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»Aber wird das mein Vater leiden?«
»Daß ich an dich denke? – kann er mir das verwehren?«
»Nein – aber – daß Ihr das Bild da mit Euch – in die Welt hinaus nehmt?«
»Er kann es nicht hindern, mein Herz,« sagte Arnold freundlich – »aber wäre es dir selber unlieb, es in meinen Händen zu wissen?«
»Mir? – nein!« erwiderte nach kurzem Überlegen das Mädchen, »wenn – nur nicht – ich muß doch den Vater darum fragen.«
»Du bist ein närrisch Kind,« lachte der junge Maler, »selbst eine Prinzessin hätte nichts dagegen, daß ein Künstler ihre Züge für sich erwirbt. Dir geschieht kein Schade dadurch. Aber so lauf doch nur nicht so, du wildes Ding; ich gehe ja mit – oder willst du mich hier ohne Mittagsessen zurücklassen? Hast du die Kirchenbilder vergessen?«
»Ja, die Bilder,« sagte das Mädchen, stehen bleibend und auf ihn wartend; Arnold aber, der seine Mappe rasch wieder zusammengebunden, war auch schon im nächsten Augenblicke an ihrer Seite, und weit schneller als vorher setzten sie ihren Weg, dem Dorfe zu, fort.
Dieses aber lag viel näher, als Arnold dem Klange der gesprungenen Glocke nach vermutet hatte, denn das, was der junge Mann von weitem nur für ein Erlendickicht gehalten, zeigte sich, als sie näher kamen, als einen heckenumzogene Reihe von Obstbäumen, hinter denen dicht versteckt, aber im Norden und Nordosten von weiten Feldern umgeben, das alte Dorf mit seinem niedrigen Kirchturme und seinen rauchgeschwärzten Häusern lag.
Hier auch betraten sie zuerst eine gut angelegte und feste Straße, an beiden Seiten mit Obstbäumen bepflanzt. Über dem Dorfe aber hing der düstere Höhenrauch, den Arnold schon von weitem gesehen, und brach das helle Sonnenlicht, das nur mit einem gelblich unheimlichen Scheine auf die alten, grauen, verwitterten Dächer fallen konnte. – Arnold aber hatte für das alles kaum einen Blick, denn die an seiner Seite hinschreitende Gertrud faßte, als sie sich den ersten Häusern näherten, langsam seine Hand, und diese in der ihren haltend, schritt sie mit ihm in die nächste Straße ein.
Ein wunderbares Gefühl durchzuckte den jungen, lebensfrischen Burschen bei der Berührung dieser warmen Hand, und unwillkürlich fast suchte sein Blick dem des jungen Mädchen zu begegnen. Aber Gertrud schaute nicht zu ihm hinüber; das Auge züchtig am Boden haftend, führte sie den Gast ihres Vaters Hause zu, und Arnolds Aufmerksamkeit wurde endlich auch auf die ihm begegnenden Dorfbewohner gelenkt, die alle still an ihm vorüber gingen, ohne ihn zu grüßen.
Das fiel ihm erst auf, denn in all den benachbarten Dörfern hätte man es fast für ein Vergehen gehalten, einem Fremden nicht wenigstens einen »Guten Tag« oder ein »Grüß' Gott« zu bieten. Hier dachte niemand daran, und wie in einer großen Stadt gingen die Leute entweder still und teilnahmslos vorbei, oder blieben auch hie und da stehen und sahen ihnen nach – aber es redete sie niemand an. Selbst das Mädchen grüßte keiner von allen.
Und wie wunderlich die alten Häuser mit ihren spitzen, mit Schnitzwerk verzierten Giebeln und festen, wettergrauen Strohdächern aussahen – und trotz dem Sonntag war kein Fenster blank geputzt, und die runden, in Blei gefaßten Scheiben sahen trüb und angelaufen aus und zeigten auf ihren matten Flächen den schillernden Regenbogenglanz. Hie und da öffnete sich aber ein Flügel, als sie vorüberschritten, und freundliche Mädchengesichter oder alte, würdige Matronen schauten heraus. Auch die seltsame Tracht der Leute fiel ihm auf, die sich wesentlich von der der Nachbardörfer unterschied. Dabei herrschte eine fast lautlose Stille überall, und Arnold, dem das Schweigen endlich peinlich wurde, sagte zu seiner Begleiterin:
»Haltet ihr denn in eurem Dorfe den Sonntag so streng, daß die Leute, wenn sie einander begegnen, nicht einmal einen Gruß haben? Hörte man nicht hie und da einen Hund bellen oder einen Hahn krähen, so könnte man den ganzen Ort für stumm und tot halten.«
»Es ist Mittagszeit,« sagte Gertrud ruhig, »und da sind die Leute nicht zum Reden aufgelegt; heint Abend werdet Ihr sie desto lauter finden.«
»Gott sei Dank!« rief Arnold, »da sind wenigstens Kinder, die auf der Straße spielen – mir fing es hier schon an ganz unheimlich zu werden; da feiern sie in Bischofsroda den Sonntag auf andere Art.«
»Dort ist auch meines Vaters Haus,« sagte Gertrud leise.
