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»Guten Morgen, Frau Pietsch, ich habe Dienstag Geburtstag, fein, was? Massig viel Sachen habe ich mir gewünscht, kriege auch alles! Aber ich habe auch gern, wenn mir fremde Leute gratulieren, und wenn's auf einer Postkarte ist. Gratulieren Sie auch den Kindern von Ihren Kunden?«
»Na, es kommt ganz darauf an, ob die artig sind, und ob ich sie gern habe,« versetzte lachend die freundliche Schlächterin, die sich sonst immer mit Bachs Jüngster 'rumzankte. »Wie alt wirst du denn nu?«
»Ich? Elfe!«
»Na, hoffentlich wirst du nun verständiger und verwichst mir nich' mehr meinen kleinen schwachen Ludwig, wie neulich früh.«
»Na, das thue ich wahrhaftig nicht mehr, Frau Pietsch; aber vorläufig kann ich noch 'ne Range bleiben, hat Papa gesagt, bis ich 'n Bräutigam habe!«
»Nanu, Lotte, wann willst du dir denn den anschaffen?«
»Kommt drauf an, doch vor Sechzehn keinesfalls!« versicherte die Kleine treuherzig.
»Dann weißt du wohl auch schon wen?«
»Nee,« Lotte wollte sich halbtot lachen. »Haben Sie mich eigentlich gern, Frau Pietsch?«
»Ja, ja, Mauseken, ich gratulier' dir, hab' man keine Angst!«
So eilte Lotte von einem guten Bekannten zum andern und verkündete. Die halbe Schule erfuhr es, das Lehrerkollegium, die Hausbewohner; sie alle sahen dem großen Tag gespannt entgegen.
»Höre, Kind, du darfst dir zum Dienstag deine besten Freundinnen einladen. Sie sollen von vier bis halb acht Uhr unsre Gäste sein. Aber erzähle nicht überall, daß du Geburtstag hast, mir liegt gar nichts an so und so viel Bonbonnieren und den verschiedensten Rundreisegeschenken!«
Doch ihr Töchterlein war andrer Ansicht. Sie dachte: »Je mehr Süßigkeiten, je besser!«
»Lotte ist das richtige Mädchen, um sich einmal im Leben durchzusetzen,« sagte der Rat am Dienstag Morgen lachend zu seiner Gattin. »Die halbe Straße hat dem Mädel ja gratuliert.«
»Und das ganze Haus dazu.«
Die Heldin des Tages war in der Schule und spielte sich dort groß auf. Man hatte ein Hoch auf Wunsch des Lehrers auf sie ausgebracht, und in der Pause drängten sich die Kinder um sie herum. – Eine brachte ihr ein kleines Zwanzigpfennigstück und sagte: »Hier, Lotte, meine Mutter sagt, daß du dir selbst ein paar Oblaten kaufen sollst. Sie wüßte nicht, was sie dir kaufen sollte!«
»Ach,« stöhnte Lotte begeistert, »da kriege ich beim Kaufmann ja acht viereckige Stücke Schokolade dafür. Famose Idee von deiner Mama! Oder auch Abfallbonbons, 'ne große Düte voll!«
Noch kurz vor Anfang der Stunde rannte sie noch einmal zu der Spenderin des Geldschatzes. »Weißt du, das Allerpraktischste wäre ja, wenn ich mir für 'n Sechser Abfallbonbons, für 'n Sechser Naute, für 'n Sechser Blockzucker und für den letzten Schokolade kaufte. Ja, das thue ich bestimmt!«
Sie hielt während des Unterrichts das winzige Geldstück krampfhaft fest und kostete schon im voraus die Genüsse, die es ihr verschaffen würde. Endlich war die Schule aus. Sie jagte heim und geriet in einen Verwandtenstrudel, der sie völlig benahm. Es regnete Küsse und Geschenke. Lotte war furchtbar aufgeregt. Die Mutter nahm sie beiseite und fragte sie: »Wieviel Mädel werden denn eigentlich kommen?«
»Weiß nicht, Mutta, es wußten noch nicht alle, ob sie durften.«
»Na, ungefähr wirst du es doch wissen!«
»Nee, Muttachen, ich habe keine Ahnung; aber laß man viel Kuchen holen, es werden 'ne ganze Masse werden.«
Frau Rätin seufzte leise: »Ich wollte, es wäre Abend und der Radau vorüber!«
»Schicke sie doch in den Garten!« riet eine Nichte, die bei solchen Gelegenheiten der Tante stets zur Seite war. »Wir geben ihnen erst die Schokolade, schicken sie hinunter und schneiden inzwischen die Brötchen und belegen sie. Onkel braut mittlerweile aus Selters und Himbeersaft die berauschende Bowle,« tröstete die Nichte.
