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Als die beiden die geräumige Stube betraten, die den Wohlstand ihrer Bewohner verriet, sagte der Jäger: »A saubers Madl, 's Veverl! Die wachst sich aus!«
»Und Arbeit brauchst ihr keine schaffen, alles schaut s' eim von die Augen ab. Für alles hat s' an Dank, und völlig drauf sinnieren tut s', wie s' eim a Freud machen kann. Zu die Kinder stellt sie sich besonders gut. Wann s' nur net gar so voller Gschichten stecket! Jeden Tag verzählt s' dem Paarl söllene Sachen, wie grad jetzt eine ghört hast.«
»Dös mußt ihr net wehren!« Der Jäger legte Gewehr und Rucksack auf die den Kachelofen umziehende Holzbank. »An söllene Sachen haben Kinder ihr Freud. Dös macht ebbes lebendig in ihrem Gmüt. Da profitieren s' mehr als in der Schul. Kommt man ins richtige Alter, so weiß man, was man von söllene Sachen halten muß. Und lacht man drüber, 's Gute davon bleibt deswegen doch: daß man an Sinn hat für alles, was überm Gartenzaun draußen wachst.«
»Ich red net dagegen. Aber es wär für d' Vevi an der Zeit mit 'm richtigen Alter. Die glaubt an ihre Gschichten so fest wie an unsern Herrgott.«
»Is gscheiter, als wann s' eine von die Aufgeklärten wär, die sich mit vierzehn Jahr schon Wulsten in d' Röck einipoistern, 's Mieder ausspreizen und d' Strümpf auf der Ruckseit mit siebenfacher Woll stopfen. Und a gschickts Dingl muß dös Madl sein! Dös hab ich an ihrem Kranzl gsehen. Gelt, der Willkomm is für 'n Ferdl grechnet?«
Der Bauer schüttelte den Kopf, während er den Tisch rückte, um dem Jäger einen bequemen Weg in den Herrgottswinkel zu schaffen. »s Veverl hat meiner Mariann a Freud machen wollen.«
»Die Bäuerin is auf der Reis'?«
»Nach der Münchnerstadt!« erwiderte der Bauer zögernd. »Unser Hanni hat in der letzten Zeit allweil so sinnierliche Brief gschrieben. Ich hab mich a bißl gsorgt. Da hab ich zur Mariann gsagt: ›Fahrst eini in d' Stadt und gehst hin zur Gräfin. Bei so was reden sich d' Weiberleut allweil besser mitanander. Und erfahrst ebbes‹, hab ich gsagt, ›was dir net taugt, so mach kurzen Prozeß, pack 's Madl zamm und bring 's mit heim.‹« Draußen eine trällernde Stimme. »Du! Hörst!« Der Bauer ging zur Tür und rief in den Flur hinaus: »Enzi!«
»Was schafft der Bauer?« klang's von der Küche her.
»Komm a bißl eini! Der Eberl-Gidi hockt bei mir!«
»Soll ich ihm leicht d' Füß heben, daß er besser sitzt?«
»Geh, sei net so hantig!« brummte der Bauer. »Komm eini!«
Die Emmerenz erschien unter der Tür, eine Gestalt von gesunden Formen. Der graue Lodenrock zeigte die nackten, auffallend kleinen Füße. Das dunkelbraune Tuchleibl umspannte straff die festen Brüste. Dem groben, kurzärmeligen Hemde waren hoch am Hals mit roter Wolle zwei Buchstaben eingemärkt, E. und B., darunter eine Zahl, die verriet, daß Enzi vor fünfundzwanzig Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Der mollige Hals trug einen kugelrunden Kopf, über dem das rotblonde Haar mehr praktisch als gefallsüchtig zu einem dicken Knoten zusammengewirbelt war. Das Gesicht mit den vollen Lippen, zwischen denen die weißen Zähne blitzten, mit der keck aufgestumpften Nase und mit den Blauaugen unter den starken, lichten Brauen konnte sonst den Eindruck gemütlichen Frohsinns machen. Jetzt waren die gespannten Nasenflügel streitbar gehoben, und unter der gerunzelten Stirn schauten die Augen mit einem verdrossenen Blick in die Stube. »Also, was soll's?« fragte sie kurz, während sie die nassen Hände an der blauen Schürze trocknete.
»An grausamen Durst haben wir alle zwei, der Bauer und ich«, rief ihr der Jäger zu, »sollst uns ebbes herschaffen zum Abkühlen.«
»A Wasser?«
»Mar' und Josef! Du meinst es gut mit mir! A Wasser mag ich net amal in die Schuh haben, viel weniger im Magen.«
»'s Wasser macht hell in die Augen.«
»Aber dumm im Kopf.«
»Kunnt dir net schaden, weil d' allweil meinst, daß d' gar so gscheit bist!«
»Mei' Gescheitheit kannst dir gfallen lassen. Dö sagt mir, wie schön als bist!«
»Schön bin ich net, aber gsund. Und grob kann ich auch sein, wann ich merk, daß mich einer föppeln will.«
»Geh weiter«, unterbrach der Bauer lachend den Streit, »hol uns a paar Krügeln Bier auffi aus'm Keller!«
»Und laß dein' Zorn über mich net beim Einschenken aus!« rief Gidi dem Mädel nach, das wortlos die Stube verließ.
