr Hinz, Sie haben recht. Ja, aus solchen gelehrten Herren werde einer klug! Aber, wer weiß, warum er es tut? Er will sich gewiß erst unterrichten, und das kann man ihm so eigentlich nicht verdenken, denn er hat immer mehr mit der Feder und dem Kopfe in fürstlichen Schlössern gearbeitet, als sich um die Landwirtschaft und den Acker bekümmert. Behalten Sie also immer alles in den Händen, wie er sagt, und wenn er noch kein Geld braucht, so ist das ein Zeichen, daß er reichlich damit versehen ist. Doch – wir sprechen noch weiter darüber – ich muß jetzt in die Küche. Guten Morgen, Herr Hinz.«
Aber anstatt in die Küche zu gehen, ging Fräulein Treuhold von dem Hausflur, wo dieses Gespräch stattfand, in ihre Stube, setzte sich vor ihren Arbeitstisch ans Fenster und blickte still sinnend lange auf den Hof hinaus. Wenn sie jedoch erwartet hatte, der junge Herr werde sie an diesem Morgen aufsuchen und irgend ein Wort über das zwischen ihm und dem Verwalter Vorgegangene fallen lassen, um so auf das Thema zu kommen, was sie und ihn gewiß in gleichen Maße beschäftigte, so hatte sie sich getäuscht. Der Legationsrat verließ an diesem Morgen sein Zimmer nicht, er saß am Schreibtisch und schrieb Briefe nach allen Richtungen der Welt hin. Als es aber endlich gegen mittag ging und die alte Dame doch einiger Befehle inbezug auf die Anordnungen des Mittagstisches zu bedürfen glaubte, sandte sie wieder die Stubenmagd ab, um dem gnädigen Herrn die notwendigen Fragen vorzulegen. Rieke kam alsbald zurück und berichtete, der gnädige Herr schreibe noch immer, er habe aber den Wunsch ausgesprochen, wie es im Hause Sitte sei, mit Fräulein Treuhold und Herrn Hinz in dem gewöhnlichen Eßzimmer zu speisen.
Punkt ein Uhr kam er auch herunter und fand die beiden an dem Mahle Teilnehmenden schon seiner harrend in demselben vor. Er begrüßte die Hausdame sehr freundlich, jedoch, wie es schien, mit einiger Zurückhaltung. Bei Tische selbst war er etwas stiller, als am Abend zuvor, fast wie in früheren Tagen, wenn er bei seinem Vater zum Besuche war und dieser das Wort bei Tische führte. Jedoch legte er in Mienen und Blicken eine besondere Herzlichkeit an den Tag, wenn sein scharfes Auge einmal auf seine Nachbarin fiel.
Gleich nach Tische zog er sich wieder zurück, schrieb abermals und ging dann ein wenig im Garten spazieren, wo man teilweise den Schnee weggeschaufelt und die großen Wege gangbar gemacht hatte, wie es der alte Herr, da er noch lebte, gern sah und zu halten pflegte. Abends kam er wieder zum Tee herunter, sprach jedoch nur wenig und zog sich frühzeitig zur Ruhe zurück.
Am nächsten Tage, es war Sylvester, zeigte der Himmel ein heiteres Antlitz. Die Sonne schien strahlend hernieder, und auch die Luft war nicht zu kalt und völlig windlos. Am Morgen verließ der Legationsrat sein Zimmer nicht, er stand lange am Fenster und betrachtete unablässig und mit froher Miene das weite, schneegefüllte, prächtig im Sonnenglanze blitzende Tal. Nachmittags machte er einen weiten Spaziergang. und als er dann zurückkehrte, lud er sich zum Abend bei Fräulein Treuhold zu Gaste, nachdem diese ihm verkündet, daß Herr Hinz nach einem benachbarten Gute geritten sei, um die festliche Nacht bei seiner daselbst verheirateten Schwester zuzubringen.
O, wie hoch klopfte der alten Dame bei der freudigen Aussicht das Herz, mit ihrem lieben jungen Herrn die letzten Stunden des Jahres ungestört zu verleben und ihn bei einem Glase Punsch über den Brief seines Vaters reden zu hören! Gewiß war er in den beiden schweigsamen Tagen mit sich darüber zurate gegangen, warum wäre er denn sonst so nachdenklich und stumm gewesen? Daß sie aber nun sein Vertrauen genießen und dasselbe gewiß nach Kräften erwidern würde, das stand bei ihr fest, und darin sollte sie sich denn auch nicht täuschen. –
Der Silvesterabend war gekommen, der Verwalter hatte das Gut verlassen und die Knechte und Mägde saßen bei ihrem festlichen Gerichte und einer Bowle Punsch in der Gesindestube, wie das auf Sellhausen seit langen Jahren so üblich war. In dem Gemache der alten Dame aber stand der Tisch mit schneeigem Linnen gedeckt, das Wasser siedete im silbernen Kessel, die leckeren Speisen waren aufgetragen und alle zum Punsche notwendigen Ingredienzen standen dienstbereit nahe zur Hand.
