Johann Wolfgang von Goethe
Kurze Schriften zu Kunst und Literatur 1792 - 1797
Johann Wolfgang von Goethe

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Über Laokoon

Inhalt

Kunst und Naturwerke sind unaussprechlich – Bei einem trefflichen Kunstwerke ist nötig, von der ganzen Kunst zu reden – Beschäftigung der hohen Künste mit dem Menschen – Erfordernisse eines hohen Kunstwerks – Organisation und Leben – Charakter – Ruhe oder Bewegung – Ideal – Anmut – Schönheit – Laokoon erfüllt jene Bedingungen – Geschlossenheit des Gegenstandes – Entkleidung von allem Fremden – Darstellung des Moments – Zustand der drei Figuren – Stellung des Vaters aus physischer Ursache erklärt – Geistige Einwirkung – Die sämtlichen Teile der Gruppe – Doppelte Handlung aller Figuren – Gipfel des Moments – Augenblick nachher – Allgemeine Betrachtung und Wiederholung – Verhältnis des Gegenstandes zur Poesie.

 

Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unsern Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, vielweniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden. Was also hier über Laokoon gesagt ist, hat keinesweges die Anmaßung diesen Gegenstand zu erschöpfen, es ist mehr bei Gelegenheit dieses trefflichen Kunstwerks als über dasselbe geschrieben. Möge dieses bald wieder so aufgestellt sein, daß jeder Liebhaber sich daran freuen und darüber nach seiner Art reden könne.

Wenn man von einem trefflichen Kunstwerke sprechen will, so ist es fast nötig von der ganzen Kunst zu reden, denn es enthält sie ganz, und jeder kann, soviel in seinen Kräften steht, auch das Allgemeine aus einem solchen besondern Fall entwickeln; deswegen sei hier auch etwas Allgemeines vorausgeschickt.

Alle hohe Kunstwerke stellen die menschliche Natur dar, die bildenden Künste beschäftigen sich besonders mit dem menschlichen Körper; wir reden gegenwärtig nur von diesen. Die Kunst hat viele Stufen, auf jeder derselben können vorzügliche Künstler erscheinen, ein vollkommenes Kunstwerk aber begreift alle Eigenschaften, die sonst nur einzeln ausgeteilt sind.

Die höchsten Kunstwerke, die wir kennen, zeigen uns:

Lebendige, hochorganisierte Naturen. Man erwartet vor allem Kenntnis des menschlichen Körpers in seinen Teilen, Maßen, innern und äußern Zwecken, Formen und Bewegungen im allgemeinen.

Charaktere. Kenntnis des Abweichens dieser Teile in Gestalt und Wirkung. Eigenschaften sondern sich ab und stellen sich einzeln dar; hierdurch entstehen die Charaktere, und es können die verschiedenen Kunstwerke dadurch in ein bedeutendes Verhältnis gegen einander gebracht werden, so wie auch, wenn ein Werk zusammengesetzt ist, seine Teile sich bedeutend gegen einander verhalten können. Der Gegenstand ist:

In Ruhe oder Bewegung. Ein Werk oder seine Teile können entweder für sich bestehend, ruhig ihr bloßes Dasein anzeigend, oder auch bewegt, wirkend, leidenschaftlich ausdrucksvoll dargestellt werden.

Ideal. Um hierzu zu gelangen, bedarf der Künstler eines tiefen, gründlichen, ausdauernden Sinnes, zu dem aber noch ein hoher Sinn sich gesellen muß, um den Gegenstand in seinem ganzen Umfange zu übersehen, den höchsten darzustellenden Moment zu finden, und ihn also aus seiner beschränkten Wirklichkeit herauszuheben, und ihm in einer idealen Welt Maß, Grenze, Realität und Würde zu geben.

Anmut. Der Gegenstand aber und die Art ihn vorzustellen, sind den sinnlichen Kunstgesetzen unterworfen, nämlich der Ordnung, Faßlichkeit, Symmetrie, Gegenstellung etc. wodurch er für das Auge schön, das heißt, anmutig wird.

Schönheit. Ferner ist er dem Gesetz der geistigen Schönheit unterworfen, die durch das Maß entsteht, welchem der, zur Darstellung oder Hervorbringung des Schönen, gebildete Mensch alles, sogar die Extreme, zu unterwerfen weiß.

