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Pirsch auf den Feisthirsch

Der Juli geht seinem Ende zu, und mit feurigem Rot verblüht auf den Bergen der Almrausch.

Das Hochwild trägt seit Wochen schon sein lichtbraunes Sommerkleid, die Geweihbildung ist der Vollendung nahe, und allabendlich halten die guten Hirsche mit Einbruch der Dämmerung ihren regelmäßigen Auszug auf die weiten, lichten Schläge, um durch die reiche, kräftige Asung, die sie hier finden, tüchtig ›Feist‹ unter die ›Decke‹ zu bringen. Ein paar Wochen noch, dann sind die Enden des Geweihes ausgeschoben, und stattlich prangt die zackige Krone. Aber je mehr das Geweih sich verhärtet und der die Stangen umkleidende ›Bast‹ ins Trocknen und Welken gerät, desto scheuer und vorsichtiger werden die Hirsche, desto mehr verspätet sich mit jedem Abend ihr Auszug, desto früher ziehen sie bei grauendem Morgen wieder zu Holz – als wüßten sie, daß die Vollendung ihres Hauptschmuckes den Beginn der ihnen drohenden Gefahr bezeichnet.

Wenn dann der Jäger am frühen Morgen sein Revier begeht, findet er nur noch die frischen, alle Wege kreuzenden Fährten. Lauschend und spähend zieht er weiter; da gerät es ihm wohl manchmal, daß er aus dem nahen Dickicht ein gedämpftes Rascheln und Klappern vernimmt, das er leicht zu deuten weiß, und einmal steht er plötzlich stille, ein vergnügliches Schmunzeln auf dem sonngebräunten Gesicht. Er steht vor dem ersten, frischen ›Bschlachter‹, vor einem jungen Fichten- oder Lärchenstämmchen, an dem in der Nacht ein Hirsch ›geschlagen‹ – und dazu noch ›a ganz a guter‹ – das deuten die hochgebrochenen Zweige an, das verrät an dem Stämmchen die Höhe und Länge der Stelle, von der in Fetzen die zerfegte Rinde niederhängt, während Schweiß und Basthaar an dem kahlen Holze kleben.

Die Fegezeit ist im Gange – mit dieser Meldung steigt der Jäger ins Tal. Und nun beginnt die Jagd auf den Sommerhirsch, auf den richtigen Feisthirsch.

Diese Jagd wird selten mit Treibern geübt, da der Hirsch in der Feistzeit leicht ›vergrämt‹ ist und durch jede allzu laute Beunruhigung veranlaßt wird, seinen Standort zu verlassen und auf lange Wochen zu verschwinden, der Kuckuck weiß, wohin. Nur ausnahmsweise, wenn etwa der Jagdherr selbst oder ein hoher, mit besonderen Privilegien ausgestatteter Jagdgast im Bezirke weilt, werden kleine, isoliert liegende Bestände ›geriegelt‹. Während der Jäger zumeist allein oder in Begleitung nur weniger Treiber, mit schlechtem Winde, d. h. bei solchem Winde, der vom Jäger gegen den Stand des Wildes zieht, den ›Bogen‹ unter Vermeidung jedes lauten Geräusches ›angeht‹, indem er langsam den ihm wohlbekannten Wildwegen folgt, die in der Jägersprache ›Riegel‹ oder ›Wechsel‹ heißen – währenddessen hat der Schütze seinen Stand in der Nähe der Stelle, an welcher der unter bestem Winde liegende ›Hauptwechsel‹ aus der Dickung mündet. Da mag es dann wohl geschehen, daß der im Bogen ›bestätigte‹ Hirsch, nachdem er vor dem nahenden Jäger munter geworden, ziemlich vertraut dem Schützen vor die Büchse trollt, um den Schuß zu empfangen und nach kurzer Flucht verendet hinzustürzen in das vom quellenden Schweiß sich rot färbende Gras. Aber nur selten ist der Erfolg ein so günstiger wie bequemer. Gar häufig schlägt solch ein schlauer gewitzter Recke dem Schützen ein Schnippchen, indem er hart am Saume des Dickichts ›umschlägt‹ oder gleich von Anfang an den Jäger unbekümmert an sich vorüberläßt, um lautlos auf den Rückwechsel auszukneifen. Oder es ist der Hirsch vor dem Jäger allzu ›munter‹ geworden; dann geht's mit Brechen und Rauschen durch die Büsche, wie ein Husch über die schmale Lichtung – und während der Hirsch in rasender Flucht, das Geweih tief in den Nacken drückend, zwischen schützendem Gezweig verschwindet, bohrt die nachgeschickte Kugel ein schnell vernarbendes Loch ins Blaue. Ist aber die Kugel dennoch flüchtiger gewesen als die Flucht des Hirsches, dann trägt er zumeist einen schlechten Schuß davon, einen Weidwund- oder Schlegelschuß, und da setzt es nun eine langstündige mühevolle Suche mit dem angeriemten Schweißhund oder eine den ganzen Bezirk beunruhigende Hetze, bis der Hirsch gefunden oder gestellt ist – wenn er überhaupt zur Strecke gebracht wird und nicht ungefunden in einem verlorenen Winkel des weiten Bergwaldes verendet. Doch wenn auch der Erfolg ein günstiger ist, so mag bei solcher Jagd doch nie die rechte Weidmannsfreude sein.