Das Mittagbrot war vorüber. Ella und Kläre kamen mit riesigen Kuchentüten vom Bäcker zurück und deckten den Tisch für die Gäste. Punkt vier Uhr klingelten die ersten fünfzehn, und so ging es weiter, immer truppweise, die Zimmer füllten sich mit hellgekleideten blühenden Geschöpfchen.
»Um des Himmels willen, Mütterchen, ich zähle schon über dreißig, wir haben ja nicht genug Tassen!« sagte die älteste Tochter verzweifelt.
»Lotte!« rief die Rätin scharf.
»Ja, Mama.«
»Ich wünsche zu wissen, wieviel ungefähr kommen werden!«
»Ich habe die ganze Klasse gebeten,« entgegnete Lotte, halb kleinlaut, halb keck.
»Wieviel seid ihr?« ächzte die Mutter.
»Zweiundfünfzig!«
»Du solltest doch aber nur deine besten Freundinnen einladen!«
»Das sind sie alle!« versicherte die Kleine.
»Sorg' dich nur nicht, Mütterchen, es gehen viele geduldige Schafe in einen Stall,« scherzte Ella. »Wir werden die Geschichte militärisch regeln. Paß mal auf, ich lasse sie jetzt in Bataillonen antreten, thue, als wenn es Scherz sei, und meine es blutig ernst.«
Und es ging; die Idee war genial. Es amüsierte die Kinder, daß sie so marschieren, sich hinsetzen und aufstehen mußten nach Kommandos, die mit scharfem militärischem Tone hervorgeschnarrt wurden. Dreimal rannte Auguste zum Bäcker, um noch mehr »Schnecken« und »Mushörnchen« herbeizuschaffen. Es war gerade, als ob sich ein Heuschreckenschwarm über der Bachschen Wohnung niedergelassen hätte: denn alle Schüsseln wurden ratzekahl abgegessen.
Endlich ergoß sich der Strom zukünftiger Schönheiten in den Garten. Lottes sonst so lustige Spielkameraden Fritz, Franz und Mäxchen fühlten sich unter der erdrückenden Ueberzahl des weiblichen Geschlechtes sehr verlegen. Sie benahmen sich äußerst schüchtern und linkisch, hockten fortwährend zusammen, so daß Lotte ordentlich ärgerlich wurde. Sie trat einmal zu ihnen und flüsterte scharf: »Was habt ihr denn, olle Dösköppe, könnt ihr nicht bis drei zählen, was? Seid doch sonst nicht so stille, was?«
»Wenn doch bloß erst all die ekelhaften Weiber weg wären,« stöhnte Fritz, »die schnattern einen ja tot!« Die beiden andern sagten gar nichts.
Der Rat kam aus dem Bureau nach Hause und suchte seine Damen. Eine unheimliche Stille brütete über der Vorderwohnung. Erstaunt durchwanderte er die Zimmer und gelangte durch den Korridor in die Küche. »Herrjehmine!« stieß er verwundert hervor und blieb in der Thür stehen. »Was ist denn los? Haben wir denn ein Regiment aufzunehmen?« Da standen seine Frau, seine beiden Töchter, zwei Nichten und Auguste mit aufgekrempelten Aermeln und schmierten und belegten Brotschnitten. Schon häuften sich die appetitlich hergerichteten »Stullchen« auf den riesigen Tabletten.
