Gustaf af Geijerstam
Wald und See
Gustaf af Geijerstam

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sammel

1.

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der in eine angesehene Familie kam und eine gute Heirat machte und sich doch nicht zufrieden geben konnte, weil er nicht gemacht war für das ruhige Leben, nach dem andere Menschen streben. In der Ferne sehnte er sich heim, und daheim sehnte er sich fort, und schließlich ward er einer von denen, über die die Menschen lachen, als über Narren. Der Name dieses Mannes war Sammel, und obwohl er Samuel getauft war, kannte man ihn nie unter einem andern. Sammel war ein junger Seemann und war eben heimgekehrt.

Sammel schritt einsam des Wegs daher, der nach dem Dorf Brunna führte. Sammel war der verlorene Sohn, der sein Erbe in der Fremde und unter Dirnen verpraßt hatte. Sammel hatte keinen Vater, zu dem er gehen konnte, und hatte nie einen gehabt. Der ihm das Leben gegeben hatte, war von seiner Mutter weggelaufen, noch eh Sammel geboren ward, und seine Mutter war nach seiner Geburt vor Gram und Not gestorben. Sammel hatte darum das Dorf zum Vater, und als er noch klein war, schickte das Dorf ihn in der Gemeinde herum. Der Pastor mußte ihm einen Namen geben, und damit wenigstens der Name ein ehrlicher wäre, erhielt er einen biblischen. Aber das Dorf, das sein Vater war, verwarf diesen Namen und nannte ihn Sammel, ernährte ihn mit gesalzenem Strömling, Kartoffeln und grobem Brot und vergaß ihn, sobald er draußen auf der See war. Als Sammel aufwuchs, ward er der Knecht aller, und erst im letzten Jahr seines Daheimseins kam er auf kurze Zeit bei einem Lotsen auf Gråskär in Dienst und lernte die See kennen. Da gefiel es ihm am besten. Aber ihn lockte die Freiheit, und an einem Frühlingstag verheuerte er sich auf einem Dampfer, der nach dem Mittelmeer fuhr, und verschwand aus Brunna und Gråskär. Sobald Sammel fort war, war er auch vergessen, und als er jetzt heimkam, war er vierzehn lange Jahre fort gewesen. Viel hatte Sammel in dieser Zeit erlebt, noch mehr hatte er gesehen, und während er jetzt den wohlbekannten Dorfweg hinschritt und die Flaggen im Mittsommerwind wehen sah, schien es ihm, als müßte das Dorf, das sein Vater war, ein Kalb schlachten, weil der verlorene Sohn heimgekommen war.

Sammel kam in Seemannstracht mit einem roten Anker vorn eingenäht, und auf seiner Brust war ein Herz eintätowiert, aus dem die Flammen schlugen. Er hatte dies Herz einem Mädel in Singapore, einem andern in Port Natal, einem dritten in Hull und einem vierten in Barcelona gezeigt. Und allen hatte er gesagt, sein Herz brenne vor Liebe zu ihnen, und sie hatten ihm dafür ihre Liebe geschenkt und ihn glücklich gemacht, solang das Schiff vor Anker lag. Das waren frohe Tage für Sammel; er lebte wie im Himmel; aber wenn das Schiff die Anker lichtete und wieder hinauf aufs Meer zog, war Sammel ganz zufrieden, daß alles vorüber war. Die See packte ihn wieder mit Gewalt, und wenn er beim Steuer stand, sah er staunend empor nach dem fremden Sternenhimmel, der sich um einen Ozean ohne Grenzen wölbte.

Auf seinem Rücken war Sammel nach vielen Richtungen hin um die Erde getragen worden. Er hatte den Atlantischen gekreuzt – in stillem Wetter und in Sturm – er war mit Schiffen vieler Nationen gefahren, und er konnte sich in mehr als einer Sprache verständlich machen. Er war in gutem Wetter draußen gewesen, wenn die Passatwinde das Schiff vorwärts trieben, ohne daß man tagelang auch nur ein einziges Tauende festzumachen brauchte. Er hatte im Sturm beim Cap der Guten Hoffnung und am Cap Horn um sein Leben gekämpft. Einmal war er auf zwei zusammengebundenen Brettern an einer fremden Küste ans Land getrieben worden, und damals hätte er nicht mehr weiter können, wenn er nicht ein paar englische Goldstücke in einem Lederbeutel bei sich gehabt hätte, den er an einer Schnur um den Hals trug.

Nie hatte Sammel in all dieser Zeit sich nach Hause gesehnt oder an die Heimkehr gedacht. Aber an einem Junimorgen begab es sich, daß er mit einem englischen Dampfer fuhr, der Kohlen nach Stockholm brachte, und als Sammel da sich den Schären näherte, stand er am Ruder still und sah, wie der Nebel sich über dem Leuchtturm von Landsort lichtete, der sich, umschwärmt von Möwen, über der nackten Klippe erhob. Und etwas Nasses kam in seine Augen. Er sah den Wald feucht im Morgenbrand der aufgehenden Sonne stehen, er sah die Möwen ums Schiff kreisen und die Eidergänse schwer über das grüngoldene Wasser streichen. Er sah die schlanken Birken und niedern Föhren, er begegnete einmastigen Booten mit grauen Segeln und las schwedische Mädchennamen auf den Hintersteven der schwerfälligen Rumpfe.

Und Sammel ward von dem Heimweh gepackt, das er so lang vergessen hatte, und als er in Stockholm an Land ging, dachte er weder ans Wirtshaus noch an die Mädels, denen er sonst das tätowierte Herz gezeigt hatte, aus dem die Flammen schlugen. Er löschte, wie die andern, aber die ganze Zeit über war er wie verzaubert in seine eigenen Gedanken, und als er merkte, daß er dem nicht widerstehen konnte, was in ihm gärte und rang, ging er eines Tages zum Kapitän und bat um seine Heuer und sein Seemannsbuch und seinen Abschied.

Denn Sammel konnte nicht anders – er sehnte sich nach dem Dorf, das sein Vater gewesen war und wo keiner mehr an ihn dachte. Er sehnte sich nach den roten Häusern mit den Ahornbäumen und Birken darum. Er sehnte sich nach dem schmalen Sund, wo der Hecht hinter den Steinen des Grundes auf der Lauer lag. Er sehnte sich nach den Kornfeldern und den blumigen Wiesenhängen. Ja, er sehnte sich dann und wann sogar nach den Menschen, und ihm deuchte, als wären sie gut gegen ihn gewesen, daß sie ihm zu essen gegeben und ihn aufgezogen hatten. So unwiderstehlich war diese seine Sehnsucht, daß Sammel noch am selben Mitsommerabend der Heimat zufuhr und viele Stunden lang auf dem Vorderdeck eines sonndurchglühten Dampfbootes eingekeilt stehen mußte, eh er endlich an Land kam.

Als er dann vom Landungsbrett auf die Brücke trat, kam es ihm zum Bewußtsein, daß ihn in den feinen Kleidern, die er trug, und dem neuen Kinnbart, den er sich zugelegt hatte, niemand wiedererkennen würde. Ruhig und ohne zu grüßen schritt er durch die Menschenmenge, die an der Brücke stand, lächelte vor sich hin und wunderte sich, was sie wohl alle denken würden, wenn sie wüßten, wer der stattliche Seemann war.

Sammel selbst erkannte alle auf der Brücke wieder, die Lotsen und ihre Weiber, die von Gråskär herübergekommen waren, den Gemeinderat Johan Erikson, Karl Andersson, den Bauer, und Anders Sjögren, den Fischer. Österman von Norrhofva war auch da und stolperte mit seinen krummen Beinen herum, und alle hatten sie ihre Frauen mit. Ein bißchen alt waren sie alle geworden, aber Sammel erkannte sie doch wieder, wenn auch die Jahre einigen von ihnen recht zugesetzt hatten. Sie kannten ihn nicht, und Sammel richtete sich kerzengerade auf und ging vorbei. Weiter oben an der Böschung stand die Jugend in einem dichten Knäuel. Die Mädchen standen in der Mitte und die Burschen umringten sie. Die Mädchen verkrochen sich unter ihren Kopftüchern, und Augen und Lippen blitzten lachend darunter hervor, wie Blumen aus den Blättern. Die Burschen betrachteten sie und irgend einer sagte irgend etwas. Aber keiner wagte sie anzurühren.

Hier vorüberzugehen, das war am schwersten. Die Mädchen aus seiner Zeit waren wohl verheiratet, dachte Sammel; denn er sah keine von ihnen dabei. Bei den Burschen waren doch ein paar, deren er sich entsann und die er wiedererkannte. Aber auch an ihnen ging Sammel vorüber. Als er nun so stand – hier, wo er jeden Busch und jeden Stein, niemand aber ihn kannte, wurde er mit einemmal wie lahm und hatte zu nichts mehr Lust. Um allein zu sein, schlug er den Weg ein, der am Rand der Felder hinführte und in den Wald einbog. Aber obgleich er die Einsamkeit absichtlich aufsuchte, dachte er doch: »Wer doch jemand hätte, zu dem er gehen könnte!« Immer tiefer in den Wald ging er, er sah weder Häuser noch Menschen mehr. Durch die Tannen schimmerten die Strahlen der Mitsommersonne freundlich und mild, und Sammel blieb mitten im Wald stehen und sah dem Sonnenschein zu, der über Moos und Waldblumen fiel. Dann rief der Kuckuck. Zehnmal rief er – und zwar von Norden her.

Lange wanderte Sammel so dahin, und seine Gedanken flatterten wie leichte Segel im Wind. Auf einem Umweg kam er aus dem Wald, und wieder lag vor seinen Augen das Dorf mit dem Birkenlaub vor den Türen und den Flaggen über den Hausdächern. Still und schweigsam standen die grünen Bäume um die alten Häuser her. Kein Hauch regte sich im Sonnenuntergang, unbeweglich standen die dunkeln Ufer mit ihren Tannen und Klippen oben in der stillen Luft und unten in dem klaren Wasser der Bucht, die spiegelblank zwischen den Ufern lag, und auf der noch kein Schilf aufgeschossen war.

Da setzte Sammel sich nieder und sah über den Fjord hinaus. Jetzt wußte er, daß für ihn und um seiner Heimkehr willen kein gemästetes Kalb geschlachtet wurde. Am besten war's, er ging gleich wieder zurück. Er erinnerte sich jetzt ganz deutlich, wie alles gewesen war, und nichts mehr fiel ihm jetzt ein, wofür er hätte dankbar sein müssen. Immer hatte er gehungert daheim, und immer war er allein gewesen. Aber niemand hatte ihn unterkriegen können! Sobald er so groß gewesen war, daß er ein Boot hatte rudern können, hatte er sich, wenn niemand es sah, fortgeschlichen. Draußen am Meeresstrand segelte er mit Fischnetz und einem alten Feuerspeier, den er einmal, als er just Geld besaß, für eine Krone und fünfzig auf einer Auktion erstanden hatte, herum. Er plünderte die Vogelnester und briet Fische zwischen den Steinen. Hei, wie das schmeckte! Und immer war er allein. Herrgott, was setzte es für Prügel nachher, wenn er heimkam! Jeder, aber auch jeder einzige konnte ihn durchhauen! Denn sein Vater war das ganze Dorf – er hatte ja keinen andern. »Aber sie kriegten mich doch nicht unter, meiner Seel'!« dachte Sammel. »Niemand hat mich untergekriegt! Darum bin ich auch hinaus gekommen – in die Welt – und hinaus will ich wieder, damit ich nur fort bin und nicht mehr an all das Zeug zu denken brauche!«

Sammel hätte sich nie gedacht, daß es so unerfreulich wäre, heimzukommen. Da klang durch das Schweigen des Abends ein Laut, bei dem der Seemann zusammenzuckte. Er wandte sich und lauschte. Es klang und es sang. Über die stille Weite, über der die Flaggen matt herniederhingen, weil der Wind sich gelegt hatte, ward der Klang einer Geige getragen, die zum Tanz aufspielte. Sammel stand auf. Zaudernd blickte er nach der alten Scheune in der Ferne, vor der die Menschen in dicken Gruppen standen. »Dort hab' auch ich früher gestanden!« dachte Sammel, »und bin nie hineingekommen!« Aber die Töne lockten ihn, und über die Geige hinweg, die knisterte und sang, hörte er das Geräusch der tanzenden Füße, die in langsamem Walzer auf den Scheunenboden aufschlugen. »Ich bin jetzt auch kein Lump mehr!« dachte Sammel. »Jetzt kann ich auch hinein – wie jeder andere!« Aber als er an die breite Öffnung der Scheune kam, wo die Torflügel weit offen standen, und die Gestalten drin sich im Tanz bewegen sah, taktfest und lärmend, da brachte Sammel es nicht über sich, weiterzugehen, sondern blieb am Tor stehen, bei den Alten, unter denen die Flasche kreiste.

