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Gerettet!

Eine Komödiantengeschichte

Unsere Harfenspielerin hatte die letzte Rede der Ahnfrau so bagatellmäßig heruntergeleiert, wie es ihr dem in Aussicht stehenden »Teile« von zwanzig Kreuzern angemessen erschien, dann stürmte sie mit einem Schwalle von kraftvoll betonten Flüchen in die Garderobe.

»Dass Ihr's nur wisst: das war meine letzte Leistung für dieses Publikum, und damit mir nicht der Ruf anhängt, ich hätte in Ginsterfeld für zwanzig Kreuzer eine Ahnfrau hingelegt, so schenke ich mein heutiges Honorar dem hiesigen Gemeindeamte.«

Das war der Schluss ihrer Rede. Edgar Sturm, unser junger Prinzipal, war unterdessen mit der Teilung der beispiellos erbärmlichen »Beute« fertig geworden. Er hatte die sieben Häuflein Kupfermünzen auf den gemeinsamen Schminktisch gelegt, dann wankte er mit tief gesenktem Haupte in den Theatersaal hinaus, um das teure Petroleumlicht auszublasen. Ich, der damals achtzehnjährige Naturbursche des gediegenen Künstlerensembles, folgte, von mächtigem Mitleide erfasst, meinem über alles geliebten, unglücklichen Direktor auf dem Fuße. Meine warme Mühe, ihn von seinem verzweiflungsvollen Sinnen abzubringen, war vergebens. Er lächelte nur wehmütig und sprach: »Diese Saison in Ginsterfeld gibt mir den Rest. Hier hat mich das Schicksal so grausam niedergeworfen, dass ich nicht nur den Mut und die Kraft, sondern auch den Willen zu dem freien, ach so stolz begonnenen Fluge verlor. Ich bin nicht mehr zu retten! Überlasset mich meinem Verderben und flüchtet aus der geisttötenden Sphäre dieses Ortes. Hängt Euch nicht länger an meine armseligen Überreste, es ist schade um Eure hoffnungsvolle Jugend.«

Während der Prinzipal sprach, waren die übrigen Mitglieder der Gesellschaft herzugetreten. Seine Worte entfachten einen gewaltigen Sturm von Gefühlen und Worten. Der Unglückliche wollte allen Ernstes der Kunst fahnenflüchtig werden und sich in dem schrecklichen Krähwinkel Ginsterfeld, wo wir den ganzen Winter lang um die Gunst eines verständnislosen Publikums gerungen hatten, lebendig begraben. Es war einfach unmöglich, die Kosten für den Weitertransport unseres veritablen Musentempels zu erringen, und so staken wir hier fest, ohne Hoffnung, noch jemals auf eine anständige Art fortzukommen.

Unser Prinzipal hatte Übermenschliches geleistet, um sein und unser Dasein zu fristen, und bürdete sich aus wahrhaft väterlicher, liebevoller Fürsorge eine für seine Verhältnisse ganz enorme Schuldenlast auf. Er hatte die reiche, ältliche Witwe eines Selchers zu unbeschränktem Kreditieren willfährig gefunden.

Dafür musste er sich aber der Dame zu treuer Liebe verpflichten. In der Folge seiner uns durchaus nicht rätselhaften Beziehungen zur Frau Schmeer – so hieß die kunstfreundliche Selcherin – gelangte er zu dem verzweifelten Entschlusse, seiner persönlichen Notlage durch Heirat ein Ende zu bereiten.

Frau Schmeer war längst bereit, unseren Prinzipal zu einem Privatier und Bürger der Stadt Ginsterfeld zu machen.

Unsere Aufregung war unbeschreiblich, als er jetzt offen davon sprach, dass er sich von uns losreißen wolle, von uns, die wir mit allen Herzensfasern an ihm hingen. Während ich voll Wut und Schmerz mein Gesicht in die Hände vergrub und wahrhaftige Tränen vergoss, stellten ihm die anderen Kollegen seine Selbstvergessenheit vor. Der Intrigant fuhr mit seinen langen Krallenfingern dem Prinzipal beinahe an die Gurgel und fletschte in unsäglichem Grimme: »Ehe ich dulde, dass Du Dich so verwirrst, erwürge ich Dich.«

Der Held und Liebhaber donnerte angsterregend von Treubruch, Verrat, Feigheit und Verblendung, die Sentimentale aber fiel dem Direktor weinend zu Füßen und bat ihn um aller irdischen und himmlischen Seligkeit willen, nicht für eitlen Mammon feil zu werden. Die Heldin erklärte unseren armen »Papa Sturm« geradezu für einen unzurechnungsfähigen Menschen, den sie von jetzt ab mit liebevoller Gewalt bevormunden werde, und die komische Alte entwarf einen kühnen, abenteuerlichen Plan, demzufolge wir noch heute mit Hinterlassung unserer sämtlichen Schulden, der Bagage und des uns so teuren, praktikablen Theaters aus Ginsterfeld flüchten sollten!

»Ihr ereifert Euch umsonst«, sagte der Direktor mit Entschiedenheit, obwohl ihm dabei Tränen der Rührung in den Augen standen. »Erkennt doch, dass ich ein Hindernis auf Eurem Wege zum Ruhme geworden bin, über welches Ihr Euch rücksichtslos hinwegsetzen müsst. Seht, mein Stern, dem Ihr so begeistert nachzoget, ist untergegangen, aber Eure Laufbahn ist nicht mit der meinen beendet. Mein Untergang darf nicht auch der Eure sein. Ich bleibe hier, von meinem alten Geiste verlassen, hoffnungslos liegen. Mein überlebender Leichnam hat höchstens noch für eine Frau Schmeer Wert. Und die soll ihn haben!«

Es war, kurz gesagt, mit unserem Direktor nichts mehr anzufangen. Die vielen Drangsale hatten ihm das künstlerische Streben total verleidet. Er hatte alles Selbstbewusstsein verloren und gab sich der tiefsten Schwermut hin.