Die weidgerechteste Jagdart zur Feistzeit ist jene, die den ruhigsten, sichersten Schuß ermöglicht: der Ansitz vor dem abendlichen Auszug, der Ansitz und die Pirsche vor dem Einzug bei grauendem Morgen und die ›Trapfhirsch‹ nach einem starken Gewitterregen, nach dem sich alles Haarwild von den ›trapfenden‹ Büschen und Bäumen aus dem Dickicht auf die Schläge treiben läßt, um sich draußen ›abzubeuteln‹ und in der warmen, hell durch die Wolken brechenden Sonne das nasse Fell zu trocknen.

Der ruhigste, sicherste Schuß – das war vorerst nur vom Standpunkt des praktischen Jägers gesprochen. Aber auch der Naturfreund findet bei dieser Jagdart seine beste Rechnung. Ein solcher steckt ja schließlich in jedem richtigen Jäger, und so kommt es – man mag die Grammatik der Jägerei von Anfang bis zu Ende durchblättern –, daß jedem edleren Wilde gegenüber jene Jagdart als die weidgerechteste gilt, die mit der sichersten Erlegung den reichsten, mannigfaltigsten Genuß der Natur und ihres Tierlebens vereinigt.

Und welch ein Hochgenuß, so hinauszuziehen in Berg und Wald, wenn nach Sturm und Wetter sich der Himmel klärt, wenn in der Ferne dumpf die Donner verrollen, wenn der letzte Entscheidungskampf der Wolken um die Zinnen der Berge wogt, wenn ein kräftiger Erdgeruch, vermischt mit süßem Blumenduft, die Lüfte füllt und die ganze Natur so recht von Herzen aufzuatmen scheint in Erquickung und Frische! Oder vor Anbruch des Tages die gemütliche Hütte zu verlassen und hineinzuschreiten in die stille Dämmerung, wenn fern über den westlichen Bergen die letzten Sterne erlöschen, wenn im Osten das wachsende Frühlicht in farbigen Bändern emporschwimmt über den Himmel, wenn der Tau wie ein grauer, seidenartig schimmernder Schleier über allem Grunde liegt, wenn die steigende Helle in den zahllosen Tropfen, unter denen sich die schlanken Gräser tief zur Erde neigen, ein buntes Glühen und Blitzen weckt, wenn aus Bäumen und Büschen sich die ersten schüchternen Vogelstimmen hören lassen und wenn der volle Tag erwacht in seiner leuchtenden Glorie! Und welchen Reichtum an stillen Reizen bietet am Abend das stundenlange Verweilen an einer Stelle, wo dem Jäger zu Häupten sich die wild zerrissenen Felsen über den Bergwald türmen, während ihm zu Füßen das tiefe Tal gebettet liegt in sanfter Schönheit! Dieser Reichtum erschöpft sich nicht und wird nicht ausgenossen, da er mit jedem Abend sich neu erzeugt in neuer Form. Jeder einzelne Abend hat seinen eigenen Reiz, jeder andere ein anderes Gesicht.