»Mußt ihr doch amal den Hamur ausbügelt haben?« forschte der Bauer. »Weil s' gar so igelborstig is mit dir?«
»Na, da weiß ich nix davon!« beteuerte Gidi, dachte aber dabei an eine Morgenstunde des verwichenen Sommers, in dem die Emmerenz, nachdem sie auf dem Finkenhof in Dienst getreten war, die Brünndlalm auf dem Höllberg bezogen hatte.
Der Bauer guckte zum Fenster hinaus und sah nach der Uhr. »Ich kann mir gar net denken, warum d' Mariann so lang ausbleibt. Es ist schon fünfe vorbei.«
»Soll die Bäuerin heut noch heimkommen?«
»Ich hab den Dori mit'm Wagen einigschickt in d' Station. Um viere kommt der Zug.«
»Da können s' noch gar net dasein. In einer Stund fahrt man so an Weg net.«
»Mit meine Roß aber schon! Wann ich nur an andern gschickt hätt als 'n Dori. Der Bub, der lacklete, hat sein' langohreten Hirnkasten allweil voll mit Unfürm. Hoffentlich hat er mir den Wagen net umgschmissen!«
»Aber Bauer! Wart halt noch a halbs Stündl und mach dir keine überflüssigen Sorgen!«
»Ich weiß schon, ich bin allweil a bißl übertrieben bei so was!« erwiderte der Bauer ruhiger. »Auf d' Mariann kann ich mich auch verlassen. Die is wie d' Uhr, die geht auf d' Minuten. Die verhalt sich net, weil s' weiß, was ich für a sorgsames Gmüt hab. Aber der Dori halt, der Dori! Kein Tag vergeht, wo er net ebbes anstift. Ich bin ordentlich froh, wenn er wieder droben is auf der Alm.«
»Schickst ihn auf d' Brünndlalm wieder auffi als Hüterbub?« fragte der Jäger, als Emmerenz die Stube betrat, in den Händen zwei Steinkrüge, von denen der weiße Schaum in Flocken niedertroff.
»Ja freilich!« erwiderte der Bauer und zwinkerte mit den Augen. »Aber d' Sennern muß ich wechseln. Ich schick statt der Enzi die alte Waben auffi.«
»Was!« fuhr Gidi auf. »Die zahnluckete Hex willst mir vor d' Nasen hinsetzen, statt –« Er sprach den Namen nicht aus. Für den Fortgang der Unterhaltung sorgte die Emmerenz. Sie setzte die beiden Steinkrüge so energisch auf die Tischplatte, daß die zinnernen Deckel ein Hupferl machten. »Bauer! Von der Brünndlalm willst mich fortschaffen? Von meim liebsten Platzl auf der Gotteswelt? Warum denn? Hab ich deine Küh net heimbracht von der Alm, daß dich spiegeln hättst können in ihrem Glanz? Und zum Dank dafür –« Die Stimme schlug ihr um. »Bauer, wann mir so ebbes antust, kannst mich lieber gleich aussifegen aus'm Dienst.«
»No, no, no!« begütigte der Finkenbauer mit gut gespieltem Ernst. »Ich hab dir's zum Besten gmeint. A Katzensprüngl von der Brünndlalm steht d' Höllberg-Jagdhütten. So a jungs Madl und so a schneidiger Jager? A Dienstherr muß auf alles denken.«
Kichernd duckte Gidi den Kopf. Emmerenz aber fuhr auf wie eine gereizte Wölfin: »So? Jetzt is gut! Gelt, Bauer, verstrapazier dir 's Köpfl wegen meiner Unschuld net! Ich kann mich selber hüten. Gar vor so eim windigen Jagerlippl! Dös kunnt er selber schon gmerkt haben!«
»Aber Enzi!« mahnte der Jäger, während der Bauer lachend seine Nase in seinen Krug steckte. »Merkst denn net, daß dich der Bauer a bißl bei der Falten hat?«
»Laß mich aus, gelt!« schnauzte ihn das Mädel an. »So was kann man haben bei deiner sauberen Bekanntschaft, du –« Sie schien nach einem Wort zu suchen, das ihrer Entrüstung gleichgewichtig wäre, und fand keines, das den nötigen Zentner wog.