Mit beinahe fröhlichem und ganz heimatlichem Gesicht trat der Legationsrat bei der Haushälterin ein, begrüßte sie herzlich und nahm dann gleich seinen alten Platz in der Sofaecke wieder ein. Aber je länger er weilte und je lebhafter sie ihn mit verschiedenen Dingen zu unterhalten bemüht war, um so stiller und nachdenklicher wurde er wieder. Als aber das Abendbrot endlich beseitigt und die ersten Gläser mit dem duftigen Trank gefüllt waren, schlug er plötzlich die Arme vor der Brust zusammen, sah die alte Dame ernst, doch freundlich an und sagte mit ungemein liebreichem Tone:
»Fräulein Treuhold!«
»Herr Legationsrat – was befehlen Sie?«
»Ich befehle nichts, ich wünsche nur mit Ihnen ein paar ernste Worte zu reden und bitte um Ihr altes Wohlwollen aus früherer Zeit. Wollen Sie mir das schenken?«
»O, wie herzlich gern, mein lieber gnädiger Herr!«
»Nun gut. Es ist gerade heute die geeignetste Stunde dazu, der letzte Tag im Jahre, der einen wichtigen Lebensabschnitt für mich schließt und einen vielleicht noch wichtigeren heraufdämmern läßt. Lassen Sie mich denn offen zu Ihnen sprechen. Ich weiß, daß mein Vater Ihnen in vielen Dingen sein Vertrauen geschenkt hat, und Sie sehen mich jetzt auf dem Wege, ihm darin nachzuahmen. Sagen Sie mir nun aufrichtig: ist sein Vertrauen zu Ihnen so weit gegangen, daß er mit Ihnen über den Inhalt des Briefes gesprochen hat, welchen Sie mir vorgestern überreichten?«
Die alte Dame, mit einer so direkten Frage angegriffen, errötete bis in ihre schwarze Halskrause hinein, wandte sich verlegen hin und her und brachte endlich mit einer zustimmenden Kopfbewegung ein zitterndes »Ja!« hervor.
»So. Also Sie wissen, daß er ein Testament gemacht hat für den Fall, daß ich seinen Wünschen inbezug auf die Grotenburgsche Familie nicht nachkomme?«
»Ach ja, Herr Legationsrat, das weiß ich leider.«
»Kennen Sie auch die Motive dazu?«
»Auf mein Gewissen, nein, die kenne ich nicht. Ein so großes Vertrauen habe ich bei Ihrem Herrn Vater nicht besessen, daß er mich in die Falten seines Herzens hätte blicken lassen. Das würde mich auch mehr beängstigt als befriedigt haben.«
Bodo sann einen Augenblick mit ernstem Gesichte nach; ganz allmählich aber verwandelte sich der Ausdruck desselben in ein stilles Lächeln, und endlich sagte er, mit seiner Uhrkette spielend: »Aber daß er mich verheiratet zu sehen wünschte, das wissen Sie doch?«
»Ja, o ja, gnädiger Herr, das weiß ich sehr wohl, und diesen seinen Lieblingsgedanken hat er oft genug ausgesprochen.«
»Ah! Und Sie haben ihm darin lebhaft beigestimmt, nicht wahr? Denn dem weiblichen Geschlecht soll es ja ein so großes Vergnügen gewähren, allerorten, wo es geht, Ehen auf Ehen zu stiften –«
»Gott soll mich bewahren!« fuhr die alte Dame heftig auf. »Was denken Sie von mir! Ich gehöre nicht zu den Frauen, die ein leidenschaftliches Verlangen danach tragen, Ehen zu stiften. Im Gegenteil. In diesem Punkte hat mich auch Ihr Herr Vater nie um meine Meinung gefragt, obgleich er die seinige oft und nach allen Seiten entwickelte, da er in Sorge zu sein schien, ob Sie auch dem mit dem Herrn Baron von Grotenburg verabredeten Plane beistimmen würden.«
»Ah, nun ja, das glaube ich, es ist auch eigentlich ein seltsames Verlangen. Jedoch, gehen wir darüber hinweg. Sagen Sie mir lieber, was Sie von der Sache halten, oder vielmehr, was Sie meinem Vater geantwortet haben, als er Ihnen diesen Plan mitteilte.«
Fräulein Treuhold senkte ihren Kopf tief auf das vor Verlegenheit ergriffene Strickzeug und erwiderte ausweichend, vielleicht aus Zartgefühl für ihren jungen Herrn, vielleicht auch aus einem andern Grunde: »Das, ach, das erlassen Sie mir zu sagen, gnädiger Herr.«
Der Legationsrat lächelte noch auffälliger als vorher. Er hatte schon längst die Meinung der alten Dame erraten, dazu war er Menschenkenner genug, und die Miene seiner Gefährtin, die gewissermaßen auf Dornen saß, war verräterisch genug, um die Gefühle ihres Herzens durchschimmern zu lassen. »Nun,« fuhr er fort, »wenn Sie mir nicht sagen wollen, was für eine Meinung Sie meinem Vater gegenüber vertraten, so sagen Sie mir wenigstens, was für eine Ansicht Sie in bezug auf mein zukünftiges Glück haben. Sie wollten mir ja Ihr altes Wohlwollen erweisen – ich erinnere Sie jetzt an Ihr Versprechen.«
Die alte Dame fühlte, daß sie dem scharfen Beobachter nicht gewachsen sei, der ihr gegenüber saß. Sie seufzte wiederholt schwer auf, der Schweiß trat ihr in klaren Perlen vor die Stirn, und sie rückte auf ihrem Platze hin und her, da sie um die geforderte Antwort verlegen war.