Da wär' es auch ein vergebliches Unterfangen, den wechselnden Reiz solcher Abende in ein typisches Gemälde fassen zu wollen. Ich muß an einen bestimmten Abend denken, den ich droben in den Bergen verbrachte.

Ich weilte damals seit einer Woche auf der Herrenrointhütte, die auf einem weit in das Königsseer Tal hinausgebauten Vorberg des Watzmann gelegen ist. Abend für Abend hatte ich vergeblich des guten Hirsches gewartet, der über dem Kaltenkellerschlag in einer steilen Dickung seinen Standort hatte. Nun war's am zehnten August. Während des Vormittags war ein Gewitter über die Berge hingegangen, ohne recht zum Ausbruch zu kommen. Aus den im Kreise treibenden Wolken rieselte den ganzen Tag hindurch ein dünner Regen nieder. Schon gab ich den Abend verloren; doch unerwartet, gegen sechs Uhr, ließ der Regen nach, die Wolken klüfteten sich, und mit goldigen Strahlen spielte die sinkende Sonne über den Berghang. In rosigster Laune und in der sicheren Erwartung, daß solch ein Abend den Hirsch zu zeitlicherem Auszug veranlassen würde, suchte ich gegen sieben Uhr auf dem nur wenige Minuten von der Jagdhütte entfernten Schlag mein altes Plätzchen auf. Das lag auf dem Abhang eines kleinen, den weiten Schlag beherrschenden Hügels. Eine weiche Moosplatte diente mir zum Sitz, während ein schräger Felsblock eine bequeme Lehne bot. Hoch emporgeschossene Gräser, ein junges Fichtenbüschlein und niedere, schwach belaubte Ahornstämmchen, die mir zu Füßen aus dem steinigen Grund stiegen, gaben mir gute Deckung, ohne den Ausblick zu hemmen. Auch der Wind ließ nichts zu wünschen übrig; scharf zog er über die steile Dickung nieder. Mit sachten Bewegungen richtete ich mich in jägermäßigem Sinne häuslich ein. Ich zog das Fernrohr auf und lehnte es an den Felsblock; den Bergstock schob ich senkrecht vor mir in die Steine, um ihn als Stütze des Fernrohrs gleich parat zu haben; das kleine Doppelglas, das in der Dämmerung, wenn dem Fernrohr das Licht schon ausgegangen, noch gute Dienste tut, steckte ich lose in die rechte Joppentasche und legte die Büchse in Bereitschaft über das Knie. Dann kreuzte ich die Arme und schickte die Augen auf die Reise.

Tiefer Schatten lag schon auf dem weiten Schlag und der steilen Dickung, über deren höchste Wipfel der schroffe Riesenzacken des Watzmann, noch sonnbeschienen, majestätisch herunterblickte. Graue, vielgestaltige Schattenbilder überhuschten seine Wände, wenn die leichten Nebel oder die schweren, von goldenen Tönen behauchten Wolken im Winde über seine Zinne trieben. In jagender Eile überflog das zerrissene Gewölk den mir zur Linken in unsichtbarer Tiefe liegenden Königssee und mischte sich in die wogenden Nebelmassen, die alle Kuppen der jenseitigen Berge noch verschleiert hielten. Aber mehr und mehr mit jeder Sekunde hob sich da drüben der Nebel, weiter und weiter wuchs am Himmel das Blau, und bald lag wolkenlos und in sonniger Pracht die ganze herrliche Felsenkette vor meinen Augen gebreitet, von dem gezahnten Grat des Hohen Göhl bis zu den plumpen Felskolossen der Fundenseetauern, hinter denen in hoher Ferne die scharfen Spitzen der Teufelshörner aufwärts stachen über das blendend weiße Schneemeer der übergossenen Alm.