Da stand nun Sammel in seinem feinen Seemannsanzug und mit seinen Taschen voll Geld, und er, der in fremden Ländern gewesen war und Mädchen von jeder Couleur hatte tanzen sehen, daß das Blut brauste, getraute sich nicht hineinzugehen und eine schwedische Bauerndirne herumzuschwenken, hier, wo er doch daheim war! Er stand nur mürrisch da und mochte nicht tanzen. Nur all das noch einmal mit ansehen. Dann konnte er seiner Wege gehen, wie er gekommen war, und ein Dampfer würde sich schon finden, der ihn zur Stadt zurückbrachte.

Drinnen wogte der Tanz in der Mittsommernacht. Die Geige hatte Verstärkung erhalten, eine neue war dazu gekommen. Fern im dunkelsten Winkel der Scheune saßen zwei Spielleute und strichen die Saiten, daß der Schweiß rann. Ihre Hände bewegten sich auf und ab, in kurzen Schlägen klangen die Striche zu Walzer, Polka und Schottisch. Ohne zu wissen, wie es zugegangen war, befand Sammel sich plötzlich mitten drin. Er erhielt von einem tanzenden Paar einen Knuff mitten auf den Leib, daß er niedertaumelte auf eine Bank, und als er aufsah, war um ihn her der Tanz in vollem Gang. Der Scheunenboden dröhnte unter Männern und Weibern, die umhertrampelten. Die Mädchen hatten die Arme um den Hals der Burschen geworfen, fest und zärtlich hielten sie sie so, und die Jungens schwenkten sie umher, Mal für Mal, ohne zu ermüden. Mitten im Wirbel sah man ab und zu einen vergnügten Mann, der ganz allein tanzte. Und rings um die Paare drängte sich die Dämmerung und schnitt gegen das Licht der Sommernacht draußen auf dem Hügel ab. Und all diese tanzenden, liebeslüsternen, warmen, verliebten Paare zeichneten sich gegen die lichte klare Luft der kühlen Juninacht, der Hochzeitsnacht des Sommers, ab. Sammel hatte andere Tänze gesehen, aber er erinnerte sich ihrer nicht mehr. Hier lag Scherz und Fröhlichkeit in der Luft! Hier war Mitsommertanz, und hier war er daheim! Hier wogte der Tanz, und hier schien die Sonne die ganze Nacht. Schweigend schwangen die Paare sich in der Runde. Man hörte nichts, als das Getrampel der Füße und die Klänge der Geige. Die Mädchen lachten nicht laut, die Männer machten keine Witze. Wie Schatten schwenkten sie sich herum. Und wie Sammel so da saß und sich all dies mit ansah, sprang ihm das Feuer ins Blut. Durch die Scheunenöffnung konnte er sehen, wie es hinter dem Wald, wo die Sonne unterging, feuerrot brannte. Durch das Schweigen vernahm er die schweren Atemzüge der Mädchen und sah die Augen der Burschen kühn werden. »Warum kann ich nicht auch mittun, wie jeder andere?« dachte er. Und die Paare vor ihm wurden undeutlich, verwickelten sich ineinander, daß der Tanz ward wie ein einziger Knäuel, der still stand, um sich zu entwirren, und schließlich weiter ging, wilder als zuvor.

Da erblickte Sammel plötzlich ein Mädchen, das er vorher nicht gesehen hatte, und ihr Gesichtsausdruck war so, daß Sammel, ohne an das zu denken, was er tat, seine Mütze zurück in den Nacken schob und laut lachte. Das Mädchen war mitten im Tanz. Sie war barhäuptig und blond. Und man brauchte sie gar nicht genau zu betrachten, um zu sehen, wie ihr roter Mund lachte, und daß ihre Augen beim Tanzen leuchteten. Mit beiden Händen hielt sie sich um den Hals eines breitschultrigen jungen Mannes in blauem Rock und Schirmmütze festgeklammert. Unverdrossen schwenkte er das Mädchen mit den lachenden Augen herum. Als die Geigen verstummten, ließ er sie los und verschwand durch das offene Tor der Scheune. Das Mädchen sah ihm rasch nach und setzte sich.

»Du bist dumm!« dachte Sammel, und lachte noch lauter bei sich selbst. »Grade jetzt hättest du nicht gehen sollen!« Er rückte weiter vor auf der leeren Bank, so daß er dem Mädchen näher kam. Und so jubelnd froh war er, als hätte er mit dem Mädchen Nacht für Nacht getanzt und nie an anderes gedacht. Wieder erklang die Musik, wieder glitten die Paare in den Tanz hinaus. Sommernacht und Töne brachten sie einander näher, schlossen sie Brust an Brust zusammen und zwangen sie in ihre schweigende Zaubermacht. Wie schwere Schatten bewegten sie sich im Dämmer der Scheune gegen das Licht des klaren Sommerhimmels, an dem die Sonne bald aufgehen mußte.

Jetzt war auch Sammel im Zauber gefangen, und er saß dem Mädchen so nah, daß er kein Wort zu sagen brauchte. Er streckte nur die Hand aus und faßte um die weichsten Hüften, die er in seinem ganzen Leben berührt hatte. Barhäuptig war das Mädchen und blond, und los ging der Tanz! Sammel war voller Leben und Mut, und er wußte, das Mädchen hatte ihn gesehen, eh er sich ihr genähert hatte. Etwas regte sich jetzt in ihm, das betäubt werden mußte, etwas, das er von sich tanzen mußte. Es hatte ihn den ganzen Tag über verfolgt, seit er seinen Fuß auf das Deck des Dampfbootes gesetzt hatte. Es war im Wald neben ihm hergegangen und hatte an seinen Herzwurzeln gezerrt und gerissen, als er auf das Dorf blickte, das sein Vater war und nichts von ihm wissen wollte. Jetzt wollte er Entschädigung, jetzt würde er sie finden. Hallo! Aus dem Weg da! Jetzt tanzt Sammel, der in fremden Ländern gewesen ist und Geld im Sack hat, Sammel, der ein feuriges Herz außen auf der Brust, in jedem Hafen ein Mädel und innen in der Brust ein wildes Herz hat! Jetzt tanzt Sammel, der nicht mehr einsam ist!

Wo hatte er dies Wort her? Wie war ihm das gekommen? Sammel tanzte einen Tanz und tanzte zwei Tänze! Als die Geigen schwiegen, saß er mit der warmen Hand des Mädchens in der seinen; er sah, daß sie zart von Haut war und blond, und daß ihre blauen Augen immer dunkler wurden. Zuletzt brauchte er den Arm gar nicht mehr von ihren Hüften wegzunehmen, und als es eng auf der Bank wurde, zog er sie sachte auf seine Kniee nieder, und sie blieb sitzen, wie die andern auch.

Höher und höher stieg die Fröhlichkeit in der Mitsommernacht. Es war nicht mehr still jetzt in der Scheune, wo die Paare rot und erhitzt sich schwangen. Laute Rufe unterbrachen die Stille, Lachen stieg empor zum Gebälk des Daches, ward von dort zurückgeworfen und rollte wie ein Echo über die Felder. Der Spielmann stand auf der Bank, rot vor Eifer strich er die Geige, stampfte den Takt und sang aus vollem Hals. Die Paare konnten nicht länger innen bleiben. Sie gingen hinaus, an die Luft, wo der Waldrand von der aufgehenden Morgensonne purpurrot gefärbt war, verschwanden hinter den Häusern oder schlichen in die Hecken und kehrten wieder zurück – engverschlungen, um sich flammend aufs neue in den Tanz zu stürzen.

Sammel fühlte nicht mehr, daß irgend etwas ihn drückte oder einengte. Die Welt war ja gar nicht so eng daheim. Weit war sie, glanzvoll, groß und unendlich. Alles schwieg jetzt, was er in sich hatte betäuben wollen. Das gemästete Kalb war geschlachtet und verzehrt. Der Mitsommertanz war Sammels eigenstes Fest. Sammels, der kein verlorener Sohn war, sondern ein wiedergefundener. Er fühlte sich froh, stark, sicher und elastisch. Ihm war zumut, wie es dem Menschen ist, wenn alles sich nach seinem Willen fügt, und das Leben so klar wird, so einfach, als gäbe es gar keine dunkeln Dickichte und Irrgänge. In dieser Gemütsstimmung trat Sammel aus der Scheune. Um ihn war die Luft klar und frisch. Und das Mädchen ging mit ihm. Sie ging, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und ließ sich von ihm auf die weichen Lippen küssen, so oft er wollte. Der Wald schloß sich um sie, und in ihnen spielte und sang der ganze Siegesjubel der Natur.

Aber als die Sonne schon über dem neuen Tag leuchtete, da lag Sammel mit dem Gesicht auf der Erde und weinte, daß sein ganzer, starker Körper bebte. Das Mädchen saß erschrocken im Sonnenaufgang und wußte nicht, wie es den verzweifelten Mann trösten sollte, und nicht, weshalb er weinte.

 

2.

So ging es zu, daß Sammel, der um die Erde gesegelt war und in fremden Ländern als großer Herr gelebt hatte, auf eigenem Grund und Boden seßhaft ward, was er doch nie gewesen war in der ganzen Zeit, da er als aller Knecht von Hand zu Hand ging, von aller Tische lebte und allen gehorchen mußte.

Es würde indessen nie so gekommen sein, wenn das Mädchen, mit dem Sammel in der Mitsommernacht getanzt hatte, ganz bei Sinnen gewesen wäre, als er ihr begegnete. Das war jedoch nicht der Fall. Denn grade als Sammel sein Auge auf sie geworfen hatte und an ihre Seite gerückt war, saß sie und grübelte still darüber nach, warum ein junger Knecht, mit dem sie immer gegangen und mit dem sie draußen in den Hecken gewesen war, heute nur einmal mit ihr getanzt hatte, weil es sich so gehörte, und sich dann mit andern Mädchen in der Scheune herumschwenkte. Es war die Kränkung, die Erhitztheit des Augenblicks, die sie dem fremden Seemann in die Arme warf. Und als Sammel dann, glücklich und verliebt, im Dorf Wohnung nahm und schwor, er könne Hilma nie vergessen, da trafen sich die jungen Leute oft und viel, und ihre Liebe ward bald allen im Dorf und weiter in der Gegend offenbar. Österman in Norrhofva fluchte wie ein Russe, als er erfuhr, wie es stand. Er war zwar ein wohlhabender Bauer, der auf seinem eigenen Hof saß, aber er hatte sieben Kinder zu versorgen, und er konnte nie so recht verstehen, was er mit dem Seemann da anfangen sollte, der Hohn und Schimpfworte aufnahm, als gälten sie einem andern, und aussah, als achtete er gute Familie und Geld für nichts, sondern am vergnügtesten wäre, wenn er all dem miteinander den Rücken kehren und los und ledig wieder zur See könnte!

Sammel konnte selbst auch nicht begreifen, was während dieser Zeit mit ihm geschah. Alles verwickelte sich für ihn, und er konnte nie herausbringen, wie es eigentlich war. Er hatte jetzt Schwiegervater und Schwiegermutter, Schwager und Schwägerinnen, und alle wußten sie ihm gute Lehren zu geben, was alles eines Menschen Pflichten wären. Zwar wußte Sammel wohl, daß es so etwas in der Welt gab. Aber nie hatte er sich in die Lage hineingedacht, daß derartiges ihm gelten könnte. Auf alle Fälle dachte er, wenn es schon hatte kommen müssen, so hätte es doch nicht so bald zu kommen brauchen.

