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Naomi Kellogg sah vom Scheuern des Küchenbodens auf und bemerkte durch die offenstehende Türe den Blick, mit dem Joe Copelands Tochter Caleb Evans betrachtete. Müde von der späten Heimkehr gestern abend und von der gestörten Nacht, war er an diesem Morgen nicht wie sonst auf die Felder gegangen; er arbeitete im Hofe an einem neuen Verschlag für die jungen Hühner. Narzissa, die auf der Haustreppe saß und Äpfel für den Sonntagskuchen schälte, hatte ihre Arbeit unterbrochen und beobachtete den Mann, der eben ein Drahtgitter an die Scheune nagelte. Er arbeitete langsam; seine Bewegungen waren die eines alten Mannes. Nun, das war er ja auch – dachte Naomi – zwölf Jahre älter als sie und sie zählte schon achtunddreißig. Aber wann war er überhaupt jung gewesen? – Doch Narzissa blickte ihn nicht an, als sähe sie einen alten Mann in ihm, in ihren Augen lag ein Ausdruck von Zärtlichkeit, den Naomi für sich selbst nie darin gefunden hatte. Er begann die Hühner zusammenzutreiben. »Ich will dir helfen, Vater«, rief Narzissa. Und ohne sich von den Knien aufzurichten, sah Naomi zu, wie die beiden zusammen arbeiteten, wie Narzissa die kleinen gelben flaumigen Dinger mit gewölbten Händen an ihre Brust drückte. Sah, wie sie lachend zu dem Mann aufblickte. »Sind sie nicht süß? So klein und zart!« Genau so hatte sie selbst einst Narzissa an ihre Brust gedrückt, eine kleine zarte Narzissa.
Sie beendete ihre Arbeit, ohne nochmals aufzusehen, obwohl Narzissas Lachen und Calebs Fistelstimme zu ihr hereindrangen. Auf dem Tisch sah sie die Orange liegen, die sie Narzissa zugesteckt hatte. Orangen zählten zu den Leckerbissen, die Narzissa besonders liebte; als sie damals in der Stadt den Stoff für das Kleid besorgten, hatte Naomi einige gekauft und sie als Überraschung für Narzissa beiseite gelegt. Sie liebte solche Überraschungen; das Bewußtsein, ihrer Tochter eine Freude bereiten zu können, machte sie selbst glücklich, sie fühlte sich dabei jünger, fast froh. Selbst wenn Narzissa solche Gaben unwillig aufnahm, wenn sie sagte: »Ich brauche nichts, was Vater nicht auch bekommt«, war es ihr Lohn genug, sie schließlich doch immer die Leckerei verzehren zu sehen, gegen die sie sich erst gewehrt hatte. Diese verschmähte Orange, die sie jetzt in der Hand hielt, während Narzissas Lachen und Calebs Stimme an ihr Ohr drangen, erschreckte sie, wie nichts mehr seit jenem Tage, da sie erfahren hatte, daß Joe tot war und sein Kind lebte.
Von jenem Augenblick bis zu der gestrigen Nacht hatte es nur ein Ziel gegeben, für das sie lebte: Narzissa eines Tages zu eröffnen, daß sie nicht das Kind einer lieblosen Ehe, sondern die Frucht einer Liebe sei, die nichts auf der Welt hatte eindämmen können. Sie wollte Narzissa lehren, was wahre Liebe sei, und Joe damit sein Kind zurückgeben. – Wie konnte man nur neunzehn Jahre einem Ziele leben und dann alles so falsch tun, wie sie es gestern getan hatte! Sie hob ihre Augen zu dem Spiegel über dem Waschtisch. Sie errötete bei dem Gedanken daran, daß sie, mit diesem Aussehen, von Liebe gesprochen hatte. Und doch war es Liebe gewesen! Selbst jetzt fühlte sie es noch! Wo aber gab es die Worte, jene Sommernächte ins Leben zurückzurufen, die schon so weit hinter so vielen anderen Sommernächten lagen?
Sie ging, um Joes Bild wegzuschließen, das sie gestern nachts nicht mehr in die Truhe zurückgelegt hatte. Während sie es in der Hand hielt, dachte sie daran, welchen Preis sie dafür gezahlt hatte. Sie betrachtete es und versuchte, es mit Narzissas Augen anzusehen. Es war verblichen, als wäre es selbst schon lange tot. Joe hatte sich immer besser gekleidet als alle anderen jungen Leute, doch heute trug niemand mehr solche Anzüge. Narzissa mußte er sehr altertümlich, altmodisch, vielleicht sogar – wie weh tat dies Wort! – lächerlich vorgekommen sein. Naomi hatte nie daran gedacht, wie sehr die Zeit, die sich nicht hemmen ließ, gegen sie war. Die Jungen, die lebten dem Heute! Und das Antlitz, das ihr eben aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte … Wenn sie dieses Bild betrachtet hatte, war sie immer noch die Naomi von einst gewesen. Doch jene Naomi und Joe, beide gab es längst nicht mehr.
Tief hinunter, tiefer als zuvor räumte sie Joes Bild in die Truhe. Und sie hatte gemeint, es würde eines Tages das Kostbarste sein, was sie Narzissa zu hinterlassen hätte …
Caleb ging unten in der Küche herum. Er legte etwas auf den Tisch und ging in seiner schweren Art zum Waschbecken. Draußen hörte sie Narzissa singen. Trotz der erschütternden Dinge, die sie gestern erfahren hatte, sang sie, denn sie war jung und Tony liebte sie. Ja, der Junge liebte sie. Das war in seinen Augen zu lesen, als er sie, jedes Wortes unfähig, in ihrer goldschimmernden Schönheit angestarrt hatte. Auch Tony wußte, was Liebe war. Die Augen, mit denen er Narzissa ansah, glichen ganz jenen, die Naomi einst beglückt hatten, und auch seine Stimme war ihr voll vertrauter Klänge. Tonys und Narzissas Jugend – das alles war doch für sie, für Joe. Was vermochte Caleb Evans gegen die Liebe auszurichten und gegen die Jahre, die ihr gehören? »Du schuldest ihm gar nichts,« wollte sie Narzissa sagen, »quäl' dich nicht, den Preis habe ich gezahlt. Für uns beide!« Doch das durfte sie nicht sagen. Sie mußte behutsam sein. Tony, ja der sollte für Joe sprechen. Jugend zur Jugend und für Naomis und Joes Jugend.
Dann erinnerte sie sich an Worte, denen nachzusinnen sie nicht gewagt hatte: ›Meinen Sie, daß es Ihnen in Kalifornien gefallen würde, Narzissa?‹ Kalifornien! So weit von hier, wie sie selbst von dem heimatlichen Bach. Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, was dieses Haus ohne Narzissa bedeuten würde. Es wurde ein Bild, das sie sich nicht auszumalen wagte. »Du hast ein Mittel, sie zu halten,« raunte eine Stimme in ihr, »sie glaubt an ihre Pflichten gegen Caleb Evans! Sie wird hier bei ihm ausharren – und bei dir.« Sie bedeckte die Augen mit ihrer Hand und lauschte einem in weiter Ferne plätschernden Bach.
»Nein!« sprach sie dann vor sich hin.
Naomi und Narzissa saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich mit Frau Allen und Sylvia Waite. Nur wenn Besuch kam, wurde das Wohnzimmer benützt, und da es selten Besuch gab, waren die Goldeichenmöbel noch fast so ungebraucht, wie in jenem Frühling, als sie von Denver herübergekommen waren, damals, als Narzissa noch ein Baby war. »Jetzt haben wir also ein Wohnzimmer«, hatte Caleb gesagt, während er den Schaukelstuhl, den großen Fauteuil, die drei Stühle und den Tisch mit den geschnitzten Beinen zurechtrückte. Das Eßzimmer war schon eingerichtet, als Naomi hier ankam. Endlos war ihr die Fahrt damals gewesen; erst im Postwagen bis zur Stadt und dann in ihrem eigenen kleinen Karren von der Stadt bis hier heraus, durch diese trostlose öde Fläche, als die ihr das ›Tal‹ damals und seither immer erschien! Als sie dann endlich ins Haus traten, sagte Caleb: »Dieses Zimmer ist schon eingerichtet.« Ein Tisch, ein Büfett und vier glänzend polierte Stühle standen darin. Aber sie pflegten immer in der Küche zu essen, und das Eßzimmer war nie ein wohnlicher Raum geworden. Da gab's keinen gemütlichen alten Schaukelstuhl, der zu behaglichem Sitzen am Fenster eingeladen hätte, kein kleines niederes Nähtischchen, das man hierhin oder dorthin hätte stellen können. Nichts gab es in diesem Hause, woran sich eine Erinnerung knüpfte. Möbel von Illinois mitzunehmen, wäre ebenso teuer gewesen, wie neue zu kaufen, meinte Caleb – »was hätte es also für einen Zweck, sich mit altem Gerümpel abzuschleppen!« Keine Lehne, die schon andern Köpfen gedient hatte, fand man, um sein Haupt auszuruhen, und keine Armstütze, über die schon andere, längst entschwundene Hände gestrichen hätten. Neunzehn Jahre hatten nicht vermocht, die Goldeichenstube zu einem Heim zu gestalten! Keine Asche war hier aus Pfeifen geklopft worden, nirgends erblickte man jene halbverwischten Ringe, die zu heiße Tassen oder zu kalte Gläser hinterlassen. Wie anders war es in ihrem Elternhaus gewesen, in dem alten Haus unter den großen Bäumen. Die Sitze der Holzstühle waren schon ganz gewölbt, abgegriffen die Geländer im Stiegenhaus, die Tischbeine von Schuhen abgewetzt, und wie schön konnten alte halbverwischte Flecke aussehen, wenn das Licht darüber huschte! Wie hatte sie sich nach jenem alten Heim zurückgesehnt, aus dem sie jetzt alle schon fortgegangen waren, bis auf ihren ›kleinen‹ Bruder. Allerdings, so gestand sie sich selbst ein, war es ihre eigene Schuld, ihr Fehler, wenn sie es nicht verstanden hatte, dieses Haus zu einem Heim zu machen. Bloß die Dinge, die Narzissa gebraucht hatte, schienen vom Leben berührt. Narzissa – und John. Das Kinderbett und das kleine Sesselchen, der Puppenwagen und das Schaukelpferd. Nun war alles oben in eine dunkle Ecke geräumt.
Das ging ihr durch den Kopf, als sie Sylvia Waite zu Narzissa sagen hörte, wie bitter es sei, sein Heim wieder verlassen zu müssen, nachdem man eben erst gekommen wäre.
Naomi hatte für Frau Waite nicht viel übrig. Aber heute gab sie sich Mühe, liebenswürdig zu ihr zu sein, weil Narzissa sie gern hatte. »Oh, sie kommen sicher zu uns!« hatte Narzissa ausgerufen, als das bekannte Phaeton mit dem Schimmel in der Ferne aufgetaucht war. »Könnten wir Tee aufgießen, Mutter, und auf einem Tablett hineintragen?« – »Aber freilich,« hatte Naomi sie beruhigt, »und kleine Kuchen haben wir ja auch noch.« Arme Narzissa, es kam so selten Besuch, daß sie immer ganz furchtsam war, wie es ablaufen würde.
Frau Allen war dabei gewesen, als Narzissa zur Welt kam. Es war keine Pflegeschwester bestellt, doch der Arzt meinte, Frau Allen hätte in solchen Dingen eine ebenso geübte Hand. Naomi war allein im Hause, allein auf der ›Steppe‹, da Caleb gegangen war, um den Arzt zu holen. Sie hatte beim Küchenfeuer gesessen und gewußt, daß nun der Augenblick gekommen wäre, in dem Joe Copelands Kind geboren werden sollte. Fast ebenso sehr wie ihre Schmerzen empfand sie das große Rätsel dieser Stunde. Es war jetzt März; der Wind rüttelte an einem kleinen einsamen Holzhaus, das zwischen Bergen auf weiter Steppe stand. Joe lag in seinem Grab. Doch weil es von Liebe erfüllte Sommernächte gegeben hatte, sollte jetzt, lange nachher, in weiter, weiter Ferne ein neues Leben geboren werden …
Heute trug Frau Allen einen schwarzen Strohhut, der mit weißen Bändern unter ihrem Doppelkinn gehalten war, als fühlte sie selbst, sie sollte schon eine Haube tragen. Sie mußte gegen siebzig Jahre alt sein, doch mit ihren rosigen Wangen und gewellten Haaren war sie eine hübsche alte Frau, die mit den Jahren, statt einzuschrumpfen, nur stattlicher geworden war. An jenem Märztag, an dem sie mit Caleb und dem Arzt gekommen war, hatte sie bloß ein Tuch über dem Kopf getragen, das sie schweigend abnahm, als sie dann Naomi zu Bett brachte, und dabei hatte sie gesagt: »Nun, jetzt wird bald alles vorbei sein, und Ihnen wird nur die Freude bleiben, ein kleines Baby zu haben, das Ihnen Gesellschaft leistet. Nur noch ein wenig Mut!« Naomi klangen diese Worte so deutlich wieder im Ohr, als wären sie eben erst gesagt worden, während dieselbe herzliche Stimme, nun achtzehn Jahre älter, zu Narzissa sprach: »Ja, es ist hart, sein Kind wieder zu verlieren.« – »Aber du verlierst mich doch nicht, Mutter«, widersprach Frau Allens Tochter. »Was ich tue, geschieht doch nur ganz in deinem Sinn. Gerade meine Pflicht führt uns zusammen!« Der Klang dieser Stimme war Naomi unangenehm. Er war zu selbstsicher. Er wußte nichts von bitteren Fügungen, wie sie Naomis Leben gestaltet und – vernichtet hatten.
Narzissa aber hatte sich dieser aufdringlichen Sicherheit freudig zugewendet. Und als sie ihr Kind zu der Missionärin mit einem begeisterten Gesicht aufblicken sah, erkannte Naomi, daß nicht bloß sie und Joe sich in Narzissa verkörperten. Maria Copeland und Naomis Eltern hätten den Worten Sylvia Waites mit den gleichen Gefühlen gelauscht! »Nichts weißt du vom Leben!« sprach etwas in Naomi leidenschaftlich zu der selbstsicheren Frau. »Nichts!« Und als gäbe es etwas, wofür sie ein Wort einlegen müßte, als gehorchte sie dem Zwang einer geheimnisvollen Treue, die sie im gleichen Augenblick selbst als unklug empfand, sprach sie laut und ein wenig unvermittelt: »Narzissa hat sich gestern auf dem Ball so wundervoll unterhalten!''
Narzissa wandte sich heftig zu ihrer Mutter herum und bemühte sich dann, den Ärger, der auf ihren Zügen zu lesen war, zu unterdrücken. Naomi zitterte, als ginge es um mehr als eine bloß peinliche Bemerkung und deren artige Ablehnung durch die andern. »Oh, du tanzt?« fragte Sylvia Waite wie jemand, der gewohnt ist, alles zu begreifen und alles zu verzeihen. »Es war das erstemal in meinem Leben«, gab Narzissa zurück. Naomi hatte sich vorgenommen, nichts weiter zu sagen, aber sie empfand Frau Waites höflich mißbilligendes Schweigen als eine Kriegserklärung und fühlte den bösen Einfluß, den es auf Narzissa üben konnte. »Ein junges Mädchen soll tanzen!« entfuhr es ihr, heftiger als ihre Absicht gewesen war.