»So mußt net reden!« Der Jäger hatte Mühe, seine gute Laune festzuhalten. »Da, nimm lieber den Krug und stich an! A richtiger Trunk macht jede Menschengall sanftmütig.«
»Trink dein Bier selber!«
»Du! Beleidigen därfst mich deswegen net!«
Emmerenz sah betroffen auf; aus dem Klang dieser Worte hatte sie einen Ton gehört, der ihren Ärger beschwichtigte; und als sie gewahrte, wie dem Jäger die Adern an den Schläfen schwollen, griff sie wortlos nach dem Krug und setzte ihn zu kräftigem Trunk an die Lippen. Je fester sie schluckte, desto freundlicher wurde das Gesicht des Jägers. Als er den Krug aus Enzis Händen nahm und ihn fast zur Hälfte geleert fand, sagte er heiter: »Hast an saubern Zug! Drum zieht's mich halt auch so hin zu dir.«
»Wird dich schon wieder wegziehen auch!« brummte das Mädel und ging zur Tür. Hier traf sie mit Veverl zusammen, die den Bauer in den Hof hinausrief, um den vollendeten Schmuck der Haustür zu betrachten. Inzwischen vertiefte Gidi sich in seinen Krug, an dessen Rand er sich mit gewissenhafter Forschung die von Enzi benützte Stelle ausgesucht hatte. Dann folgte er dem Bauer. Gerechtermaßen bestaunte er das schmucke Aussehen der Tür, als auf der Straße Räderrollen und Hufschlag nähertönte. Jetzt ein hallendes Peitschenknallen. »Vater! Dös is der Dori! Ich kenn ihn am Schnallen! D' Mutter kommt!« jubelte Pepperl und rannte zum Tor. Das Liesei klammerte sich an den Arm des Bauern: »Vater? Kommt d' Hannibas mit?«
»Aber Dapperl, man sieht ja den Wagen noch net.«
Valtl war aus dem Stall gekommen und hatte das Einfahrtstor geöffnet. Jetzt trabten um die Hausecke des Nachbargehöfts mit wehenden Mähnen die zwei prächtigen Rappen. Dann sah man den Dori mit der schnalzenden Peitsche und die Kutsche mit dem schwarz glänzenden Lederzeug. »Ja heiliger Gott«, stammelte der Finkenbauer, »der Wagen is ja leer! Da hat's ebbes geben!«
Ohne den Lauf der Pferde zu mäßigen, lenkte Dori in tadelloser Kurve das schmucke Gefährt in den Hof, wo er das Gespann zum Stehen brachte. Unter dem Einfahrtstor hatte Pepperl sich an die Kutsche gehängt, und so war er nun der erste, der vor Dori stand, mit der Frage: »Du, wo is denn d' Mutter?«
»Wahrscheinlich in ihrem Unterrock!« Dori nahm den grünen Spitzhut ab. Dieser siebzehnjährige Bursch war eine sonderbare, fast unglaubhafte Menschenerscheinung. Mit dem kurzen, kugeligen Leib, den langen Armen und den mageren, knochenstelzigen Beinen, deren Gabel sich gleich unter dem Schlüsselbein auseinanderzuspalten schien, sah er einer aufrecht wandelnden Riesenspinne ähnlich; dieser Eindruck wurde noch unterstützt durch die gaukelnde Bewegung, in der sich seine Arme und Beine fortwährend befanden; das sah sich immer an, als möchte er irgend etwas von einem hohen Schrank herunterfangen. Man konnte sich die Notwendigkeit dieser Bewegung erklären, wenn man die qualvoll engen, aus einem braun und grau karierten Stoff gefertigten Beinkleider und die spannenden Falten des schwarzen Jankers betrachtete, der dem Burschen kaum bis zu den Hüften reichte; an die Ärmel, die bei jeder Bewegung zu platzen drohten, waren zinnoberrot gefütterte Aufschläge angestückelt; der lange Hals war umwunden von einem rot und weiß gesprenkelten Tuch, dessen Zipfel scharf hinausstachen über die Schultern. Die rotbraunen Haare waren bei reichlicher Pomade glatt um die abstehenden Ohren gebürstet. In dem braunen, häßlichen Gesicht mit der breiten, sanguinisch nach aufwärts geschwungenen Maulkurve und den lustig vorstupfenden Backenknöcherln war ein ruheloses Zwinkern und Blinzeln. Wenn der Dori dazu die Stim runzelte, rührte sich die ganze Kopfhaut mit dem kleinen Hut, und die Ohrmuscheln gerieten in eine Bewegung gleich den Löffeln eines Hasen, der den nahenden Jäger wittert. Mit forschendem Blick studierte Dori den näher kommenden Bauer; er fürchtete wohl, daß sein Herr die wenig ehrfurchtsvolle Antwort gehört haben könnte, die er auf Pepperls Frage gegeben hatte. Als er aber aus dem Mund des Bauern nichts anderes hörte als nur die erregte Frage, weshalb er allein zurückkäme, war alle Scheu wie weggeblasen, und in wortreicher Geschäftigkeit, mit Händen und Füßen redend, erzählte er den Verlauf seiner Fahrt. »Und wie der Zug einigfahren is in d' Starzion, da hab ich allweil gschaut und gschaut. D' Augen hab ich gstellt – so kann der Schneck seine Hörndln net fürischieben. Aber d' Leut alle sind aussikommen, der Zug is wieder furtgfahren, als müßt er vorm Tuifi davonsausen, und allweil war noch kei' Bäuerin beim Zeug. Da hat mir einer d' Roß ghalten, und ich bin selber in d' Starzion eini. Überall, wo a Türl aufgangen is, in alle Buriauxen und Wartsaaler hab ich 's Nasenspitzl einigschoben, aber von unserer Bäuerin hab ich nix ghört und nix gsehen.«
Schweigend wandte sich der Finkenbauer von dem Burschen ab und ging kopfschüttelnd der Haustür zu.