»Herr Legationsrat,« sagte sie endlich, indem sie mit flehender Geberde beide Hände zusammenschlug und gegen ihn erhob, »ich möchte Ihnen gern mein ganzes Wohlwollen, wie Sie es nennen, oder vielmehr meine Zuneigung erweisen, aber – die Antwort auf diese Frage erlassen Sie mir, gehen Sie lieber selbst zum Baron Grotenburg hin und sehen Sie sich die junge Dame an. Wenn Sie dann zurückkehren, sagen Sie mir Ihre Meinung und dann, ja dann bin ich vielleicht imstande, Ihnen auch die meine zu sagen.«
Bodo sann einen Augenblick nach, dann sagte er, wieder von neuem lächelnd: »Aha, Sie sind eine schlaue Diplomatin, Sie wollen nicht mit der Sprache heraus und wünschen lieber andere zum Sprechen zu bringen. Ich kenne das. Aber gut, Ihr Vorschlag ist annehmbar. Ich werde mir die Dame ansehen – indessen, von Ihrem Urteil kommen Sie nicht los, ich gebe etwas darauf!« setzte er mit so freundlicher Miene hinzu, wie er sie an diesem Abende noch nicht gezeigt. – »Damit wir aber nicht ganz von dem Gegenstande abweichen,« fuhr er fort, »so erzählen Sie mir von dem Vater der Dame und seinen Schwägern, die beiden andern Barone aus unserer Verwandtschaft. Wie leben diese Herren jetzt und – gerade herausgesagt – welchen Ruf genießen sie in der Umgegend?«
Die alte Dame atmete frisch auf, sah ihren lieben jungen Herrn ehrlich an und sagte dann mit natürlichem Freimut: »Herr Legationsrat, Sie führen mich aus dem Regen unter die Traufe. Sie müssen mir nicht lauter Gewissensfragen vorlegen. Auch über die Herren Barone kann ich Ihnen meine Meinung ebensowenig sagen, wie über Fräulein Clotilde. Es sind sämtlich Ihre Verwandte, und ich weiß, was sich Ihnen gegenüber von meiner Seite schickt. Ich kann nur meinen Rat wiederholen: besuchen Sie die Herren Barone selbst und überzeugen Sie sich mit eigenen Augen von ihrem Verhalten. Sie sehen besser, schärfer und gründlicher als ich, verlassen Sie sich darauf – ich habe soeben eine kleine Probe davon gehabt.«
Bodo von Sellhausen reichte seiner alten Freundin die Hand, ergriff dann sein Glas und hielt es ihr entgegen. »Kommen Sie her, liebe Treuhold,« sagte er mit einer bis in ihre tiefste Seele dringenden Stimme, »Sie meinen es gut mit mir, das sehe ich ein, und wissen sich Ihre Stellung zu wahren. Das ist recht von Ihnen, und ich achte Sie deshalb umsomehr. Ich will nie etwas von Ihnen hören, was Sie mir nicht mit gutem Gewissen sagen können. Auch liegt noch kein Grund dazu vor, entscheidende Fragen an Sie zu richten, jedoch wird die Zeit dazu nicht ausbleiben. Ich gedulde mich gern und leicht, denn in dieser Tugend habe ich mich oft und lange geübt. Ja, ich werde die Herren Barone besuchen und dabei auch die mir zugedachte Dame in Augenschein nehmen. Aber das hat durchaus keine Eile. Ich bin nicht hierhergekommen, um mich alsobald auf Freiersfüße zu stellen und den Leuten zum Gegenstande ihrer Neugier und ihres Zeitvertreibes zu dienen. Ich will mich vielmehr von langer und schwerer Arbeit ruhen, in meinem Vaterlande mich heimisch machen, begonnene Arbeiten in vollkommenster Muße beenden, mich auf meinen neuen Beruf vorbereiten und – gerade herausgesagt – hauptsächlich mir selbst leben. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß ich dem Wunsche meines Vaters nicht nachkommen will, die Dame wenigstens zu sehen, die er mir so warm empfohlen hat, allein bevor meine Trauerzeit nicht vollständig abgelaufen ist, werde ich keinen Schritt dazu aus dem Hause tun.«
»Wie lange dauert denn Ihre Trauerzeit?«
»Sechs Monate, also von jetzt an noch bis Ende Mai.«
Fräulein Treuhold fuhr fast erschrocken auf. »Das ist ja sehr lange,« rief sie aus, »oh! Nun wohl, ich begreife Sie wohl, aber die Leute hier herum werden Sie nicht begreifen, und namentlich die Herren Barone werden darüber ein lautes Geschrei erheben.«
»Das ist mir ganz einerlei. Um die Meinung, noch weniger um das Geschrei der Leute habe ich mich nie bekümmert, wenn ich recht handelte. Und hier handle ich recht, nach meinem Gefühl, nach meiner Einsicht, nach meinem Gewissen.«
»Gewiß. Aber der erste August rückt dann sehr schnell heran!« wagte die alte Dame mit niedergebeugtem Kopfe halblaut zu sagen.