»Dem aber,« lachte Arnold, »darf ich nicht so unversehens mittags in die Schüssel fallen. Ich könnte ihm ungelegen kommen, und habe beim Essen gern freundliche Gesichter um mich her. Zeig' mir deshalb lieber das Wirtshaus, mein Kind, oder laß mich es selber finden, denn Germelshausen wird von anderen Dörfern keine Ausnahme machen. Dicht neben der Kirche steht auch gewöhnlich die Schenke, und wenn man nur dem Turme folgt, geht man nie fehl.«
»Da habt Ihr recht; das ist bei uns gerade so,« sagte Gertrud ruhig; »aber daheim erwarten sie uns schon, und Ihr braucht nicht zu fürchten, daß man Euch unfreundlich aufnimmt.«
»Erwarten sie uns? ah, du meinst dich und deinen Heinrich? Ja, Gertrud, wenn du mich heute an dessen Stelle nehmen wolltest, dann bleibe ich bei dir – so lange – bis du mich selber wieder fort gehen hießest.«
Er hatte die letzten Worte fast unwillkürlich mit herzlicher Stimme gesprochen und leise dabei die Hand gedrückt, die noch immer die seine gefaßt hielt, da blieb Gertrud plötzlich stehen, sah ihn voll und groß an und sagte:
»Wolltet Ihr das wirklich?«
»Mit tausend Freuden,« rief der junge Maler, von der wunderbaren Schönheit des Mädchens ganz übermannt. Gertrud erwiderte aber nichts weiter darauf, und ihren Weg fortsetzend, als ob sie sich die Worte ihres Begleiters überlege, blieb sie endlich vor einem hohen Hause stehen, zu dem eine mit Eisenstäben verwahrte, breite steinerne Treppe hinauf führte, und sagte ganz wieder mit ihrem früheren schüchternen und verschämten Wesen:
»Hier wohne ich, lieber Herr, und wenn's Euch freut, so kommt mit hinauf zu meinem Vater, der stolz darauf sein wird, Euch an seinem Tische zu sehen.«
Ehe Arnold aber nur etwas darauf erwidern konnte, trat oben auf der Treppe schon der Schulze in die Türe, und während ein Fenster geöffnet wurde, aus dem der freundliche Kopf einer alten Frau herausschaute und ihnen zunickte, rief der Bauer:
»Aber Gertrud, heint bist du lang ausgeblieben, und schau', schau', was sie für einen schmucken Gesellen mitgebracht hat!«
»Mein bester Herr –«
»Nur keine Umstände auf der Treppe – kommt herein, die Klöße sind fertig und werden sonst hart und kalt.«
»Das ist aber nicht der Heinrich,« rief die alte Frau aus dem Fenster. »Hab' ich's denn nicht immer gesagt, daß der nicht wiederkäme?«
»Schon gut, Mutter; schon gut!« meinte der Schulze, »der tut's auch,« und dem Fremden die Hand entgegenstreckend fuhr er fort: »Schön Willkommen in Germelshausen, mein junger Herr, wo Euch das Mädel auch mag aufgelesen haben. Und jetzt kommt herein zum Essen und langt zu nach Herzenslust – alles weitere können wir nachher besprechen.«
Er ließ dem jungen Maler auch wirklich keinen weiteren Raum zu irgend einer Entschuldigung, sondern derb seine Hand schüttelnd, die Gertrud losgelassen hatte, sobald er den Fuß auf die steinerne Treppe setzte, faßte er ihn zutraulich unter den Arm und führte ihn in die breite und geräumige Wohnstube ein.
Im Hause selber herrschte eine dumpfe, erdige Luft, und so gut Arnold die Gewohnheit des deutschen Bauern kannte, der sich in seinem Zimmer am liebsten von jeder frischen Luft abschließt und selbst im Sommer nicht selten einheizt, um die ihm behagliche Brathitze zu erzeugen, so fiel es ihm doch auf. Der schmale Hausgang hatte dabei ebenfalls wenig Einladendes. Der Kalk war von den Wänden gefallen und schien eben nur flüchtig beiseite gekehrt zu sein. Das einzige erblindete Fenster im hintern Teile desselben konnte kaum ein notdürftiges Licht hereinwerfen, und die Treppe, die in das obere Stockwerk führte, sah alt und zerfallen aus.
Es blieb ihm aber nur wenig Zeit, das zu beobachten, denn im nächsten Augenblicke schon warf sein gastlicher Wirt die Türe der Wohnstube auf, und Arnold sah sich in einem nicht hohen, aber breiten und geräumigen Zimmer, das frisch gelüftet, mit weißem Sand gestreut und mit dem großen, von schneeigen Linnen bedeckten Tisch in der Mitte, gar freundlich gegen die übrige verwilderte Einrichtung des Hauses abstach.
Außer der alten Frau, die jetzt das Fenster geschlossen hatte und ihren Stuhl zum Tisch rückte, saßen noch ein paar rotbäckige Kinder in der Ecke, und eine rüstige Bauernfrau – aber auch in ganz anderer Tracht als die der Nachbardörfer – öffnete eben der mit einer großen Schüssel hereinkommenden Magd die Türe. Und jetzt dampften die Klöße auf dem Tische, und alles drängte an die Stühle der willkommenen Mahlzeit entgegen; keines aber setzte sich, und die Kinder schauten mit, wie es Arnold vorkam, fast ängstlichen Blicken auf den Vater.