Emmerenz fuhr scheltend auf Dori los: »Du Lalle, du dummer! Was mußt denn nacher so lustig knallen, wann d' allein kommst!«
»Jawohl, ich soll einifahren wie a hölzernes Manndl!« schnatterte Dori. »Wann ich fahr, müssen d' Leut ans Fenster springen und schauen! Und sie haben weiters net gschaut! Fixsakrawolt, auf a halbe Stund hinter meiner is allweil noch der Staub aufbrudelt. So bin ich gfahren!«
»So gfahren, ja, daß d' Roß dämpfen wie frisch gsottene Erdäpfel.« Mit der strengsten Amtsmiene, die sie als Fürmagd aufzuziehen wußte, fügte sie bei: »Da kann sich jetzt der Knecht wieder hinstellen vor die armen Viecher und mit'm Strohwisch rippeln, bis er Blasen kriegt an die Händ!«
»Du?« fiel Gidi stichelnd ein. »Is dir denn gar so drum z' tun, daß der Valtl weniger Arbeit hat?«
Emmerenz würdigte ihn keiner Antwort, sondern ging zum Gesindehaus hinüber, wobei sie was murmelte von »dreinreden« und »nix angehen«. Gidi schickte ihr einen Blitz seiner grauen Augen nach und musterte den Valtl. Der bemühte sich, ein harmloses Gesicht zu zeigen. »Du, Jager, was is«, wurde Gidi in seiner Beobachtung durch Dori unterbrochen, »hast net a paar Hirschgranln oder an Adlerklau? Weißt, zum Anhängen an d' Uhr?«
»Hast ja gar kei' Uhr net.«
»Na! Aber ich laß mich heuer a zweitsmal firmeln, nacher krieg ich schon eine. Mein erster Godl hat mir zum Firmgeschenk bloß an verdorbenen Magen kauft. A ganze Nacht lang sind mir die sauren Pfingsttäuberln aussigfahren aus der schmerzhaften Seel.«
Gidi lachte und folgte dem Bauer in die Stube. Um den Finkenjörg zu beruhigen, führte er alle Möglichkeiten an, die ihm einfielen. Immer schüttelte der Bauer den Kopf. Er kannte seine Mariann, und sie kannte ihren Jörg und seine ›sorgsame‹ Natur. Da gab's kein Versäumen des Zuges. Wenn seine Mariann gesagt hatte: zu der und der Stunde komm ich, dann kam sie auch, oder –
»Aber geh, warum machst dir denn 's Herz so schwer! Was soll denn deiner Bäurin geschehen können? So a verständigs, achtsames Weiberleut!«
»Mei' Mariann, freilich! Was soll denn meiner Mariann geschehen? Aber – allweil in der letzten Zeit is mir's fürgangen: Bei der Hanni is ebbes net sauber in ihrem Gmüt! Ich kenn s' ja! Wann s' da amal ebbes drin hat – sie müßt mei' Schwester net sein –, da gibt sie's nimmer her. Hättst nur ihre gspaßigen Brief lesen sollen! Und am End kann ich net alles sagen, was ich mir denk.« Seufzend schob sich der Bauer hinter den Tisch, an dem der Jäger saß, stützte die Arme auf und legte den Kopf zwischen die Fäuste. »Hätt ich nur 's Madel net fortlassen im Herbst. Aber wie's halt kommen is! Wann so a fürnehme Frau vor eim dasteht und allweil redt und redt, da mußt am End ja sagen. An d' Hanni selber hab ich halt auch a bißl denkt. Es is halt amal so kommen. Weißt es ja selber!«
Der Jäger nickte; er wußte das freilich; während der sechs Jahre, die er im Dorfe lebte, hatte er's zum Teil mit angesehen, wie das gekommen war. Und was jener Zeit vorausgegangen, hatte er aus dem Gespräch der anderen erfahren. Viel des Guten hatte er dabei über die selige Finkenbäuerin gehört, die an dem Tage dahingegangen war, an dem sie der Hanni das Leben geschenkt hatte. Wenige Wochen später waren dem alten Finkenbauer, dem man nach seinem Aussehen hundert Jahre hätte prophezeien mögen, von einem schlagenden Pferd die Rippen der Herzseite zerschmettert worden; lange Monate mußte er in schwerem Siechtum liegen, ehe der Tod ihn erlöste. Von ihm hatte Jörg, der damals bei seinen dreiundzwanzig Jahren schon ein festes Mannsbild war, als der Erstgeborene unter den fünf Geschwistern das Regiment auf dem Finkenhof mit kräftigen Händen übernommen. Gleich im ersten Jahr seiner Herrschaft kam schwere Kümmernis über den jungen Bauer. Es schien, als hätte der Tod in dem freundlichen Hause sich heimisch gefühlt. Noch trauerte Jörg um die Eltern, da mußte er auch die beiden Geschwister zu Grabe tragen, die im Alter zwischen ihm und Ferdl standen; in der gleichen Woche waren sie an den schwarzen Blattern gestorben. Als die Krankheit bei ihnen ausgebrochen war, hatte Jörg die zwei jüngsten Geschwister aus dem Haus gegeben. Seinen ›Ferdlbuzzi‹, ein Bürschl von sechs Jahren, hatte er zu einem Verwandten der Mutter gebracht, in ein fünf Stunden vom Dorf entferntes Gehöft. Ehe noch eine Woche vergangen war, erschien eines Abends der Bub im Finkenhof, allein, verstaubt, triefend von Schweiß – »ganz verlechznet und derlegen«, wie der Finkenbauer zu erzählen pflegte, wenn er auf diese Geschichte zu sprechen kam. »Und weißt, was er gesagt hat, der kleine Loder, wie ich ihn ordentlich angfahren hab: warum er durchbrennt wär bei die Vettersleut? Da hat er aufgschaut zu mir mit nasse Augen. Grad gstößen hat's ihn, wie er gsagt hat: ›Ich hab's nimmer ausghalten, weil's mich so blangt hat nach meim Jörgenbruder!‹ – Da hab ich ihm a Bussel auffidruckt, dös er gspürt hat vierzehn Täg! Und seit der Stund is dös Bübl mein Auf und Nieder gwesen!«
Dieser Geschichte pflegte der Finkenbauer in lächelndem Bruderstolz die Vermutung beizufügen, daß wohl auch sein Hannerl so zu ihm gelaufen wäre, wenn es damals überhaupt schon hätte laufen können. Das Kind hatte in jenen Tagen eine ›hochwürdige Unterkunft‹ gefunden. Die alte Schwester des Pfarrers, die das Kind aus der Taufe gehoben, hatte es zu sich in den Pfarrhof genommen, und da wurde das liebe Ding in kurzer Zeit die lachende Sonne des sonst so stillen Hauses, der gehätschelte Liebling des hochwürdigen Herrn und seiner Schwester. Als dann der Finkenhof wieder rein war von dem bösen Odem jenes finsteren Gastes, entspann sich zwischen Jörg und der Schwester des Pfarrers ein hartnäckiger Kampf; der eine wollte das Kind bei sich im Haus haben, die andere wollte den Liebling nicht aus ihrer Pflege entlassen. Und Jörg war es, der nachgab. Er mußte sich sagen, daß er selbst bei aller Liebe das Kind nicht warten konnte und ihm eine fremde Person halten müßte. Die würde dem Kinde nicht jene Fürsorge widmen, deren es bei der Pfarrschwester sicher war, die es liebte wie eigenes Blut. So verblieb Hannerl im Widum; täglich wurde es in den Finkenhof zu Besuch getragen, bis es diese Besuche auf eigenen Füßen abzustatten vermochte; an Grobwettertagen und auch sonst an manch einem Abend kam Jörg mit dem munter sich streckenden Ferdl auf ein Plauderstündchen in den Pfarrhof, und niemals kam er, ohne dem Kind einen Leckerbissen oder ein Spielzeug mitzubringen.