»Lassen Sie ihn immer schnell heranrücken. Um so besser. Aber zwischen Mai und August liegen drei Monate. In drei Monaten kann man sich hinreichend verlieben – wenn es sein muß,« setzte er lächelnd hinzu. »Nicht wahr?«
»Ja freilich!« Und beide stießen darauf mit laut klingenden Gläsern an, wünschten sich schon im voraus ein glückliches neues Jahr, reichten sich die Hände und sprachen, bevor sie sich trennten, wohl noch eine volle Stunde über gleichgültige Dinge, deren Mitteilung wir unsern Lesern ersparen können.
*
Wie der Legationsrat gesagt, so handelte er in der Tat. Er bewies nur zu deutlich, daß er keine Eile habe, die erwähnten Besuche bei den vornehmen Nachbarn seines väterlichen Gutes abzustatten, und ebensowenig zeigte er irgend ein Verlangen, die ihm zugedachte Braut kennen zu lernen. Wenn man nach seinem äußeren Verhalten urteilen wollte, so schien er sogar ihre Existenz und den dringenden Wunsch seines Vaters vergessen zu haben, denn nicht ein einziges Mal im ganzen Verlauf des nächsten Winters kam er im vertraulichen Gespräch mit der alten Hausdame wieder darauf zurück. Ob er im stillen seinen Gedanken darüber nachhing, können wir nicht behaupten, ohne Zweifel aber befand sich sein Gemüt in dieser ganzen Zeit in der größten Ruhe, niemals war eine innere Hast oder Aufregung an ihm wahrzunehmen, und niemals merkte man ihm den Wunsch an, daß sein gegenwärtiges Stilleben eine andere Wendung nehmen möge, was bewies, daß er damit von ganzem Herzen zufrieden war.
Diese Zufriedenheit können wir uns sehr gut erklären. Er hatte in seinem bewegten Leben an verschiedenen Glanzpunkten der zivilisierten Welt einen so lebhaften Verkehr mit den bedeutendsten Menschen unterhalten, war in ununterbrochener geistiger Anstrengung seinen vielseitigen Pflichten nachgekommen, daß ihm eine Pause, verbunden mit innerer Sammlung, wohl erwünscht und angenehm sein mußte. Wer, der ein gequältes Leben geführt, hätte nicht Ähnliches schon an sich selbst empfunden! Selbst die glänzendste Existenz, wenn sie, wie so oft, mit großen Aufregungen verbunden ist, erschöpft am Ende auch die gediegenste Kraft, und das Sehnen nach Ruhe wird um so unwiderstehlicher und notwendiger, je länger die Spannung der geistigen Kräfte angedauert hat.
Bodo von Sellhausen war in Wahrheit von seinen bisherigen Erlebnissen übersättigt, ohne jedoch dadurch für fernere friedliche Genüsse und edle männliche Bestrebungen abgestumpft zu sein: der Wirrwarr des großen Weltlebens, die Leidenschaften der Menschheit, das unablässige Brausen des nie stille stehenden Schwungrades der Zeit und der politischen Ereignisse hatten seine Lebensgeister ermüdet, und mit einer wahren Begier zog er sich aus dem berauschenden Chaos der Politik und Diplomatik in sein stilles ländliches Asyl zurück.
Hier indessen gab er sich keineswegs einer völlig tatlosen Ruhe und allein dem Genusse seiner leiblichen Bedürfnisse hin; dazu war er viel zu sehr an Tätigkeit gewöhnt, und sein innerlich rastlos fortstrebender Geist besaß Spannkraft genug, sich sogleich mit Ausdauer und Erfolg auf anders Felder menschlicher Tätigkeit zu werfen.
Vor allen Dingen benutzte er die ersten Wochen des neuen Jahres dazu, seiner ausgebreiteten Korrespondenzpflicht nach allen Seiten zu genügen und mit seinen fernen Freunden den bisherigen Verkehr in gewohnter Weise auf schriftlichem Wege fortzusetzen.
Sodann schrieb er seine letzten Erlebnisse getreulich nieder, um auch in Zukunft sich derselben bewußt zu bleiben und sie zu anderweitigen Studien nutzbar zu machen.
Hatte er dann den halben Tag fleißig am Schreibtisch gesessen, so trat er, selbst bei scharfem Wind, Kälte und Schneegestöber einen weiten Spaziergang an, von dem er dann erfrischt in seine behaglich durchwärmte Wohnung zurückkehrte, die er trotz aller Vorstellungen seitens des alten Fräuleins beibehalten hatte, indem er sich alle fernere Umstände verbat und die großen Zimmer des oberen Stockwerks, als für ihn überflüssig, wieder schließen ließ.