»Und wäre es nicht auch möglich,« fragte Sylvia Waite mit all der überlegenen Freundlichkeit, die man in einer Debatte gegen unvernünftige Zwischenrufer anzuwenden pflegt, »diesen jugendlichen Eifer in Werken zu betätigen, die Gott wohlgefällig sind?« Aufrecht saß sie da, selbstzufrieden und lächelnd, als wollte sie sagen: »Sieh doch mich an! Bin ich etwa nicht glücklich? Haben mir die Pflichten für meinen Herrgott nicht erst das Leben erschlossen?«
Naomi zitterte vor Erregung, doch sie wollte nichts weiter sagen, sie hätte zu viel gesagt; aber leidenschaftlich war es ihr bewußt, trotzdem Sylvia Waites Züge glatt und ihre eigenen abgehärmt waren, trotzdem das Leben der Missionärin bewundernswert und ihr eigenes verfehlt scheinen mochte, daß ihr Glaube der rechte war. Und sie hätte sich Worte gewünscht und die Kraft der Überredung, um das Ideal zu verteidigen, das niemals in ihr gestorben war: die große Liebe als Lebenszweck.
»Oh, der Vater!« rief Narzissa erleichtert aus, als sie seine Gestalt am Fenster vorbeikommen sah.
Narzissa saß zwischen Caleb und Frau Allen. Frau Allen war es gewesen, die damals die neugeborene Narzissa zu Caleb gebracht hatte. Naomi hatte von ihrem Bett aus gehört, wie sie unten in der Küche zu ihm sagte: »Aber Sie haben ja Ihre Tochter noch gar nicht gesehen!« Und dann war sie heraufgekommen, um das Baby zu holen. »Komm mit, kleines Fräulein und stell' dich deinem Vater vor«, hatte sie gesagt. Naomi hatte versucht, ihre müde Hand zu heben, und »Nein« geflüstert. »Nein?« hatte Frau Allen gefragt und mit der gleichen Duldsamkeit gelacht, die sie auch heute ihr gegenüber an den Tag legte, »Ein Vater soll sein eigenes Kind nicht zu Gesicht bekommen? Und noch dazu ein so entzückendes Kind!« Und wie durch einen Nebel waren ein wenig später Worte zu Naomi hinaufgedrungen: »Ich glaube kaum, daß sie ihrer Mutter sehr ähnlich wird und auch Ihnen scheint sie nicht nachzugeraten.« – »Nein,« kreischte Calebs Fistelstimme darauf, »ich habe auch nicht den Eindruck.«
»So müssen Sie die Windel legen«, hatte Frau Allen einige Tage später zu ihm gesagt, ehe sie wieder in ihr eigenes Haus zurück mußte, denn Caleb sollte nun die Pflege des Säuglings übernehmen. In jener ersten Stunde, in der sie allein in diesem Hause waren – Naomi und Caleb Evans und Joe Copelands Tochter – hatte er ihr ein Glas Milch hinaufgebracht, von dem behaglichen Feuer in der Küche erzählt und ihr angeboten, Kartoffeln für sie zum Abendessen zu braten. Als Naomi dem Kind die Brust reichte, hatte er sich abgewendet. Aber er war dageblieben. »Fühlst du dich jetzt besser?« – »Ja«, hatte sie geantwortet und hinzugefügt: »Danke«. Darauf hatte er sich zu ihr umgedreht. Sie hätte noch sagen sollen: »Du bist sehr gut zu mir«, aber ihre Brust schmerzte, und aus diesem Grund oder auch aus anderen Gründen konnte sie es nicht sagen. Er hatte gewartet und war dann langsam die Treppe hinuntergegangen.
Er war wirklich gut und rücksichtsvoll gewesen. Er hatte in der kleinen Hinterkammer geschlafen, und sie war für sich allein gewesen, wie als Mädchen in ihrem Vaterhaus. Doch dann war eine Nacht gekommen, in der er ihre Türe geöffnet hatte, nachdem das Licht bei ihr schon verlöscht gewesen war. »Nein!« hatte sie entsetzt aufgeschrien, als sie ihn in seinem Nachtgewand neben ihrem Bett erblickte. »Gott hat geboten, der Mann soll an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch!« Das waren seine Worte gewesen. Und lang verhaltene Begierde machte ihn abstoßend in seinem Verlangen. An wen hätte sie ihren verzweifelten Aufschrei richten sollen? Auf der ganzen Welt gab es niemanden, der ihr Antwort gegeben hätte. Jetzt hieß es zahlen. So hatte sie zu zahlen, sie, die Joe Copeland gekannt hatte!
Später in der Nacht, als Caleb neben ihr eingeschlafen war, hatte das Kind zu weinen begonnen und sie war zu ihm hingegangen. »Narzissa!« hörte sie überrascht sich selber flüstern. »Narzissa – Narzissa«, wiederholte sie immer wieder, als könnte die Erinnerung alles löschen, was sie hatte dulden müssen.
Natürlich war es mit Caleb kein ehrliches Spiel gewesen.
»Noch Brot, Vater?« fragte Narzissa herzlich, während sie beim Abendessen saßen, nachdem Frau Allen und ihre Tochter fortgegangen waren. Immer wieder sagte sie ›Vater‹ und sie legte so viel Liebe in das Wort, wie nie zuvor. ›Mutter‹ sagte sie nur, wenn sie es nicht umgehen konnte, denn sie trug es Naomi noch nach, daß sie das Tanzen erwähnt hatte. Sie und Caleb sprachen, wie so oft, über Sylvia Waite, ›die wundervolle Frau‹. Narzissas Eifer klang wie Trotz. ›Und hat dich trotzdem geheiratet und niemals ein Sterbenswörtlein davon verraten? Und es mich kein einziges Mal fühlen lassen …‹, diese Worte kamen Naomi wieder in Erinnerung, und sie erinnerte sich auch der Augen ihrer Tochter, die wie jene Sterne geglänzt hatten, deren Spiegelbild sie vor langer Zeit in einem Bache gesehen hatte.
»Ich komme ganz gut allein zurecht«, sprach Naomi, als sie nach Tisch das Geschirr abzuwaschen begann, denn sie wußte, Narzissa würde nicht gern bei ihr bleiben. Caleb saß an der Schwelle der Hintertür und grübelte über den Bibelabschnitt dieser Woche, wie dies an Sonnabenden seine Gewohnheit war. Narzissa suchte ihm Stellen heraus, die sich auf Jeremias bezogen. Es war ein Juniabend mit seiner langsamen Dämmerung. Zu einer solchen Stunde hatte sich auch Naomi einst mit Caleb an der Schwelle ihres Vaterhauses unterhalten und gewünscht, daß er gehen sollte, weil Joe sie bei den Narzissen erwartete. Doch Caleb hatte nicht gehen wollen, ehe er sie nicht gebeten hatte, ihn zu heiraten und mit ihm in die Ferne zu ziehen – wo sie jetzt schon neunzehn Jahre lebte. Wie glücklich war sie in jener Nacht gewesen, als sie endlich doch vor Joe gestanden hatte – in jener letzten Nacht, die ihnen beiden gehörte. Und wie hatten sie sich über Caleb lustig gemacht! ›Doch das Wichtigste … hast du seinen Antrag angenommen, Naomi?‹ Sein warmes glückseliges Lachen, die weiche betörende Stimme des Geliebten … ›Hast du Ja gesagt, Naomi?‹ Und er hatte sie zurückgebeugt, weiter, immer weiter … und seine Augen, die klaren Augen, aus denen seine Liebe funkelte … oh, wie war er voll Leben gewesen!
»Aber Vater,« hörte sie Narzissas weiche Stimme, als sie nach getaner Arbeit zu dem Blumenbeet vor Narzissas Fenster ging, »meinst du nicht, das bedeutet …?« Naomi hörte nicht mehr zu, was es bedeuten sollte. Nelken, die am Morgen noch Knospen gewesen waren, standen jetzt geöffnet, und ihr starker Duft stieg zu Naomi auf. Manchmal versanken die alten teuren Erinnerungen so tief in die Vergangenheit, daß sie gar nicht mehr in die Tage der Gegenwart hineinragten, doch dann genügte wieder der Duft einer Blume in solcher Dämmerstunde, und Naomi meinte, ihre Liebe warte irgendwo und rufe sie aus einem bösen Traum zurück. Sie setzte sich an den Rand des Blumenbeetes und ihre Blicke schweiften über das weite Tal zum ›Big Chief‹, von dem das Licht eines entschwundenen Tages zurückstrahlte.
Sie hörte Hufschlag und erkannte den jungen Mann, der heranritt. Tony kam zu Narzissa! Wieder einmal kam ein Liebender durch die Dämmerung. Naomi mußte lächeln, als sie Caleb und Narzissa immer noch über Jeremias sprechen hörte; bald würde Jeremias vergessen sein! Und Caleb Evans selbst würde vergessen sein, wenn erst der Augenblick da wäre, in dem mächtigere Kräfte aus Narzissa die Bewunderung für einen Glauben verdrängten, der doch nur das Leben verleugnete.
Narzissa konnte ihn von ihrem Platz aus nicht sehen, doch sie mußte sein Kommen gehört haben, sie wartete doch gewiß darauf. Er ritt langsam, wie einer, der seiner Sache sicher ist, der die schönen erwartungsvollen Augenblicke vor seinem Glück nicht durch Hast zerstören will. Wundervoll kam er Naomi vor, wie Balsam ihrem eigenen Herzen, und vieles von ihrem Leid versank. Sie hatte ihre Zeit gehabt. Nun kam Narzissas Stunde. Dieser Junge könnte nicht zu seiner Liebsten reiten, wenn nicht Joe gelebt hätte. Es war fast, als wäre es Joe selbst, der durch das Leuchten ritt, das der ›Big Chief‹ herübersandte.
»Guten Abend, Frau Evans.« Sie war zu ihm getreten, als er vom Pferde sprang. Seine braunen Augen waren mandelförmig, lang geschlitzt, seine Züge scharf und gebietend – ja, seine Abstammung konnte er nicht verleugnen. Seine Stimme klang so weich, wie bei Leuten, die im Süden gelebt haben, seine Frage nach Narzissa war fast eine Liebkosung. Und doch war er schüchtern. Er wartete beim vorderen Tor, während Naomi durch das Haus ging, um Narzissa von seinem Kommen zu benachrichtigen.
»Sag' ihm,« sprach Narzissa, ohne von der Bibel aufzublicken, »daß ich keine Zeit habe.«
»Aber … Narzissa!« stammelte Naomi und starrte ihre Tochter an, deren Augen gesenkt blieben. Dann wandte sie sich an Caleb, der Narzissa nicht weniger überrascht ansah. »Aber das geht doch nicht!«
»Warum geht es nicht?« fragte Caleb.
»Das wäre unfreundlich. Nicht anständig. Und sie … sie meint es doch auch gar nicht …«
»Willst du ihm, bitte, meine Worte ausrichten?« sagte Narzissa leise, kühl.
»Dieses eine Mal mußt du ihn wenigstens noch sehen, Liebling. Du mußt selbst mit ihm sprechen und …«
»Du überredest deine Tochter, etwas zu tun, was sie für unrecht hält?«
»Unrecht? Ist bloße Höflichkeit unrecht? Mit einem Freund zu sprechen, der …«
»Überlaß das doch mir«, murmelte Narzissa verärgert.
»Dann werde ich selbst es ihm sagen.« Und Caleb schickte sich schwerfällig an aufzustehen.
»Nein,« sagte Naomi rasch, »ich gehe schon.« Sie zögerte eine Weile und sah erwartungsvoll auf Narzissa. »Wenn es sein muß …« Dann ging sie, doch noch einmal wendete sie sich um. »Ich glaube, Narzissa, es ist nicht recht von dir.« Und da die beiden von ihrer Bibel nicht aufsahen, fügte sie hinzu: »Ist das vielleicht christlich gehandelt, in solcher Weise die Gefühle eines Freundes zu verletzen?«
Da Caleb wieder Anstalten traf, sich zu erheben, ging Naomi endgültig nach der Vorderseite des Hauses zu dem Jungen, der dort auf Narzissa wartete. Der hatte sich auf die Stufen hingestreckt, lag auf seinen Arm gelehnt und blickte nach den Bergen. Als er die Schritte hörte, sprang er auf, sein Ungestüm verflüchtigte sich aber rasch, als er sah, daß es nicht Narzissa war.
»Tony,« begann Naomi, »Sie können heute abend nicht mit Narzissa sprechen.«
»Ist sie …« Er stockte ganz bestürzt, »ist sie krank?«
»Nein. Es ist bloß ihres Vaters wegen.«
Tonys Wangen röteten sich, er streckte sich ein wenig steifer hoch, dann lächelte er betreten. »Er ist wohl böse wegen gestern nacht?«
»Ganz recht. Er ist sehr – nun, sehr streng in diesen Dingen. Und Narzissa …« Sie blickte in die Augen, die sie gespannt ansahen; er schien nicht begreifen zu können, Ärger und Kränkung malten sich auf seinen Zügen. »Narzissa meint, daß sie ihn heute abend nicht noch mehr erzürnen soll.«
»Aber heute gehen wir doch nicht tanzen!«
»Nein, aber …«
»Es handelt sich also um mich selbst!«
»Nein, nein. Es ist wegen gestern nacht.« Er neigte den Kopf und entfernte sich langsam. Naomi blieb neben ihm. »Ich bin gar nicht der gleichen Ansicht. Ganz und gar nicht.«
»Und Narzissa …?« Er lachte bitter.
»Ja, es gibt Gründe – die Sie nicht begreifen können, von denen Sie nichts wissen, Gründe, für die Narzissa nicht verantwortlich ist.« Er sah ihr fragend ins Gesicht und in seinen Augen verriet sich große Sorge. »Liegt Ihnen so viel an Narzissa?« wagte sie zu fragen.
»Ich liebe Narzissa«, erwiderte er einfach. »Mein Wunsch ist, daß wir heiraten, und daß sie mit mir nach Kalifornien kommt.«
Kalifornien! Naomi verstummte. Kalifornien! So weit entfernt, wie … Doch während sie betäubt dastand, drang das Bewußtsein dieser warmen Sommernacht in sie, wie eine Botschaft, wie ein Befehl.
»Dann lassen Sie den Mut nicht sinken«, sprach sie zu dem Jungen. »Jenes andere … der Vater und alles … das wird vorübergehen.«
»Und Narzissa … meinen Sie … daß Narzissa mich leiden mag?« fragte er, befangen mit den Zügeln spielend.