Die Jahre vergingen, und aus dem Hannerl wurde ein liebliches Mädchen, dem alle Bewohner des Dorfes gut waren, obwohl sie es bald nicht mehr als ihresgleichen betrachteten, sondern ihm eine respektvolle Behandlung angedeihen ließen, als wär' es ein Kind ›fürnehmer‹ Leute. Vielleicht lag die erste Ursache dazu nur in der städtischen Kleidung, die das Mädchen auf Anordnung seiner Patin zu tragen bekam; bald aber fanden sich weitere Ursachen hiefür in der Art, in der sich Hannis Wesen entwickelte. Der alte Pfarrer, ein gebildeter Mann, der außer dem Katechismus auch andere Bücher nach ihrem Werte gelten ließ, hatte seinen Liebling auch zu seiner Schülerin gemacht. Dadurch kam es, daß Hanni bald in allem und jedem ihre Altersgenossinnen überragte, in denen die Scheu jede gespielsame Vertraulichkeit erstickte. So sah sich das Mädchen in den Ferienwochen und Freistunden auf den Verkehr mit ihrem Bruder Ferdl beschränkt, der mit einer abgöttischen Verehrung an seiner Schwester hing. Wenn sie kam, warf er Holz und Messer in die Ecke, diese beiden Dinge, die ihm schon in der Schulzeit über Tafel und Griffel, über Essen und Trinken gingen. Späterhin fand das Mädchen noch einen zweiten Gespielen in dem jungen Grafensohn aus dem Schlosse droben, einem hübschen, schlank gewachsenen Knaben. Von der Stunde an, in welcher Luitpold mit seinen Eltern auf dem Kastell zur Sommerfrische eintraf, war er von Ferdl unzertrennlich, tobte und tollte mit ihm, ließ sich von ihm leiten und verführte ihn auch selbst zu kecken Streichen, die stets, wie sie auch ausfallen mochten, an Jörg einen lächelnden Verteidiger fanden. Der junge Bauer war stolz auf den ›nobligen Umgang‹ seines Herzbuben. Doch wenn man den Verkehr der beiden Knaben in ihrem Zusammensein mit ›Hannchen‹, wie Luitpold das Mädchen nannte, genauer beobachtete, mochte es fast den Anschein gewinnen, als pflege das junge Herrchen die Kameradschaft mit dem Bauernsohn viel mehr um der Schwester willen, die in seiner Sprache mit ihm redete und seine Gedanken mit ihm dachte.
Dieses Zusammenleben nahm ein Ende, als Ferdl mit sechzehn Jahren nach Berchtesgaden zu einem Holzschnitzer in die Lehre verbracht wurde. Das war des Buben eigener, heißer Wunsch gewesen. Auch Luitpold blieb in den nächsten Jahren dem Dorfe fern, da er die Sommermonate in einem Kurort verbrachte, den sein kränklicher Vater besuchen mußte. Diesen doppelten Verlust schien Hannchen schwer zu empfinden; sie wurde still und in sich gekehrt. Darin änderte auch der Wechsel ihrer äußeren Lebensweise nichts, der bald nach Ferdls Abreise vor sich ging. Schon seit Jahren hatte Jörg es jährlich ein paarmal versucht, sein Hannerl aus dem Pfarrhof zu entführen; immer wieder hatte er sich durch die Bitten der Pfarrschwester die Bewilligung neuer Fristen abschmeicheln lassen. Unerbittlich wurde er, als er sein Begehren durch den Vorbehalt unterstützen konnte, daß das Mädchen nun auch im elterlichen Haus unter guter Aufsicht stehen würde – als auf dem Finkenhof eine junge Bäuerin ihren Einzug gehalten hatte. Das war rasch gekommen, mit dieser ›Freit‹, und es war dabei sehr einfach zugegangen. Da war eines Tages auf dem Finkenhof ein junges, blondes Mädel eingestanden, die Mariann, auch eine Waise, die nur noch einen Bruder hatte, der tief in den Bergen ein kleines Haus besaß und als Holzknecht, Pechsammler und Schachtelmacher sein und seines Kindes Leben fristete. Von allem Anfang war Jörg zufrieden mit seiner neuen Fürmagd, die bei jeder Arbeit herzhaft zugriff, immer und überall den Vorteil ihres Bauern wahrte, als wär' es ihr eigener, dabei die Mägde in guter Zucht hielt und den Knechten gegenüber sich in Respekt zu setzen wußte. Jörg begann zu denken: die Mariann gäb' eine richtige Bäuerin ab! Von diesem Gedanken war nur noch ein kleiner Schritt zu dem anderen: die Mariann wär' die richtige Bäuerin für mich! Auf Geld brauchte er nicht zu sehen, er, der Finkenhofbauer, den die Leute im Dorf den ›Goldfink‹ nannten. Eines Abends, als Mariann den jungen Bauer auf einen Übelstand in der Milchwirtschaft aufmerksam machte und wohlmeinend beifügte: für so was gehöre halt eine Bäuerin her – da lächelte Jörg und sagte: »No, sei halt du mei' Bäuerin!« Der Mariann schoß das Blut bis unter die Haare; dann verließ sie wortlos die Stube, und am anderen Morgen kündigte sie den Dienst. Jörg ließ sie gehen; es war ihm recht so; er wollte seine Bäuerin nicht aus dem eigenen Gesindehaus holen. Drei Tage später fuhr er der Mariann nach, die zu ihrem Bruder gegangen war, und wiederholte in aller Form seinen Antrag. Zwar errötete die Mariann auch jetzt wieder bis unter die Haare, aber sie blieb nicht wortlos.
