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Alles nach diesem Tag fließt zusammen wie in einen dunkeln Strom, in dem sich nichts widerspiegelt. Alles, bis zu dem Tag, an dem Harry in meinem kleinen Zimmer vor mir steht. Er hat seinen Kampf einsam ausgekämpft, und ist jetzt gekommen, um mir zu helfen.
Ich stehe am Fenster und sehe hinaus. Es ist nichts, nichts zu sehen da draußen, was ich nicht schon hundertmal gesehen hätte. Obgleich es Frühling ist, kommt mir alles so seltsam dumpf vor. Natürlich weiß ich nicht, warum Harry gekommen ist. Ich kann aus seiner Miene nur schließen, daß es etwas Wichtiges ist, was er mir zu sagen hat.
»Was willst du?« frage ich.
Im Augenblick kommt der Gedanke, er möchte mir vielleicht etwas beichten.
Freundlich frage ich:
»Hast du etwas Unrechtes getan?«
Da höre ich den Knaben lachen. Ein kurzes, trotziges Lachen.
»Ich?« sagt er und wird rot.
Blitzschnell begreife ich, daß jetzt die Lösung des monatelangen Rätsels kommt. Und ich warte darauf, wie der Gefangene auf die Freiheit wartet . . .
Ich werde sofort aufmerksam, und indem ich den Knaben an mich ziehe, sage ich:
»Sprich jetzt. Ich werde dich nicht einmal ansehen.«
»Wart' ein bißchen,« antwortete Harry.
Ich sitze da – den Arm um seine Schulter geschlungen – – ich muß lange warten. Ich höre, wie seine Brust arbeitet. Endlich sagt er:
»Mama betrügt dich.«
Es wird ganz still zwischen uns. Keiner hat mehr etwas zu sagen. Keiner mag dem andern ins Gesicht sehen. Etwas in mir ist zerbrochen. Und doch fühle ich keinen Schmerz. Nur eine Frage brennt in mir, und ich zaudere, sie auszusprechen. Zuletzt kann ich sie nicht mehr zurückhalten.
»Weißt du das schon lang?«
Rasch, mit zitternden Lippen antwortet er:
»Seit Frühjahr.«
»Voriges Frühjahr?«
Ich schrie die Worte fast heraus.
»Ja.«
Also ein Jahr, oder fast ein Jahr! Ein Blitzlicht hat das Dunkel dieser langen Monate erhellt. Harry hat gewußt, was ich nicht einmal zu denken wagte. Unwillkürlich messe ich seinen Schmerz an dem meinen, und wundere mich, wie er ihn hat tragen können.
Trotzdem hab' ich ihm nichts zu sagen, keine Fragen zu stellen, keinen Rat zu erteilen. In diesem Augenblick ist er mehr als meinesgleichen.
Plötzlich löst sich Harry aus meinem Arm und sagt:
»Kann ich jetzt gehen?«
»Sag mir nur noch eins: Habe ich recht gehört? Ist es mehr als ein Jahr, daß du das weißt?«
Wieder zittern seine Lippen. Er nickt.
»Ja.«
Ich vermochte nichts zu antworten. Aber der Knabe mußte verstanden haben, was ich dachte.
»Ich getraute mich nicht, mit dir zu reden,« sagte er. »Ich wollte auch nicht.«
»Nein, nein!« Das war alles, was ich ihm zu sagen wußte.
Dann sagte er leise:
»Jetzt dachte ich, ich müßte . . .«
»Warum hast du geschwiegen? Dachtest du, deine Mutter würde dir etwas zuleide tun, wenn du mir erzähltest, was du wußtest?«
Zum ersten Mal wurde Harry glühend rot.
»Hat sie dir vielleicht etwas Derartiges gesagt?«
»Ja.«
»Du hast also mit deiner Mutter über solche Dinge gesprochen, und sie mit dir?«
»Ja.«
In mir stieg etwas auf, das mir Furcht einjagte. Ich dachte an die Szene mit dem armen Arbeiter, die Szene, die mich so mächtig aufgeregt hatte. Und der Gedanke packte mich, wie unschuldig doch seine Geschichte war im Vergleich zu der meinen – wie unheimlich unschuldig.
Harry unterbrach meine Gedanken.
»Wird Mama jetzt von dir geschieden?« fragte er.
»Ich weiß nicht,« antwortete ich.
Meine Gedanken waren weit fort, und Harry schien die Fähigkeit zu haben, ihnen zu folgen.
Er schmiegte sich dicht an mich und flüsterte:
»Hab ich recht daran getan, daß ich es dir gesagt habe?«
»Ja,« antwortete ich. »Du hast recht getan.«
Aber die Worte hatten keinen Sinn für mich. Und Harry begriff, daß ich jetzt allein sein mußte, und ging.
Ich stand am Fenster, und ein Wundern stieg in mir auf – ein Wundern darüber, daß ich noch immer keinen Kummer fühlte. Eher kam es mir vor, als empfände ich eine große Erleichterung, obgleich ich mir nicht erklären konnte, in was diese Erleichterung lag. Es war einfach, als ob die Welt in mir auf eine Art heller geworden wäre.
Draußen auf der Straße begann es zu dämmern. Die blassen Lichter der Straßenbahnen glimmten durch den Nebel, und ihr Anblick erinnerte mich an meinen Traum. Das Rasseln der Wagen, ja sogar das Geräusch der Pferdehufe drang zu meinen Ohren. Nacheinander wurden die Laternen da unten angesteckt.
Ein sonderbares Gefühl, als sei ich nicht allein, überfiel mich. Rings um mich her – eine Treppe – zwei Treppen – drei Treppen – vier Treppen – im Erdgeschoß und unter dem Dach – überall hatte ich stumme Nachbarn. Keiner wußte etwas von dem, was mir eben geschehen war. Aber bald würden alle es wissen . . .