Abends verkehrte er viel mit dem Verwalter, besprach die vorliegenden landwirtschaftlichen Verhältnisse, las die besten Schriften über den Landbau und bemühte sich so mit allen Kräften, fürs erste wenigstens theoretisch zu lernen, was das nächste Frühjahr und der Sommer ihn praktisch lehren sollten.
Die Zwischenstunden brachte er auch bisweilen mit dem Auspacken und Betrachten des Inhalts verschiedener Kisten zu, die rechtzeitig auf Sellhausen eingetroffen waren und Sammlungen umfaßten, die von seinem Sinn für Kunst und Geschichte und einer weisen Benutzung seines Aufenthalts in so schönen und reich damit gesegneten Ländern Kunde gaben. Aber bei weitem nicht alle gesammelten Gegenstände konnte er auspacken und aufstellen, dazu boten seine Zimmer bis jetzt keinen Raum, und die großen Gemächer seines Vaters mochte er nicht benutzen, so lange er kein definitives Recht auf den Gebrauch derselben besaß.
So ging ihm die Zeit überaus schnell und angenehm vorüber, und er wunderte sich oft selbst, wenn er das Datum eines Tages niederschrieb, daß sie so flüchtig sein könne und eigentlich verschwinde, ohne sichtbare Spuren ihres weisen Gebrauchs hinter sich zu lassen.
Ein Wunsch, den er von Tage zu Tage lebhafter zu hegen begann, ward ihm durch unvorhergesehene Umstände versagt. Er wäre gern nach der Stadt gegangen und hätte den Sachwalter seines Vaters aufgesucht, um mit ihm über seine persönlichen Verhältnisse Rücksprache zu nehmen, indem er voraussetzen konnte, daß dieser sie am genauesten kenne und vielleicht einige Worte fallen lassen würde, die ihm Licht über das Dunkel gaben, worin er sich bis zum ersten August befand. Allein dieser Besuch ward ihm dadurch abgeschnitten, daß der Justizrat Möller in einer wichtigen Erbschaftsangelegenheit eines seiner Klienten nach England gereist war, wo er voraussichtlich längere Zeit festgehalten wurde. Diese Nachricht überbrachte eines Tages der Verwalter Hinz, nachdem am Abend vorher von dem Besuche des Legationsrats in B... die Rede gewesen war.
Auch dem Meier zu Allerdissen konnte der zugedachte Besuch nicht abgestattet werden. Dieser eifrige Landwirt, der gleichwohl auch auf anderen Gebieten des Lebens sich gern erging, pflegte einige Wintermonate in irgend einer Residenz zu verleben oder eine weitere Reise anzutreten und das war auch in diesem Jahre geschehen. Wie man zeitig genug auf Sellhausen erfuhr, war er Anfang Januars zu seinem Sohn gegangen, der die landwirtschaftliche Akademie zu Eldena besuchte, jedoch erwartete man ihn im März zurück.
Frau Birkenfeld, die reiche Witwe aus der Cluus endlich, der Bodo sich vorzustellen für eine seiner nächsten Verpflichtungen hielt, war niemals im Winter auf ihrem Landsitze anwesend. Sie reiste in Süddeutschland bei mehreren Bekannten umher, hielt sich in den kältesten Monaten in Meran oder sonst wo auf und pflegte erst in ihre Heimat zurückzukehren, wenn die Bäume grün wurden und die Blumen aus der warmgewordenen Erde sproßten.
So waren dem einsamen Bewohner von Sellhausen die weiteren Ausflüge in die Umgegend zu näheren Bekannten versagt, da er die drei Barone absichtlich beiseite ließ. Bisweilen unternahm er einen tüchtigen Ritt in das Innere des kleinen Ländchens, blieb jedoch nie eine Nacht aus und kehrte immer pünktlich mit dem dämmernden Abend zurück.
Da kein eigentliches Reitpferd auf dem Gute vorhanden war, – denn der alte verstorbene Herr hatte nur zwei steife Rappen zu Wagenpferden für sich benutzt, von denen der eine jüngst seinem Alter erlegen, der andere aber im Stalle das Gnadenbrot erhielt, – so benutzte Bodo anfangs das Pferd des Verwalters zu diesen Ausflügen. Da dieser es aber selbst häufig gebrauchte, suchte der Erbe sich einen der besten Ackergäule heraus, ließ ihn etwas manierlich zustutzen und ernannte ihn zu seinem Leibroß, zum Verdruß des Verwalters, der ihm alle Tage anlag, ein schmuckes Pferd zu kaufen, wozu Geld genug vorhanden sei, wie er ganz im Stillen mehrmals gegen Fräulein Treuhold äußerte.
Bodo aber lehnte dieses Ansinnen auf das Entschiedenste ab. Der dicke Braune genüge ihm, sagte er, und wenn man sich über das etwas ländliche Aussehen desselben hier oder da wundern wolle, so stehe das jedermann frei. Er für seine Person liebe es nicht, die Menschen und Dinge nach ihrer äußeren Erscheinung zu beurteilen: wenn man ihn aber entgelten lassen wolle, daß sein Vater keine Vollblutpferde gezogen, so sei ihm das auch einerlei, er unterwerfe sich willig allen Meinungen, die man vor seiner näheren Bekanntschaft von ihm hegen möge.