Nur ungern trennte sich mein Blick von dem leuchtenden Bilde, um zurückzukehren auf den schattendunklen Grund zu meinen Füßen. Und da bekam ich gleich eine Mahnung, daß es an der Zeit wäre, die Augen bei der Sache zu halten. Kaum hundert Schritte unter mir war eine Rehgeiß mit ihrem Kitz auf den schmalen Wiesenfleck getreten, mit dem sich der Schlag zu meiner Rechten in die Dickung spitzte. Fleißig äsend zog das Kitzlein über das Gras; die Geiß aber hielt die großen dunklen Lichter auf mich gerichtet. Halb die Augen schließend, saß ich regungslos – und da schüttelte sie endlich die ›Lauscher‹ und begann zu äsen. Die Sache mochte ihr aber doch nicht ganz geheuer dünken, denn wieder ›sicherte‹ sie windend, um dann plötzlich mit kurzen Fluchten in das Dickicht zu verschwinden, wohin ihr das Kitzlein nach einigem Zögern in sichtlicher Verwunderung folgte.

Lächelnd atmete ich auf und ließ die Blicke nach allen Winkeln des weiten Schlages streifen, über dessen üppigen dunkelgrünen Kräuterwuchs in wirrem Wechsel die braunen Baumstöcke und Wurzelknorren, die moosigen Felsblöcke und die weißen Steine ragten. Weit drüben senkte sich der Schlag über einen langgezogenen Rücken einem Dickicht zu, von dem ich nur die höchsten Gipfel gewahren konnte. Kleine Fichtengebüsche hielten diesen Rücken besetzt, und zuoberst auf ihm erhob sich ein riesiger Felsblock, auf dessen Platte einzelne halbwüchsige, meist dürre Bäumchen durcheinanderhingen. In der Mulde, welche die Höhe da drüben von meinem Sitze trennte, rann mit Murmeln und Gurgeln ein unter Kräutern und Farnen verstecktes Bächlein. Zu dem melancholischen Geplauder dieses Wassers gesellten sich die pipsernden Stimmen der Meisen, die zwischen Büschen und Steinen so eilfertig hin- und herflatterten, als hätten sie allerlei wichtige Dinge noch schnell zu besorgen, bevor der Tag zu Ende ging. Aus dem höheren Dickicht ließ sich der weiche Schlag einer Bergamsel hören, während vom tieferen Gehänge herauf der krächzende Schrei eines Tannenhähers und ab und zu das hastige Pochen eines Spechtes klangen. Weit über den See einher scholl manchmal, durch die Ferne gedämpft, das Brüllen der auf den Almen weidenden Rinder und das matt vernehmbare Läuten ihrer tieftönenden Glocken.

Einmal auch hörte ich fauchende Flügelschläge über mir, und als ich zur Höhe blickte, gewahrte ich einen der großen Bergraben, der durch die gelbleuchtende Abendluft seinem Horst entgegenstrich. Während ich dem Zug des Raben folgte, trafen meine Augen auf den steilen Lahnstreif, der hoch über mir das Dickicht auseinanderteilte. Da meinte ich ›Rot‹ zu sehen. Langsam richtete ich das Fernrohr. Ein Gabelhirsch und zwei ›Kälberstücke‹ mit ihren Kälbern erschienen mir im Glase. Befriedigt legte ich das Fernrohr beiseite; der frühe Auszug dieses Rudels weckte gute Hoffnung in mir.