Sammel vermochte mit dem, was ihm jetzt geschah, nicht fertig zu werden. Er war gerade wie ein Fisch, der in eine große Reuse geraten ist. Noch war er im Wasser, und darum hatte er auch kein Verlangen, ein großes Wesen zu machen und wild um sich zu schlagen. Er drehte sich nur um und um, schwamm langsam hierhin und dahin und glaubte, zuletzt würde er doch auf ein Loch treffen, wo er hindurch schlüpfen könnte. Aber wo er hin kam, stieß er immer gegen Garn und geschmeidiges Netzwerk. Es dehnte sich und gab nach, aber es hielt. Und Sammel ging umher wie im Schlaf und wartete, wie lang all dies Neue dauern würde. Denn es war mit ihm wie mit dem Fisch. War er erst einmal aufs Trockene gezogen, dann war's nur noch ein Gezappel und Gezucke und Geschnappe und am Ende der Tod. Der einzige Unterschied war nur, daß ein Mensch, der aus seinem Element kommt, zählebiger ist, als ein Fisch, und darum langsamer stirbt.

Sammels Element war, gehen zu können, wohin er wollte, und wann es ihm einfiel. Bisher hatte er das in seinem Leben so ziemlich gekonnt, und was er im übrigen entbehren mußte, darein fand er sich. Hungern konnte er, frieren auch, und auf den Rest pfiff er, wenn er nur sein eigener Herr war. Jetzt aber saß er fest in der Reuse, und je länger er da saß, desto enger, deuchte ihm, ward der Raum. Als Östermans sich an Sammel gewöhnt hatten, mochten sie ihn gar nicht ungern leiden und behandelten ihn darum gut. Die Braut war rein vernarrt in ihn und bereute keinen Augenblick. Weshalb Sammel auch schließlich wie in eitel Sonnenschein getaucht herumlief. Er hatte nur eins einzuwenden, und das war, daß er immer das Gefühl hatte, als strammte irgend etwas.

Österman war ein kluger Kerl und war gewöhnt, auf seinen kümmerlichen Beinen weiter zu kommen, als andere auf ihren gesunden. Er sah bald, daß Sammel nicht zum Bauern gewandelt werden konnte; darum fing er an, zwischen Norrhofva und Gråskär, wo die Lotsenstation lag, hin und her zu rudern, sobald er gehört hatte, daß Sammel es damit probiert hatte und als ein Kerl galt, der Sinn für unterseeische Dinge hatte. Das Resultat dieser Unterhandlungen war, daß Sammel, der auf zehn Meilen im Umkreis jeden Stein in der See kannte, sein Lotsenexamen machen und ins Lotsenwesen kommen sollte. Es warteten freilich viele auf solche Stellen. Aber der Oberlotse hatte seine Beziehungen in Stockholm, und Österman, der Großbauer, hatte auch seine. Die Leute behaupteten, Österman setze deshalb immer seinen Willen durch, weil er so schlau sei, am rechten Ort Geld auszuleihen, und auch der Oberlotse sei nicht ganz frei von derartigen Beziehungen zum Großbauern.

So viel war jedenfalls sicher – das Loskommen war für Sammel nicht leicht. Und er kam auch nicht los.

Lange währte es nun nicht mehr, bis Aufgebot und Aufgebotsschmaus, Hochzeit und Gasterei, die drei Tage lang dauerte, gefeiert wurden.

Sammel sang jede Nacht englische Lieder, erzählte Seemannsgeschichten, tanzte Negertänze und English Reel. Er war gut Freund mit allen, und alle meinten, es sei ein Wunder Gottes, daß es der arme Gemeindejunge so gut getroffen habe im Leben. Was alle andern meinen, steckt uns Menschen leicht an, und darum ging Sammel an diesen seinen drei Ehrentagen auch umher und freute sich des Lebens und darüber, daß alle das Mädchen rühmten, das er bekommen hatte. Und Östermans Hilma verdiente das. Denn sie war schön; und arbeiten konnte sie auch, daheim in der Küche, und draußen auf dem Feld und auf der See.

Aber am dritten Tag brach das Unwetter in Sammel los. Solange er gesegelt war, hatte er nie getrunken, und niemand hatte ihn je berauscht gesehen. Aber an dem Abend war er ganz verrückt und soff sich toll und voll. Und es erregte viel Verwunderung, daß das Sammel just nun passieren mußte, noch eh er den Bräutigamsrock ausgezogen hatte.

Als er nun so recht betrunken war, stellte er sich mitten in die Stube und sagte langsam und feierlich:

»Hör' mal, du, Österman, jetzt denkst du wohl, du hast mich. Du glaubst, ich werd' an Land bleiben, solang es dir paßt. Aber siehst du, da hast du fehlgeschossen! Da kennst du einen schwedischen Seemann schlecht.«

Die Braut versuchte, sich ins Mittel zu legen und ihn wegzuführen. Aber Sammel stieß sie zurück, setzte sich auf den Tisch, mitten unter die Flaschen und Gläser, nahm eine Flasche und trank aus dem Hals.

»Ich hab' viele Mädels gesehen,« äußerte Sammel, »schwarze, weiße, gelbe und blaue. Der Kuckuck hol' mich, wenn ich nicht in einem Land war, wo die Mädels blau sind. Und mit allen bin ich gut Freund, so weit die Wogen des Ozeans an fremden Küsten schlagen.«

Das, meinten die Gäste, war doch ein bißchen zu stark, und einer von den Brüdern der Braut trat vor, um Sammel die Flasche wegzunehmen und ihn hinauszuschaffen. Aber da stieg ihm der Zorn zu Kopfe, und er schlug um sich wie ein Rasender, bis er überwältigt und zu Bett gebracht wurde.

In dieser Nacht war es die Braut, die weinte, und da war niemand, der sie trösten konnte. Denn ihr fremder Gatte hatte ihr Furcht eingeflößt, und diese Furcht ging nur langsam vorüber.

Indessen – Sammel war nun verheiratet, und seine Ehe begann.

 

3.

Das Unglück war, daß Sammel nicht, wie früher, zur See ging und jedes zweite Jahr auf einen Monat heimkam. Dann hätte seine Frau ihn nicht halb zu Tode quälen brauchen, und er sie nicht. Dann wäre Sammel ein rechter Kerl gewesen sein Leben lang, und alles, was später geschah, wäre ungeschehen geblieben.

Darum ging es den Eheleuten auch am besten in den Jahren, die vergingen, eh Sammel ordentlich ins Lotsenwesen hereinkam und eine Anstellung erhielt. Da wohnte die Frau mit dem Kind bei ihren Eltern, und Sammel ging ab und zu. Oft war er drüben auf der Lotsenstation, und einen ganzen Winter war er in Stockholm und studierte. In der Zeit hatte Hilma es so recht ruhig. Wenn Sammel nach ihr sah, blieb er nie lang. Ein bißchen wunderlich gestimmt war er immer, und wenn er weit draußen Schiffe vorbeiziehen sah, ward er düster und suchte die Einsamkeit. Aber im übrigen hatte er fast nie ein böses Wort für irgend jemand, und die Berserkerlaune kam nicht ein einziges Mal über ihn.

Als Sammel in den Rock der Krone gesteckt wurde, fühlte er sich recht sonderbar. Im Anfang war es ganz nett – die Tressen, die blanken Knöpfe und die Uniformsmütze, auf die alle blickten. Aber Sammel vermochte sich in diesem Anzug nie so recht frei zu fühlen, und manchmal merkte sogar seine Umgebung, daß er über sich selber nachgrübelte. Jetzt war er ans Land gezogen, dachte Sammel. Da lag er und zappelte wie ein Fisch im Sonnenschein. Nie würde er wieder los kommen, sein Lebtag nicht. Und das Leben ist eine lange Geschichte, und für viele eine schwere.

Es sah auch aus, als ob sich alles auf einmal verschworen hätte gegen Sammel, um ihn recht fest zu binden. Aber der Seemann saß ihm tief in der Seele, und nie konnte Sammel das Meer ganz vergessen. Er schwieg darüber, natürlich. Denn er fand, es wäre dumm. Aber er konnte nie begreifen, daß er, der einmal in blauem Hemd und weißen leinenen Hosen am Ruder gestanden hatte, dort, wo die Sonne der Tropen glühte und der Passatwind das Schiff wiegte, jetzt hier herumlaufen und sich ein eigenes Haus bauen sollte, in dem er bis zu seinem Tod stille sitzen mußte – mit einem Weib und ihrem Kind. Alles um ihn her ward Schein und Dichtung und Lüge. Das konnte ja nicht dauern. Einmal mußte es ein Ende haben, mußte er loskommen.

Sammel stand selber am Steuer in dem Großboot, das seinen Hausrat von Norrhofva nach der Klippeninsel herüberbrachte, wo sein neues Haus lag. Aber er konnte es nicht recht fassen, daß irgend etwas von dem, was mit ihm geschah, Wirklichkeit war. Der Hausrat ward ins Haus geschafft, das Bett kam auf seinen Platz, die Kommode auf ihren, Tische und Stühle wurden in der Stube aufgestellt. Im Herd ward ein Feuer angezündet und der Kaffeetopf brodelte. All das sah Sammel. Aber er bildete sich ein, er selber stünde irgendwie außerhalb der Geschichte und gehörte nicht dazu. Hilma und er gingen zu Bett, das Licht wurde ausgelöscht und es ward dunkel in der Stube. Sammel lag und hörte zu, wie die Atemzüge seines Weibes gleichmäßig und ruhig wurden; sie schlief. Er hörte, wie der Sturm draußen um die Hausecken heulte. Es war gewiß Herbst. Sammel wußte es nicht. Alles war ihm so unbegreiflich, daß er unaufhörlich aus dem Schlaf aufwachte, erstaunt, daß niemand ihn aufrüttelte, damit er auf Wache ginge oder ans Ruder. Als es Morgen ward, erwachte er daran, daß er das Kind schreien hörte. Und er wunderte sich darüber, daß es ihm selber vorkam, als hätte er wachend geträumt.

Das Häuschen war rot angestrichen und lag an einer Bucht. Über ihm erhob sich eine Klippe, und am Strand wuchsen Erlen. Es lag dem Nordwind ausgesetzt; Sammel hatte das so haben wollen. Und er wollte es so, weil er so von den andern Lotsen, die alle ihre Wohnungen auf der Südseite hatten, getrennt wohnte. Als er zum erstenmal heimging, war Sammel begierig, ob alles wohl noch so dastünde, wie er glaubte es verlassen zu haben, und während er den Pfad hinanstieg, dichtete er sich allerhand Unglück für sich und die Seinen aus.

Das Unglück kam auch, wenn auch nicht so, wie Sammel es sich erdichtet hatte. Es kam weder in Form von Schiffbruch, noch Todesfall, noch Feuersbrunst. Sondern der alte Österman hatte sich zu tief eingelassen, so daß es mit seinem Geld auf einmal ein Ende hatte. Der Hof war bis über die Schornsteine hinaus mit Hypotheken belastet und der Wald ausgehauen. Der alte Österman mußte bis zu seinem Tod auf dem Ausgedinge sitzen, und die Kinder, für die nichts mehr da war, zerstreuten sich in alle Welt.

Die Frau war diejenige, die das Unglück zuerst erfuhr, und weil sie solche Furcht vor dem Manne hatte, graute ihr davor, daß gerade sie es ihm berichten mußte. Darum fing sie an zu weinen, als sie an diesem Tag Sammel aufschließen hörte.

Sammel hatte es sich während des Heimwegs ausgedichtet, daß sein Weib ihren Jungen allein gelassen hätte, daß das Kind hinunter ins Boot gegangen und ins Wasser gestürzt wäre. Als er nun die Frau weinen sah, war er steif und fest davon überzeugt, das, woran er im Gehen gedacht hatte, sei wirklich eingetroffen. Aber das Unglück erschreckte ihn nicht, und wie er so stand, erschrak er vor sich selbst, weil er merkte, daß die Wirklichkeit des Unglücks ihm eine solche Ruhe gab; darum blieb er in der Tür stehen.

»Warum weinst du?« sagte er zu seiner Frau.

Und als sie erst nicht antworten wollte, war Sammel so vertieft in seinen eigenen Gedankengang, daß er der Antwort im voraus ganz sicher war, weshalb er in scharfem Ton fragte:

»Was hast du mit Adolf gemacht?«

Die Frau sah den Mann bestürzt an. Hier handelte es sich grade um Adolf! Hilma war eine Bauerntochter, und Geld und Gut galten ihr viel.

»Adolf?« sagte sie. »Der ist doch da.«

»So!« antwortete Sammel verlegen, trat ein und machte die Tür zu. »Ich hab' ihn nicht gesehen.«

Da berichtete Hilma, was geschehen war, und sie konnte sich gar nicht von ihrem Erstaunen erholen, als sie sah, wie der Mann sich ruhig hinsetzte und, scheinbar ohne auf sie zu hören, bloß vor sich hinstarrte, als grüble er einem schweren Rätsel nach.