»Ich bitte um Erhöhung des Wirtschaftsgeldes, teuerster Gatte, deine hoffnungsvolle Jüngste hat sich die ganze Klasse eingeladen und achtundvierzig sind glücklich gekommen. Sie versicherte mir, daß alle ihre besten Freundinnen wären, diese Jesuitin!«
Herr Bach lachte.
»Du hast gut lachen, Onkelchen; aber du wirst ein andres Gesicht aufsetzen, wenn du den heutigen Aufschnitt bezahlen mußt. Ich habe mir nie gedacht, daß Großstadtkinder einen solchen Appetit hätten!«
»Papa, bitte, mach' doch das Getränk fertig, ich habe die beiden großen Bowlen vom Buffett herunter geholt. Auguste wird gleich Selters bestellen.«
»Nein, liebe Tochter, das wollen wir nur lassen. Es braust zu schnell ab. Ich gieße in jede Bowle eine Flasche von Mutters Apfelwein und schütte ein Pfund Zucker drauf, der Rest wird Wasser. Dann haben wir ein erfrischendes Getränk!«
»Du bist ein genialer Mann, Onkelchen!«
Der gütige Rat braute sein Gebräu und begab sich ans Hinterfenster, von dem aus er am besten den Garten übersehen konnte. Unten tobte der Schwarm wild durcheinander. Jubelndes Gelächter, jauchzendes Geschrei drang zu ihm empor. »Glückliche Jugend!« murmelte er vor sich hin. Auf einmal wurde es stiller, dann hörte er eine kurze Ansprache und: »Hoch, Lotte, hoch, hoch, hoch!« erscholl es.
Der Vater stimmte im Herzen in dieses Lebehoch ein. Seine Gattin kam auf einen Augenblick zu ihm. »Wenn doch,« sagte er, »die Eltern stets daran dächten, daß die freudigste Rückerinnerung eine schöne Kinderzeit ist. Da scheltet ihr immer, daß ich unserm Wildfang die Zügel zu locker lasse, laßt mich nur, sie wird schon werden! Diese Rangenstreiche sind ein Zeichen ihrer Gesundheit, ihres leichtherzigen Temperaments, sie müssen durchgemacht werden. Es sind seelische Kinderkrankheiten, sobald sie in früher Jugend auftreten, sind sie leicht, – später bedenklicher. Ein Kind muß austoben. Mir imponieren Musterexemplare nicht, sind Treibhauspflanzen! Die größte Weisheit in der Erziehung ist, spielend, unbewußt zu lenken. Nicht ewig ermahnen und alle Unarten sehen; man kann ruhig einmal fünf grade sein lassen! Doch nun gehe ich 'runter, mitspielen!«
Die Abendspeisung der Kleinen vollzog sich wieder nach militärischem Comment, dann wurden die meisten abgeholt oder wanderten allein fort. Sie alle bedankten sich vergnügt bei Lottes Vater für den reizenden Nachmittag und küßten das Geburtstagskind zärtlich beim Abschied. Von allen blieben nur Gretchen Thronis und die drei Jungen zurück. Sie stürmten noch einmal an den großen Tisch hinauf und übten Kritik an den Geschenken.
»Die Verwandten waren wieder recht anständig,« meinte Lotte anerkennend; »die Mädel aus der Schule ziemlich poplich.«
»Ich habe achtundzwanzig Gegenstände zum Weiterverschenken bereits fortgepackt,« sagte Ella, die gerade die Gläser wegräumte, ohne auf die entrüstete, beleidigte Miene der kleinen Schwester zu achten.
Um neun Uhr brachte der Rat Gretchen nach Haus. Mäxchen war bereits schlafen gegangen. Franz mußte hinauf, um noch lateinische Vokabeln zu lernen. So blieb Lotte, die auf des Vaters Rückkehr im Garten warten sollte, mit Fritz allein auf dem Spielplatze.
Das Mädelchen war sehr abgespannt von dem ereignisreichen Tage. Sie gähnte und streckte die Arme reckend von sich. Dann schwang sie sich auf den Barren, starrte in die Luft und baumelte schlenkernd mit den Beinen. Fritz kletterte aufs Reck und ließ sich dort nieder, mit dem Arme die Kletterstange umfassend und näher zu sich heranziehend. Er blickte zu Lotte hinab, die er in der Dunkelheit nur noch schwer erkennen konnte. Er sah nur ihre blonden Haare im Mondenschein schimmern. Eine weiche Stimmung kam über ihn.