»Ich weiß, daß es so ist«, gab Naomi zurück. –
Sie saß auf den Stufen und ihre Blicke folgten ihm, der Narzissa mit sich nehmen würde, fort von Caleb – und von ihr selbst. Sie sah ihm nach, bis er die Weiden beim Wasserlauf erreicht hatte, und verfolgte noch seine Silhouette, die sich gegen die Hügelkette abhob. Auch sie war in Gedanken bei einem Wasser, das zwischen Bäumen dahinfloß, doch das Plätschern, das sie hörte, kam von einem Wiesenbach und die Bäume waren Eichen und Narzissen blühten am Ufer … Zwischen ihr und jenem Bach stand aber der ›Big Chief‹.
Sie hörte Narzissas Zimmertür zufallen. Das Wasser für Calebs Sonnabendbad war in der Küche bereit. Er rief nach Naomi um Tücher. Als sie hineinkam, fand sie die Fensterladen schon geschlossen, in der Mitte des Raumes stand die Blechwanne, auf einem Stuhl lag sein Anzug und er war im Begriff, die Beinkleider abzustreifen.
Naomi vermied sonst, ihren Mann anzusehen, wenn er entkleidet war, nicht bloß um ihrer selbst willen, sondern weil sie es wie ein Unrecht fühlte, als ob sie sich in unbilliger Weise einen Vorteil gegen ihn sicherte. Doch als sie ihm an diesem Abend die Tücher reichte, blickte sie so auf ihn, daß er es merke; als ob sie ihm sagen wollte: »Und du, du, mit diesem erbärmlichen Gerippe eines alten Mannes, willst dich unterfangen, gegen die Liebe aufzustehen?« Als er das Badetuch um seine Schultern legte, fühlte sie sich sehr beschämt – ihrer Gedanken wegen oder seinetwegen? – und ging vor das Haus. Ihre Blicke folgten den zarten Wolken, die die Sterne bald verdeckten, bald wieder aufleuchten ließen.
Nachdem Caleb hinaufgegangen war, hörte sie Narzissa aus ihrem Zimmer kommen. Sollte sie versuchen, mit ihr zu sprechen? Nein, heute nicht. Aber sie konnte sich doch nicht zurückhalten, sie anzurufen:
»Wolltest du etwas, Liebling?«
»Nur einen Schluck Wasser«, erwiderte Narzissa, und Erregung klang in ihrer Stimme, als gäbe es vieles, was sie nicht bei sich behalten könnte. Wie gern hätte sie gewußt, was Tony gesagt hatte, doch sie war zu stolz, um danach zu fragen. Naomi wieder hätte gern von Tonys Enttäuschung gesprochen, doch sie fand, daß es besser wäre, wenn Narzissa davon anfinge. Narzissa wandte sich wieder nach ihrem Zimmer zurück, doch sie zögerte und kam schließlich doch zur Mutter in den Hof, verärgert, daß sie ihre Frage nicht zu unterdrücken vermochte.
»Nun, was hat er gesagt?«
»Er war natürlich sehr enttäuscht«, antwortete Naomi.
»Was er gesagt hat, möchte ich wissen«, begann Narzissa nach einer Weile wieder, und ihre Mutter lächelte ein wenig und freute sich ihrer Ungeduld. »Was hast denn du gesagt?« fragte Narzissa dann weiter, als wäre die ganze Sache von der Mutter ausgegangen.
»Was hätte ich wohl sagen können? – Daß dein Vater wegen des Tanzens böse war, und daß du deshalb heute abend nicht zu ihm hinausgehen konntest. Es klang recht dumm, als ich es sagte.«
»Ich finde es gar nicht dumm!« rief Narzissa. »Durchaus nicht!«
Ihre Mutter erwiderte nichts. Mit dem Wunsch, sich auszusprechen, setzte sich Narzissa auf die Treppe, nur eine Stufe höher als ihre Mutter. Sie hatte schon ihr Nachtgewand an, bloß ein leichtes Tuch darüber genommen; ihr Haar war gelöst und fiel über die Schultern. ›Mein Kindchen!‹ hätte Naomi am liebsten gesagt. ›Narzissa – unser Kindchen!‹ so sagte sie zu sich selbst.
»Wenn ich dem Vater mein ganzes Leben opferte«, begann Narzissa mit verhaltener Erregung, »so wäre es nur ein geringes Entgelt für das, was er für mich getan hat.« Beim Klange dieser Worte reckte sie ihre Gestalt ein. wenig höher, sie fühlte sich als tragische Heldin.
»Narzissa!« flüsterte ihre Mutter erschreckt.
»Niemals«; fuhr Narzissa fort, »habe ich einen edleren Mann gekannt!«
Das hatten auch die andern, drüben in der Heimat, bei Naomis Hochzeit gesagt, Vater und Mutter.
»Selbst als sein Sohn, sein einziges Kind, vor seinen eigenen Augen dort drüben ums Leben kam,« Narzissa deutete nach der Wiese, »selbst damals hat er mir kein Wort davon gesagt, daß ich nicht seine Tochter bin.« Ein Schweigen entstand. Naomi wußte im Augenblick keine Antwort. »Was muß er gefühlt haben – hast du niemals daran gedacht? – wenn er mich hier um sich hatte und sein eigenes Kind nicht mehr da war!«
»Er war doch froh, dich hier zu haben.«
»Das ist es ja eben. Fühlst du nicht auch, wieviel du ihm dafür schuldest? Es ist ja nicht bloß meinetwegen, daß ich so vieles an ihm gutzumachen habe. Ich muß ihn mit all der Dankbarkeit, der Liebe überschütten, die du ihm nicht gegeben hast.«
»Oh, Narzissa!« flüsterte ihre Mutter. »Bist du … so ganz sicher … alles darüber zu wissen?«
»Wenn ich jetzt zurückdenke, begreife ich manches, was ich früher nicht verstanden habe.«
»Ich wollte, du verstündest alles«, murmelte die Mutter. »Wenn du alles verstündest … Nein, ich bin froh, daß du es nicht begreifen kannst! Nein, nein, ich hoffe, du wirst es nie, niemals …«
»Ich sehe keinen Lohn, den Vater für sein Opfer erhielt.«
»Für sein Opfer?«
»Als er dich heiratete und ein fremdes Kind für sein eigenes gelten ließ.« Naomi unterdrückte ein bitteres Auflachen. »Und,« fuhr Narzissa mit leiser Stimme, doch tieferem Gefühl fort, »nicht einmal ein anderes Kind wurde ihm geschenkt, um ihn den Verlust seines eigenen weniger fühlen zu lassen.« Naomi wußte nicht, was sie sagen sollte. Nur allzugut hätte sie sich gerade in diesem Punkt verteidigen können.
»Wenn du wüßtest …« Doch Narzissa sollte nichts davon wissen, und Naomi vergrub das Gesicht in ihre Hände, als wollte sie selbst auch nichts mehr davon wissen. »Du bist so selbstgewiß …« schrie sie dann auf, doch gleich darauf flüsterte sie: »Narzissa! Mein Liebling!« Narzissas Antlitz war von ihr abgewendet. »Narzissa, Liebling,« fragte Naomi, »liebst du Tony?«
»Und wenn ich ihn liebte,« gab Narzissa zurück und ihre Stimme war nicht so ruhig, wie ihr Geist es gewünscht hätte, »wäre das ein Grund mehr für mich, dem Vater dieses Opfer zu bringen.«
Oh, was hatte Naomi nur getan! Gestern nacht und damals vor langer Zeit. Sie sah sich wieder neben ihrem Vater vor dem Holzpflock stehen und ihm sagen, sie könnte Caleb Evans nicht heiraten. Sie mußte es tun, um ihr Kind zu retten – wie die anderen meinten. Unbewußt, aus einem sicheren inneren Gefühl hatte sie vorausgeahnt, wie lang und wie entsetzlich ihr Leiden sein werde. Und jetzt blickte sie auf ihr Kind, das aufrecht dasaß und die Hände vor der Brust gefaltet hielt, als hätte es tatsächlich ein Opfer zu bringen. War es schon zu spät, um ihr Kind vor diesem Mann zu retten, der sie selbst einst ›gerettet‹ hatte?
»Dein Vater – dieser Mann, den du deinen Vater nennst und der mich geheiratet hat, weil er mich begehrte und sein Ziel auf andere Weise nicht erreichen konnte – dieser Mann, der mich nahm, obwohl ich einem andern angehörte, er mag nun gut oder schlecht sein – und er ist wohl beides – ist jetzt ein alter Mann und du bist jung. In diesen Jahren soll sich dein Leben erfüllen, dies sind die Jahre der Liebe, und sie wartet auf dich. Wenn er einmal tot sein wird und du deine Jugend versäumt haben wirst, worin willst du dann einen Ersatz für die Liebe finden, die du heute verschmähst?«
Narzissa erhob sich und stand jetzt, wundervoll in ihrer blühenden Jugend, auf der Treppe. Die Liebe, die sie verleugnete, verwandelte sich in gläubige Inbrunst, mit der sie sprach:
»Ich vertraue auf Gott, der mich lenken wird!«
Naomi, die ihre Tochter vor diesem Gott schützen wollte, schrie ihr zu:
»Gott selbst ist gegen dich! Er hat die Welt erschaffen mit allem Schönen darin, er war es, der die Liebe schuf …«
Doch ihre Tochter war schon gegangen.
In dieser Nacht schlief Naomi nicht an Galebs Seite. Als sie endlich bis vor ihr gemeinsames Zimmer gelangt war und ihn drinnen atmen hörte, abstoßend in seinem Schlaf, wagte sie nicht, sich neben ihn zu legen, aus Furcht, es könnte ein Augenblick kommen, in dem sie seine Nähe nicht länger ertragen würde und aufstehen müßte, um etwas Entsetzliches zu tun. Sie ging in die kleine Hinterkammer, wo Caleb geschlafen hatte, bevor Narzissa zur Welt gekommen war, und die Narzissas Kammer gewesen war, ehe das neue Zimmer für sie gebaut wurde.
Das eine, was Narzissa ihr gesagt hatte, der Vorwurf, daß sie Caleb kein Kind mehr geschenkt hatte, hinderte sie am Schlafen. Ja, ihre Tochter begann als Weib zu empfinden, doch wie weit vom Begreifen war ihr kindliches Wissen! Und meinte denn Narzissa, daß es für sie, Naomi selbst, gar nichts gewesen wäre, als sie ihren kleinen Sohn vor ihren eigenen Augen umkommen sah? Wie sehr hatte sie dieses zarte Kind geliebt, dessen Vater sie nicht lieben konnte.
Fast von Beginn an, gleich nach dem ersten Entsetzen darüber, daß sie ihm als Weib angehören mußte, wünschte sie sich für Caleb dieses Kind. Das fühlte sie, ihm schuldig zu sein. Und sie selbst hätte sich höher achten können, wenn sie für sich und Narzissa auf diese Weise ihre Schuld abtrug, statt bloß durch die Qual ihrer Nächte. Sie hatte bemerkt, wieviel Anteil Caleb an der kleinen Narzissa nahm, und da sie niemand andern hatte, mit dem sie darüber hätte sprechen können, wie gut sich das Baby schon aufzusetzen verstand, wie es mit seinen Puppen zu spielen begann und sie mit seinen Fingern zu halten lernte, sprach sie mit Caleb davon. Sie lachten beide, als Narzissa das erste Mal die leergetrunkene Flasche auf den Boden warf. Obwohl Naomi niemals geglaubt hätte, daß es so sein könnte, gab es Augenblicke, in denen gemeinsame Freude und Unterhaltung sie wirklich wie Eltern werden ließ, die an ihrem Kind Entzücken finden. Wenn die seltenen Besucher zu Caleb von ›seiner‹ Tochter sprachen, so kam dies der Wahrheit so nahe, daß Naomi und vielleicht selbst Caleb oft ganz vergessen konnten, wie unwahr es sei. So viel machtvoller ist das Leben, als alles, was daraus geschieden ist! Nur in den Stunden, in denen sie mit ihrem Kind allein war, wurde Joe wieder Narzissas Vater, in diesen Stunden gab sie ihm sein Kind zurück. Und wenn dann Caleb von der Arbeit heimkam, die Kleine herumtrug, während die Flasche gewärmt wurde, ihr zusprach, wenn sie hungrig zu schreien begann, dann war es Naomi, als hätte Narzissa zwei Väter. Niemals setzte sie das geringste Mißtrauen in Caleb als Vater, niemals erwachte der Gedanke in ihr, daß er ihrem Kind feindlich oder nur sorglos gegenüberstehen könnte.
Ihre Gefühle gegen ihn hätten freundlich und freundschaftlich werden können, vielleicht hätte sie mit der Zeit sogar etwas wie Zuneigung empfunden, wäre durch die Gewalt, die er ihr in den Nächten antat, nicht wieder alles in ihr erstickt worden. Qualvoll blieben ihr diese Nächte, denn ihre Liebe gehörte Joe, der tot war. Grauenhaft, wie Schändungen, waren diese grotesken und fast immer erfolglosen Versuche Calebs, sich als Mann zu erweisen. Naomi hatte in diesen Dingen wenig Erfahrung, sie meinte, seine Kräfte reichten nicht aus, weil er fühlen mußte, wie sehr sie an Joe dachte, und obwohl sie voller Grauen die Hände verkrampfte und ihre Lippen wundbiß, um ihren Ekel nicht herauszuschreien, tat er ihr oft leid und gern hätte sie es geändert. Doch zu Zärtlichkeiten konnte sie sich nicht überwinden, und er mußte fühlen, daß sie ihn nur mit Widerwillen ertrug. Nach einer solchen Nacht waren sie schweigsam und morgens trachteten sie, einander auszuweichen. Dann, nach ein oder zwei Tagen, war es ein Lächeln oder ein Schmerz Narzissas, der sie wieder zusammenführte und das Leben erträglich machte. Bis eine neue Stunde des Grauens sie in Scham und Haß zurückwarf.
Obwohl niemand da war, der Naomi beraten hätte, fühlte sie, daß es anders wäre, wenn Caleb ein Kind haben könnte. Er würde Selbstvertrauen gewinnen. Darum bemühte sie sich, seine Begierde zu steigern, obwohl sie dabei das Gefühl hatte, als läge sie selbst tief unter der Erde begraben, und die schüchternen Zuckungen des Lebens, die sie sich abrang, waren wie der wüste Traum eines Fieberkranken. Die Erinnerung an jene Stunden konnte sie niemals loswerden. Wie gern hätte sie Narzissa zugerufen: »Glaube ja nicht, daß ich nicht für uns beide gezahlt habe!«
Und dann kam John. Seltsam zu fühlen, daß sie Caleb Evans' Kind in sich trug! Wie oft kam ihr die Erinnerung an jene andern Tage, in denen sie auch ein Kind unter dem Herzen getragen hatte, an den Gang von ihrem Vaterhaus zu Maria Copeland. Joes Mutter lebte damals noch, lebte jetzt noch, wie Naomi erst kürzlich gehört hatte, für ihren Stolz durch ein langes einsames Alter gestraft. Naomi hatte Bilder von Narzissa nach Hause gesandt, doch sie zweifelte daran, daß Frau Copeland sie jemals gesehen hätte. Wenn das kleine Mädchen lachte oder in süßem Schlummer lag, mußte Naomi oft daran denken, wie schwer Joes Mutter gegen sich selbst gesündigt hatte, wie anders ihr Alter sein könnte, wenn sie ein so reizendes Enkelkind um sich hätte, es umsorgen, sein Gedeihen verfolgen könnte.