Rasch warf ich noch einen Blick auf die Uhr. Ein Viertel vor acht, der Beginn der ›besten‹ Zeit. Dann ließ ich meine Augen rastlos über den Saum der Dickung auf- und niedergleiten. Im scharfen Spähen mußte ich schon die Brauen furchen, denn die Schatten begannen sich bereits zu vertiefen, und allmählich dämpfte sich der helle Schein des Himmels. Es wurde stiller und stiller um mich her, in der Ferne verstummte das Brüllen und Läuten der Rinder, die Vogelstimmen klangen sanfter und seltener, und bald vernahm ich nur noch das Murmeln des kleinen Baches. Aber auch das Wasser schien mit jeder Sekunde leiser und leiser zu werden. Einmal noch, kurz vor Einbruch der eigentlichen Dämmerung, ließen sich mehrere Vogelstimmen zugleich vernehmen. Dann schien der Bergwald wie ausgestorben. Und nun begann es in meinen Ohren allmählich anzuklingen, jenes seltsame, unbeschreibliche Geräusch, das jeder Weidmann kennen wird, der zur Sommerszeit auf dem abendlichen Ansitz auch noch auf andere Dinge merkt als nur auf das Brechen des Wildes im Dickicht. Das ist wie ein Singen und Zirpen zahlloser Tierchen, wie ein Zwitschern von vielen Vögelchen, wie ein Brummen und Summen von Hummeln und Bienen, aber ganz leise, nur eben noch vernehmbar. Bald scheint es in der Luft zu liegen, bald wieder aus der Erde zu quellen – und man fragt sich, ob man es wirklich hört oder ob es nur eine akustische Täuschung ist, eine Folge des stundenlangen angestrengten Lauschens.

Wieder einmal, wie schon so häufig, legte ich mir im stillen diese Frage vor, als mich ein fiebernder Laut aus meinem Sinnen weckte. Tief aus dem Dickicht scholl das ›Blatten‹ einer Rehgeiß. Kaum hatte ich den Laut vernommen, da hörte ich vom Schlag herüber das Brechen dürrer Zweige, und als ich hastig die Augen wandte, sah ich ein Reh mit rasender Flucht im Dickicht verschwinden. Das mußte ein Rehbock gewesen sein, der in brünstigem Eifer den lockenden Liebeslauten folgte. Woher war er gekommen? Hatte er auf dem Schlage gestanden, ohne daß ich ihn bemerkt hatte?

Unter der ärgerlichen Befürchtung, daß mir der liebestolle Bursch durch seinen lauten Eifer den Hirsch vergrämt haben könnte, der, wenn er überhaupt ans Kommen dachte, schon im Auszug begriffen war – unter solcher Befürchtung blickte ich unwillkürlich nach den tieferen Gehängen des Schlages, von denen der Störenfried gekommen sein mußte. Doch unerwartet zog ein wundervolles Schauspiel meine Augen über das Seetal nach den fernen Bergen. Dort waren die grauen Schatten schon emporgestiegen über Wald und Almen bis zu den kahlen Felsen; doch über diesen Schatten glühten alle Wände und Schrofen in dunkelrotem Feuer, und gleich den erstarrten Flammen einer riesigen Lohe hoben sich die Zacken und Spitzen von dem tiefblauen Himmel ab, über den die nahende Nacht schon ihre ersten Schleier spann.

Selten hatte ich dieses Schauspiel in solcher Schönheit genossen, und immer hingen meine Augen an dem herrlichen Bilde, bis plötzlich der Jäger wieder in mir rege wurde, so daß ich fast erschrocken die vergessene Nähe suchte. Doch bei dem raschen Wechsel zwischen Licht und Schatten erschien mir alles schwarz vor dem Blick. Um die Augen zu beruhigen, schloß ich für einige Sekunden die Lider. Und als ich sie wieder öffnete, schoß mir das Blut zum Herzen. Mitten auf dem Schlage stand der sehnsüchtig Erwartete. Ich hatte sein Kommen überhört, seinen Auszug übersehen. In stolzer Schönheit stand er da drüben und warf wie spielend mit dem ›Äser‹ ein großes Lattichblatt in die Höhe. Trotz der Dämmerung gewahrte ich deutlich das schwankende Geweih und meinte sogar die weißen Spitzen der dreizackigen Krone zu erkennen. Ein Zittern befiel meine Hände, während ich das Doppelglas an die Augen hob, um meiner Sache noch sicherer zu werden. Das Unerwartete des Anblicks hatte mich um meine Jägerruhe gebracht. In Unruh und Sorge begann ich die Entfernung zu schätzen. Zweihundert Schritt! Zu weit – nicht für die Kugel –, aber zu weit für einen guten, sicheren Schuß! Mich überkam eine fiebernde Spannung. Wird er näher ziehen? Während der wenigen Minuten, solang noch Büchsenlicht herrscht? Oder wird er aufwärts ziehen gegen den Rücken des Schlages? Da schwellt mir ein erleichternder Seufzer die Brust. Ich sehe den Hirsch mit vertrauten Schritten talwärts trollen. Er kommt mir näher, immer näher, wenn auch langsam. Und nun verhält er sich äsend vor einem Fichtenbusch, und da steht er mir auf etwa hundertvierzig Schritt. Tiefer und tiefer sinkt die Dämmerung, schon verschwindet mir das Geweih. Aber noch immer warte ich. Nur zwanzig Schritt noch, denke ich, dann –