Nachdem ich die Bedingungen, welche wir von einem hohen Kunstwerke fodern, zum voraus angegeben habe, so kann ich mit wenigen Worten viel sagen, wenn ich behaupte, daß unsere Gruppe sie alle erfüllt, ja daß man sie aus derselben allein entwickeln könne.

Conrad Horny (?)
Laokoon-Gruppe
Wohl nach Weimarer Abguß mit
alten Ergänzungen (so Goethe bekannt)
Kupferstich, um 1797
Johann Christian Ernst (?) Müller

Man wird mir den Beweis erlassen, daß sie Kenntnis des menschlichen Körpers, daß sie das charakteristische an demselben, so wie Ausdruck und Leidenschaft zeige. Wie hoch und ideal der Gegenstand gefaßt sei, wird sich aus dem folgenden ergeben; daß man das Werk schön nennen müsse, wird wohl niemand bezweifeln, welcher das Maß erkennt, womit das Extrem eines physischen und geistigen Leidens hier dargestellt ist.

Hingegen wird manchem paradox scheinen, wenn ich behaupte, daß diese Gruppe auch zugleich anmutig sei. Hierüber also nur einige Worte.

Jedes Kunstwerk muß sich als ein solches anzeigen, und das kann es allein durch das, was wir sinnliche Schönheit oder Anmut nennen. Die Alten, weit entfernt von dem modernen Wahne, daß ein Kunstwerk dem Scheine nach wieder ein Naturwerk werden müsse, bezeichneten ihre Kunstwerke als solche, durch gewählte Ordnung der Teile, sie erleichterten dem Auge die Einsicht in die Verhältnisse durch Symmetrie, und so ward ein verwickeltes Werk faßlich. Durch eben diese Symmetrie und durch Gegenstellungen wurden in leisen Abweichungen die höchsten Kontraste möglich. Die Sorgfalt der Künstler, mannigfaltige Massen gegen einander zu stellen, besonders die Extremitäten der Körper bei Gruppen gegen einander in eine regelmäßige Lage zu bringen, war äußerst überlegt und glücklich, so daß ein jedes Kunstwerk, wenn man auch von dem Inhalt abstrahiert, wenn man in der Entfernung auch nur die allgemeinsten Umrisse sieht, noch immer dem Auge als ein Zierrat erscheint. Die alten Vasen geben uns hundert Beispiele einer solchen anmutigen Gruppierung, und es würde vielleicht möglich sein, stufenweise von der ruhigsten Vasengruppe bis zu der höchst bewegten des Laokoons, die schönsten Beispiele einer symmetrisch künstlichen, den Augen gefälligen Zusammensetzung, darzulegen. Ich getraue mir daher nochmals zu wiederholen: daß die Gruppe des Laokoons, neben allen übrigen anerkannten Verdiensten, zugleich ein Muster sei von Symmetrie und Mannigfaltigkeit, von Ruhe und Bewegung, von Gegensätzen und Stufengängen, die sich zusammen, teils sinnlich teils geistig, dem Beschauer darbieten, bei dem hohen Pathos der Vorstellung eine angenehme Empfindung erregen, und den Sturm der Leiden und Leidenschaft durch Anmut und Schönheit mildern.

Es ist ein großer Vorteil für ein Kunstwerk, wenn es selbstständig, wenn es geschlossen ist. Ein ruhiger Gegenstand zeigt sich bloß in seinem Dasein, er ist also durch und in sich selbst geschlossen. Ein Jupiter mit einem Donnerkeil im Schoß, eine Juno, die auf ihrer Majestät und Frauenwürde ruht, eine in sich versenkte Minerva, sind Gegenstände, die gleichsam nach außen keine Beziehung haben; sie ruhen auf und in sich und sind die ersten, liebsten Gegenstände der Bildhauerkunst. Aber in dem herrlichen Zirkel des mythischen Kunstkreises, in welchem diese einzelnen selbstständigen Naturen stehen und ruhen, gibt es kleinere Zirkel, wo die einzelnen Gestalten in Bezug auf andere gedacht und gearbeitet sind, z. E. die neun Musen, mit ihrem Führer Apoll, ist jede für sich gedacht und ausgeführt, aber in dem ganzen mannigfaltigen Chor wird sie noch interessanter. Geht die Kunst zum leidenschaftlich bedeutenden über, so kann sie wieder auf dieselbe Weise handeln; sie stellt uns entweder einen Kreis von Gestalten dar, die unter einander einen leidenschaftlichen Bezug haben, wie Niobe mit ihren Kindern, verfolgt von Apoll und Diana; oder sie zeigt uns in Einem Werke die Bewegung zugleich mit ihrer Ursache. Wir gedenken hier nur des anmutigen Knaben, der sich den Dorn aus dem Fuße zieht, der Ringer, zweier Gruppen von Faunen und Nymphen in Dresden, und der bewegten herrlichen Gruppe des Laokoons.