»Nu bist du schon Elfe, du kleines Schaf!« sagte er zärtlich, »und ich bin schon bald Vierzehn und 'n halb. Bist doch noch 'n recht junges Puttchen!«
«Ja, ja,« gähnte Lotte, nur halb zuhörend.
»Weißte, Kleine, mein Onkel hat sich mit Fünfzehn mit seiner Frau verlobt –«
»Nanu, der hatte aber 'n gewaltigen Piep,« sagte Lotte; aber sie suchte doch, wacher zu werden. »Wie alt war sie denn?«
»Zwölfe!« – Pause.
»In einem Jahr sind wir beide grade so alt, wie die waren!«
»Dann können wir uns ja meinsmegen auch verloben!« meinte Lotte gleichgültig.
»Magst du mich denn?«
»Ollet Schaf!«
»Nee, nee, Lotte, ich meine es ernst! Du mußt mir antworten! Karl und Eugen Holzen haben auch schon 'ne Liebe! Ich möchte auch 'ne Liebe haben!«
»Ach ja, ich auch!« rief Lotte entzückt und nun ganz munter.
»Na, denn sag doch, ob du mich magst?«
Nur eine kleine Pause erfolgte, während der die Gefragte ernst nachdachte.
»Ach ja,« meinte sie dann, »ich mag dich sehr, du bist doch immer so hübsch und so – so – frech, na, du weißt schon, ich meine, wie 'n richtiger Mann. Nur stubsen, kneifen und hauen darfste mich nicht mehr, verstehste?«
»Nee, das thue ich auch nich' mehr, Lotte!«
»Franz ist viel netter zu mir!«
»Unsinn, von heute ab nich mehr. Jetzt bin ich dein Schatz!«
»Ei fein, ja!« flüsterte Lotte ordentlich schämig. »Magst du mich denn?«
»Aber doll,« rief er energisch, »du bist doch wirklich 'n nettes Mädel und niedlicher Käber obendrein!«
»Fritze Weber hat 'n Käber, an de Lunge, an de Zunge, an de Leber!« citierte Lotte schnell abgelenkt. Der Liebhaber war darüber gar nicht weiter beleidigt. Er rutschte von der Stange herunter und kam zu ihr. Auch sie sprang vom Barren. Unwillkürlich ergriff er ihre Hand.
»Du!« – er stieß sie mit der Schulter. »Ich glaube, wenn man 'n Schatz hat, muß man ihm 'n Kuß geben!« zögerte er hervor.
»Woll'n wir doch auch thun!« willigte sie ein.
Fritz beugte sich zu ihr und gab ihr einen schallenden Kuß; aber sie riß sich los und wischte ihn ab: »Nee, Fritz, das thun wir nicht wieder, das ist eklig! Man kann auch so Schatz sein!«
»Mir ist's recht!« sagte er leichthin. »Ich hörte mal, so was kommt immer erst später! Aber höre mal du, du darfst's nun niemand erzählen, auch Franz und Max nicht. Das Geheimnis ist immer die Hauptsache dran!«
»Na, bon! Das heißt, Greten sage ich alles! Aber nur der!«
»Hand drauf!«
»Hier!« Sie schüttelten sich die Hände und kletterten befriedigt wieder auf den Barren.
»Lotte!« rief plötzlich der Rat, der seine Tochter abholte, ahnungslos, welch bedeutender Wendepunkt in ihrem Leben soeben eingetreten war.
Auch der Major schrie hinab: »Fritz! Sofort antreten!«
»Gute Nacht, Fritz!« – »Gute Nacht, Lotte!« riefen sie sich heute schmelzend zu.
Als das kleine Mädchen endlich todmüde im Bett lag, die geliebte Puppe im Arme, flüsterte sie ihr ganz leise zu: »Du, Feodora, sag's aber nicht weiter: ich habe jetzt auch einen Schatz; aber Papa hat gesagt, 'ne Range darf ich noch bleiben!«
Ende.