Als Narzissa ihrem kleinen Sesselchen entwachsen war, meinte Caleb eines Tages: »Wird besser sein, ich räum' es aus dem Weg.« – »Tu es lieber nicht allzuweit fort«, hatte Naomi darauf erwidert, von dieser Antwort selbst überrascht, denn sie hatte ihm schon lange von ihrem Zustand sagen wollen, war aber immer wieder davor zurückgeschreckt, weil sie an Vertraulichkeiten mit ihm nicht gewöhnt war. Er stand mit dem kleinen Kinderstuhl in der Hand und blickte nach ihr. Jede Regung von Gefühl ließ ihn lächerlich erscheinen, darum sah sie rasch von ihm fort, denn in diesem Augenblick wollte sie ihn nicht lächerlich sehen. Erst ungläubig, dann begreifend stammelte er, hilflos in seiner Dankbarkeit: »Ja … aber sag' doch …« Seine Fistelstimme versagte. Dann kam er näher zu ihr, als wollte er seine Gefühle irgendwie zeigen. Doch dies war zwischen ihnen nicht Brauch; Liebkosungen oder zärtliche Worte hatte er immer nur in schützender Nacht gewagt.
Während der Monate ihrer Schwangerschaft war sie elend gewesen. Jetzt, in dieser Nacht, während sie allein in der kleinen Kammer lag und alle ihre Erinnerungen vor der unsichtbaren Richterin Narzissa ausbreitete, jetzt gestand sie sich ein, daß sie Caleb Evans' Kind ohne Freude in sich gefühlt hatte. Sie war ihrem Vorsatz nicht gewachsen gewesen, die Großmut, die ihn bestimmt hatte, reichte zur Durchführung nicht aus. Ihre Reizbarkeit und Verdrießlichkeit dämpften Calebs Freude und ließen den Stolz, den sie in ihm hatte wecken wollen, nicht aufkommen. Es kamen Stunden, in denen es ihr davor graute, ein Kind dieses Mannes in sich wachsen zu fühlen; wie sehr sie sich auch dagegen wehrte, sie empfand, als gehörte sie sich jetzt nicht mehr selbst …
»Es ist ein Sohn!« hatte Naomi Frau Allen zu Caleb sagen gehört. Ein zartes Kind war er, kein so prächtiges wie Narzissa. Naomi tat das um des Vaters willen leid. Gemeinsam bangten sie um das schwache Kind, wenn es krank war, und alles andere versank vor diesen Sorgen, die sie teilten.
Und dann war das Entsetzliche gekommen und der große Schmerz, den sie teilten. Obgleich man kaum sagen kann, daß sie ihn teilten. Denn Caleb war ein gebrochener Mann. Er wußte nichts davon, was um ihn vorging, und sie mußte ihn betreuen, als wäre er ein Kind gewesen – nein, nicht wie ein Kind, denn die wachen Sinne eines Kindes machen solches Betreuen zu Freude und Genugtuung. Caleb aber war wie gelähmt seit dem Augenblick, in dem er das Entsetzliche erfaßt hatte und mit dem drohenden Schicksal um die Wette gerannt war, vergeblich gerannt war. Obwohl ihm seine Glieder gehorchten, war er wie ein Gelähmter.
Während Naomi in dieser Nacht der Selbsterforschung, zu der die schmerzlichen Vorwürfe ihrer Tochter sie trieben, in ihren Erinnerungen nach Entschuldigungsgründen für sich suchte, fiel ihr nicht ein, wie sehr gerade jener Winter an Calebs Seite zu ihren Gunsten sprechen konnte. Damals hatte sie ihm tatsächlich viel gegeben, vielleicht aber vermag man selbst nach Jahren keinen Vorteil aus dem zu ziehen, was man vorbehaltlos, unbewußt gibt. Sie hatte ihn angekleidet und ausgezogen, sie mußte ihn an die selbstverständlichsten körperlichen Funktionen erinnern, denn es schien, als wäre alles in ihm zum Stillstand gekommen und als wüßte sein Körper nicht mehr für sich selbst zu sorgen. Es hatte Zeiten gegeben, da sie ihn füttern mußte. Wenn er starr vor sich hinblickend reglos dasaß, begann sie ihm zuzusprechen. Eines Nachts, im Bett, legte sie sogar die Arme um ihn und zog ihn an sich …
»Und nicht einmal ein anderes Kind …« Nein, niemals wieder ein Kind. Die Kräfte, die immer schwach gewesen waren, versagten ganz nach jenem Schlag, obwohl er sich lange nicht damit abfinden wollte. An jene Marter sich zu erinnern, wehrte sie sich selbst in dieser Nacht mit aller Gewalt, obgleich sie hundertfältig dafür zeugten, daß nicht sie es gewesen war, die Caleb Evans ein zweites Kind verweigert hatte.
Zu aufwühlend war dieses Versenken in die Vergangenheit. Naomi drehte sich dem Fenster zu und blickte zu den Sternen auf, versuchte in der Liebe, die sie einst gekannt hatte, Zuflucht zu finden. Kurz war diese Liebe gewesen und heute nacht schien sie in weiter Vergangenheit. Joes Grab war schon ein altes Grab. Näher, wirklicher und ebenso betörend waren ihr Augen und Stimme dieses Jungen, der Joes Tochter liebte. Als endlich der Schlaf alle ihre Gedanken löschte, fühlte sie sich wie außerhalb der Welt und als hätten Naomis Liebe und auch Narzissas Liebe beide in duftenden Sommernächten gelebt, die nun lange vorbei waren.
Im folgenden Monat war Narzissa viel bei Frau Allen, um Sylvia Waite bei den Vorbereitungen zu ihrer langen Reise zu helfen, denn die Missionärin sollte für viele Jahre nicht mehr nach Hause kommen. Sie arbeiteten nicht nur an Sylvias Kleidern, sondern nähten auch Leibchen für ›eines der Kleinen‹. Narzissa hatte nie gern genäht, doch jetzt arbeitete sie nicht bloß nachmittags mit Frau Waite und den andern, sie brachte auch kleine helle Kattunkleidchen nach Hause und nähte während der langen Dämmerstunden. Ihr schöner Kopf war tief über die Arbeit gebeugt, das reizende junge Gesicht ernst und verschlossen. Meist saß sie an der Hintertür und nur selten auf dem Platz, den die Mutter vor ihrem Schlafzimmer mit Blumen geschmückt hatte. Caleb unterhielt sich von der Küche aus mit ihr, kam auch zuweilen hinaus und setzte sich neben sie, und dann plauderten sie wohl von Schwester Waite, versuchten zu erraten, wie das kleine Mädchen aussehen würde, an dessen Kleid Narzissa eben arbeitete, sprachen von dem Segen, den es für die kleinen hilflosen Kinder in dem heidnischen Land bedeutete, daß jemand für sie sorge, und daß sie durch jene wundervolle Frau zu Jesus bekehrt wurden. Mit ihrer Mutter war Narzissa freundlich und höflich – christliche Art von Güte, dachte Naomi bitter.
Eines Abends, als sie mit frisch geplätteten Kleidern in Narzissas Zimmer kam, sah sie das dünne gelbe Ballkleid, das Narzissa nur einmal getragen hatte. Da hing es in anmutiger Erwartung und Naomi streckte ihre rauhe Hand aus, um es zu berühren, als schuldete sie seiner vernachlässigten Schönheit einen Trost.
Sie fühlte sich beiseitegeschoben, angefeindet, tief in ihrem Innern verletzt, und ein stetig wachsender Groll erfüllte sie. Der Sommer ging zu Ende, den sie erlebt hatte wie keinen seit jenem, in dem sich ihr eigenes Schicksal erfüllte. Diese neue Vertrautheit, die sie zwischen Caleb Evans und Narzissa beobachtete, ließ sie, stärker als je zuvor, in Caleb den Feind alles Lebens sehen. In ihr aber, so fühlte sie, war noch viel vom Leben zurückgeblieben. Er bekämpfte auch diese Reste. Er war der Gegner. Wie aus einem Traum erwachend, wurde ihr dies klar, und sie spann allerlei Pläne, um ihre Tochter vor ihm zu retten.
Ahnte er, daß Narzissa ›es‹ wußte? Naomi fühlte manchmal Calebs Blick auf sich, doch sein Ausdruck gab ihr keine Gewißheit, denn seine Augen hatten nicht gelernt, etwas auszudrücken. Sicher aber mußte er sich darüber Gedanken machen, daß Narzissa so freundlich, ja zärtlich mit ihm war, mit ihm, der sie vom Leben, das sie sich wünschte, abhielt.
Das Bett, das sie seit neunzehn Jahren geteilt hatten, benützte Naomi nicht mehr. Sie blieb in ihrer kleinen Kammer. Kein Wort war darüber zwischen ihnen gewechselt worden. Auch darüber mußte er sich doch Gedanken machen, doch würde er wohl die letzte Wahrheit niemals erraten. Nie würde er vermuten, daß Naomi, mit diesem Haß, den sie jetzt gegen ihn fühlte, Angst hatte, an seiner Seite zu schlafen! Daß ihr dies zu gefährlich schien, weil in den Nächten eine seltsame Unruhe über sie kam. Alte, längst begrabene Wünsche erwachten. Früher hatte sie den Trost gehabt, sie würde Narzissa das Glück schaffen können, das ihr selbst nicht beschieden gewesen war, ihr Leben würde neu beginnen … Jetzt – nein, sie hätte nicht gewagt, nachts erwachend, sich neben Caleb zu finden.
Auf ihrem Heimweg von Frau Waite hatte Narzissa eine Blume gefunden, die sie nicht kannte. Sie sprach mit Caleb im Hof darüber, während Naomi das Abendessen bereitete. »Zeig' sie der Mutter«, sagte er. Naomi hörte es und blieb auf ihrem Weg vom Herd zum Tisch mit einem Male stehen. Es war, als hätte er gesagt: »Sei gut zu deiner Mutter!« Caleb Evans mußte Narzissa – ihrer Tochter! – zureden, sie in ihre Kameradschaft mit einzuschließen!
Narzissa kam mit der Blüte in die Küche. »Schau, Mutter,« sagte sie, mit einer Fröhlichkeit, die jener von Sylvia Waite nicht unähnlich war, »hast du jemals ein solches Rot gesehen? Und diese seltsame Form – was kann das nur für eine Blume sein?«
»Sehr seltsam«, sagte Naomi abweisend.
»Nun,« meinte Narzissa verstimmt über ihre zurückgewiesene Bemühung, »wenn es dich nicht interessiert …« Und da Naomi nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Ich begreife nicht, warum du immer so abweisend bist!«
»Aber Narzissa,« murmelte die Mutter, »ich bin … ich will doch nicht …«
»Mein Gott!« rief Narzissa ungeduldig, denn es schien ihr, als wollte die Mutter zu weinen anfangen, und sie ging zu ihrem Vater zurück.
Es war schwer, während des ganzen Abendessens dasitzen zu müssen. »Soll ich das, was sie mir gibt – diese Brocken hie und da – als ein Geschenk von ihm erhalten?«
Tony war im Sommerkurs der landwirtschaftlichen Schule. Im August sollte er nach Kalifornien gehen. Kurz nach dem Abend, an dem Narzissa sich geweigert hatte, ihn zu sehen, war ein Brief von ihm gekommen. Narzissa mußte ihm geantwortet haben, daß es zwischen ihnen aus wäre, denn Naomi hatte keinen zweiten Brief mehr von ihm gesehen, und er selbst war auch nicht wiedergekommen.
Würde er es dabei bewenden lassen? Wußte er nicht, was er zu tun hatte? Sollte sein Stolz ihm verbieten, den Gründen nachzuforschen? Naomi wünschte, er hätte Narzissa manchesmal an den langen Abenden sehen können, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Wenn die Vögel ihr Gutenacht riefen, wenn die ersten Sterne durchbrachen – in solchen Stunden reichte der Glaube allein nicht aus.
Narzissa hatte eines der kleinen Kleidchen gewaschen; der Wind hatte es in den Hof geweht, wo es schmutzig geworden war. Naomi sah ihr gerade zu, wie sie es von der Wäscheleine abnahm, als sie Hufschlag hörte und aufblickend Tony erkannte.
Er war also doch gekommen! Scheues Entzücken erfüllte sie, als wäre er ihretwegen gekommen. Narzissa hatte ihn erst bemerkt, wie er schon fast vor dem Hause sein Pferd zurückhielt. Einen Augenblick schien es, als wüßte sie nicht, was sie tun sollte. Dann befühlte sie das Kleidchen, um zu prüfen, ob es schon trocken sei, und begann die Klammern zu lösen. Tony hielt bei ihr. »Guten Abend«, sagte er. »Guten Abend«, gab Narzissa zurück und wendete sich dem Hause zu.
An der Tür trat ihr die Mutter entgegen. »Aber Narzissa! Sei doch nicht so unhöflich! Was denkst du dir bloß? Sei nicht dumm!«
»Bitte mische dich nicht in meine Angelegenheiten!« erwiderte Narzissa, und an ihrer Erregung erkannte die Mutter, wie sehr sie litt. Naomi ging ihr nach.
»Ich werde …«
»Du wirst«, Narzissa hatte sich umgewandt und die Mutter bei den Handgelenken gefaßt, »nichts anderes tun, als dich bloß um deine eigenen Sachen kümmern!« Sie sah aus, als wollte sie ihre Mutter schlagen. Draußen war es ganz still gewesen, jetzt aber hörte man das Geräusch eines galoppierenden Pferdes.
»Du bist eine Törin!« entfuhr es Naomi.
»Jedenfalls nicht das, was du warst!« Leidenschaftlich, aus einem Zorn, der verletzen wollte, zischte die Tochter Naomi diese Worte ins Gesicht, dann warf sie das Kleid auf einen Stuhl und lief in ihr Zimmer.
Naomi faßte nach der Stütze des Küchentisches und ließ sich dann schwer in einen Stuhl sinken. Daß sie und Narzissa so zueinander zu sprechen vermochten!
Es war fast dunkel. Caleb war zu Bett gegangen, Narzissa kam nicht mehr aus ihrem Zimmer. Naomi aber saß immer noch reglos da. Es wurde Nacht und noch immer rührte sie sich nicht. Daß sie und Narzissa einander so anzusehen und solche Worte zu sagen vermochten! Und warum … warum? Seinetwegen, Caleb Evans wegen, dieses halbgestorbenen alten Mannes wegen, der dort oben schlief! Er hatte Narzissa ihr und dem Leben abspenstig gemacht. Was konnte sie tun? Wie sollte sie ihre Tochter retten?
Sie wünschte, er wäre tot. Jahre und Jahre konnte es noch dauern … Sie wünschte, sein Leben wenigstens in diesen Jahren unterbrechen zu können, die Jahre der Liebe für Narzissa sein sollten. Sie wußte, wie sehr sich Narzissa nach Tony sehnte, sie las es in ihren zornigen Augen. Und weil sie sich so sehr nach ihm sehnte, schien ihr der Verzicht um so mehr von der Dankesschuld abzutragen, an die sie glaubte, und für die sie ihr Leben opferte. Das törichte Mädchen! Eigensinnige, stolze, prächtige, gute Narzissa!