Dergleichen Äußerungen hörten der Verwalter und Fräulein Treuhold sehr häufig von ihm, und nicht selten wurden sie von ersterem als einen eigentümlichen Stolz verratend ausgelegt, während die alte Dame sie für einen schlagenden Beweis seiner Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit hielt.
Beide mochten in ihrer Art recht haben, denn stolz in einem Sinne war Bodo von Sellhausen, aber es war dies jener edle erträgliche Stolz, der nicht aus beschränkter Überhebung über andere, sondern aus dem instinktartigen Bewußtsein des eigenen Werts entspringt und mit welchem sich die anspruchslose Bescheidenheit und Beschränkung in den sogenannten kleinen Dingen des Lebens so wohl verträgt.
Bodo von Sellhausen war überhaupt kein Kleinigkeitskrämer, wie es so viele große und kleine diplomatische Köpfe der Jetztzeit sind. Seine Gedanken waren stets nur auf das Ganze gerichtet, und für das eigentliche Detail des Lebens hatte er wenig Sinn und Geschmack. Immer ernst, gediegen und bestimmt in seinen Anschauungen, ließ er andere großmütig ihre Kraft im Kleinen verschwenden und bekümmerte sich nur dann um sie, wenn sie seinen Weg kreuzten und ihm als Gegner oder Freunde gegenüberstanden.
Eine einzige Vorliebe – um auch hier seinen Sinn für ein gewisses Detail zu schildern – besaß er indessen doch, und diese betraf eine freundliche Ausschmückung der von ihm bewohnten Räume. Fräulein Treuhold erstaunte alle Tage mehr, wenn sie in seiner Abwesenheit seine Wohnung betrat und dieselbe völlig umgestaltet und mit dem früheren Aussehen gar nicht mehr in Vergleich zu stellen fand. Nicht allein hatte sie durch Aufstellung kostbarer Bücher, durch schöne Gemälde, kleine Statuen und sonstige Kunstgegenstände gewonnen, sondern auch ein reichlicher Vorrat herrlicher Blattpflanzen auf einem eigens herbeigeholten Blumentische schmückte sie vorteilhaft aus. Diese Pflanzen hatte der Blumenfreund aus dem Treibhause des Vaters hierher bringen lassen, und diese Aneignung ihm noch nicht gehörigen Eigentums – wie er selbst es nannte – hatte er nur nach langem Kampfe mit sich selber ins Werk gesetzt, eine Aneignung, die ihm jeder, selbst der skrupulöseste Rechtsmann, verzeihen konnte, wenn er sie auch selbst in seinem fast überzarten Gewissen für eine Überschreitung des ihm zustehenden Rechtes hielt.
So verging der Winter allmählich äußerst ruhig und doch geschäftsvoll, ohne daß man merkte, wo die kurzen Tage, die kalten Nächte und die stürmischen Winde blieben, und namentlich Fräulein Treuhold war noch kein Winter so rasch vergangen wie dieser. Hierzu wirkte gewiß ihre innere Sorge mit, wie sich alles in Zukunft auf Sellhausen gestalten werde, denn dieser Gedanke beschäftigte sie unablässig, begleitete sie in den Schlaf und erwachte am hellen Morgen mit ihr, und ohne daß sie sich dessen bewußt war, ließ sie für ihren geliebten jungen Herrn eine Zärtlichkeit und Hingebung blicken, wie sie sie selbst gegen seinen alten Vater nicht entwickelt hatte.
Hierzu trug indessen, wir müssen es offen gestehen, die Liebenswürdigkeit ihres jetzigen Herrn das meiste bei, wenn das gute Herz der alten Dame auch an und für sich schon Lob genug verdiente. Denn Bodo legte zu jeder Zeit nicht allein eine große Achtung, sondern auch die mildeste Freundlichkeit an den Tag, wenn er in nähern Verkehr mit ihr trat. Er hatte sich unglaublich schnell an ihre Gesellschaft und Unterhaltung gewöhnt, und selten versäumte er eine Gelegenheit, sich ihr gefällig und unterhaltend zu erweisen. Namentlich abends kam er oft auf ein Stündchen in ihr trauliches Zimmer herunter und plauderte, während er den Tee bei ihr einnahm, über allerlei, was er den Tag über vorgenommen und getrieben hatte. Dabei wußte er so überaus anschaulich und lehrreich von seinen Reisen und Erlebnissen zu erzählen, daß das Fräulein oft die Stunde nicht erwarten konnte, bis er kam, und wenn er einmal ausblieb, was gewiß nur wichtige Beschäftigungen verschuldeten, blieb sie den ganzen Abend traurig und einsam auf ihrem Sofa sitzen, seufzend und klagend, daß sie nicht Anziehungskraft genug besitze und viel zu langweilig sei, einem so unterrichteten Mann eine begehrenswerte Gesellschaft zu bieten.