»Da bin ich also hier festgenagelt jetzt?« klang es endlich.

»Gott, Sammel, das warst du doch auch so?«

Der Mann sah auf und verstand selber nicht, was er gesagt hatte.

»Es wird wohl seine Richtigkeit haben,« sagte er und lachte.

Nicht ums Leben wagte er, die Frau ahnen zu lassen, was er dachte. Aber er merkte, daß er nahe daran gewesen war, sich zu verraten. Deshalb machte er sich draußen zu schaffen und schöpfte das Boot aus, das nach dem Regen der Nacht halb mit Wasser gefüllt war. Wind, Klippen und Meer vertraute er an, was er in seinem Heim verschwieg.

»Jetzt kann ich nie mehr von ihnen gehen,« sagte er laut, »– – fort von hier – –, jetzt, wo das Geld des Alten alle ist, und sie nur mich hat, auf den sie sich verlassen kann.«

Sammel schöpfte das Boot leer, so gewaltsam, daß er in Schweiß gebadet war. Darnach ging er hinein, als wäre nichts geschehen und setzte sich zum Mittagessen. Und die ganze Zeit über wunderte sich die Frau darüber, daß er sich die Sache mit dem verlorenen Geld nicht mehr zu Herzen nahm; aber sie war froh, daß er nichts sagte.

Dann begann das Eis sich zusammenzuziehen, und alle Böte, die früher im Wasser gelegen hatten, wurden aufs Land gezogen. Der Nordwind kam mit Schnee, das Eis legte einen Weg zwischen den Inseln und die Leuchtfeuer zwischen den Schären erloschen.

Da ging Sammel eines Tages den Pfad, der zum Ausguck der Lotsen hinaufführte. Das Wetter war so, daß er sich im Schnee vorwärtstasten mußte, um das Drahtseil zu finden, das er brauchte, um sich gegen den Sturm, der von Norden her heulte, aufrecht zu halten. Sammel ging oft seine eigenen Wege, und bei solchen Gelegenheiten war er wenig erfreut, wenn jemand ihn störte. Aber während er ging, fühlte er, daß das Drahtseil sich hinter ihm bewegte, und als er sich umwandte, gewahrte er noch eine Gestalt, die sich auf dem gleichen Weg vorwärtszutasten schien, wie er selbst. Darüber ward Sammel übellaunig, aber er ging trotzdem weiter, ohne sich umzusehen; er wußte, daß die Gestalt ihm folgte.

Sammel steckte in keiner guten Haut in dieser Stunde. Er hätte es gern gesehen, wenn er hätte allein sein können. Jetzt, im Winter, pflegte gewöhnlich niemand droben in dem weißen Häuschen zu sein, von dessen Fenstern man weit hinaus übers Meer schaute. Da konnte er sich's warm machen, ohne daß es etwas kostete. Das Holz gehörte ja der Krone. Dann konnte er da sitzen mit seinen Gedanken, und in das Schneetreiben hinausschauen, vergessen, daß er auf dieser Erde zu jemand gehörte, alles vergessen, was war, und nichts hören als den Wind, der heulte, und das Feuer, das knisterte.

Jetzt trat noch jemand durch die Tür, eben als er damit beschäftigt war, Holz zuzulegen. Sammel machte weiter und wandte sich nicht um. Aber in ihm kochte es.

»Guten Tag, Sammel,« grüßte der Eintretende.

»Guten Tag,« sagte Sammel mürrisch. An der Stimme hörte er, daß der Ankömmling einer den Kameraden war.

Nach einer Weile begann das Feuer aufzuflammen. Schweigend saßen die beiden Männer und starrten in die Lohe.

»So, du bist auch hier herauf geraten,« begann der andere.

»Ja,« antwortete Sammel einsilbig.

»Ja ja,« fuhr der Kamerad fort, »man geht manchmal her, wenn's daheim widerwärtig ist und man sonst nirgends hin kann.«

»Ist es bei dir daheim widerwärtig?« fragte Sammel und kniff die Augen zusammen.

»Bei dir nie?« gab der Gefragte zurück.

Sammel fand es nicht der Mühe wert, hierauf zu antworten. Er pfiff statt dessen ein paar Takte und sah starr hinaus in den Sturm.

»Du hast's freilich gut getroffen,« fuhr Norman fort. »Kamst von der See, hattest nichts als eine Kleiderkiste und die Heuer in der Tasche. Und hast Weib und Haus und feste Anstellung, alles miteinander gekriegt. Es gibt eben Menschen, bei denen alles klappt.«

Sammel hörte all das mit an und begriff, daß der andere ihn beneidete. Er verstand nur nicht, warum. Darum antwortete er auch nicht, sondern fuhr nur fort, in den Sturm hinaus zu starren.

»Ich hab' mein Schäfchen noch nicht im Trocknen,« setzte Norman seinen eigenen Gedankengang fort. »Und dabei bin ich schon bald zehn Jahre hier.«

Jetzt schoß gleichsam etwas Scharfes aus Sammels Augen und traf das Gesicht des andern.

»Bist du gesegelt?« sagte er kurz.

»Ich?« erwiderte der andere. »Ich bin von Liverpool nach Rio gefahren, von Rio nach Wellington, von Wellington nach Hamburg. Gott sei Dank, daß ich wieder heim kam!«

Sammel hatte das schon früher von Seeleuten sagen hören, und es freute ihn immer. Er wuchs dann in seinen eigenen Augen zu einem siebenfach echten Kerl, weil er doch wenigstens noch sich hinauszusehnen vermochte. »Du bist ein altes Weib,« dachte er, »ein richtiges altes Waschweib!« Er hätte aufstehen und dem andern ins Gesicht spucken mögen. Aber etwas Direktes zu antworten verschmähte er; er saß nur und lachte inwendig vor boshaftem Vergnügen.

»Es ist manchmal beschwerlich auf der See,« sagte er, und sah wieder hinaus.

»Eine Hölle war's,« fiel Norman ein, ohne zu verstehen, daß der Ton des andern verächtlich klang. »Strenge Arbeit, schmale Kost und wenig Schlaf. Ne – du hast dir's gut gemacht. Jawohl!«

Sammel dachte, er hätte es sich eigentlich überhaupt nicht gemacht. Andere waren es, die sich der Sache angenommen hatten. Aber er war es gewöhnt, seine Gedanken für sich zu behalten, weil sie im allgemeinen nicht dazu taugten, andern mitgeteilt zu werden. Deshalb antwortete er bloß mit einer Art Gemurmel, das wie ein Knurren klang.

»Und ich sag',« nahm Norman wieder das Wort, »du hast recht daran getan, daß du das Mädel genommen und dich nicht drum geschoren hast, was die Leute schwätzten.«

Sammel fuhr zusammen und sah den Sprechenden an. Auf was wollte der hinaus? Was meinte er? Es kam Sammel vor, als ob ganz in der Ferne etwas Dunkles aufzöge und seine Augen umwölken wollte. Er glaubte, er hatte nicht recht gehört.

»So, so, die Leute haben geschwätzt,« sagte er, um etwas zu sagen.

Instinktiv begriff Sammel, daß da etwas war, was er nicht wußte, daß er aber vor den Menschen so tun mußte, als wisse er es. Sonst lief es schlimm ab, für ihn und für andere. Mit weit offenem Mund saß er und starrte den Mann vor sich an, und ihm war, als sähe er Blitze vor Augen.

Aber Norman war so im Zug, daß er nichts um sich her erfaßte. Denn Norman war ein Schwätzer, und wenn sein Mund in Gang kam, ging er ganz von selber. Darum fuhr er ruhig und phlegmatisch, als spräche er von der selbstverständlichsten Sache der Welt, fort:

»Ob sie geschwätzt haben? Das war doch ganz natürlich. Zwei Jahre lang ist sie mit einem Knecht daheim als sein Schatz gegangen. Und wie du kommst, nimmt sie dich. War's da zu verwundern, wenn die Leute schwätzten? Hättest du das Mädchen darum nicht nehmen sollen? Da wärst du schön dumm gewesen. Wenn man sich hinter die Weiber steckt, kriegt man, was man braucht, und das billig und schnell.«

Sammel dachte bei sich, daß er teuer gekauft und nichts um sein Geld erhalten habe. Jawohl, so war es. »Das ist mir was ganz Neues, was der da sagt,« dachte er weiter. Es war, als säße er irgendwie fest. Wie ein dichter Nebel stieg rings um ihn etwas Dunkles, Klebriges und Feuchtes auf, klammerte sich an ihm fest und wollte ihn ersticken. Hätte er aufstehen können und hinausschreien, was er fühlte, so wäre er gerettet gewesen. Aber das konnte er nicht. Statt dessen war er gezwungen, still zu sitzen und mitzutun.

Das tat er auch. Er blickte zu Norman hinüber, und sein Gesichtsausdruck war ganz leer. Es war, als wäre seine Seele fort.

»Es hat sich alles so natürlich gemacht,« sagte er.

Aber nachdem Sammel dies geäußert hatte, deuchte ihm, nun hätte er genug getan. Und Norman war nicht imstande, noch ein weiteres Wort aus ihm herauszukriegen. Es ward ihm langweilig, da oben zu sitzen in Gesellschaft eines Menschen, der nur immer schwieg und eigensinnig in den Sturm hinausstarrte. Darum ging Norman nach einer Weile, und Sammel sah seinen breiten Rücken verschwinden, wo das Drahtseil um den Felsen bog.

Da erhob er sich und riß die Tür sperrangelweit auf, daß der Eiswind hereinblasen konnte. Er stand in der Kälte und brannte wie im Fieber. In seinem Gedächtnis stieg ein seltsames Gesicht auf. Er sah sich selber in einer kleinen Schenke mit weißen Wänden und dem Ausblick aufs Mittelmeer sitzen. Draußen war alles dunkel, aber die Türen standen offen, daß die laue Luft hereinspielte. Sammel war, als sähe er noch, wie das Licht von der Öllampe unterm Dach über die Weinranken fiel, die über die Tür herunterhingen. Er selbst saß an einem großen Tisch. Ein kleiner schwarzer Spanier oder Franzose oder was er sonst war, saß neben ihm und tätowierte in seine entblößte Brust ein Herz, aus dem die Flammen schlugen. Daneben saßen zwei dunkeläugige, lachende Mädchen, und die eine von ihnen spielte auf einer Mandoline und sang dazu.

Sammel riß sein Hemd auf und stand lange und betrachtete die bläuliche Zeichnung, die mit den Jahren verblaßt war. Ein seltsamer Gedanke, etwas wie eine Ahnung von sich selber, stieg in ihm auf.

»Ich bin gezeichnet,« sagte er laut und lächelte, »gezeichnet für das freie Leben. Und ich will wieder hinaus, und wenn sich alle Teufel verschwören, um mich dran zu hindern!«

Damit ging Sammel in den Sturm hinaus und schloß die Tür hinter sich zu. Er dachte an die Mitsommernacht, wie da der Tanz wogte, wie er sich hatte fangen lassen und wie er sich heim gesehnt hatte. Er dachte an Östermans Geld, das nun alle war, an seine Kinder, die in der Welt herum zerstreut waren – bald würde niemand mehr wissen, wo. Er dachte an sein Weib, das daheim schaltete, und an ihren Schatz, der vielleicht umherlief und sich um sie grämte. Sich um ein Mädchen grämen! Zuletzt dachte Sammel an den Jungen, seinen eigenen Jungen, für den er doch nie zu fühlen vermochte, wie er sollte und mußte, und er ballte die Hände in Erbitterung. Ging durch den Sturm wie ein Schlafwandler und ballte nur die Hände, als hätte er den Verstand verloren. Die ganze Zeit über wußte Sammel, daß die Heirat und Östermans Geld, seine Frau und ihr Schatz, ja, sogar auch das Kind, daß all das nichts war. Das war es nicht, was jetzt in ihm zerrte und riß. Etwas ganz anderes war es, etwas Unerklärliches, dem er keinen Namen geben konnte. Aber dieses Etwas mußte Luft haben, zum Ausbruch kommen. Sammel war es, als sähe er sich selber den Berg hinunterspringen, der sich über der Bucht erhob, an der sein Haus lag. Freilich, er sprang ja wirklich, sprang wie ein Verrückter. Er kam zum Haus und öffnete die Tür. Drin saß die Frau und schälte Kartoffeln. Der Junge schlief im Bett, und auf dem Herd schnurrte die Katze.