Ja, jemand anderer mußte für sie handeln. Sie mußte befreit werden – wenn es nicht anders ging, dann … Naomi selbst konnte ja früher sterben und Caleb Evans weiterleben, immerzu leben, endlos leben. Sie sah es schon so kommen, sah ihn alt, uralt und hilflos und Joes Tochter an ihn gekettet. Das durfte nicht sein! Bloß an Narzissa wollte sie denken, nicht an ihn, nicht an sich selbst. Andere Frauen hatten schon Ähnliches getan. Sollte sie es nicht können? Gab es denn irgend etwas auf dieser Welt, was sie für ihr kleines Mädchen nicht hätte tun können?
Doch als sie an das zu denken versuchte, was sie tun wollte, war sie nicht mehr allein in der dunklen Küche eines häßlichen Hauses auf einer von Bergen eingeschlossenen Steppe, sie war wieder in der Küche daheim, im Elternhaus. Jeden Augenblick mußte Vater mit Patsy eintreten. Mutter war noch oben, brachte Willy und Rosie zu Bett. Wenn sie Licht machte, würde sie das Geschirr an den Wänden glänzen sehen. Da, hinter ihr, war der Ausguß und drüben auf dem Tisch lag der Brotteig. Zu Hause! Diese wohlige Sicherheit des Zuhauseseins. Wie sie sich danach sehnte! Dieses Letzte, Allerletzte vermochte sie nicht allein zu tun, allein, wie sie ihr ganzes Leben gelebt hatte. »Vater!« flüsterte sie, »Vater, hilf mir. O himmlischer Vater, hilf du mir!«
Sie ertrug die Einsamkeit nicht länger. Sie schlich zu Narzissas Zimmer. An die Türe gelehnt, hörte sie dumpfe Laute. Narzissa weinte. Jahre hindurch war sie immer bei ihr eingetreten, wenn sie ihr Weinen gehört hatte. Jetzt konnte sie nicht mehr zu ihr, nie mehr konnte sie zu ihr, als wäre dieses Zimmer zugemauert. Sie mußte sie aus diesem vermauerten Zimmer befreien! Mußte sie retten – um jeden Preis!
Sie ging in die Küche zurück und machte Licht. Auf dem Tisch lag Calebs Schreibzeug und sein Bleistift. Er hatte an das Warenhaus in Denver geschrieben. Und dort das große Messer, mit dem hatte er den Bleistift gespitzt. Sie befühlte seine Spitze. Ja, sie war scharf. Scharf? Scharf! Sie rührte mit dem Finger an die Messerschneide. Scharf. Ja, sie war scharf! Plötzlich riß sie das Messer an sich und eilte zur Treppe.
Er schnarchte. Sie stand und lauschte, fühlte das Wahnsinnige ihres Vorhabens und wußte doch wieder, daß sie nicht wirklich wahnsinnig sei, daß sie das Messer in der erhobenen Faust nur so hielt, als ob sie es wäre. So stand sie an der Treppe. Jahraus, jahrein hatte er geschnarcht, und sie hatte ihn belauscht. Es kam ihr in den Sinn, daß sie ihn schützen müßte, weil sie ihn so genau kannte. Vor all jenen Dingen, die sie von ihm wußte, mußte sie ihn beschützen. Einem Menschen, den man im Schlaf erreichen kann, vermag man nichts Böses zu tun. Schlafende können sich nicht wehren. Jeder Mensch, der sich dem Schlaf überläßt, vertraut sich allen an, die um ihn sind. Es hatte Nächte gegeben, in denen sie sein Schnarchen unterbrochen hatte: »Schnell! Narzissa ist übel!« – »John hustet!« Wie rasch war da der schwerfällige Mann aus dem Bett gewesen …
Das Messer entfiel ihrer Hand. Schluchzend kniete sie nieder. »Ich kann nicht! Ich kann nicht! O Gott, vergib mir!« Lange weinte sie, dann saß sie wieder vor dem Küchentisch. Sie spielte mit dem Bleistift. Plötzlich begann er zu schreiben: »Lieber Tony …«
Vielleicht würde er gar nicht kommen.
Sie hatte einem der Viehtreiber, der am nächsten Morgen vorbeikam, den Brief mitgegeben. Er konnte vergessen haben, ihn auf die Post zu tragen. Tony konnte auch wieder nach seiner Schule zurückgereist sein.
Naomi überdachte alle Möglichkeiten, warum Tony sie drüben bei den Weiden nicht erwarten würde. Alle Gründe zählte sie sich auf, während sie voll Ungeduld dem Augenblick entgegensah, in dem Caleb zu Bett gehen und Narzissa in ihr Zimmer verschwinden würde; denn nur dort las oder arbeitete sie jetzt immer abends, um jedes Beisammensein mit ihrer Mutter zu vermeiden. Naomi sammelte ihre Kräfte, indem sie sich immer wieder sagte, diese Begegnung würde nicht stattfinden; denn sie war ihr wichtiger, als alles andere der letzten neunzehn Jahre, vielleicht wichtiger als irgendetwas in ihrem ganzen bisherigen Leben.
Dieses Warten, bis die anderen in ihren Zimmern wären, war ganz so wie damals. Es wurde dunkel, und sie bereitete sich für eine geheime Begegnung … Daß frühere Erregungen so stark wieder aufleben konnten!
Wie im Traum ging sie die Straße entlang. Sie wurde wieder zur Naomi von einst, und schlenderte langsam dahin. Den kühlen Abendwind ließ sie um ihr Gesicht streichen und wartete, daß die Dunkelheit sich vertiefe und sie ganz der Wirklichkeit entrücke. Erniedrigende Jahre hatte sie hinter sich; in dieser Nacht schritt sie durch die Dämmerung, wie durch ein reinigendes Element.
Das Wasser plätscherte unter den Bäumen. Sie legte die Hände über ihre Augen, um nur diesem Klang zu lauschen und sich von ihm noch tiefer in die alte Seligkeit entführen zu lassen. Wenn sie jetzt die Arme ausstreckte … ›Naomi‹ würde er flüstern.
Sie schreckte auf, als sie Tonys Pferd zwischen den Bäumen erblickte. Konnte sie umkehren? Nein, das wäre wie ein Abwenden von ihrer Liebe gewesen, zu der sie doch zurückfinden wollte. In dieser Nacht, in der ihr von dem Verlorenen vielleicht mehr wiedergegeben wurde als irgendwann, mußte sie einer neuen Liebe zum Sieg verhelfen.
Und sie wußte auch, daß sie nicht unverrichteter Dinge in jenes Haus zurückkehren durfte. Sie mußte Narzissa befreien. Sie mußte es hier unter den Weiden tun, da sie es zu Hause nicht vermocht hatte. Der Bleistift war erst in ihre Hand geraten, nachdem das Messer daraus entfallen war. Und nun war Tony doch gekommen. Jetzt mußte sie diesen Weg zu Ende gehen, um den andern nicht wieder beginnen zu müssen.
So schritt sie auf ihn zu, selber darüber erstaunt, wie rasch sie sich aus ihrem Traum in Narzissas Mutter zurückverwandelte.
»Wohl sonderbar, daß wir einander hier treffen, nicht, Tony?« begrüßte sie ihn lachend, um seine Befangenheit zu zerstreuen. »Ich wollte aber nicht, daß Narzissa oder ihr … oder mein Mann hörten, was ich Ihnen zu sagen habe.«
Ja, was sie ihm zu sagen hatte. Darum handelte es sich. Deswegen war sie des Nachts hierher zu dem Wasser gekommen, das zwischen den Bäumen murmelte. Ja, jetzt mußte sie es ihm sagen. Diesen Weg mußte sie zu Ende gehen – nicht den andern.
»Narzissa ist unglücklich«, begann sie. Er lachte wie einer, der so sehr gekränkt wurde, daß sich sein ganzes Gefühl in bitteren Hohn verwandelt. »Wie ist dann aber ihr Benehmen zu verstehen?« fragte Naomi statt seiner.
»Ja,« stimmte er zu, »wie denn?«
»Dies zu erklären bin ich hier.« Schwer, schwer war es zu sagen. Schwerer noch, weil sie es eben, auf dem Wege, nochmals durchlebt hatte. Der Übergang von Naomi zu dieser Frau – Narzissas Mutter – war zu rasch gekommen.
Nun gut, so sollte jene Naomi es ihm sagen. Nicht die Frau, die zu Narzissa davon gesprochen, sondern das Mädchen, das es selbst erlebt hatte. Die Dunkelheit würde ihr helfen, würde sie für einen Augenblick jene alte Naomi sein lassen. Der Klang des Wassers und das Rauschen der Bäume würden ihr helfen, wie Stimmen, die zu ihr gehörten, geheimnisvolle Stimmen. So wie es einst gewesen war, zu Beginn, so war es jetzt und so würde es immer sein!
Sie ging näher und blickte in das Wasser. Sie wies auf die Sterne, die sich darin spiegelten. »So war es damals auch … auch das war damals gleich, wie mit Ihnen und Narzissa – denn mein Vater sagte: Nein. Was aber gilt irgendein Nein, wenn man jung ist und liebt? …« Sie erzählte ihm alles. Ein gefallener Baum lag dort, auf dem saßen sie, er vorgeneigt lauschend, bewegungslos. »… Joe ist Narzissas Vater.« Ihr Blick suchte nicht ihn, sondern das Wasser, doch nur, weil sie an Joe als den Vater Narzissas dachte, nicht weil sie verlegen war. »Wenn er am Leben geblieben wäre …« murmelte sie und dachte dabei nicht an sich selbst, auch nicht an Narzissa, nur an Joe. »Erst neulich, in jener Nacht, als Ihr vom Tanz kamt, hat sie es von mir erfahren. – Sie begreifen doch, was dann geschehen ist?« Wenn er es auch begriff, er wartete, was sie hinzufügen würde. »Sie glaubt, ihm mehr zu schulden, als wenn er ihr richtiger Vater wäre.«
»Natürlich«, sprach er halblaut vor sich hin, als wäre ihm jetzt manches klar.
»Sie schuldet ihm doch wohl nicht gleich ihr Leben, oder ja?« Schneidend fragte es Naomi.
»Ja, so ist wohl Narzissa«, sprach er, statt zu antworten, gedankenvoll vor sich hin.
»Und Sie meinen, daß sich da nichts tun läßt?«
»Oh, das habe ich gewiß nicht behauptet«, rief er, und Fröhlichkeit, Jugend, Zuversicht klang in seiner Stimme. Sie sah ihn lächeln. Kraft, gesunde Kraft erfüllte ihn ganz. Narzissa, nicht sie, hätte ihn so sehen sollen!
Aber wie sollte er zu ihr gelangen, wenn sie ›so‹ war. Narzissa war nicht nur von Joe und ihr gezeugt; alle hatten Teil an ihr, die Kellogs, selbst Maria Copeland.
Wozu, wozu war sie nur hier? Erzählt hatte sie ihm wohl alles, doch was wollte sie ihm sagen? Allein konnte er nichts tun, denn Narzissa mied ihn. Jetzt wußte Naomi, daß sie hierher gekommen war, um ihm etwas zu sagen, was sie sich selbst nicht hatte eingestehen wollen. Was hatte alles für einen Zweck, wenn sie ihm dies Eine nicht sagte? Doch als sie sich eben dies Letzte abringen wollte, kam ihr zum Bewußtsein, wie sie wohl aussehen mußte, und da wurde es ihr unmöglich, ihm noch etwas zusagen. An einem ihrer Füße schmerzte eine Schwiele, und als sie mit der Hand hinuntergriff, bemerkte sie ihre häßlichen vertretenen Schnürschuhe. Der Mantel, den sie trug, war der gleiche, den sie an Narzissa nicht mehr hatte sehen können; die Ärmel waren zu kurz, ihre abgearbeiteten Hände ragten so abscheulich hervor, daß ihr plötzlich alles, was sie noch sagen wollte, wie Wahnsinn vorkam. Um ihren Kopf hatte sie einen Schleier gebunden, doch der war vom Wind verschoben und das Haar hing ihr über die Augen. Dünnes, ergrautes Haar, das in diesem trockenen Land mehr Pflege bedurft hätte, um nicht matt und brüchig zu werden. Sie versuchte, es nach hinten zu stecken, doch jetzt, da ihr bewußt geworden war, welchen Anblick sie bot, jetzt konnte sie das nicht mehr sagen, wovon sie sich nicht einmal selber eingestanden hatte, daß es der eigentliche Zweck dieser Begegnung sein sollte.
»Ich werde Narzissa – entführen.« Er selbst sprach es aus. »Ich muß …«
Muß – was? Seine Art zu lachen war Narzissas Mutter nicht angenehm. War es ihm etwa leichter, seine Gedanken weiterzuspinnen, weil sie ihm alles erzählt hatte? Weil er jetzt wußte, daß sie selbst die Hochzeit nicht abgewartet hatte, meinte er etwa … Mit einem Male begann ihre Liebe für ihn ein wenig nachzulassen. Zum ersten Mal fühlte sie sich unsicher. So schwer hatte sie ihre vielen Sorgen getragen, daß die ursprünglichste mütterliche Sorge kaum aufgetaucht war. War er vielleicht doch nicht ganz ihres Kindes würdig? Warum sah sie diesen Jungen jetzt plötzlich mit so ganz veränderten Augen? Und Narzissa, ihr kleines Mädchen, das ahnungslos der Sicherheit des Elternhauses vertraute … Was für Gedanken hatte sie in seinem Sinn geweckt – sie, die Mutter!
»Und Sie werden mir helfen?« fragte er. »Wollen wir sie gemeinsam – befreien?«
Das war es, was sie selbst gewollt hatte. Warum griff sie denn jetzt nicht zu? Sie fühlte seine Erregung. Er war ihr ein Fremder, mit seinem schlecht verhüllten Trieb. Und Narzissa, die als Säugling an ihrer Brust gelegen hatte, ihr geliebtes kleines Mädchen … Sie dachte an die Tage, die sie gemeinsam in dieser Einsamkeit verlebt hatten, in denen Narzissa so hold und rein aufgewachsen war – ihr Kind und Joes Kind. Ja, auch Joes Kind, der nun tot war, doch gelebt hatte.
»Und dann werden wir uns trauen lassen,« meinte der Junge ganz vernünftig, »und nach Kalifornien gehen.« Ganz so hatte auch Naomi es sich gedacht. »Sie haben mich gerufen, um mir zu helfen?« drängte er. »Sie werden es doch einzurichten verstehen, daß ich Narzissa sehen kann, wenn ihr Vater nicht da ist?«
Eben das zu besprechen war sie da. Nächste Woche wollte Caleb in die Berge gehen, um nach seinen Schafen zu sehen. Dann sollte Tony kommen. Sie selbst wollte sich in ihr Zimmer verschließen, vielleicht sogar plötzlich einen wichtigen Gang zu ihren Nachbarn, den Scotts, vorgeben. Und wenn Narzissa dann mehr von der Liebe kennen würde …
»Ich werde Sie's wissen lassen«, sagte sie. Ihr war kalt geworden. Schwer hingen ihre Hände herab. Sie versuchte, sie in den Ärmeln ihres Mantels zu bergen, doch der Mantel bot keinen Schutz. Nirgends gab es in diesem Augenblick einen Schutz.