Doch während ich denke, seh ich, daß der Hirsch das Haupt erhebt, wie überlegend aufwärts windend gegen den Waldrücken, und während ich mir diese Bewegung noch zu deuten suche, zieht er bereits äsend der Höhe zu. Nun ist's aber höchste Zeit! Ein Schauer rinnt mir über die Schultern. Kaum aber halt ich die Büchse an die Wange, da hab ich meine Ruhe wieder gefunden, und fest wie Schrauben schließen sich meine Hände um Schaft und Rohr. Ein paar Sekunden brauche ich, um vor einem weiß durch die Dämmerung leuchtenden Steine die richtige Stellung des Visiers zu fassen. Dann fahr ich langsam auf. Nun sitz ich mittendrin im roten ›Blatt‹ des Hirsches, der wannenbreit vor der Büchse steht. Und da bricht der Schuß.

Dumpfhallend rollt das Echo über den Bergwald, während ich durch den verwehenden Pulverdampf den Hirsch mit langen, prächtig anzuschauenden Fluchten die Höhe gewinnen sah. Dort oben hielt er plötzlich inne, drehte das Haupt nach allen Seiten und verschwand dann langsam hinter dem Hügel. Was war das nun für ein ›Zeichen‹? Es konnte das beste sein, aber auch das schlimmste. Entweder saß ihm die Kugel in der ›Kammer‹ – oder der Hirsch war ›wurzweg‹ gefehlt. Das letztere konnt ich nicht glauben. Der Schuß hätte mir besser und ruhiger nicht brechen können. Das sagte ich mir ein um das andere Mal vor, und dennoch stieg mir die Erregung heiß unter die Haare, während ich mein Zeug von der Erde raffte. Ein paar Minuten – und ich hatte mich durch den Storren- und Kräuterwust bis zum Schußplatz durchgekämpft.

Der tiefe ›Fluchtriß‹ in dem moosigen Grund bezeichnete die Stelle. Nach Schnitthaaren zu suchen, wäre bei der herrschenden Dämmerung vergebliche Mühe gewesen. Doch wenige Schritte nur brauchte ich der Fährte zu folgen, da fand ich schon den ersten Schweiß. Wie auf dem Präsentierteller bot er sich meinen suchenden Blicken, lag in großen Flocken auf einer weißen Felsplatte. Ich bückte mich und fand ihn durchsetzt mit schaumigen Bläschen. Ein Lungenschuß also, ein Schuß, mit dem der Hirsch gewiß keine hundert Gänge weit gekommen war. In Hast überstieg ich den Rücken des Hügels – und da flog mein Hut in die Höhe, während ich einen Jubelschrei in die dämmerigen Lüfte schickte. Kaum zwanzig Schritte vor meinen Füßen lag der kapitale Herr verendet im dunklen Kraut. Und welch ein Geweih! Die Zwölferstangen weit gespannt, von lichtem Braun und übersät mit dicken Perlen.

Während ich vor dem Hirsch kniete, um die ›Granen‹ aus seinem Äser zu schneiden, kam der Jagdgehilfe, den mein Schuß aus der Hütte gerufen. Und an mein Weidwerk schloß sich nun das Handwerk des Jägers. Bis der Hirsch aufgebrochen, ins nahe Dickicht geschleift und mit Fichtenzweigen überdeckt war, hatte sich die Dämmerung zur Nacht gewandelt. Und während wir plaudernd heimwärts schritten zur Hütte, blitzten am stahlblauen Himmel schon die Sterne in zahlloser Schar.


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