Dem Jörg war sie, was er sich von ihr versprochen hatte, eine treffliche Hauserin, dazu eine gute Mutter der zwei prächtigen Kinder, mit denen sie ihn beschenkte. Jörg wurde der Frau, die er nur aus verständiger Überlegung genommen, von Herzen gut, und auch sie war ihm zugetan, wenn sie dies auch nie in Zärtlichkeiten äußerte, mit denen sie um so mehr die Kinder bedachte. Ihr Mann stand für sie immer über ihr, sie schaute zu ihm auf, sein Wille war der ihre, sein Wort ihr Gesetz, sie dachte, wie Jörg dachte, und tat, was er getan wissen wollte. Auch ihr Gefühl für seine junge Schwester, die bald nach der Hochzeit in den Finkenhof übersiedelte, war Verehrung; sie behandelte das Mädchen, so herzlich es der Schwägerin auch entgegenkam, stets wie einen vornehmen Gast. Freilich, Hanni verbrachte auch jetzt den größten Teil des Tages im Pfarrhaus, wo sie lernte, was der alte Pfarrer und seine Schwester sie zu lehren wußten. Nur wenn Ferdl zu Besuch ins Dorf kam, erhielten Hannis Bücher und Hefte Ferienzeit, und da sah man die beiden fast nie ohne den Jörg und den Jörg fast nie ohne die beiden, so daß man sie im Dorf die ›verliebten Geschwister‹ nannte. Auch die Mariann betrachtete dieses Zusammenhalten mit lächelndem Gesicht, sie selbst und ihre Kinder kamen dabei nicht zu kurz, und der Ferdl war nun einmal die Freude ihres Mannes, die Hanni sein Stolz.
Aus dem Ferdl war aber auch ein Bursch geworden, an dem man seine Freude haben konnte: schmuck und stramm, und ebenso wohlgeraten im Charakter wie in seinem Aussehen. Und gar, als er zum erstenmal in der knappen, kleidsamen Soldatenuniform erschien, als er heimkehrte aus Frankreich, geschmückt mit dem Eisernen Kreuz, da rannte das ganze Dorf zusammen, um den Ferdl anzustaunen. Bei jedem seiner Besuche brachte er als Geschenk für den Bruder ein schönes Schnitzwerk mit, und diese Arbeiten, die in Hannis freundlichem Stübchen aufgestellt wurden, zeigten von Besuch zu Besuch, wie Ferdl aus einem Handwerker ein Künstler in seinem Fach zu werden begann. Häufig, wenn er daheim war, äußerte er der Schwester gegenüber, wie sehr es ihn freuen würde, seinen Jugendkameraden, den ›Grafenluitpold‹, wieder einmal zu sehen. Immer schwieg die Schwester zu solchen Worten. Das war überhaupt so ihre Art geworden: von allem, was in ihrem Innern vorging, kam nur wenig über ihre Lippen. Ihre Denk- und Empfindungsweise ging weit über das Leben hinaus, von dem sie umgeben war. Im Haus des Bruders fand sie Liebe und Verehrung, aber wenig Verständnis. Am besten wußte sie noch mit Jörg zu reden, und auch dann nur, wenn sie von sich selbst miteinander sprachen oder von dem fernen Bruder; die anderen verstanden kaum ihre Sprache, um wieviel weniger den Sinn; das machte sie schweigsam und verschlossen; gesprächig wurde sie nur im Pfarrhof, wo sie in der letzten Zeit der kränkelnden Schwester ihres alten Lehrers die einst genossene Pflege mit gleichem Dienst vergelten konnte. Immer merklicher übte sie jene Wortkargheit auch gegen Ferdl, wenn er daheim war und der hätte sie vielleicht doch in manchem verstanden, was sie vor ihm verschloß; er hatte in der Fremde viel erfahren und gesehen, hatte einen frischen, aufgeweckten Sinn für alles, besonders eine stark ausgeprägte Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur und ihrer Geschöpfe. In seiner abgöttischen Verehrung für die Schwester fühlte er das Unrecht nicht heraus, das sie durch diese Verschlossenheit an ihm beging.