»Wie wollen Sie mich verständigen?« fragte er. »Ich bin ja bald auf dem Weg nach Kalifornien.« Er drängte immer mehr; allzusehr, wie ihr schien. Sie mußte rasch etwas ausdenken, einen Weg, der ihr noch Freiheit zu überlegen ließ. Sie würde, so sagte sie ihm, einen mit einem Stein beschwerten Zettel beim südlichen Grenzpflock für ihn hinlegen. Es klang ihr selbst so phantastisch, daß sie lachen mußte und gleich wieder still wurde, denn wenn sie ihr eigenes Lachen hörte, konnte ihr leicht all dies wie Wahnsinn vorkommen.
Er wandte sich seinem Pferd zu, kam aber nochmals zurück. In seinem Zögern war er wieder ganz der unsichere schüchterne Junge.
»Hm … es war so gut von Ihnen«, sagte er. Und dann: »Gute Nacht!« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich … soll ich Sie nicht nach Hause bringen?«
»Nein! Nein! Ich bleibe noch einen Augenblick. Ich habe schon immer so gern am Bach gesessen.«
Wieder zögerte er unentschlossen, dann verließ er sie.
Reglos wartete sie, bis das Rauschen der Bäume den Hufschlag seines Pferdes übertönt hatte. Sie fühlte sich so steif, daß ihr das Aufstehen schwer wurde. Wie gelähmt schlich sie davon. Noch einmal wandte sie den Kopf nach dem Wasser. Noch einmal wollte sie die Sterne sehen, die sich darin spiegelten.
Doch der Himmel hatte sich bewölkt und kein Schimmer traf mehr Naomis Erde.
»Könnt' ich doch mit dir gehen, Vater! Wie schön wäre eine Woche in den Bergen!«
»Hättest früher daran denken müssen. Ja, warum nicht? Du könntest in der kleinen Hütte wohnen und wir Männer – aber Mutter kann doch nicht allein bleiben!«
»Mutter ist nicht ängstlich. Aber ich kann ja wirklich nicht, denn es ist Schwester Sylvias letzte Woche.«
Die Scotts wollten Caleb bei Morgengrauen abholen. Narzissa war ihm bei den Vorbereitungen behilflich gewesen. »Du mußt die dünnen Wollsocken anziehen und für alle Fälle auch die dicken mitnehmen. Du weißt, Vater, wie kalt die Nächte oben sind. Du mußt sehr vorsichtig sein und unbedingt immer den Schafpelz anbehalten!«
»Sie ist besorgt wie ein altes Weib«, meinte Caleb gerührt zu Naomi. Narzissa wollte jetzt von ihm Abschied nehmen, denn um vier Uhr früh würde sie nicht wach sein. »Wenn ich nicht rechtzeitig zurück sein sollte, um Schwester Waite Lebewohl zu sagen, dann sage du ihr meine … meine besten Wünsche. Sage ihr, daß ich sie immer in mein Gebet einschließen werde.«
»Ja, Vater.«
Als der Name Sylvia Waite nun zum zweiten Mal genannt wurde, ging Naomi aus dem Zimmer. Diese ganze Stunde, in der sie Narzissas Eifer hatte beobachten und ihre liebevolle Unterhaltung mit Caleb hatte anhören müssen, war ihr schwer geworden. Jetzt hörte sie, wie er mit gedämpfter Stimme etwas sagte: »… und sei gut zu …« und wie Narzissa gleichmütig antwortete: »Gewiß, Vater.«
Sei gut zu deiner Mutter! Ja, das hatte er wohl gesagt.
»Zu schade, daß wir nicht früher daran gedacht haben. Ich hätte für dich kochen können.«
»Ja, weißt du …« Caleb lachte und Narzissa stimmte ein. Kochen war nicht ihre stärkste Seite. Doch wie gut sie miteinander standen, wie Narzissas Gedanken nur um sein Wohlergehen kreisten! Das konnte ihr zur Gewohnheit werden. Im Übereifer der Jugend kann es vorkommen, daß man solche Pflichten als Lebenszweck betrachtet. Naomi mußte an Maria Copelands Verwandte denken, an jene welke Jungfer, die ihr das Tor geöffnet hatte, als sie damals gekommen war, um von Joes Kind zu sprechen. Wie viele solcher Frauen gab es auf der Welt; selbst ein schönes junges Mädchen konnte so enden, wenn es sich dem Leben verschloß, um einem falschen Pflichtbegriff zu gehorchen. »Wir müssen sie retten«, hörte sie Tony sagen. Ja, sie retten. Trotz aller Bedenken ihres mütterlichen Herzens, auch ohne zu wissen, was die Zukunft barg. Irgendwie war es doch das Leben, das in dieser Zukunft lag, und was immer es bringen konnte, es war diesem Weg vorzuziehen, der weiter und weiter vom Leben fortführte. Das überlegte Naomi, während nebenan Narzissas herzliche Stimme dem Vater Worte des Lebewohls sagte.
»Und sei nur sehr, sehr vorsichtig.«
»Ja. Und du ebenso. Und gib mir gut auf deine Mutter acht, daß ihr nichts abgeht.«
»Das will ich, Vater«, erwiderte Narzissa ernst. Stille, dann ein Geräusch. Sie hatte ihn zum Abschied geküßt.
»Gute Nacht«, sagte Caleb, von ihrer Zärtlichkeit gerührt, denn Küsse hatte es in diesem Hause wenig gegeben.
»Gute Nacht, Vater …« Ihre Stimme war ganz innig.
Mit einem Gefühl, das fast verwerflich war und dessen sie sich schämte, dachte Naomi, daß dies vielleicht ein Abschied für immer wäre!
Er war noch in der Küche, als sie hineinkam, um alles fürs Frühstück herzurichten, denn morgens würde nicht viel Zeit dafür bleiben. Er verschnürte eben seinen Rucksack. In früheren Jahren war es Naomi gewesen, die ihm die letzten Ermahnungen auf den Weg gegeben hatte – sich warm zu kleiden, bergauf langsam zu gehen – diesmal schien es ihr, als hätte Narzissa schon alles gesagt.
»Nun, ich glaube, jetzt werde ich zu Bette gehen«, sagte er.
»Ich will den Wecker in mein Zimmer nehmen, damit …« Sie stockte. Zum erstenmal war ›ihr‹ Zimmer erwähnt worden!
»Ich glaube, ich kann mir das Frühstück ganz gut selbst kochen.«
»Aber nein, ich werde schon aufstehen und dich wecken.« Er zündete seine Lampe an, um die Treppen hinaufzugehen. Schon von ihr abgewendet, sprach er noch vor sich hin: »Du und das Kind, ihr werdet es jetzt gewiß sehr gemütlich hier haben. Nur ihr beide allein, das wird ja wie ein Fest werden!«
Tränen kamen ihr in die Augen; obwohl er sich nicht nach ihr umgewandt hatte, kehrte sie ihm den Rücken zu. Wie sehnsüchtig hatte sie sich gewünscht, solche Worte zu hören – doch nicht von ihm. –
Narzissa war es, die diesem ›Fest‹ sein Gepräge gab; als wäre sie die Ältere gewesen, die die Grenzen der gegenseitigen Beziehungen bestimmt. Peinliche Erörterungen konnte es keine geben, denn diese hätten schon eine gewisse Vertraulichkeit vorausgesetzt und zu unerwünschten Einblicken führen können. Heiterkeit, gegenseitige Rücksichtnahme – ja, aber nie durfte ein gewisser Abstand außer acht gelassen werden. Das fühlte Naomi aus dem Benehmen ihrer Tochter, als sie am Morgen gemeinsam die Arbeit begannen.
In ihrer Not begnügte sie sich auch mit den Brocken, die sie erhielt. Wie man in ernsten Augenblicken, die über Leben und Tod entscheiden, die Augen verschließt, so täuschte sie sich als Liebe vor, was nur freundliche Hilfe war. Wenn Narzissa mit ihr im Hause wirtschaftete, vermochte Naomi für Augenblicke ganz zu vergessen, wie es wirklich um sie beide stand, und sich in eine Welt versetzt zu glauben, in der sie tatsächlich Mutter und Kind waren.
In den Nachmittagstunden dieses ersten Tages nähte Narzissa an ihren Kinderkleidchen. Naomi, die durch das Zimmer ging, sah ihr Haar, von den Sonnenstrahlen getroffen, wie Gold aufblitzen. Sie war hier! Wie immer sie zueinander stehen mochten – sie war da. Wie wäre das Leben zu ertragen, wenn Naomi einmal draußen auf dem Felde nicht mehr wissen würde, daß sie Narzissa hier im Haus finden konnte? Wenn sie im Zimmer sitzen und wissen müßte, daß Narzissa nicht nach Hause käme? Hatte sie nicht doch alles falsch beurteilt? Narzissa war nicht Naomi! Hatte sie nicht das Recht, ihr Leben so zu gestalten, wie sie selbst es wünschte? Vielleicht würde Narzissa auch auf jenem andern, auf ihrem Wege nach einiger Zeit das Richtige für sich finden und bis dahin – bliebe sie doch hier! Im täglichen Zusammenleben würden sich ihre Gegensätze mildern. Sie würde so gut zu ihr sein, so mütterlich zärtlich, daß sie wieder zu ihr gehören müßte … für einige Zeit … für ein wenig länger noch.
So sah sie die Dinge, als die Sonne im Westen versank. Nach Sonnenuntergang sollte sie für Tony die Botschaft hinterlegen, wenn sie nicht alle Bemühungen aufgeben wollte, Narzissa von Caleb Evans – und von sich selbst zu trennen.
Die Dämmerung kam, und Narzissa ging in ihr Zimmer. Naomi hatte noch nach den kleinen Hühnern gesehen und als sie dann die Blumen unter Narzissas Fenster begoß, streckte sie plötzlich lauschend den Kopf vor. Verhaltenes Schluchzen klang aus dem Zimmer, leidenschaftlich, verzweifelt. Naomi stand und lauschte und erriet, was ihr Kind in sich verschlossen hielt.
Ein anderes Geräusch ließ sie aufhorchen. Frau Allens Wagen! Sylvia Waite kam Narzissa besuchen! Naomi stürzte ins Haus.
»Narzissa! Narzissa! Liebling! Frau Waite wird gleich hier sein!« Denn sie mußte ihr doch Zeit geben, sich Augen und Gesicht zu waschen!
»Mein Gott!« schrie Narzissa, aufgeregt wie in alter Zeit.
Nein, Frau Waite konnte sich nicht aufhalten; sie hatte nur wegen morgen etwas vereinbaren wollen … Während Narzissa draußen mit ihr sprach, war Naomi in das Zimmer ihrer Tochter getreten. Zerdrückt lag auf dem Bett, wie von verzweifelten Händen zusammengeknüllt, das gelbe Kleid, das Narzissa beim Tanz getragen hatte. Von draußen klang Sylvia Waites salbungsvolle Stimme und Narzissas andächtiges Beipflichten. Naomi legte ihre Hand auf das tränenbenetzte zarte Kleid, als könnte es ihr die Stärke zu dem geben, was sie tun mußte.
Am nächsten Abend saß Naomi beim Küchentisch und besserte Calebs Wäsche aus. Sie sah nach der Uhr. Viertel acht! Zwischen halbacht und acht würde Tony an der Umfriedung des Weideplatzes auf Narzissa warten. Naomi hatte dies für besser gehalten, als wenn er zu ihnen ins Haus gekommen wäre, wo Narzissas Verstimmung gegen ihre Mutter sie nur darin bestärkt hätte, ihn nicht zu empfangen. Er würde ›ganz zufällig‹ vorbeikommen, ihr vielleicht sagen, daß es schon ein Glück für ihn bedeute, in der Nähe ihres Hauses zu sein – oh, er würde schon wissen, was er zu sagen hatte. ›Ich gehe nun nach Kalifornien‹, so würde er sprechen, ›doch vorher, ehe wir für immer Abschied nehmen, müssen Sie mir sagen, was ich denn eigentlich verbrochen habe‹. Sie würde einen Augenblick bei ihm stehen bleiben. ›Ich liebe dich!‹ müßte er dann sagen und sie würde zu weinen beginnen. Dann würde er sie trösten und umstimmen.
»Oh!« rief Naomi, »oh, mein Gott! Das ist doch jetzt zu dumm …!« Und sie erhob sich mühsamer, als es wirklich nötig gewesen wäre. Narzissa blickte vom Plätten ihrer Kinderkleidchen auf. »Ich glaube, ich habe vergessen, nach der Fütterung auf dem Weideplatz die Balken festzumachen. Ich kann mich nicht erinnern, den Schlagbaum heruntergelassen zu haben, als ich fortging. Ja, ich habe es bestimmt vergessen!«
»Aber Mutter!« sagte Narzissa vorwurfsvoll.
»Ja,« seufzte Naomi, »ich muß eben noch einmal zurückgehen.« Mit schwerem Stöhnen humpelte sie zu ihrem Mantel und schleppte dabei den einen Fuß nach, als ob er arg schmerzte.
»Ich werde gehen«, sprach Narzissa ergeben.
»O nein, Liebling, du hast anderes zu tun. Und mir wird es eine gute Lehre sein.«
»Nein, ich gehe«, wiederholte Narzissa, während sie das Plätteisen auf den Herd stellte. Sie hatte in ihr Zimmer gehen wollen, blieb jedoch stehen, wandte sich um und streckte die Hände aus. »Ich kann ja auch deinen Mantel nehmen.«
Naomi reichte ihn ihr, zog ihn aber gleich wieder zurück. »Besser du nimmst deinen eigenen. Meiner ist von der Stallarbeit ganz fleckig.«
Narzissa hatte sich nach ihrem Besuch bei Frau Waite noch nicht umgekleidet: sie sah in ihrem geblümten Batistkleid entzückend aus. Naomi begleitete sie vor das Haus.
»Es tut mir schrecklich leid, Liebling. Wirklich brav von dir, daß du mir diesen Weg abnimmst. Vielleicht gefällt es dir draußen und du machst dann gleich noch einen kleinen Spaziergang, vielleicht bis zu den Scotts – möglich, daß sie von den Männern schon Nachricht haben.«
»Oh, das halte ich nicht für wahrscheinlich,« meinte Narzissa, »heute noch nicht.«
»Nun, wie du eben meinst«, brach Naomi rasch ab. Sie ging noch ein paar Schritte mit. »Eine wundervolle Nacht«, sprach sie, um ihre große Rührung zu verbergen und ihre Sehnsucht, die Tochter in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, daß sie sich mit dem Heimkommen nicht beeilen müsse.