Sammel umfing das alles mit einem einzigen Blick; er tat sich Gewalt an, um ruhig zu erscheinen.

»Das geht mich nichts an, all das!« klang es in ihm. »Ich habe nichts damit zu schaffen. Ich gehöre nicht hierher.«

Mit der Mütze auf dem Kopf blieb er stehen und sah mit dem Blick eines Irren auf die Frau.

»Du mußt dich eine Zeitlang ohne mich behelfen,« begann er heiser. »Hör zu, was ich jetzt sage, und hab' keine Angst. Ich geh fort. Ich kann nicht länger daheim hocken.«

»Aber der Dienst, Sammel – der Dienst?«

»Der geht mich nichts an. Der soll selber für sich sorgen. Bin ich nicht da, so ist immer ein anderer da. Du mußt auch selber für dich sorgen. Wenn ich umkomme, – du hast ja vorher einen Schatz gehabt. Nimm ihn. Der Junge muß auch für sich selber sorgen. Er wird ja wohl einmal ein Mann werden. Dann soll er wissen, daß er wenigstens einen Mann zum Vater gehabt hat.«

Damit nahm Sammel seinen Mantel, warf ihn um und ging hinaus.

»Sie glaubt, ich sei verrückt,« murmelte er. »Mag sie!«

Sammel geht aufs Eis hinunter, er geht und geht und weiß nicht, wohin er will. Er merkt, daß Eis liegt, und es fällt ihm ein, daß es viele Meilen sind bis zur Stadt. Dorthin kann er also heute abend nicht mehr. Es ist dämmerig draußen, und die Häuser auf der Schäre liegen schweigend und dunkel, als schliefen sie den Winterschlaf. Jetzt ist er auf der andern Seite des Fjords und sieht aus einem Fenster Licht scheinen. Da liegt das Wirtshaus, und da geht Sammel hinein. Sie haben kein Schankrecht hier im Winter, aber Schnaps haben sie. Und Bekannte können das immer kriegen.

Sammel ist Lotse der Krone, er kriegt, was er will. Schweigend trinkt er Glas um Glas, und die Unruhe in ihm schlummert ein. Ihm ist, als säße er in einem hochgewölbten Saal und hörte Musik in der Luft; um sich sieht er tanzen. Der Tanz wird zu Wogen, und auf den Wogen fliegt er hinaus in die Welt. Die Leute, die herumsitzen, lachen über das, was er sagt. Sie finden keinen Sinn darin. Aber das ist auch gleichgültig. Es tut gut, wenn man lachen kann. Darum lachen sie. Und Sammel lacht selber. Er führt das Wort. Er kann auch Lieder. Darum singt er. Er führt das Boot. Und er segelt vor dem Wind.

Zollwachtmeister sind da, zwei Stück, alte, treue Wirtshaushocker, die ihren Mann stehen, der Fischhändler, der im Winter hier draußen wohnt, und der Schullehrer. Auch der Postmeister ist dazu gekommen, und der Wirt selber sitzt am Tisch und schenkt ein. Was tut's, wenn's ein bißchen flott hergeht? Sammel hält frei. Er führt das Boot und er segelt vor dem Wind. Niemand hätte gedacht, daß Sammel, der immer für sich ging und so düster aussah, so vergnügt sein könnte.

Als Sammel geht, ist er glücklich. Er ist betrunken, aber er hält sich stramm, jawohl, und den Weg findet er auch. Als er hinauskommt, ist es sternhell und grimmig kalt. Sammel macht Tanzschritte auf dem Eis und singt:

»Ich hatt' wohl einst ein Mädel,
Und das vergess' ich nie –
Sie liegt mir fest im Herzen,
Kein' andre, als nur sie.
Ich sag's euch insgemein –
Kein' andre soll es sein,
So viel mich auch verlocken,
Ich sollt' ein' andre frei'n.«

Das Lied hat nur den einen Vers. Aber Sammel singt es dafür um so öfter. Es ist eine alte, schleppende Melodie, der Wind ist stark, und der Gesang ertrinkt im Sturm. So kommt Sammel heim. Er bleibt leewärts vom Hause stehen und versucht, noch einmal zu singen. Aber der Gesang bleibt ihm im Halse stecken. Er führt das Boot, aber es segelt jetzt nicht mehr vor dem Wind. Schweigend steht er da und fummelt mit dem Schloß.

Dann hört er von innen die Stimme seiner Frau:

»Bist du's, Sammel?«

Es ist, als ob sich etwas in ihm umdrehe, als ob alles, was hinter der Festfreude gekocht und gebrodelt hat, die Lieder, der Rausch, aufstiege und in Wallung geriete. Sammel weiß nicht, woher er die Worte nimmt, und warum er so handelt und spricht, wie er es tut.

Er steht mitten in der Stube, wie vorhin, eh er von daheim fortging. Vor sich im Bett sieht er die Frau liegen, und mit fester Stimme, die verbergen möchte, daß er betrunken ist, sagt er:

»Ich trage den Rock der Krone, und ich bin auf viele Meilen im Umkreis der Mann, der weiß, was es heißt, ein Ruder zu führen. Mein Name ist Sammel. So bin ich getauft. Und bei keinem andern kennt man mich.«

Die Frau sieht ihn an, und der Schreck, der in ihrem Blick ist, macht den Mann rasend. Er reißt sie aus dem Bett und wirft sie ungestüm in eine Ecke der Stube. Da bleibt sie liegen und horcht auf den Mann, der Fluch um Fluch zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelt, während er ein Kleidungsstück nach dem andern auf den Boden wirft. Sammel kämpft gegen ein Gelüst, das in ihm siedet und brennt. Er braucht etwas, gegen das er losbrechen, jemand, dem er weh tun kann. Aber im nächsten Augenblick sinkt er zusammen und hat alles vergessen. Er liegt in die Decke eingewickelt und schläft wie ein Kind. Das Boot ist im Hafen.

 

4.

Wenn der Mensch im Leben auf den unrechten Platz kommt, so passiert es leicht, daß seine Seele zerbricht, so daß die eine Hälfte nicht weiß, was die andere tut. Die Außenwelt sieht weiter nichts, als daß der, den solches trifft, in seinem Verstand gestört ist. Zwischen dem, was die Menschen klug nennen, und dem andern, dem sie einen schlimmen Namen geben, gibt es im übrigen viele Stufen, und es hat noch keinen Menschen gegeben, der immer sagen könnte, wo die Grenze ist. Ist ein Mensch von dem seelischen Erdbeben bedroht, das ihn am Ende in Stücke reißen kann, da ist es seltsam, zu sehen, mit welch sicherem Instinkt andere das ahnen. Das Grauen gebietet ihnen, sich von einem solchen Menschen fern zu halten, und um den, der gegen den Ausbruch ankämpft und sein Näherkommen selber fühlt, wird es darum leer, als hätte das Verbrechen ihn gefangen genommen, und nicht das Unglück. Entsetzlicher sieht es nie aus in eines Menschen Seele, als dann.

Sammel zerbrach nie ganz, aber sein Lebenlang war er dicht vor dem Äußersten. Darum stand es schlimm um ihn von diesem Tag an. Der Harm über das, was ihn umgab, erlangte Gewalt über all sein zukünftiges Leben, und er selber war zu gutherzig und weich, als daß dieser Harm zur Tat werden und ihm Luft verschaffen konnte. So wenig Sammel vermochte, seine Frau zu schlagen, wenn er betrunken war, ebenso wenig vermochte er, von ihr zu gehen, wenn er nüchtern war, und wenn er sich noch so sehr darnach sehnte. Da kam wieder ein Kind, da mußte die Frau es nähren. Da war das Dach auf dem Haus, das ausgebessert werden, das Boot, das zum Sommer gerüstet werden mußte, oder die Brücke, die von Eis und See Schaden gelitten hatte. Einmal krepierte ihre einzige Kuh, und es fiel ihnen sehr schwer, eine neue anzuschaffen. Immer war etwas los, immer etwas, das ihn strammte und festhielt. Sammel ging Tag um Tag, Woche um Woche so für sich selber dahin. Er würde zur See gehen, und erst wenn sieben Donnerstage in einer Woche wären, würden die Landratten ihn wieder zu sehen kriegen.

»Du kannst hier bleiben,« sagte er, »und nach dem Haus sehen. Du brauchst doch wenigstens nicht zu weinen meinetwegen. Sag nur, daß du einen Satanskerl zum Mann hast, der zur See gegangen ist und dich hat sitzen lassen. Davon kannst du lang leben.«

Auf diese Weise fuhr Sammel jahrelang fort, zur See zu gehen, und seine Frau ging furchtsamen Herzens umher und wartete darauf, daß sie allein bleiben und von der bittern Güte anderer leben müßte. Aber Sammel kam nie weiter, als bis zum Wirtshaus auf der andern Seite des Fjords, und wenn er von dort zurückkehrte, war er betrunken und hatte die Auslandsgedanken vergessen.

Sammel hatte im Schnaps einen Freund gefunden, und nicht einmal seine Frau konnte behaupten, daß der Freund ihm nicht gut täte. Der Schnaps ward sein Trost, wenn der böse Geist über ihn kam. Der Schnaps spielte vor ihm die Harfe und tröstete seine Seele. Der Schnaps machte sein Herz warm, wenn es ihm in der Brust einzufrieren drohte. Der Schnaps führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Herrlichkeit der Welt und sagte: Dies alles will ich dir geben, Sammel, wenn du mich treulich anbetest!

Und doch war der Schnaps nicht Sammels schlimmstes Unglück. Das trug er tief in sich verborgen, und immer größer ward der Abstand zwischen ihm und andern Menschen. Mit Schnaps allein hielt er es aus. Er nippte und soff nicht daheim. Nur wenn die Stimmung über ihn kam, daß es ihm zu eng ward in den Kleidern der Krone, dann ging er aus und trank sich einen Mordsrausch. Darnach war er ruhig und froh, denn er wußte, wenn er wollte, konnte er immer die Arznei gegen die Unruhe haben, die in seinem Blut brannte, wenn er bloß Geld hatte. Und als Lotse verdiente Sammel tüchtig. Er prahlte und übertrieb auch nicht, wenn er sich selbst als den ersten in den Schären rühmte, wo es galt, ein Ruder zu führen. In dem Stück war Sammel wirklich mehr wert als andere, und es gab außer ihm noch viele, die das anerkannten.

Aber saufen, wie Sammel es tat, kostet Geld, und darum ging es Sammel auch nie so gut, wie den Kameraden. Sein Haus wurde nicht vergrößert, weder durch eine Glasveranda oder weitere Zimmer, und Sommergäste kamen auch nicht zu ihm. Das Häuschen war, wie es immer gewesen – es enthielt eine Küche und eine kleine Kammer. Im Sommer war es warm und im Winter kalt. Denn es wurde nie dicht gemacht oder ausgebessert, nicht einmal dazu reichten die guten Lotsengelder. Von außen sah es außerdem krumm und schief aus, denn der Grund hatte sich gesenkt und das Dach war auf der Nordseite gerutscht.

All dies Schlimme, und noch mehr, sah die Frau. Aber sie tat nie desgleichen. Denn sie mußte es sich selber eingestehen, daß Sammel jetzt besser war, als eh er zu trinken begonnen hatte. Er schüttelte die Wildheit außer dem Haus von sich ab, und daheim war er fügsam und gut gegen sie und das Kind, »So geht es mit den Männern, wenn sie ein böses Gewissen haben,« dachte Hilma. Und sie freute sich über Sammels böses Gewissen. Denn es nahm ihr die Furcht vor dem Mann und gab ihr selbst Ruhe.

Sammel aber gehörte zu denen, die, streng genommen, gar nicht wissen, was ein schlechtes Gewissen ist. Er hatte nie Gelegenheit gehabt, viel zu lernen, und seine Natur war wie der Körper des Seevogels. Der kann in den Schlamm tauchen, ohne daß etwas an seinen Federn hängen bleibt. Sammel ging also durchs Leben und dichtete sich weiter, wie er es immer getan hatte, folgte seinen Launen und schwankte abwechslungsweise zwischen innerlichen Anfällen von Überglück und Wut auf die Menschen hin und her; daß die Kameraden sich Häuser bauten und wohlhabende Männer wurden mit Geld auf der Bank und Mietsgästen im Sommer, das kümmerte ihn nicht mehr als ein Erdbeben in China. Saß er bei Flasche und Glas, so führte doch er das Wort, und wenn er am Ruder stand, wußte er, daß keiner die Schären kannte, wie er. Er allein war imstande, die Fahrzeuge auf Wegen zu führen, wo er nie zuvor mit dem Boot gewesen war. Denn Sammel gehörte zu denen, die eine Spürnase für eine Untiefe haben, noch eh der Kiel darauf knirscht.