Dieser trat zu seinem Stuhle, lehnte sich mit dem Arm darauf und sah still und schweigend, ja finster vor sich nieder. – Betete er? Arnold sah, daß er die Lippen fest zusammengepreßt hielt, während seine rechte Hand zusammengeballt an der Seite niederhing – in diesen Zügen lag kein Gebet, nur starrer, und doch unschlüssiger Trotz.
Gertrud ging da leise auf ihm zu und legte ihre Hand auf seine Schulter, und die alte Frau stand ihm sprachlos gegenüber und sah ihn mit ängstlich Blicken an.
»Laßt uns essen!« sagte da barsch der Mann – »es hilft doch nichts!« und seinen Stuhl beiseite rückend und seinem Gaste zunickend, ließ er sich selber nieder, ergriff den großen Schöpflöffel und legte allen vor.
Arnold kam das ganze Wesen des Mannes fast unheimlich vor, und in der gedrückten Stimmung der übrigen konnte er sich ebenfalls nicht behaglich fühlen. Der Schulze war aber nicht der Mann, der sein Mittagsessen mit trüben Gedanken verzehrt hätte. Wie er auf den Tisch klopfte, trat die Magd wieder herein und brachte Flaschen und Gläser, und mit dem kostbaren alten Wein, den er jetzt einschenkte, kam bald ein ganz anderes, fröhlicheres Leben in alle Tischgenossen.
Durch Arnolds Adern strömte das herrliche Getränk wie flüssiges Feuer – nie im Leben hatte er etwas Ähnliches gekostet –, und auch Gertrud trank davon und die alte Mutter, die sich nachher an ihr Spinnrad in die Ecke setzte und mit leiser Stimme ein kleines Lied von dem lustigen Leben in Germelshausen sang. Der Schulze selber aber war wie ausgewechselt. So ernst und schweigsam er vorher gewesen, so lustig und aufgeräumt wurde er jetzt, und Arnold selber konnte sich dem Einflusse dieses kostbaren Weines nicht entziehen. Ohne daß er eigentlich genau wußte, wie es gekommen, hatte der Schulze eine Violine in die Hand genommen und spielte einen lustigen Tanz, und Arnold, die schöne Gertrud im Arm, wirbelte mit ihr in der Stube so toll herum, daß er das Spinnrad umwarf und die Stühle und gegen die Magd anrannte, die das Geschirr hinaustragen wollte, und allerhand lustige Streiche trieb, daß sich die übrigen darüber vor Lachen ausschütten wollten.
Plötzlich ward alles still in der Stube, und als sich Arnold erstaunt nach dem Schulzen umschaute, deutete dieser mit seinem Violinbogen nach dem Fenster und legte dann das Instrument wieder in den großen Holzkasten zurück, aus dem er es vorher genommen. Arnold aber sah, wie draußen auf der Straße ein Sarg vorbeigetragen wurde.
Sechs Männer, in weiße Hemden gekleidet, hatten ihn auf den Schultern, und hinterher ging ganz allein ein alter Mann mit einem kleinen, blondhaarigen Mädchen an der Hand. Der Alte schritt wie ineinandergebrochen auf der Straße hin; die Kleine aber, die kaum vier Jahre zählen mochte und wohl noch keine Ahnung hatte, wer da in dem dunklen Sarg lag, nickte überall freundlich hin, wo sie ein bekanntes Gesicht traf, und lachte hell auf, als sich ein paar Hunde vorüber hetzten und der eine gegen die Treppe des Schulhauses anrannte und sich überkugelte.
Nur aber so lange der Sarg in Sicht war, dauerte die Stille, und Gertrud trat zu dem jungen Maler heran und sagte:
»Jetzt gebt aber auf kurze Zeit eine Ruh' – Ihr habt genug getollt, und der schwere Wein steigt Euch sonst immer mehr in den Kopf. Kommt, nehmt Euren Hut, und wir wollen einen kleinen Spaziergang zusammen machen. Bis wir zurückkommen, wird es Zeit in die Schenke zu gehen, denn heute Abend ist Tanz.«
»Tanz? – das ist recht,« rief Arnold vergnügt, »da bin ich grad' zur guten Zeit gekommen; und du gibst mir den ersten Tanz, Gertrud?«
»Gewiß, wenn Ihr wollt.«
Arnold hatte schon Hut und Mappe aufgerissen.
»Was wollt Ihr mit dem Buche?« frug der Schulze.
»Er zeichnet, Vater,« sagte Gertrud – »er hat auch mich schon abgemalt. Seht Euch einmal das Bild an.«
Arnold öffnete die Mappe und hielt dem Manne das Bild entgegen.
Der Bauer betrachtete es still und schweigend eine Weile.
»Und das wollt Ihr mit zu Haus nehmen?« sagte er endlich, »und vielleicht in einer Rahmen machen und in die Stube hängen?«