Er war zufrieden, wenn er ihr stundenlang von allem vorplaudern konnte, was ihm durch den Kopf wirbelte. Wenn er bei solchem Geplauder mit sich selbst zu Ende kam, fing er vom Luitpold an, der wohl inzwischen ein ›feiner, nobler Kawlier‹ geworden sein müßte. Als Ferdl nach seiner Militärzeit das letztemal im Finkenhof zu Besuch gewesen war und vom Grafenjäger erfahren hatte, daß Luitpold, der im Mund der Schloßleute bereits ›der junge Herr Graf‹ geworden, im kommenden Sommer die Eltern wieder in das Dorf begleiten würde, hatte es beim Ferdl mit dem Luitpold kein Ende mehr gegeben. Alles, was er von Gidi über ihn erfahren konnte, hinterbrachte er der Schwester: daß Luitpold seine Universitätszeit vollendet hatte; daß er während der letzten Jahre nicht hätte kommen können, weil er alljährlich die Ferienmonate dazu benützen mußte, um fremde Länder zu bereisen; und daß er nun einer von jenen großen Herren zu werden gedächte, die über das Wohl und Wehe der Staaten miteinander zu verhandeln haben. Da war es dem Ferdl bitter leid, daß er die Ankunft des Vielbesprochenen nicht abwarten konnte. Er hatte sich für Georgi wieder nach Berchtesgaden verdingt, wo sich die Meister um den tüchtigen Gesellen rauften.
Zwei Monate nach Ferdls Abreise trafen sie ein, die Gräfin, der Graf, von dem die Leute meinten, daß er während des letzten Winters recht ›zusammengegangen‹ wäre, und Luitpold, den man kaum wiedererkennen wollte. Als sie am Finkenhof vorüberfuhren, lief alles an den Zaun, was Füße hatte. Nur Hanni war in ihrer Stube geblieben.
Am anderen Morgen schon kam Luitpold in den Finkenhof, brachte dem Bauer Grüße vom Vater und fragte nach dem ›Ferdinand‹ und dem ›Hannchen‹. Mit Stolz erzählte Jörg von seinem Ferdl; dann holte er die Hanni; er hatte heimlich gelächelt, als er nach dem ›Hannchen‹ fragen hörte. Nun erschien sie unter der Tür, und da standen die beiden einander gegenüber und sahen sich an mit verwunderten Augen – das Mädchen den Jüngling mit der vornehmen, hochgewachsenen Gestalt, mit dem feinen, stolzen Kopf – und er das Mädchen mit dem Madonnengesicht und den tiefen Augen, in dem grauen Kleid, das sich in weicher Glätte um die sanften Formen des jungfräulichen Körpers schmiegte. Jörg in seinem Bruderstolze weidete sich an der ›Überraschung‹ seines Gastes, der Mühe zu haben schien, für das ›Fräulein Johanna‹ ein paar freundliche Worte zu finden. Nach kurzem Besuch entfernte sich Luitpold mit einer fast auffälligen Eile. Als er einige Tage später der Johanna im Dorf begegnete, ging er an ihr vorüber, ohne sie anzusprechen; dabei zog er den Hut so tief, als wäre sie seinesgleichen. Vielleicht hatte Johanna darin eine Äußerung seines Stolzes gesehen? Sie begann dem jungen Mann auszuweichen, und häufig, wenn sie ihn allein oder in Begleitung des Jägers die Straße einherkommen sah, trat sie unter einem Vorwand in das nächste Haus.
Luitpolds Mutter brachte die beiden wieder in nähere Berührung. Die Gräfin hörte eines Sonntags Johanna in der Kirche singen. Das Mädchen besaß eine Altstimme von ergreifender Innigkeit. Wenn diese Stimme während des Hochamts den weiten Kirchenraum erfüllte, sagten die Bauern, daß sich dabei zehnmal leichter und besser beten ließe, als wenn der alte Schulmeister das Gloria oder das Agnus Dei quiekte. Auch der Gräfin hatte Johannas Gesang gefallen; sie erkundigte sich beim Pfarrer nach dem Mädchen, erfuhr das Allerbeste, und die Folge war, daß Johanna auf das Schloß geladen wurde. Sie kam und mußte wiederkommen, so großes Gefallen fand die vornehme Dame an dem jungen, bezaubernden Geschöpf, an seinem bescheidenen Wesen und seinem reichen Wissen. Und als im Herbst die traurigen Tage kamen, in denen die zunehmende Schwäche des Grafen die Auflösung herbeiführte, ließ die trauernde Frau das Mädchen, dessen Anblick ihr ein Trost zu sein schien, kaum mehr aus ihrer Nähe.
Dieser Verkehr setzte sich im folgenden Frühjahr fort, als die Gräfin mit ihrem Sohn wieder in das Dorf zurückkehrte. Wie im vergangenen Sommer, so behandelte Luitpold auch jetzt die junge Freundin seiner Mutter mit großer Höflichkeit; dennoch wechselte er niemals andere Worte mit ihr als jene, die der Verkehr bei Tisch und das Zusammensein in den Zimmern seiner Mutter erforderte. Seine Liebe zur Jagd schien plötzlich gewachsen, und häufig war er vom Schlosse abwesend. Ganze Wochen durchstreifte er, die Büchse auf dem Rücken, unter Gidis Führung die Berge. Wenn er für einige Rasttage in das Schloß zurückkehrte, geschah es wohl, daß die Gräfin mit einem Lächeln, das sich nicht allzu fröhlich ansah, den Sohn ermahnte, über seinen Hirschen und Gemsen nicht ganz der Mutter zu vergessen. Diese Mahnungen schienen eher das Gegenteil von dem zu bewirken, was sie erzielen sollten. Das war um so mehr zu verwundern, als doch sonst an Luitpold die Liebe zur Mutter aus jedem seiner Blicke sprach. Enger und enger schloß sich die Gräfin in diesen einsamen Tagen an Johanna an, und als der Herbst mit Stürmen und wirbelnden Blättern in dem Bergtal Einzug hielt, war geschehen, wovon Jörg zu Gidi gesprochen: die Frau Gräfin hatte sich dem Bauern gegenüber so lang aufs Bitten verlegt, bis er die Schwester mit ihr nach München hatte ziehen lassen.