Ein Frostschauer schüttelte plötzlich meinen ganzen Körper. Ich fror, aber es kam nicht davon, daß ich am Fenster stand. Jetzt fängt es an, dachte ich. Aber mein Kopf war dabei immer gleich klar und wach, und weder Schwere noch Schmerz störte das wunderbare Gefühl der Erleichterung, das über mich gekommen war.
Aber ein Punkt begann doch in mir zu fiebern. Vielleicht wußten diese Menschen, die da rings um mich wohnten, mehr als ich dachte, – hatten immer mehr gewußt. Gegenüber über der Straße waren Fenster, und hinter den Gardinen saßen Augen, die vielleicht mehr gesehen hatten, als ich, und Lippen, die die Neuigkeit, die ich allein nicht wußte, weiter verbreitet hatten. Ist es nicht immer so? Ist nicht in einem solchen Verhältnis der Mann der einzige, der nicht weiß, was die ganze Welt weiß?
Es flog mir durchs Gehirn, daß ich Ähnliches in schlechten Romanen gelesen hatte, und ich lächelte über mich selbst. Dennoch wurde ich den Gedanken an die Menschen nicht los. Ich hörte ihre Stimmen von der Wohnung unter mir, ich hörte ihre Schritte aus der Wohnung über mir. Meine Phantasie begann plötzlich diese Wohnungen, alle Gebäude um mich her zu bevölkern. Und alle die Geräusche, die die Mietskasernen der Städte füllen, gewannen plötzlich eine Art Bedeutung für mich. Es waren ja doch Menschen, die rings um mich her wohnten, Menschen, die geboren wurden, aufwuchsen, heirateten, sich scheiden ließen, starben oder Kinder bekamen, litten, einander quälten, liebten, haßten und dahingingen. Nirgends war ich allein. Früher nannte man diese Menschen Nachbarn. Jetzt war das Wort fast aus der Sprache verschwunden. Denn das, was das Wort bedeutete, findet sich ja kaum mehr. Was kümmern sich die Menschen von heut darum, ob die Nachbarn gut oder böse sind? Die Hauptsache ist, daß sie keinen Lärm machen und nicht belästigen.
Ich glaube, nie zuvor hatte ich an meine sogenannten Nachbarn gedacht. Aber in dieser Stunde fühlte ich deutlich die Nähe der Menschen und sah ein, daß ich ihnen nicht entgehen konnte. Ich würde ihnen auf den Treppen begegnen, sie würden mich sehen, wenn ich zur Haustür aus und ein ging, sie würden mich im Auge behalten . . . Wenn ich über die Straße ging, um in die Trambahn einzusteigen, würden ihre Blicke mich in den Rücken stechen, und sie würden merken, daß ich nicht mehr so aufrecht ging, wie bisher. Wenn ich nach Hause zurückkehrte, würde ich wissen, daß Augen mir auf dem kurzen Weg folgten, eh ich in der Haustür war, die sich von selbst hinter mir schloß.
Widerwärtiger habe ich nie den Fluch der modernen Stadt empfunden: daß der Mensch sich nie einsam fühlen kann. Mir war, als hörte ich das Rauschen des Walds und des Meeres zorniges Tosen. Nichts sonst brauchte ich. Nichts sonst wollte ich um mich her hören. Mich verlangte nach einer Tür, die alle die andern hinausschlösse, nach einer Treppe, auf der keiner ging als ich und die Meinen, einem Zimmer, in dem kein fremder Laut meine Ruhe störte.
Unter mir die Straße lag im Dunkeln; der Glanz der Laternen ward heller, je tiefer die Dämmerung sank. Über mir klangen die Schritte eines Menschen, der ab und zu ging, und aus der Ferne drangen gedämpfte Musikklänge an mein Ohr.
Und für einen Augenblick verschwand alles, was mich störte, verwirrte und beunruhigte, und eine neue Zukunft stieg vor meinen Blicken auf, eine Zukunft, nicht glänzend und lockend, aber warm und weich, eine Zukunft, ganz anders als die, die mir seit langem mit Dunkel und Untergang gedroht hatte. Und einen Moment lang war mir, als hätte ich den Glauben wiedergewonnen, daß meine Seele von neuem wachsen könnte . . .
Ein Gefühl der Wonne bemächtigte sich meiner, ein Gefühl, das ich am liebsten niedergehalten hätte, weil es mir grausam erschien. Aber ich war auch grausam in diesem Augenblick – – erfüllt wie ich war von dem großen, gesunden Egoismus, der zuweilen aus einem Menschen hervorbrechen und ihn retten kann.
Ich zündete die Lampe an und zog die Gardinen zusammen. Es war, als schlösse ich die Außenwelt aus, schlösse mich ein mit einem neuen Glück. Keiner hätte mir geglaubt, wenn ich ihm von diesem seltsamen Glücksgefühl erzählt hätte. Und doch war es tatsächlich vorhanden. Gewißheit ist besser als Grübeln. Und aus der Notwendigkeit zu handeln keimte eine neue Hoffnung. Der Tag war zu Ende, der Alltag mit seiner späten Dämmerung, die den Nachmittag allzu lang und allzu licht macht . . .
Ich weiß noch, daß ich dachte:
»Welcher Narr hat die Legende erfunden, daß die Rolle des Betrogenen lächerlich sein soll? Ist es möglich, daß man lächerlich ist, ohne es zu fühlen?«
Mein Auge fiel auf das Bild meiner Frau, das auf dem Schreibtisch stand. Aber ich betrachtete es ruhig. Und es kam mir gar nicht in den Sinn, es von seinem Platz wegzunehmen.