Am nächsten Morgen erschien er nicht mehr wie gewöhnlich im Theater, um eine Aufführung anzusetzen. Ich wurde ausgesandt, ihn zu suchen, und fand ihn – bei Frau Schmeer. Dort teilte er mir in unerschütterlicher Entschlossenheit mit, dass er Ginsterfeld nicht mehr verlassen und sich bald nach Ostern von seiner Braut heimführen lassen werde. Gleichzeitig nahm er rührenden Abschied von mir und bat, ich möchte ihm durch längeres Verweilen in Ginsterfeld nicht unnütz das Herz schwer machen, denn – »ein jähes Losreißen sei die gelindeste Art dieses entsetzlichen Scheidens«. Er wollte in seiner Gasthauswohnung verbleiben. Frau Schmeer stellte uns übrigens das zu einem anständigen Abzuge nötige Geld zur Verfügung.

Das praktikable Theater sollten wir armen Verwaisten als Gemeingut und väterliches Vermächtnis unseres Prinzipals auch mitbekommen.

»Dann wählt Euch einen anderen Häuptling und vergesset mich«, sagte Sturm mit tränenerstickter Stimme.

Meine Kollegen waren außer Rand und Band, als ich ihnen die Nachricht brachte. Es wurde eine Weile furchtbar getobt und gejammert, dann rückte die komische Alte mit einem sonderbaren Rate hervor, zu dessen Befolgung wir uns insgesamt rasch entschlossen.

»Wenn noch etwas seinen Sinn ändern kann, so ist es seine Teilnahme an unserem Schicksale«, sprach die weise Frau. »Sobald er sieht, dass wir lieber hier mit ihm untergehen, als ohne ihn weiterziehen, wird er gewiss noch einmal die müden Schwingen rühren und sich um unseretwillen aus diesem Sumpfe zu retten suchen! Es gilt ein drastisches Mittel, aber es dürfte den erwünschten Erfolg bringen. Wir alle, wie wir sind, verdingen uns hier in Ginsterfeld! Wo mein Prinzipal ein Spießbürger ist, kann ich getrost eine Waschfrau abgeben.«

»Ausgezeichnet!« rief die Heldin. »Mich nimmt der Sternwirt sofort und willig als Schankmagd auf.«

»Und ich will heute noch Frau Schmeer kniefällig um Arbeit und Brot in ihrem Hause bitten«, sprach die Sentimentale. »Mit ihren Hunden, die bald auch die seinen sein werden, will ich essen und schlafen, wenn er das mit ansehen kann«, setzte sie überschwänglichster Weise hinzu.

Der Intrigant gedachte die in seiner Jugend erworbenen landwirtschaftlichen Kenntnisse zu verwerten und in Ginsterfeld »Kartoffelsetzen« zu gehen. Ich wollte mich ihm anschließen. Der Held als gelernter Schneider zweifelte nicht einen Augenblick daran, in einem hiesigen »Kleidersalon« unterzukommen.

Gesagt – getan! Wir hatten zwar mancherlei Bedenken gegen unsere Aufnahme in bürgerliche Dienste niederzukämpfen, allein was die Nächstenliebe der Ginsterfelder nicht vermochte, das vermochte ihre Bosheit. Sobald sie merkten, dass es uns darum zu tun war, Frau Schmeer den Bräutigam abspenstig zu machen, entdeckten sie ihre Menschenliebe und nahmen uns auf. Wir befanden uns noch am selben Abend in unseren neuen Stellungen. Ich und der Intrigant waren bei einem biederen Ackerbürger untergekommen, dem kurz vorher seine Dienstboten davongelaufen waren.

Der Direktor kam schon beim nächsten Morgengrauen entsetzt und händeringend zu uns auf das Feld.

»Das kann Euer Ernst nicht sein«, rief er, »das ist wahnsinnige Komödie!«

Der Intrigant antwortete ruhig und ernst:

»Wir spielen aber die Komödie weiter, solange Du zuzusehen vermagst. Und wenn dann die Komödie von furchtbaren Wirklichkeiten zu strotzen anfängt, dann siehe, wie Dein Gewissen es erträgt. Wir siegen oder fallen mit Dir! Wähle!«

Am dritten Tage danach sah sich unser Prinzipal, von Frau Schmeer gedrängt, vor die Wahl gestellt. Er vermochte es nicht über sich zu bringen, uns länger in so unwürdiger Lage zu lassen. Aber die Heldin drehte nun den Spieß um und redete davon – Schenkmagd zu bleiben. Der Wirt erfreute sich ihretwegen eines so großen Zulaufes, wie sie einen ähnlichen als Künstlerin in Ginsterfeld niemals verursacht hatte. Zum Glücke nahm es die Heldin damit nicht ernst, aber sie verstand es, den Direktor dahin zu bringen, dass er sie beschwor – mitzuziehen.

Unsere herrliche Tat hatte den Prinzipal so vollständig überwältigt und erschüttert, dass der sonst etwas starrsinnige Mann in unseren Händen zu Wachs wurde. Es war eine finstere Sturmesnacht, als wir ihn aus Ginsterfeld entführten. Das praktikable Theater und die Bagage mussten wir leider zurücklassen. Aber bald darauf pflückten wir unter dem neuverjüngten Regime unseres teuren Häuptlings neue Lorbeeren. Er hat es uns nie vergessen, dass wir ihn vor der Versumpfung gerettet haben.


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