Jörg hatte ungern ja gesagt. Der Anblick seiner Hanni war ihm eine Freude, die er schwer entbehrte; aber er hatte bedacht, daß die Hanni, nach solch einem Sommer, im Dorf einen traurigen Winter haben würde, um so mehr, da in den letzten Septembertagen ihre alte, mütterliche Freundin aus dem Pfarrhof in den Kirchhof übergesiedelt war.
Jetzt freilich, in seiner Sorge, reute ihn jenes Ja. »Ich hätt's net zulassen sollen!« Und schließlich fuhr es in Unmut aus ihm heraus: »Ich hab ebbes ghört, selbigsmal, was mich hätt stutzig machen müssen. Dein junger Herr Graf hat kein bsonders guts Gsicht dazu gmacht, wie er erfahren hat, daß d' Hanni mit seiner Frau Mutter geht.«
»Da möcht ich schon wissen, von wem du so ebbes ghört haben kannst?« fragte Gidi.
»Vom Eustach, vom alten Kammerdiener.«
»So einer Ratschen hast ebbes glauben können?«
»Es muß doch was dran gwesen sein. Und da wird der noble Herr der Hanni 's Leben sauer gmacht haben im Grafenhaus. Dös hat man ja sehen können, im letzten Sommer, wie hochmütig als er sich stellt gegen d' Hanni.«
»Hochmütig? Mein junger Herr Graf? Und gegen d' Hanni?« platzte Gidi heraus, um zögernd beizufügen: »Wie man's halt anschaut.«
Da hörten die beiden durch das offene Fenster Doris flüsternde Stimme: »Schau, Veverl, was ich dir mitbracht hab!« Sooft der Dori mit dem Veverl redete, verwandelte sich etwas an ihm, und seine Stimme bekam was Sanftes und Kindhaftes.
»Geh, den schönen Veigerlbuschen!« klang die Antwort des Mädels.
»Aber, Veverl! Was hab ich denn angstellt? Warum weinst denn jetzt?«
»Vor Freud! Die Blümeln mahnen mich an mein' Vater selig! In jedem Frühjahr hat er mir die ersten Veigerln bracht, die er gfunden hat. Drum sag ich dir vergelt's Gott!«
»Wann's dich nur freut!« hörte man den Langohrigen mit Lauten sagen, die wie heimliches Jauchzen waren. »Und alle Jahr sollst die ersten haben! Jedsmal an Buschen, größer als mein Kopf.«
»Soviel Veigerln findt er net!« flüsterte Gidi in der Stube, während Dori draußen vor dem Fenster tuschelte: »Aber gelt, mußt es net verraten, daß die Blümeln von mir hast! Da spötteln s' mich wieder wegen deiner. Dös kann ich net hören. Schon gar, wann's der Valtl erfahren tät –« Immer leiser war die Stimme geworden, und in der Stube wandte sich Jörg an Gidi: »Du, was ich fragen will – hast du was gegen den Valtl?«
»Ich?« Der Jäger tat verwundert. »Wie kommst denn auf so was?«
»Weil ihn allweil so gspaßig anschaust. Und ich hab erfahren, daß er öfters in der Nacht net daheim is. Fürgestern in der Fruh is er über d' Wiesen runtergstiegen, vom Brünndlkopf her.«
»Wird halt in die obern Höf wo fensterln gwesen sein!« warf Gidi mit anscheinender Gleichgültigkeit ein, dachte aber doch daran, daß er am verwichenen Morgen vergebens auf der Suche nach dem Auerhahn umhergestiegen war, der vor drei Tagen auf dem Brünndlkopf noch lustig geschnackelt hatte.
»Es kann ja sein, daß nix dahinter is!« meinte Jörg. »Wann aber ebbes dahinter wär, kannst offen reden mit mir. In meim Haus duld ich nix Unrechts.«
Noch hatte Jörg nicht ausgesprochen, als sich vom Hofe Veverls erregte Stimme vernehmen ließ: »So lassen S' mich doch aus! Was wollen S' denn von mir!« Gleichzeitig hörte man ein absonderliches Gelächter.
»Jeh, der Kommandant!« tuschelte Gidi und begann auf Vorschuß zu lachen.
»Was will denn der wieder in meim Hof?« murmelte Jörg, die Stirne furchend. »Den ganzen Winter hat er sich net sehen lassen.«
»Wahrscheinlich, seit d' Hanni aus'm Haus is?«
Schwere Tritte klangen im Flur, ein Geräusch ließ sich hören, als würde ein Gewehr niedergestellt, dann öffnete sich die Tür, und ehe noch was zu sehen war, konnte man ein würdevolles Räuspern vernehmen. Hier kam ein Mann, welcher Eindruck zu machen hoffte.