Sie sah ihr nach, bis Narzissa im Dunkel verschwunden war. Da ging sie nun – zu welchem Ziel? Vielleicht würde sie Verdacht schöpfen, dem ›Zufall‹ nicht glauben und nur noch feindseliger gegen ihre Mutter werden, als sie es jetzt schon war, noch mehr in ihrem Vorsatz bestärkt, ihr ganzes Leben dem Vater zu weihen. Doch wenn Tony sich nicht ganz ungeschickt benahm – nein, es war nicht anzunehmen, daß sie Verdacht schöpfen würde. Sie würden ein paar Worte miteinander sprechen und dann vielleicht den Weiden entlang gehen. ›Ich muß nach Hause,‹ würde Narzissa wohl sagen, ›Mutter wird besorgt sein.‹ – ›Nein,‹ würde sie dann überlegen, weil sie zu bleiben wünschte, ›sie wird meinen, ich wäre zu den Scotts gegangen.‹ So würden sie vielleicht zusammen zu den Scotts gehen, weil Narzissa nicht würde sagen wollen, sie wäre dort gewesen, wenn es nicht wahr wäre. Sie würden zusammen hingehen, doch Tony würde draußen warten. Narzissa ging wohl nur auf einen Augenblick hinein, doch ihre Mutter konnte ja glauben, sie wäre eine Stunde dort gewesen. – So hatte Naomi alles für Narzissa vorbedacht.
Sie plättete das Kinderkleidchen fertig, das Narzissa beiseite gelegt hatte. ›Du hast meine Arbeit übernommen, darum habe ich die deine getan‹, wollte sie ihr sagen, und sie wünschte, sie könnte dem Leben ihres Kindes nicht nur dies, sondern alles abnehmen, was mit der Missionsschwester zu tun hatte. Das Kleidchen war genau so wie die Kleider, die sie einst für Narzissa geplättet hatte. Würde sie nicht Narzissa mit einer Puppe spielen sehen, wenn sie aufblickte? Konnte nicht gleich wieder eine Kinderstimme laut werden: ›Mama! Narzissa hat Hunger!‹? Ihre Tränen fielen auf den rosa Kattun. Nie mehr würde sie solche Kinderkleidchen plätten. Oder – vielleicht einmal für Narzissas Töchterchen? Ja, es mußte einmal so ein Töchterchen geben, mit einer süßen Babystimme; Narzissas Leben durfte nicht zu verlorenen Jahren bei Caleb Evans werden!
Es war halb acht. Hätte Tony sie verfehlt oder hätte Narzissa sich geweigert, mit ihm zu sprechen, dann müßte sie schon zu Hause sein. Wenn sie ihm begegnet war und ihn abgewiesen hatte, dann ging sie bestimmt nicht zu den Scotts. Nein, sie würde wie gehetzt nach Hause eilen, um vor ihm, vor sich selbst in Sicherheit zu sein, würde sich aufs Bett werfen und der Liebe nachweinen, die sie verleugnete. Jetzt war es schon ein Viertel vor neun. Sie waren zusammen!
Naomi setzte sich auf die Stufen der Eingangstüre, um an dieser Sommernacht teilzuhaben, die ihrer Tochter die Liebe bescherte, als wollte sie alles, was sie erlebt hatte, alles, was sie gefühlt hatte, hinaussenden, um dieser Nacht stärkere Macht zu geben.
Doch jetzt war es zwanzig Minuten vor Zehn. Alle Sorgen begannen in ihr zu erwachen, die ungewisses Warten auch dann mit sich bringt, wenn man ein Fortbleiben noch so sehr gewünscht hat. Wenn Narzissa etwas zugestoßen wäre …! Vielleicht hatte sie Tony überhaupt nicht getroffen – oder sie hatte ihn getroffen und … Was wußte Naomi von diesem Jungen, außer daß er Narzissa begehrte? Naomi hatte jetzt Angst und wäre ihrer Tochter am liebsten ins Dunkel nachgestürzt, um sie wieder in die Sicherheit dieses Hauses zurückzubringen. Sie konnte ja in Gefahr sein! Während der nächsten halben Stunde, die verging, zeigte sich Naomi Kellogg tapferer, als sie je in ihrem Leben gewesen war. Narzissa konnte in Gefahr sein und Naomi wünschte nichts sehnlicher, als ihr nachzueilen und sie zu finden – und doch blieb sie reglos auf ihrem Platz, denn sie wußte, sie hätte sie nur in ein Haus zurückführen können, in dem sie zwar geborgen war – aber aus dem man das Leben verbannt hatte! Sie wußte gut, was alles geschehen konnte. Furcht, Sorge, Scham aus alten Tagen, alles rief ihr zu, der Tochter nachzueilen. Doch andere Erinnerungen kamen ihr auch. Dies war die Stunde, in der die Entscheidung fiel. War sie tapfer genug, der Gefahr, die sie einst selbst auf sich genommen hatte, auch für ihr Kind zu trotzen? Hielt sie noch so fest an ihrem Glauben? ›Was immer das Leben dir antun kann, ist besser, als nicht zu leben!‹ Sie sprach es vor sich hin, ihr Glaubensbekenntnis. Doch sie brachte es nicht über sich, noch länger in die dunkle Nacht zu starren. Sie ging ins Haus, um dort die Heimkehr ihres kleinen Mädchens zu erwarten.
Nach zehn Uhr hörte sie eilige Schritte. »Bist du's, Liebling?« rief sie und wußte, daß die Unruhe ihrer Stimme nur begreiflich scheinen konnte.
»Warst du ängstlich, Mutter?« fragte Narzissa. Ihre erregte Stimme hatte einen neuen frischen Klang und Naomi begriff …
»Ich fing beinahe an, ängstlich zu werden.« Naomi ging nicht gleich in das beleuchtete Zimmer hinunter, um Narzissa einige Augenblicke Zeit zu lassen, sich zu sammeln. Wie gut kannte sie die Erregung nach solchen Begegnungen! »Du bist bei den Scotts gewesen?« fragte sie, während Narzissa ihren Mantel im Vorraum ablegte.
»Ja. Sie haben noch keine Nachricht. Sie meinten, wenn ich morgen abends wiederkäme …«
So würde es also ein ›morgen abends‹ geben.
»Willst du etwas Warmes trinken, Liebling?« fragte Naomi, als Narzissa in die Küche kam.
»Nein, danke,« lehnte das Mädchen ab, während es seine Hände über dem Feuer wärmte, »oder vielleicht doch. Ja, ein wenig warme Milch wäre ganz gut.«
Wußte Narzissa nicht, daß ihre Stimme alles verriet? Naomi begriff, während sie die Milch zum Wärmen stellte, daß sie gewonnen hatte – und doch verloren.
Drei Tage später begann Narzissa mit einem Male ihre Wäsche und Kleider durchzusehen.
»Weißt du,« meinte sie zu ihrer Mutter, während sie sich anschickte, ein Hemd zu plätten, »es ist wirklich schon eine halbe Ewigkeit, daß ich mich um all das nicht gekümmert habe.«
Naomi fand nicht gleich eine Erwiderung. »Ja, ja. Wird schon so sein …«, stimmte sie schließlich bei, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
»Über dem vielen Lernen hab' ich alles andere vernachlässigt.« Naomi ging in das obere Stockwerk und blieb eine halbe Stunde unsichtbar. Als sie wieder herunterkam, war Narzissa voll Eifer dabei, Strümpfe nachzusehen, und begann dann, Bänder in Leibwäsche einzuziehen.
»Weißt du, Liebling, eigentlich ist es jetzt, während Vater fort ist, die beste Zeit für uns, alle deine Sachen einmal gründlich herzurichten.« Ja, ihre Stimme war jetzt wieder ganz in Ordnung; ja, sie hatte sich wieder in der Gewalt. »Ich will gleich anfangen, alles zu waschen, was nicht mehr rein ist.«
»Aber … willst du wirklich, Mutter?« fragte Narzissa ein wenig unsicher.
»Natürlich«, gab Naomi ganz unbefangen zur Antwort, doch sie konnte sich nicht zurückhalten und fügte nach einer Weile hinzu: »Natürlich, mein Liebling.«
So wurde Narzissas Wäsche ausgebessert, gewaschen und zum Trocknen gehängt, ihre Kleider wurden gebürstet und geplättet, ohne daß auch nur ein einziges Wort darüber gefallen wäre, daß diese Vorbereitungen einen einschneidenden Wechsel in ihrer beider Leben bedeuteten.
»Nein, nein, das darf ich nicht!« sprach Naomi immer wieder zu sich selbst, während sie sich danach sehnte, ihrem Kinde zu sagen: »Mutter möchte dich ja ganz, ganz glücklich sehen, Liebling. Das ist ihr einziger Wunsch auf der Welt …« Nein! Sie wandte sich ab, doch einzelne Tränen fielen trotzdem auf die dünnen weißen Kostbarkeiten, die sie eben wusch – auf Taschentücher und einzelne Wäschestücke, die sie Narzissa geschenkt hatte und die ihr ganzer Stolz waren. Es war so wenig, und sie hätte ihr gern alles Schöne und Vornehme der Welt gegeben! Um ihre Gefühle zu verbergen, sprach sie vorwurfsvolle Worte: »Narzissa! Mach' doch ein wenig schneller! – Du meine Güte, laß doch das Fleisch nicht anbraten!« Mit Absicht begann sie in aufreizender Weise zu schelten, um es Narzissa leichter zu machen.
Abend für Abend war Narzissa zu den Scotts gegangen. Naomi unterdrückte ihren sehnsüchtigen Wunsch, die Tochter bei der Heimkehr noch zu sehen, und begnügte sich damit, ihr von oben Begrüßungsworte zuzurufen, sobald sie ihre Schritte im Hausflur hörte. An einem Abend rief sie mit gemachtem Unwillen: »Es muß doch schon neun Uhr vorbei sein, nicht?« obwohl sie wußte, daß es lange nach elf war. Am Abend darauf schützte Naomi, sobald die Teller nach dem Abendessen gewaschen und weggeräumt waren, Kopfschmerz vor und meinte, sie wolle ein Pulver nehmen und sofort schlafen gehen. »Ich will dir lieber gleich Gute Nacht sagen«, fügte sie hinzu. Später hörte sie die beiden unten leise sprechen.
Hätte sie doch offen ihrer Tochter sagen können: »Warum bittest du Tony, jetzt, da wir allein sind, nicht, einmal abends herüberzukommen, um ihm zu erklären, warum du seine Gefühle damals so verletzen mußtest?« Aber sie schreckte davor zurück. Wohl hinterging Narzissa ihren Vater und war auch entschlossen, ihn zu verlassen, aber sicher würde sie es niemals offen zugeben wollen, daß sie sich jetzt mit der Mutter gegen ihn verbündet hatte. Und trotz dem scheinbar besseren Einvernehmen zwischen ihnen wußte Naomi, daß Narzissa innerlich immer noch hartnäckig dabei blieb, die Mutter zu verurteilen; und deshalb wagte Naomi nicht Narzissas keimende Pläne durch Verstärkung dieser feindseligen Gefühle zu stören. In jedem Augenblick der folgenden wenigen Tage, in denen sie wußte, daß sie Narzissa verlieren sollte, hätte sie durch die drei Worte: »Mutter begreift dich!« ein inniges Verhältnis zu ihrem Kind herstellen können. Doch sie liebte Narzissa und deshalb tat sie nichts, um die Kluft zu überbrücken. Und sie wußte auch, daß sie ihre ganze Stärke für jene Stunde sammeln müßte, in der Narzissa fortgehen würde, ohne daß es der Mutter vergönnt wäre, Abschied zu nehmen, ihrer Tochter Glück- und Segenswünsche mitzugeben.
Sie mußte schweigen und durfte nichts von ihrem Wissen ahnen lassen, denn Narzissa vergaß an keinem dieser Tage, daß sie auf dem Wege war, ihre höchste Pflicht zu verletzen. Naomi beobachtete, wie sie durch das Haus ging und vor allen Dingen, die an Vater erinnerten, nachdenklich wurde, sichtlich über das Leid grübelnd, das sie über ihn bringen wollte. Ihre strenge Auffassung von Pflicht und Treue hatte sich nicht geändert; das, was sie tat, geschah ohne ihren Willen. Eine Macht trieb sie dazu, die stärker war, als sie selbst.
Gern hätte Naomi zu ihr gesagt: »Ich werde gut zu Vater sein, wenn du nicht mehr da bist, Liebling. Besser als jemals zuvor! Ich werde dich bei ihm ersetzen.« So durfte sie nicht sprechen, obwohl dies tatsächlich ihre Gefühle, ihre Absichten waren, denn sie würde ja Siegerin geblieben sein und durfte darum Großmut zeigen. Sie durfte so nicht sprechen; doch um ihrer Tochter so viel wie möglich von ihrer Bürde abzunehmen, wagte sie diesen Gedanken zu umschreiben: »Wenn Vater zurückkehrt, soll er alles schön in Ordnung und behaglich finden. Diese Reisen sind für ihn schon zu beschwerlich, ich denke, er müßte sie jetzt aufgeben und sich das Leben leichter machen.« – »Ja, Mutter«, stimmte Narzissa bei, »er sollte sich wirklich nicht mehr so plagen.« – »Wir wollen ihm Sonntag ein Huhn braten«, sagte Naomi, und dann hörte sie, wie Narzissa leise aus dem Zimmer schlich. So würde sie also Sonntag nicht mehr da sein!
»Ich will jetzt Vaters Zimmer für ihn gründlich machen«, sagte Naomi. »Alles soll blitzen und sauber sein, wenn er heimkommt.« – »Ja, Mutter«, und Narzissa half ihr. Naomi bemerkte, wie sie alle Dinge lange in der Hand hielt und betrachtete, bevor sie sie wieder an ihren Platz stellte. Es waren nicht bloß Gefühle des Glücks, die Narzissa in diesen Tagen empfand, und gern hätte es ihr Naomi leichter gemacht und ihr gesagt: »Er wird es bald überwunden haben. Ich bleibe ja bei ihm und will mein Möglichstes tun. Er wird sich nicht allzu einsam fühlen.« Einsam? Caleb einsam? Naomi würde nach diesen letzten Tagen Zeit genug haben, sich mit der Tatsache abzufinden, daß sie selbst für immer vereinsamt sei.
»Würdest du dich fürchten, Mutter, wenn du hier – eine ganze Nacht allein wärst?«
Naomi schälte eben Kartoffeln. Ihre Hände erstarrten augenblicklich in jeder Bewegung. Narzissa ging heute nacht!
»Nein, ich würde mich nicht fürchten.« Doch wie sehr hatte sie gefürchtet, daß ihre Stimme nicht den gewohnten Klang aufbringen würde!
»Ich will nachmittag zu Schwester Sylvia hinübergehen, um von ihr Abschied zu nehmen. Du weißt ja, sie reist morgen. Und dann habe ich daran gedacht … vielleicht würde ich ganz gern in die Stadt gehen … zu Madge Atkins. Sie … bei ihr ist heute Gesellschaft.« Schwer fiel es Narzissa, eine Unwahrheit zu sagen.
»Ja, ja, geh nur, Kind«, erwiderte Naomi und hielt ihren Kopf tief über die Arbeit gebeugt.