Nur einen Mann gab es auf der Welt, den Sammel nicht ausstehen konnte, und dem wünschte er auch alles Böse, was sich erdenken läßt. Dieser Mann war der gutmütige Norman. Norman ward Gammels fixe Idee, und nie konnte Sammel seinen Namen hören, ohne in ein Fieber zu geraten. Im Anfang leitete sich dieser Widerwille von der einfachen Tatsache her, daß Norman beleibt und phlegmatisch in seinen Bewegungen war. Dann kam Sammel dahinter, daß der Kamerad hochnäsig und eingebildet sei und schließlich meinte er, den Beweis dafür zu haben, daß Norman vor seinen Vorgesetzten katzbuckelte. Daß er arbeitete, um es zu etwas zu bringen, gefiel Sammel auch nicht, noch weniger, daß der Kamerad auf dem besten Weg schien, sein Ziel zu erreichen. Ein schlechter Seemann war Norman auch, das wollte Sammel beschwören, wenn er auch noch so sehr wie ein Schiffer aussah mit seinem Kinnbart, dem breiten Mund und den tiefliegenden Augen. Und im übrigen war er ein Heuchler, behauptete Sammel. Denn er mochte nie mittun, nie sich mit andern amüsieren, wenn man es sah. Daheim aber ging er und süffelte und soff, das wußte Sammel, und wenn er das getan hatte, prügelte er seine Alte in seinen vier Wänden, und die Alte prügelte ihn wieder. Denn sie war groß und derb wie ein Mann und ein kratzbürstiges Frauenzimmer, jawohl, mit ihrem Doppelkinn und dem scheinheiligen, breiten Lächeln.

»Was geht dich Norman an?« sagte der Oberlotse einmal. »Laß Norman in Frieden.«

»Angehen tut er mich nichts,« meinte Sammel. »Aber davor, was vor meinen eigenen Augen geschieht, kann ich sie nicht wohl zudrücken.«

»Ich kann's,« antwortete der Oberlotse und lachte. »Gnad' mir Gott sonst!«

Sammel konnte das nicht, und dies Unvermögen fraß an ihm. Von der ersten Stunde an, als Sammel unter die Lotsen gekommen war, war ihm zumute gewesen, als hätte er Ameisen am ganzen Leib, wenn er nur in die Nähe von Norman oder irgend jemand von den Seinen kam. Denn schon damals hatte Norman scheel darauf geblickt, daß Sammel auf die Lotsenstation kam und da seinen Lebensunterhalt verdiente.

»Ist es möglich, daß es Leute geben kann, die andern nicht das tägliche Brot gönnen?« lautete Sammels Urteil über die Sache.

Sammels Haß gegen Norman wurzelte sich aus vielen Gründen immer fester ein, und er vermochte Äußerungen darüber ebenso wenig zurückzuhalten, als er sich daran verhindern konnte, Tollheiten zu machen, wenn der Schnaps seinen Verstand umnebelte. Was er dachte und meinte, das konnte Sammel im allgemeinen sich lang und breit ausmalen, ohne daß jemand eine Ahnung von seinen innersten Gedanken gehabt hätte. Aber immer kam dann ein Augenblick, wo er sich nicht länger beherrschen konnte, und dann brach auch das, was er lang verborgen hatte, mit der Wut eines Vulkans hervor.

Als Sammel zum erstenmal Norman gegenüber losbrach, hatte er selbst ein bißchen geladen und begegnete seinem Feind eines Abends auf dem Heimweg just wo sich der Fußweg an Normans Haus am Südabhang vorbeischlängelte. Der Anlaß zu dem Ausbruch war, wie gewöhnlich, sehr unschuldiger Art.

Norman sagte nämlich zu Sammel nichts, als:

»Guten Tag! Wohin?«

Aber Sammel war in seiner dunkeln Laune. Denn der Rausch hatte diesmal nicht gelingen wollen. Darum schob er die Mütze in den Nacken zurück, streckte die Nase in die Luft und schrie:

»Was zum Teufel geht das dich an?«

Norman versuchte, begütigend zu antworten. Aber es half nichts. Sammel starrte den Kameraden an, als sähe er den Teufel selber vor sich, und sprudelte alles heraus, was er gegen ihn auf dem Herzen hatte, als hätte er sich im voraus jedes Wort überlegt. Normans Frau, die im Haus war und den Spektakel hörte, kam heraus, und als Sammel sie erblickte, ward er wie verrückt und wollte um sich hauen. Vier Männer mußten ihn heimführen helfen. Aber als sie ihn glücklich ins Haus gebracht und sich wieder entfernt hatten, ging Sammel auf den Hügel hinaus, spuckte weit hinter ihnen her und tanzte vor Wut.

So wild war er, daß er den Augenblick darauf so, wie er ging und stand, über die Steine hinunter an die Brücke kletterte, das Boot takelte und in voller Wut aufs Meer hinaus segelte.

All dies wäre jedoch nicht geschehen, wenn nicht Norman damals draußen auf der Lotsenstation angefangen hätte, mit Sammel von seiner Heirat und dem, was damit zusammenhing, zu sprechen. Ohne daß Sammel es selber wußte, lag hierin der Grund seines bittersten Grolles. Norman saß damals in aller Unschuld da und schwatzte und ahnte nicht, daß er etwas sagte, was nicht recht und richtig war. Er sollte es auch nie erfahren. Denn Sammel hätte sich eher die Zunge abgebissen, als daß er auch nur von fern an die Sache gerührt hätte, sei es nun in Normans oder eines andern Beisein. Aber was Norman damals sagte, das verwundete Sammel tödlich und zwar auf seinem empfindlichsten Punkt. Es riß die Binde von seinen Augen und zeigte ihm, daß, als er sich ein Weib nahm und fürs Leben gebunden ward, nicht die Liebe es war, die ihn band, sondern ein roher Zufall, der ihn gleichsam aus Versehen in eines Weibes Arme geworfen hatte. Ohne es zu wissen, hatte Norman Sammel die Augen geöffnet über das häßliche Geheimnis seines eigenen Lebens, und seither konnte Sammel diesem Mann nicht begegnen, ohne daß sein Blut in Aufruhr geriet.

Sammel schnaubte vor Wut, als er nun am Ruder saß. Träumer, der er war, vermochte er niemals an jemand Rache zu nehmen, wie oft auch seine Einbildung ihm derartiges vorgaukelte. Sein Blut war in Wallung, er mußte sich selbst betäuben. Darum segelte er jetzt aus. Es war im Beginn des Frühlings, und die Reihe des Lotsens konnte jederzeit an den Flüchtling kommen. »Das schert mich nicht,« dachte Sammel. Er stand im Boot auf und straffte das Großsegel halb. Es schwoll im Wind. Es ging eine gute Brise.

Nun war der böse Geist über Sammel, und doch strahlte sein Gesicht, wie er da am Ruder saß. Hinaus über den Fjord ging's; Dunkelheit begann zu fallen. »Das tut nichts,« dachte Sammel. »Es ist schon warm; bald wird es Sommer.« Die Sterne begannen sich am Himmel zu zeigen, da und dort blinkte ein Leuchtfeuer auf. Immer niedriger wurden die Bäume auf der Schäre und immer höher die Wellen. Das Boot schlingerte heftig. Aber Sammel fiel es nicht ein, die Segel zu mindern. Er lachte grimmig in den Sturm hinaus und fing an, laut zu denken.

»Hier segelt Sammel – vor gutem Wind! Keiner kommt ihm gleich hier! Keiner kann ihn erreichen! Er kann sinken oder schwimmen, wie Gott will. Alles klar, Kapitän! hier ist gutes Fahrwasser, und die Schute kommt vor Nacht nicht in den Hafen.

All right! Da segelt ein alter Wiking vor guter Brise!«

Jetzt lag das offne Meer vor Sammel, und Sammel schwenkte um die äußerste, niedrige Schäre, fierte die Segel und legte an. Als der Kiel des Bootes auf dem Strand knirschte, erhoben sich rundum die Seevögel und segelten schreiend in der Dämmerung auf sicheren Schwingen um das Rigg des Lotsenbootes. »Hier gibt's Nahrung genug,« dachte Sammel, während er das Boot festmachte. Dann stieg er ans Land und begann, auf der Insel herumzugehen. Er ging quer über die Schäre, setzte sich auf ihre äußerste Spitze und sah hinaus übers Meer, wie es frei sich dehnte.

Dann erhob er sich und begann unter den Steinen des Ufers zu suchen, plünderte ein paar Vogelnester, schlug die Eier mit dem Messer auf und aß sie roh. Nachdem er das getan hatte, ging er wieder ins Boot hinunter und holte seine Öljacke. Die wickelte er zusammen, steckte sie unter den Kopf und legte sich auf die nackte Klippe. Dann schlief Sammel und schlief lange. Als er erwachte, stand die Sonne über dem Horizont wie ein Ball, und die Jungen der Eidervögel spielten in der grüngoldnen Brandung.

Sammel segelte weiter am offenen Meer entlang, und ihm deuchte, als wäre er der fliegende Holländer, der Schiff und Mannschaft verlassen und sich in ein Boot gesetzt hatte. Er flog dahin, wie er sein Lebenlang geflogen war, und hatte sich vor der Mannschaft geflüchtet. Die mußte sich ohne ihn behelfen. Er wollte nicht in alle Ewigkeit auf einem Gespensterschiff bleiben und nichts tun, als Menschen erschrecken. Man sagte, der Holländer hätte sich dem Teufel verschrieben. Na, und wenn schon? Wer hatte nicht einmal in seinem Leben etwas Schlimmes getan und dafür büßen müssen? Die Sonne schien jetzt, und Sammel verspürte Hunger. Der fliegende Holländer warf zwischen zwei Schären Anker und fing Dorsche. Die briet er zwischen ein paar Steinen, wie früher, als er noch ein Junge war, und um das Gericht zu würzen, ging er ans Ufer und raubte Seevogeleier. Herr über Meer und Strand, fuhr Sammel von Schäre zu Schäre, und zweimal vierundzwanzig Stunden war er der fliegende Holländer, der auf der ganzen Erde weder Heimat noch Freistatt hat. Auch nicht einen Augenblick fiel es ihm ein, nach Hause zurückzukehren, und es deuchte ihm, als hätte er jetzt etwas, was noch über den Schnaps ging.

Als er dann schließlich doch auf den Heimweg kam, überfiel ihn ein heftiges Schamgefühl, nicht, weil er weggesegelt war, sondern weil er wieder umkehrte, und als er die Bucht mit den Erlen wiedersah, wo das rote Häuschen lag, da ward Sammel in seinen eigenen Augen so klein und kläglich, daß er sich am liebsten in seine eigenen Stiefelschäfte verkrochen hätte. Alles kam jetzt wieder über ihn. Jetzt würde es wieder drücken und strammen und ihn quälen und anwidern, schlimmer als je zuvor. Das wußte er im voraus. Alles wußte er. Er saß fest, war an Ort und Stelle gebunden, durfte nicht gehen, wohin er wollte. Er war aus dem Dienst desertiert.

Als er heimkam, saß seine Frau da und weinte. Und Sammel wußte ihr nichts zu sagen, konnte nichts erklären, wußte nur, daß er weggesegelt und jetzt wiedergekommen war.

Diesmal erhielt Sammel die erste Verwarnung von den Vorgesetzten. Stramm aufgerichtet stand er in Paradeuniform vor dem Lotsenkapitän und hörte die Scheltworte, die man ihm gab, an, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber als er wegging, war sein Rücken krumm und er hing den Kopf. Er wollte in die Schenke. Aber er wagte es nicht. Denn er wußte, das zweite Übel würde größer werden, denn das erste. Darum lenkte er seine Schritte heimwärts. Aber er machte einen Umweg. Denn an Normans Haus mochte Sammel diesmal nicht vorbeigehen. Dort stand Norman, wie er zu tun pflegte, breitbeinig und mit den Händen in den Hosentaschen unten bei der Treppe und wärmte sich im Sonnenschein. In weitem Bogen ging Sammel an ihm vorbei, ohne aufzusehen.