Wenn so die Bewohner von Sellhausen in tiefster friedlicher Stille einen Tag wie den andern verlebten und sich nur mit sich selbst und ihrer nächsten Umgebung beschäftigten, die Welt da draußen aller fast vergessen zu haben schienen, so war die letztere durchaus nicht geneigt, es ebenso zu machen, vielmehr bot sie alles auf, mit scharfen Blicken in das rätselhafte Dunkel des herrschaftlichen Hauses zu dringen und die etwa darin vorgehenden Ereignisse nach allen Seiten hin zu erforschen und sich nach ihrer eigenen Einbildung zurecht zu legen.
Kaum hatte Bodo von Sellhausen seines Vaters Schwelle überschritten, so wußte es auch schon die ganze Nachbarschaft und erwartete nun mit wachsender Ungeduld den Augenblick, wo der junge Erbe sich ihr vorstellen und in seinem vollen Glanze zeigen würde, um nicht allein außer, sondern auch im Hause selbst die gastlichen Pflichten eines Landedelmannes zu erfüllen.
Als dies nun in den ersten Tagen nicht geschah, überlegte man sich die Ursache davon und war großmütig genug, sich nicht übermäßig darüber zu wundern und dem müden Reisenden eine kurze Frist notwendiger Erholung zu gönnen. Als jedoch Wochen auf Wochen vergingen, ohne daß der Herr Legationsrat sich irgendwo blicken ließ, schüttelte man mit bedeutungsvollem Augenzwinkern die Köpfe, seufzte und stöhnte aus übervollem Herzen und klagte sich gegenseitig seine Not, daß die junge Welt gegenwärtig aus der Art geschlagen sei und nicht mehr wisse, was Anstand und Sitte in der höheren Gesellschaft erfordere.
Aber die Verwunderung der Herren und Damen sollte einen noch höheren Grad erreichen, als sogar Monate vergingen und der Legationsrat niemanden die für Schuldigkeit gehaltene Aufwartung machte. Da bedurfte es denn nur einer einzigen verwandtschaftlichen Zusammenkunft – eines sogenannten Familienrates – und – der Stab über den Schuldigen war gebrochen, man stieß ihn schon im Geiste aus den Reihen der beleidigten Familie, man überschüttete ihn mit den heftigsten Vorwürfen, nannte ihn wie früher hochmütig, eingebildet auf nebensächliche Vorzüge und verschwor sich, auch nicht mehr die geringste Notiz von ihm zu nehmen, selbst wenn er jetzt kommen und mit diplomatisch kluger Rede fern maßloses Verhalten bemänteln sollte.
Nichtsdestoweniger aber fuhr man insgeheim fort, alle seine Schritte zu beobachten, vor allen Dingen die erreichbaren Dienstleute, Mägde und Knechte auszukundschaften und zu fragen: was er denn tue, womit er sich die ungeheuer langweilige Zeit vertreibe und ob er etwa erst seine Muttersprache wieder lerne, um mit seinen Landsleuten in standesgemäße Konversation zu treten?
Was man indessen erfuhr, war nur von sehr geringer Bedeutung, denn daß er schrieb, sonst arbeitete, spazieren ging und ritt, hatte man sich schon lange selbst gesagt, nachdem man durch den Augenschein erfahren, daß er nicht, wie man anfangs geglaubt, krank sei. Denn auf seinen weiten Ritten hatte ihn dieser oder jener aus der Ferne gesehen, aber doch nicht aus solcher Ferne, um nicht den zu Hause mit allen Ohren Lauschenden erzählen zu können: der rätselhafte Legationsrat sehe ganz wie ein gewöhnlicher Mensch aus, er habe eine sehr hochmütige naseweise Miene, sitze aber leidlich gut zu Pferde, obgleich er sich keinen arabischen Hengst mitgebracht, sondern nur ein ganz gemeines aufgeputztes Ackerpferd reite.
So war denn »das orientalisch Wundertier«, wie man ihn in gewissen Kreisen liebevoll genug nannte, seinen Verwandten geschildert, und so widerwärtig diese Schilderung auch ausgefallen war, so hinderte sie doch nicht, daß bald der eine, bald der andere »Vetter« oft bis ganz in die Nähe seines Besitztums ritt, um – aus purer menschenfreundlicher und vetterlicher Neugierde – des seltsamen Mannes nur auf einen Blick habhaft zu werden, was denn auch, wie wir bald sehen werden, einer der interessantesten Hauptpersonen auf eine ganz eigentümliche Weise – mißglückte.
So war denn allmählich allen Beteiligten der März und April verstrichen, ja der Mai war schon mit jugendlichem Hauch und Reiz auf die Erde eingezogen, als die Sachen immer noch standen, wie wir sie eben geschildert haben. Endlich aber sollte denn doch die Periode der Ruhe und Zurückhaltung ihr Ende finden, und Fräulein Treuhold war dazu auserkoren, den Zauberbann zu lösen, der auf ihrem entschiedenen Liebling lag.