Heute nacht also wird sie nicht mehr im Bett lauschen, um Narzissa heimkommen zu hören. Doch, lauschen würde sie wohl, aber Narzissa würde nicht kommen. Nichts würde sich unten mehr bewegen. Und früh würde sie herunterkommen und kein Frühstück mehr für Narzissa zu bereiten haben. Würde sie nach diesem Tag jemals noch ihre Stimme hören, ihr in die Augen blicken? Vielleicht könnte sie es verhindern, vielleicht könnte sie sie zurückhalten, bloß mit den Worten: »Liebling, die Mutter begreift dich, will dir helfen …!«
Doch gleich sprach Naomi zu sich selbst: »Jetzt bin ich an dem Ziel, für das ich gekämpft habe. Jetzt erfüllt sich der Sinn meines ganzen Lebens. An diesem Tag will ich stark bleiben, und was an all den weiteren Tagen meines Lebens aus mir wird – wer fragt danach. Nicht um mich geht es, um Narzissa! Nicht um dich,« wiederholte sie sich, als stieße sie sich tatsächlich beiseite, »nicht um dich – um Narzissa!«
Sie bemerkte, daß eine ganze Anzahl von Narzissas Kleidern verschwunden war. Sie mußten in der Nacht zuvor weggeschafft worden sein.
»Aber wo werdet ihr heiraten, Liebling?« hätte sie so gern gefragt. »Wer wird bei euch sein?« Oh, wenn sie dabei sein könnte! Nein, nein, nicht mit der Mutter gegen den Vater verbündet! Trotz allem, was sie tat, gehörte ja Narzissa innerlich immer noch mehr zum Vater und daran wollte Naomi nicht rühren.
Sie und Naomi saßen bei ihrer letzten gemeinsamen Mahlzeit.
»Noch Kirschen, Liebling?« Wann würde sie ihrem Kinde wieder die guten Dinge anbieten können, die sie aufgespart hatte? Was würde sie in Zukunft tun, wenn sie Dinge sah, die sie Narzissa hätte schenken können? »Ich werde sie ihr eben schicken«, nüchterne Überlegung brachte ihr Hilfe, während sie Narzissa die Kirschen hinüberreichte.
Doch Narzissa aß nicht weiter: unvermittelt verließ sie den Tisch. Auch für sie war es nicht leicht, und Naomi wagte kein tröstendes Wort. Das einzige, wodurch sie es Narzissa weniger schwer machen konnte, war, ihr behilflich zu sein, rasch und ohne schmerzlichen Abschied fortzukommen.
Jetzt kleidete sich Narzissa in ihrem Zimmer an.
»Sollen wir anspannen, und ich kutschiere dich zu Allens hinüber?«
»Nein, Mutter. Nein.« Narzissa scheute die einsame Fahrt mit ihr.
»Oder vielleicht ist es besser,« meinte Naomi nach einer kleinen Weile, »wenn du allein fährst – denn ich habe wirklich noch viel Arbeit – und den Wagen durch einen Burschen zurückbringen läßt. Ich will ihn natürlich dafür entschädigen.«
»N–nein …« Narzissa zögerte. »Ich gehe ganz gern zu Fuß.« Sie wollte nur schon fort sein.
Bei Frau Waite Abschied zu nehmen, würde ihr auch nicht leicht fallen, doch die Missionärin hatte jetzt gewiß so viel an ihre eigenen Angelegenheiten zu denken, daß ihr für Narzissa nicht viel Zeit übrig bleiben würde. Um sechs Uhr verließ die Postkutsche die Stadt, um den Nachtzug, der nach Westen ging, zu erreichen. Mit dem würde Narzissa gewiß fahren. Tony traf sie vermutlich unterwegs. Sie würden zusammen den Zug besteigen. Doch wo sollten sie getraut werden? Hier, oder erst in Kalifornien? Darüber nachzudenken war später Zeit; Zeit genug für diese Sorgen – doch Narzissa würde schon darauf sehen, daß alles in Ordnung kam.
»Eigentlich ist es wirklich nicht schön von mir«, rief Narzissa aus dem Nebenzimmer, »dich hier so ganz allein zu lassen.«
»Ach, das macht mir gar nichts«, gab Naomi zurück. »Ich bin nicht ein bißchen ängstlich und ich habe keinen anderen Wunsch, als daß du … als dich vergnügt zu wissen.«
In ihrem blauen Kleid, den Hut mit den Rosenknospen auf dem Kopf, kam Narzissa, zum Ausgehen bereit, in die Küche.
»So warst du schon immer, Mutter.«
Darauf war Naomi nicht gefaßt gewesen, doch sie überwand sich.
»Ach, das ist bei allen Müttern so«, sagte sie. »Das liegt ihnen einfach in der Natur. Ich habe nie verstehen können, wenn sich eine etwas darauf zugute tat.«
Stille wurde es zwischen ihr und Narzissa, ganz stille in dieser Küche, in der sie jeden Tag aus Narzissas Leben zusammengewesen waren und wo sie nie mehr zusammensein würden. Naomi kämpfte mit ihrem Schmerz, der sie zu überwältigen drohte.
»Nun Liebling, du solltest vielleicht schon gehen«, sagte sie.
Doch Narzissa kam auf sie zu.
»Da ich dich doch hier ganz allein lasse …« sie legte ihre Hände auf die Schultern ihrer Mutter und reckte sich, um geküßt zu werden.
Nein! Haltung! Fassung! Nicht zu viel, nicht inniger, als es für eine Nacht erklärlich wäre! Trotzdem wagte Naomi ihr kleines Mädchen, ihr Baby, Joes Kind, in die Arme zu schließen, als sie ihr den Abschiedskuß gab.
»Du mußt zugeben,« lachte Narzissa, während sie sich über die Augen fuhr, »daß ich nicht gewöhnt bin, häufig vom Hause fort zu sein, nicht?«
»Nein, Liebling, du bist immer hier bei mir gewesen. Und jetzt sollst du deine Freude haben!« antwortete Naomi in einem fast heftigen Ton.
»Leb' wohl, Mutter.«
»Leb' wohl, Narzissa.«
Nein, sie wollte nicht vor das Haus gehen. Sie wollte ihr nicht nachblicken. Sie wollte es nicht – und sie tat es doch. Und wie in all den Jahren, in denen sie zur Schule gegangen war, wandte sich Narzissa um und winkte der Mutter. Naomi winkte zurück, dann preßte sie die Hände gegen ihre Brust. Nochmals drehte Narzissa sich um, diesmal sandte sie einen Kuß – seit ihrer Kinderzeit war das selten geworden. Naomi drückte beide Hände leidenschaftlich an ihren Mund und streckte ihre Arme so weit sie vermochte ihrem Kinde nach, um ihm den Kuß zurückzugeben, diesem Kind, das sie nie wieder würde küssen können …
Zwei Tage später, knapp bevor es dunkel wurde, hörte Naomi Hufschläge und sah hinausblickend den Wagen, in dem Caleb mit den Scotts zurückkam. In müdem Schritt gingen die Pferde und auch Caleb sah sehr müde aus, wie er zusammengesunken, mit herabhängenden Armen, da oben saß. Naomi rückte das Abendbrot, das sie für ihn zum Wärmen gestellt hatte, über die Glut des Herdes und schürte das Feuer. Vielleicht konnte sie ihn bei dem Glauben lassen, Narzissa wäre schon schlafen gegangen, ihm erst die Wahrheit sagen, bis er gegessen hatte – vielleicht erst morgen früh, bis er ausgeruht war … Er tat ihr leid, wie er so reglos und verfallen dasaß. Jetzt, da sie ihn niedergerungen hatte, wollte sie gütig zu ihm sein. Es würde ja nicht nur eine schwere Enttäuschung für ihn sein, Narzissa würde ihm auch sehr fehlen, denn er hatte sie immer lieb gehabt.
»Nun, da bist du ja wieder«, begrüßte sie ihn mit einer Stimme, die vielleicht allzu fröhlich klang.
»Ja, da bin ich wieder.« Als sie seine Stimme hörte, blickte sie hastig und prüfend auf ihn. Er mußte erkältet und übermüdet sein. »Setz dich an den Herd, während ich dein Abendbrot richte«, sagte sie. Schwerfällig ließ er sich nieder. »War's sehr kalt? Willst du eine Tasse Ingwertee? Ich habe ihn zur Hand.«
»Nein, nein. – Ja, kalt war's schon, auf der langen Fahrt.«
Sie deckte für ihn auf und warf ihm mitleidige Blicke zu, da er die Hände immer noch nahe dem Feuer rieb.
»Diese Fahrten sind schon zu anstrengend für dich«, sagte sie.
»Ja, man wird alt. Alt. – Und wie geht es dir?« fragte er unvermittelt.
»Oh, mir geht's ganz gut.« Jetzt mußte die Frage nach Narzissa kommen! Doch sein Kopf sank noch tiefer und er blieb still.
Sie hatte das Abendbrot auf den Tisch gestellt. »Alles ist bereit«, sprach sie, doch er saß immer noch vor dem Feuer und machte keine Bewegung. Er mußte wirklich erschöpft sein, so hatte sie ihn nie zuvor gesehen. »Willst du vielleicht lieber gleich am Herd essen?« schlug sie vor. Ein paar Augenblicke gab er keine Antwort, dann rührte er sich plötzlich, als hätten ihn ihre Worte erst jetzt erreicht.
»Nein, nein«, antwortete er in seiner fahrigen Art, nur viel matter als sonst. »Ich komme schon zum Tisch.« Wie ein ganz alter Mann schlurfte er zu seinem Stuhl. Sie rückte die Teller zurecht, aber sie vermied es, sich auf ihren Platz zu setzen, damit nicht Narzissas leerer Stuhl zwischen ihnen gähnen sollte.
Er zerteilte seine gebratene Kartoffel, nahm ein wenig Fleisch und Saft, doch er aß nichts. Er beobachtete sie, so oft er meinte, daß sie es nicht bemerkte. Plötzlich legte er Messer und Gabel fort.
»Nun, besser vielleicht, ich sage es gleich.« Er wollte etwas sagen? Was konnte er ihr zu sagen haben? Naomi stand abwartend neben dem Tisch. »Kann nichts essen, an nichts anderes denken, ehe es nicht gesagt ist.« Oh, er hatte offenbar in der Stadt davon gehört! Naomi setzte sich zum Tisch, Narzissas Stuhl stand leer zwischen ihnen.
»Brauchst mir gar nichts zu sagen«, sprach sie.
Seine Hände hielten sich an den Ecken des Tisches, er neigte sich ein wenig vornüber.
»Brauch' dir nichts zu sagen?«
»Brauchst mir nichts zu sagen,« wiederholte sie, »ich weiß alles.«
»Alles? – Nein, nichts weißt du.«
»Narzissa ist fort«, sagte sie.
»Ja.«
»Mit Tony.«
»Nein.« Hatte sein Verstand gelitten? Pendelte deshalb sein Kopf so krampfhaft zitternd vor und zurück? Naomi wartete, bis sich seine Erregung gelegt hätte. »Sie ist mit Schwester Waite fortgegangen«, sagte Caleb.
Sie starrte ihn an. Er wußte offenbar nicht, was er sprach. Er hatte irgend etwas gehört und brachte jetzt alles durcheinander. Natürlich, so war es! Warum aber fühlte jetzt sie tief in ihrem Innern das gleiche krampfhafte Zittern? Sie mußte dem gleich auf den Grund gehen!
»Sie ist mit Tony zusammengekommen.«
»Ich weiß.«
»Sie glaubte, ich wüßte nichts davon.«
»Ich weiß.«
»Ich aber habe es gewußt.«
»Ich weiß.«
Warum sagte er immerfort ›ich weiß, ich weiß …‹, wenn er doch alles ganz falsch wußte?
»Sie ging von hier fort, um Tony zu treffen, mit ihm getraut zu werden, mit ihm nach dem Westen zu ziehen.«
»Ich weiß.«
»Weiß … weiß …«, wiederholte sie, ihm fast ins Gesicht schreiend.
»Aber … du wirst es überwinden müssen, Naomi. Ich weiß, daß du es dir anders gedacht hast. Sie hat im letzten Augenblick ihren Entschluß geändert. Sie …« Er langte nach seiner Tasche, im Begriff, ein Papier hervorzuholen, zog die Hand aber schnell wieder zurück. »Nein, nein. Das sollst du nicht lesen …«
»Gib her!« Sie war aufgesprungen und stand neben ihm.
»Der Brief ist für mich.«
»Gib ihn mir, bevor ich mir ihn selbst nehme! Gib ihn mir sofort! Her damit!«
Schon hatte sie das Papier aus seiner Tasche gerissen, während er noch wimmerte:
»Ich wollte es ja nicht tun. Sie hat es nicht so haben wollen. Es ist zu grausam für dich. Lies ihn nicht … Ich will dir alles sagen …«
Doch Naomi hatte das Papier schon entfaltet und zu lesen begonnen:
Liebster Vater. Ich werde Dich nicht mehr sehen. Vielleicht für eine lange Zeit nicht mehr. Ich hatte eine große Versuchung zu überwinden und war nahe daran etwas zu tun, was Du nicht gut geheißen hättest und was ich selbst als Unrecht empfand. Dann, im letzten Augenblick, erfuhr ich etwas … etwas, wovon ich nichts hätte wissen sollen. Ich erfuhr, daß man mir eine Falle gestellt hatte, daß meine eigene … daß jemand, der mir sehr nahe steht, der mich hätte schützen sollen, ihm schlechte Gedanken über mich eingeflößt hat, so daß er meinen konnte … Nein, ich kann es Dir nicht erklären, Vater. Ich schäme mich zu sehr.
Ich wußte nicht, wohin ich gehen sollte. Nie mehr kann ich nach Hause. Ich lief zu Frau Allen. Und als Schwester Sylvia sah, in welchem Zustand ich war, umarmte sie mich und sagte, sie wolle nunmehr meine Mutter sein und mich mitnehmen. Oh, sie war gut zu mir, Vater, so gut.
So reise ich heute mit ihr im Mittagszug, statt gestern nacht in die andere Richtung gefahren zu sein.
Aber ohne Deine Erlaubnis kann ich nicht aus dem Lande. Willst Du sie mir nachsenden an beiliegende Adresse in New York? Du mußt, Vater, selbst wenn Du keine andere Begründung dafür weißt, als daß ich zu Hause nicht mehr sicher bin, weil Böses gegen mich geschmiedet wird.
Ich will mein Leben dem Heiland weihen. Willst Du mir helfen, Vater? Auch mit Geld? Kannst Du das? Ich will es Dir bald zurückzahlen.
Es ist mir schrecklich, wegzugehen und Dich zu verlassen. Es gibt vieles, Vater, worüber ich nicht sprechen kann, doch eines muß ich Dir sagen, niemals hatte ein Mädchen einen besseren Vater. Und dann muß ich Dir noch sagen, daß niemals ein Mädchen ihren Vater inniger geliebt hat. Ich liebe Dich mehr als irgend jemanden auf der Welt. Denk' immer daran, Vater!
Deine getreue Tochter
Narzissa