Denn jetzt hatte Sammel die Schande mit sich herumzuschleppen, und zudem hatte er nun einen Feind, den zu treffen er täglich und stündlich bereit sein mußte. Sammel ertrug es nicht, daß irgend jemand ihn scheel ansah. Dazu war er zu empfindlich. Er selber konnte das wohl andern gegenüber tun. Aber er ward krank, wenn er denken mußte, daß andere das ihm gegenüber tun könnten. Sammel hatte übrigens nicht nur einen Feind jetzt. Er hatte zwei. Und der zweite war der ärgste. Denn er war ein Weib. Und wenn Frauenzimmer mit ins Spiel kamen, dann, meinte Sammel, könnte er sich darauf verlassen, daß alles Schlimme, was über ihn gesagt werden konnte, auch gesagt und erläutert und geglaubt würde.

In diesem Fall hatte Sammel sich auch nicht verrechnet. Schon vorher war sein Ruf nicht der beste gewesen, aber das bißchen, was er in dieser Hinsicht noch besaß, das bemühte Normans Frau sich nach Kräften ihm zu nehmen. Und jeder weiß, daß das nicht schwer ist. Aber Sammel mußte auch erfahren, daß, wenn es auch gut sein kann, den Schnaps bei der Hand zu haben, wenn das Leben schwer ist, er doch auch ein gefährlicher Freund ist, der uns Anderes und Schlimmeres bietet, als das, was man die Herrlichkeit des Lebens nennt. Nicht einmal mehr sein Weib sah es mit ungeteiltem Vergnügen, daß Sammel trank.

Er war der erste Lotse der Schären. Aber das Mal saß auf ihm. Das Mal der Schande, das niemand wegwaschen konnte. Er war einmal verwarnt worden wegen Trunkenheit, und die Warnung hatte nicht gefruchtet. Die Schande, die in ihm brannte, ward ein neuer Gegenstand des Grübelns, und weil er ihn nicht los werden konnte, wußte der arme Sammel sich keinen andern Ausweg, als wieder zum Branntwein zurückzukehren. Alles drehte sich im Kreis für den Lotsen, wenn er daran dachte. Erst war es der Schnaps, der ihn rettete und machte, daß er das Leben ertragen konnte. Dann kam der Schnaps und stürzte ihn so tief, daß er Gefahr lief, den Dienst zu verlieren, um dessentwillen er einst sein Leben verkauft hatte und noch immer verkaufte. Und wenn er nun in seiner Angst herumlief und der Ruhe bedurfte, so hatte er nichts, an das er sich halten konnte, als eben diesen selben Schnaps, der ihn erst bis zu den Wolken erhöhte und ihn dann herabzog in den Schmutz. Das war ein Kreislauf, der sich schwer entwirren ließ, und Sammel vermochte ihn auch nicht zu entwirren.

Immer verzweifelter wurde seine Lage. Er ward jetzt nicht mehr froh, wenn er trank. Er ward rasend und wild. Nicht muntere Lieder waren es mehr, die er um sich streute, nicht fröhliche Scherze, die er zum Ergötzen der Saufgenossen sprühen ließ. Wenn Sammel sich jetzt auf seinen alten Platz am Wirtshaustisch setzte, wurde es um ihn her leer. Denn wenn die Leute wußten, daß er dasaß, kam niemand hin, und wenn Leute da waren, wenn er eintrat, hatten sie plötzlich anderes zu tun, und Sammel fand sich einsam auf seinem Platz.

Da saß denn Sammel und dichtete, und seine Dichtung nahm ihre Farbe von der häßlichen Wirklichkeit seines eigenen Lebens. Darum saß Sammel allein am Tisch, und wenn er betrunken war, schrie er sein Elend hinaus, daß das Echo über Klippen und Schären wiederhallte.

Und wenn er manchmal in andere Stimmung kam, war er auch dann einsam. Dann ging er, vor sich hinsingend, zum Strand hinunter, bis er irgend ein freies Boot fand, in das er sich setzen konnte. Er setzte sich ans Ruder, und man konnte ihn Seemann auf dem Atlantischen Ozean spielen hören, wie es sonst nur Kinder können. Da saß Sammel und hielt das Ruder, sein Kopf hing herab, der Blick war verdämmert.

»Hier ist raume See!« schwatzte er. »Jetzt geht der Wind von Westen. Dort vorn blinkt ein Leuchtfeuer. Weit, weit fort im Nebel sieht man es. Wenn wir es erst achter dem Steuerbord haben, laufen wir in Singapore ein. Da sitzt ein Mädel, für die ich das Herz in der Brust einbrannte. Sie kann auf der Mandoline spielen und einen Seemann umschmeicheln. Mit der war ich verheiratet, und sie wartet noch auf mich. Und wenn der Jangtsekiang mit dem Hoangho zusammenfließt, und der Kanal am Roten Meer frei von Eis ist, dann kehrt Sammel zurück. Dann wird er Lotse der Krone und steht in der Uniform auf der Kommandobrücke. Dann hat er die Taschen voll Geld und traktiert alle mit Champagnerwein.

Mary und Annie und die kleine Nanette,
Da sollt ihr ihn sehen, – er tanzt um die Wette!

So reiste Sammel in fremde Länder und der Branntwein bezahlte die Reise. Zweimal lag er betrunken am Ufer, als Schiffe um einen Lotsen signalisierten und an ihm die Reihe war, zu lotsen. Einmal trank er sich toll und voll mit Whisky auf einem englischen Dampfer, geriet in Streit mit dem Kapitän, der, wie er sich fluchend verschwor, Norman hieß und darum über Bord sollte. Viermal ward er vor Pontius Pilatus gerufen, das heißt, sollte sich vor dem Lotsenkapitän verantworten und verwarnt werden. Viermal stand er in der Paradeuniform und hörte die Scheltworte an, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte schon eine Verwarnung mehr erhalten, als reglementsgemäß erteilt werden sollte, eh das Urteil fiel, das auf das Fürchterlichste: Abschied ohne Pension, lautete.

So viel Rücksicht nahm man nur, weil Sammel der erste Lotse in den Schären war und weil die Behörde versuchen wollte, ihn so lang als möglich zu halten.

Sammel wußte das sehr wohl, und dies Bewußtsein stärkte sein Selbstgefühl. Als er darum das letzte Mal vom Lotsenkapitän kam, und seine extra Verwarnung erhalten hatte, war er in gehobener Stimmung. Er sah gerade Norman auf der Böschung vor seiner Treppe stehen und sich die Hinterseite im Sonnenschein wärmen. Diesmal ging Sammel nicht aus dem Weg, sondern schritt mutig weiter, und als er an seinem Erbfeind vorüberkam, blieb er stehen.

»Schau mich an,« sagte Sammel. »Schau mich an! Da siehst du einen Mann, der sich sehen lassen kann! Er hat vor Pontius Pilatus gestanden und seine vierte Verwarnung erhalten. Das würde dir nie passieren. So viel Umstände würde mit dir keiner machen, du alter Wiederkäuer!«

Das letztere war eine Anspielung auf Normans Gewohnheit, Tabak zu kauen, was Sammel verachtete, und er freute sich ganz unchristlich, als er es gesagt hatte. Mit der Nase hoch in der Luft ging er in voller Uniform an seinem Feind vorüber. Er schritt dahin wie ein sieghafter Gott. Denn die vierte Verwarnung war sein Ruhm. Und den konnte ihm keiner nehmen, mochte geschehen, was wollte.

Dies war jedoch Sammels letzter Triumph, und lange durfte er ihn nicht genießen. Der ganze Triumph ging sozusagen in Rauch auf. Denn eines schönen Tages wurde die ganze Gegend durch eine Feuersbrunst oben auf dem Lotsenberg aufgeschreckt. Die Leute strömten herbei um zu retten, aber es war zu spät. Der Ausguck der Lotsen stand in hellen Flammen, und unten an der Klippe saß Sammel sternhagelvoll und sang, sang aus vollem Hals ein Lied in einer fremden Sprache, die niemand kannte.

Wie das Ganze zugegangen war, brachte niemand recht heraus. Aber so viel war klar, daß Sammel die Ursache des Unglücks und daß niemand außer ihm da gewesen war. Nun konnte Gnade nicht mehr vor Recht gehen. Sammel ward aus dem Lotsendienst verabschiedet, und – was ihn am meisten kränkte – er ward verabschiedet ohne die fünfhundert Kronen Pension, die doch jeder Schafskopf kriegte.

Er hätte also ebenso gut von selber gehen können. Er hätte gehen können, als er noch jung war und die See ihn lockte. Alles, was ihn zurückgehalten hatte, war nichts gewesen als Schein, Blendwerk, Teufelskünste und Betrügerei. Nicht einmal Frau und Kinder hatten etwas dabei gewonnen, daß Sammel sein Leben vergeudet hatte und an Land geblieben war. Der Branntwein, der ihn zum Herrn gemacht hatte, schleuderte ihn von sich wie einen Lumpen und machte ihn nicht einmal mehr froh.

Das geschah zu der Zeit, die immer Sammels schlimmste war – der Zeit, da das Eis sich zwischen die Inseln legte, da die Leuchtfeuer erloschen und der Nordwind kalt wehte.

 

5.

Sammel ward alt und grau, und alles an ihm ward krumm. Die Finger wurden krumm von Gicht und Rheumatismus, der Rücken ward krumm von demselben Leiden, die Nase magerte ab, so daß sogar sie krummer aussah, als zur Zeit, da der Lotse noch Fleisch im Gesicht gehabt hatte. Sammel war jetzt auch nicht mehr Lotse, und von was er lebte, das mochten die Vögel wissen. Er schoß wohl ab und zu eine Robbe, fischte draußen, lotste auch ein wenig, wenn es sich um ungebaktes Fahrwasser handelte, bei dem kein anderer die Verantwortung übernehmen mochte. Das war alles, und es reichte just nicht weit. Aber es mußte eben reichen. Denn wenn man nicht hat, was man braucht, muß man seinen Verbrauch nach dem richten, was man hat. Und Sammel meinte, das, womit er selber sich begnügen mußte, sei auch für andere gut genug.

Aber seine Frau teilte diese Auffassung des Mannes nicht. Sie fürchtete ihn nicht mehr; der Schrecken, den Hilma einst im Blut gehabt hatte, war längst vergangen. Jetzt hatte Sammel nicht einmal mehr Geld im Sack, wie früher, als er Lotse war, und womit er sich früher freizukaufen pflegte. Er ging Hilma jetzt aus dem Weg und hörte alles, was man ihm sagte, an, ohne zu mucksen.

»Du bist ein Lüderjahn, Sammel!« pflegte Hilma zu sagen. »Und wenn ich gewußt hätte, wie du bist, so hätt' ich's bleiben lassen können, mich wegzuwerfen, und hätt' was Besseres haben können.«

»Das hättest du,« antwortete Sammel und ging ihr aus dem Weg, wie immer.

Was er dachte, behielt er für sich. Aber das Ärgste war, daß auch die Kinder Sammel verachteten und die Mutter bedauerten, die Kinder, die jetzt erwachsen waren. Sammel merkte auch dies, und es kränkte ihn am allermeisten; aber verteidigen konnte er sich nicht – am wenigsten ihnen gegenüber.

Sammel war nun so weit gekommen, daß er aller Narr war, eine Art Hanswurst für die ganze Gegend. Wo er ging, wandten die Leute die Köpfe und sahen ihm nach. Und wenn er betrunken war, hatte er einen Schwarm von Jungens hinter sich her, die ihn aufreizten, sie zu verfolgen, und dann über seine Wut lachten. Wenn er, wie oft, im Boot saß und mit sich selber schwatzte, wenn er am Ruder stand und Reden hielt, die Lichtwogen des Leuchtturms von Eddystone sah oder das Brausen um die Bänke von Dover hörte, wenn er laut mit Steuermann, Kapitän und der ganzen Besatzung sprach, wenn er wieder der alte Sammel war, der junge, der unverwüstliche, der Allerwelts-Sammel mit der Seele voll Kraft und einem Feuerherzen auf der Brust, – dann stand ein Schwarm von Tagedieben am Strand, kränkte ihn und grinste, bis Sammel aus seinem Traum erwachte und ans Land krabbelte, um für seine Ehre zu kämpfen.

Bei solchen Gelegenheiten dachte Sammel an Norman und er ging, ihn zu suchen.