Eines Abends, am Ende des Mai, als es eben maimäßig regnete und Menschen und Vieh unter die schützenden Dächer des Gutes gezogen waren, saß Bodo von Sellhausen bei der Hausdame am Fenster und blickte schweigend nach dem grünen, aber jetzt stillen Hofe hinaus.
Fräulein Treuhold, noch in der dämmrigen Stube ohne Licht sitzend, war zuletzt in immer steigender Unruhe um ihren Besuch herumgegangen, denn länger konnte sie ihre Gefühle nicht verbergen, und die Lippen wollten nicht mehr zurückhalten, wovon das Herz zum Überlaufen voll war. Endlich faßte sie einen kühnen Entschluß, nahm ein Strickzeug – ihre stete Aushilfe in der Not – setzte sich ihrem Herrn gegenüber und sagte, das freundliche Auge voll gegen ihn aufschlagend:
»Herr Legationsrat, Sie sitzen so still und nachdenklich da – darf ich mir 'mal ein Wort zur rechten Zeit zu reden erlauben?«
Bodo wandte den Kopf schnell nach der alten Dame und sagte freundlich: »O, o, so reden Sie doch, ich warte schon lange darauf, denn daß Sie fast vor Eifer brennen, mir eine recht tüchtige Strafpredigt zu halten, habe ich Ihnen längst angesehen.«
»Mein lieber Gott,« antwortete sie, von dieser Erwiderung überrascht und doch schnell sich fassend, »Sie sind im Grunde ein gefährlicher Mann, Herr Legationsrat. Ich glaube, Sie zählen auch zu denen, die das Gras wachsen hören können, und man braucht Ihnen eigentlich nichts zu sagen, da sie Alles, was man sagen will, im Voraus wissen.«
Bodo lächelte auf seine alte milde Weise und entgegnete dann: »Nun, was Sie mir jetzt sagen wollen, weiß ich allerdings, aber lassen Sie es mich aus Ihrem Munde hören, vielleicht wirkt es dann umso besser.«
» Wirken? Ja, wirken soll es, Herr Legationsrat, das ist allerdings meine Absicht. Und nun lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich der Meinung bin, es wird nun bald Zeit, daß Sie einmal wieder an Ihre Besuche denken, zumal ja auch Ihre festgesetzte Trauerzeit vorüber ist.«
Bodo wurde sehr ernst, als sie dies mit eindringlicher Stimme sprach, entgegnete aber überaus sanft: »Ja freilich, die Trauerzeit ist vorüber, und ich habe schon recht oft an meinen Vorsatz gedacht.«
»Aber warum gehen Sie nicht? Einmal muß ja doch der Anfang gemacht werden, und der Mai ist lange da, sogar bald zu Ende. Denken Sie doch an – an den ersten August.«
»Ich denke gewiß daran, aber schweigen Sie davon still. Je näher die Zeit kommt, um so mehr wird mir schon der Gedanke an diese Besuche zuwider, wie viel mehr nicht sie selbst.«
Die alte Dame seufzte über den schwer beweglichen Mann. »Ich glaube es wohl,« erwiderte sie, »aber den Meier zu Allerdissen könnten Sie doch wenigstens besuchen, er ist schon lange zurück. Auch habe ich nur deshalb nicht mehr dazu getrieben, weil er mein Verwandter ist und Sie denken könnten, ich begünstige ihn.«
»Ich verstehe Sie, doch das hätte ich gewiß nicht gedacht. Aber ich will Ihnen sagen, warum ich mich nicht entschließen kann, mein stilles Haus zu verlassen und in die Welt zurückzutreten. Sehen Sie, ich kenne das. Bin ich erst einmal draußen gewesen und mit mir eigentlich fremden Menschen in Berührung geraten, dann bin ich mir selbst entrissen. Ein neuer Strudel umgibt mich, zieht mich in Gott weiß was für Abgründe und hin ist Ruhe, Wohlsein und Frieden, denn die gibt es da draußen nicht.«
»O, aber beim Meier ist auch Ruhe, Wohlsein und Frieden. Der Mann wird Ihnen besser gefallen, als Sie denken.«
»Ich glaube es, Liebe, aber mich hält ein seltsames dunkles Gefühl von jeder Annäherung zurück. Von der Welt, die ich jetzt bewohne, weiß ich, was sie mir bietet, von der Welt, die außer mir liegt, sagt mir niemand etwas Gewisses, und ich bin zum ersten Mal in meinem Leben von einer gewissen Besorgnis befallen. Doch, freilich, das ist am Ende nur Einbildung, ich glaube es selbst. Und Einbildung ist Schwäche – und schwach darf der Mann nicht sein. Da haben Sie es, Sie sind meines Schicksals Stimme gewesen, und ihr will ich folgen, mag es gehen wie es will. Also wohlan denn, es ist beschlossen: morgen gehe ich zum Meier zu Allerdissen und dann – dann ist der Anfang gemacht. Gott mag ihn zum guten Ende führen!«
»Ja, das mag er!« rief die alte Dame in freudiger Aufregung und drückte ihrem Liebling, zum Danke, daß er ihren Bitten nachgegeben, herzlich die Hand.