»Du hast auch deine Verwarnungen weg, du Vieh,« sagte Sammel.

Er stand allein mitten auf dem Hügelweg und schüttelte seine geballte Hand vor sich hin.

»Drei Verwarnungen hast du weg, und Pension hättest du auch nicht gekriegt, wenn nicht deine Alte beim Kommandeur gewesen wäre und für dich gebettelt hätte.«

Und Sammel ging und suchte Norman, aber er fand ihn nie. Es konnte vorkommen, daß er seine Kühe antraf. Die trieb er dann stundenlang tief hinein in den Wald und ging darauf allein durchs Dickicht und lachte wie ein Narr, wenn er die Alte laufen und rufen hörte, während die erschreckten Tiere in voller Verwirrung immer weiter und weiter fortrannten. Er konnte an Normans Haus vorübergehen, wenn er sah, daß niemand daheim war. Dann schlich er hinzu und ließ die Ferkel heraus, ging weiter und tat, als ob es regnete. Vielerlei Derartiges tat Sammel und ergötzte sich in aller Stille daran. Einmal schnitt er der Alten die Wäsche herunter, die an einem Seil hing, und verstreute die Kleidungsstücke über den schmutzigen Boden. Aber das Ärgste war doch, wie er Norman die Strömlingsnetze zerschnitt. Denn so was ist Frevel, und diesmal erschrak Sammel über sich selber.

Sammel kam auf dem Hügelweg gegangen, der zu seinem Haus führte. Die Luft war voll Sonnenschein, und Sammel war kurz vorher draußen gewesen und hatte einen Vergnügungskutter gelotst. Er hatte Geld im Sack, und der Großhändler, für den er gelotst hatte, hatte ihm zum Abschied ein paar tüchtige Gläser voll eingeschenkt, zum Dank dafür, daß er draußen auf der See nichts angerührt hatte.

»Auf der See saufe ich nie, aber an Land immer,« hatte Sammel geantwortet.

Diese Worte käute er nun bei sich selber wieder, wie er so dahin ging. Er wußte, er hatte etwas Gutes gesagt. Auch der andere hatte darüber gelacht, und Sammel fühlte sich befriedigt. Es war beinah, als hätte er die Formel seines Lebens gefunden. Jetzt war es auch wahr. Nun er nichts mehr zu verlieren hatte, fürchtete Sammel alles Starke, so bald er auf See war, und er konnte vom Land flüchten, um dem Teufel zu entrinnen, der ihn beherrschte.

Inzwischen ging Sammel zwischen den Häusern der Lotsenkolonie weiter seinem Hause zu. Er hielt seinen Rücken grader, als gewöhnlich, und die grauen Augen glänzten. Sammel war nicht mehr an gute Worte gewöhnt in diesen letzten Jahren; nun hatte der Großhändler ihn gerühmt und ihn nobel bezahlt. Außerdem hatte er ihn ehrenvoll traktiert und zum Abschied eine Flasche feinen Kaffeekognak in die Tasche des Lotsen gesteckt. Darum war Sammel munterer als sonst, und als er an Normans Haus vorüber kam und ihm ganz unvorbereitet etwas Nasses ins Gesicht schlug und sich um seine Beine wickelte, war er nicht in der Laune, sich geduldig zu zeigen.

Er machte ein paar Schritte nach rückwärts und fluchte. Was war denn das? Hatte da nicht die alte Vettel, diese Vettel aller Vetteln auf Meilen im Umkreis, die die Leute Norman nannten, die Netze herausgehängt? Und hatte er sie nicht just da aufgehängt, wo Sammels Weg lag?

Sammel war seitwärts geraten und ging mitten im Gras. Aber das merkte er nicht. Denn die Wut auf Norman im Verein mit seinem Rausch machte ihn blind.

»Gehört der Weg nicht mir?« dachte Sammel. »Bin ich nicht mehr als dreißig Jahre diesen Weg gegangen? Soll ich nicht auf meinem eigenen Weg gehen können?«

Damit zog er sein Messer heraus, das hinten im Hosenriemen hing, und begann ohne weitere Überlegung im Garn herum zu schneiden und zu säbeln, um eine Öffnung zustande zu bringen, durch die ein Mann hindurchschlüpfen könnte.

Normans Alte kam heraus. Denn Norman selber war nicht daheim. Sie weinte und bat Sammel, sich zu beruhigen. Aber Sammel hörte nicht auf sie. Er schnitt und schnitt, bis das Loch so groß war, daß er hindurch konnte. Dann steckte er das Messer wieder in die Scheide, und ohne sich noch einmal umzublicken ging er stolz weiter.

»Ich mußte doch weiter,« dachte Sammel. Und er kam auch weiter. In dieser Nacht ward bei Normans nicht viel geschlafen. Statt dessen wurden Rachepläne geschmiedet, und die Alte schlich sich alle Viertelstunden hinaus, um nachzusehen, ob Sammel nicht zurückkäme.

Aber Sammel kam nicht, und am Morgen darauf war Sammel verschwunden. Normans Alte fand niemand, an dem sie ihren Zorn auslassen konnte, als Sammels Hilma, und die nahm die Sache ruhig, weil sie sich unschuldig wußte. Wo Sammel war, wußte auch sie nicht, nur, daß er im Morgengrauen ausgesegelt sei.

Während die Weiber nach besten Kräften seinethalben miteinander keiften, saß Sammel am Ruder und strebte gegen den Wind nach der Klippe, die weit draußen an offener See lag, wo die Bäume sich tief vor dem Sturm bogen und wo das Meer frei wogte und selten zufror, weil dort der Strom vorbeistrich. Sammel fürchtete sich vor sich selber und vor dem, was er getan hatte; so erbärmlich wie jetzt war er sich noch nie vorgekommen.

An der Klippe legte Sammel an und den ganzen Tag über saß er still da und dachte. Nachts schlief er auf der Schäre, und am nächsten Morgen fuhr er weiter nach einer Fischerkolonie, die weit draußen im Meer lag.

Sammel hat Geld im Sack, mehr Scheine, als er seit langen Jahren besessen hat. Einen gab er seiner Frau, als er wegfuhr, aber die meisten hat er bei sich. Sammel kauft sich eine Tonne Strömlinge und einen Sack Kartoffeln. Er kauft eine alte Hütte, die da steht, und reißt sie nieder. Und all das bringt er hinüber auf die niedere Schäre, auf der er sich daheim fühlt, und als er alles dort hat, legt er sein Boot fest und fängt an zu bauen.

Es braucht lange Zeit, wenn ein alter Mann sich fern von allen andern allein sein Haus bauen will, und Monate vergehen, eh die Koje fertig ist und bewohnt werden kann. Ein richtiges Fundament ist überhaupt nicht gelegt, der Herd ist baufällig und das kleine Fenster sitzt schief. Aber Sammel gefällt es hier, weil er hierher paßt und weil keiner ihn stört. Er merkt nicht, daß der Herbst kommt und daß die Tage kurz werden. Er hat auch kein anderes Licht, als das, was die Reisighaufen geben, die im Herd brennen; in einem Buch hat er nicht mehr gelesen, seit er in den Einsegnungsunterricht ging, so daß er auch das nicht vermißt. Der Winter kommt und es wird dunkel rund um ihn her, weil alle Leuchtfeuer erlöschen.

Aber Sammel fürchtet die Dunkelheit nicht, und an Entbehrungen ist er gewöhnt. Er spart an den Streichhölzern und sieht zu, daß die Speisevorräte reichen. Wenn es hell ist, fischt er ein bißchen, und so oft er einen Vogel oder eine Robbe sieht, liegt er mit der Büchse auf der Lauer. Aber meistens liegt er ganz still auf einem Strohsack, den er mitgebracht hat, und steht bloß ab und zu auf, um nach dem Feuer zu sehen. Er friert nicht und er hungert auch nicht. Er ist zufrieden.

Sammel segelt jetzt nicht mehr nach fremden Ländern; er ist auch nicht mehr der fliegende Holländer, der des Gespensterschiffes müde und vor seiner Mannschaft geflüchtet ist. Er ist ganz einfach Sammel, dem's in der Welt schief gegangen ist, weil er sich nicht selber zu steuern vermochte, sondern andere steuern ließ, Sammel, der sein Heim und seinen Frieden vertrunken hat, Sammel, der seine Seele zerstört hat, Sammel, der ein böser alter Mann ist, den alle scheuen, Sammel, der sein Weib gequält und seine Kinder vergessen hat, Sammel, der nichts ist und nie etwas war.

So denkt Sammel von sich selber, aber trotzdem ist er glücklich. Denn er ist von dem allem so weit fort, als wär' es nie gewesen, und wo er jetzt ist, gibt es niemand, dem er Böses antun könnte.

Der Winter vergeht und es beginnt um die Schären her sich aufzuhellen. Die Tage werden länger, und abends blinken die Leuchtfeuer durch das Dunkel.

Da hört Sammel eines Tages, wie es draußen auf der Klippe raschelt. Er erhebt sich und horcht. Er kann es ganz deutlich hören. Es sind Menschen, die da gehen. Sie sprechen leise miteinander, als fürchteten sie sich davor, ihre eigenen Stimmen zu hören. Sammel liegt und lauscht. Er hört, wie die Tritte sich nähern, und ein grimmiges Lächeln fährt über sein Gesicht. Schließlich öffnet sich die Tür, und Sammel sieht zwei Männer eintreten. Der eine von ihnen ist sein eigener Sohn. Von der Fischbank am Meeresrand war verlautet, wo Sammel war, und jetzt kommen die beiden Männer, um nach ihm zu sehen. Verlegen stehen sie in der Türöffnung und wagen nicht einzutreten.

Noch einmal fährt ein Lächeln über Sammels Gesicht.

»Ihr habt geglaubt, ich sei tot; das kann ich mir denken. Nein, noch lebe ich. Und weil ihr nun einmal hergekommen seid, will ich euch auch was anbieten.«

Damit erhebt sich Sammel und holt die Flasche feinen Kognak vom Großhändler, die den ganzen Winter über unberührt dagestanden hat.

»Bitte,« sagt er, und stellt die Flasche hin und ein Glas.

Die beiden Männer trinken stillschweigend. Sammel selber mag nicht kosten. Zuletzt sagt der Sohn:

»Wollt Ihr nicht mit heimkommen, Vater? Wir haben uns um Euch geängstigt – alle.«

»Nein,« antwortet Sammel. »Ich komme, wenn ich mag.«

Mit diesem Bescheid mußten die beiden Männer umkehren. Sammel begleitete sie und half ihnen das Boot abstoßen.

Als der Tag, an dem er mochte, gekommen war, verließ auch Sammel die Schäre. Eines Morgens segelte er heim, als wäre nichts geschehen, ging hinein zu seiner Frau und blieb bei ihr. Aber am ersten Tag, an dem er ein Stück Geld verdiente, trank er wieder.

Sammel kehrte mehr als einmal auf die Schäre zurück, wo seine Hütte stand und wo niemand ihn störte. Manchmal blieb er tagelang da, manchmal Wochen, aber nie mehr einen Winter hindurch, wie das erste Mal.

In einer Septembernacht kam Sammel im Meer um, ertrank in der Bucht zwischen den Schären, der Bucht, die zwischen dem Dorf und der Lotsenkolonie lag. Ein Mann ging durch ein unvorsichtiges Manöver im Sturm über Bord. Er verschwand in der Dunkelheit, und alle im Boot erhoben sich, um nach ihm zu sehen. Da sprang Sammel besinnungslos ins Wasser, um ihn zu retten. Der Verunglückte kam an der Leeseite des Bootes wieder empor und ward hereingezogen. Aber als die Männer sich luvwärts wandten, wo sie Sammel noch eben gesehen hatten, war er fort, und nur sein alter Hut schwamm auf dem Wasser.

Sie dreggten lang nach Sammel, aber man fand ihn nicht mehr. Die See hatte ihn genommen und seinen toten Körper hinaus ins Meer getragen.

So kam Sammel endlich fort vom Land, und schließlich behielt ihn doch das Meer. Er war wie der Wundervogel, den man Albatroß nennt. Hunderte von Meilen tragen ihn seine starken Schwingen vom Land. Wird er aber einmal gefangen, so kann man ihn ungefesselt aufs Deck des Schiffes setzen. Fortzufliegen vermag er nicht mehr. Denn er braucht Weite und Sturm unter den Schwingen, wenn es ihm glücken soll, sich frei zu machen.

 


 << zurück weiter >>