Die Bildhauerkunst wird mit Recht so hoch gehalten, weil sie die Darstellung auf ihren höchsten Gipfel bringen kann und muß, weil sie den Menschen von allem, was ihm nicht wesentlich ist, entblößt. Sie ist auch bei dieser Gruppe, Laokoon ein bloßer Name; von seiner Priesterschaft, von seinem trojanisch-nationellen, von allem poetischen und mythologischen Beiwesen haben ihn die Künstler entkleidet, er ist nichts von allem, wozu ihn die Fabel macht, es ist ein Vater mit zwei Söhnen, in Gefahr zwei gefährlichen Tieren unterzuliegen. So sind auch hier keine göttergesandte, sondern bloß natürliche Schlangen, mächtig genug einige Menschen zu überwältigen, aber keineswegs, weder in ihrer Gestalt noch Handlung, außerordentliche, rächende, strafende Wesen, Ihrer Natur gemäß schleichen sie heran, umschlingen, schnüren zusammen, und die eine beißt erst gereizt. Sollte ich diese Gruppe, wenn mir keine weitere Deutung derselben bekannt wäre, erklären; so würde ich sie eine tragische Idylle nennen. Ein Vater schlief neben seinen beiden Söhnen, sie wurden von Schlangen umwunden und streben nun erwachend, sich aus dem lebendigen Netze loszureißen.

Äußerst wichtig ist dieses Kunstwerk durch die Darstellung des Moments. Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender Moment gewählt sein; kurz vorher darf kein Teil des Ganzen sich in dieser Lage befunden haben, kurz hernach muß jeder Teil genötigt sein, diese Lage zu verlassen, dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig sein.

Um die Intention des Laokoons recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossnen Augen, davor, man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke da sie gegen das Ufer anströmt. Dieselbe Wirkung entsteht, wenn man die Gruppe Nachts bei der Fackel sieht.

Der Zustand der drei Figuren ist mit der höchsten Weisheit stufenweise dargestellt, der älteste Sohn ist nur an den Extremitäten verstrickt, der zweite öfters umwunden, besonders ist ihm die Brust zusammengeschnürt, durch die Bewegung des rechten Arms sucht er sich Luft zu machen, mit der linken drängt er sanft den Kopf der Schlange zurück, um sie abzuhalten, daß sie nicht noch einen Ring um die Brust ziehe, sie ist im Begriff unter der Hand wegzuschlüpfen, keinesweges aber beißt sie. Der Vater hingegen will sich und die Kinder von diesen Umstrickungen mit Gewalt befreien, er preßt die andere Schlange, und diese, gereizt, beißt ihn in die Hüfte.

Um die Stellung des Vaters sowohl im Ganzen als nach allen Teilen des Körpers, zu erklären, scheint es mir am vorteilhaftesten, das augenblickliche Gefühl der Wunde als die Hauptursache der ganzen Bewegung anzugeben. Die Schlange hat nicht gebissen, sondern sie beißt, und zwar in den weichen Teil des Körpers, über und etwas hinter der Hüfte. Die Stellung des restaurierten Kopfes der Schlange hat den eigentlichen Biß nie recht angegeben, glücklicherweise haben sich noch die Reste der beiden Kinnladen, an dem hintern Teil der Statue erhalten, wenn nur nicht diese höchst wichtigen Spuren bei der jetzigen traurigen Veränderung auch verloren gehen! Die Schlange bringt dem unglücklichen Manne eine Wunde an dem Teile bei, wo der Mensch gegen jeden Reiz sehr empfindlich ist, wo sogar ein geringer Kitzel jene Bewegung hervorbringt, welche wir hier durch die Wunde bewirkt sehen: der Körper flieht auf die entgegengesetzte Seite, der Leib zieht sich ein, die Schulter drängt sich herunter, die Brust tritt hervor, der Kopf senkt sich nach der berührten Seite; da sich nun noch in den Füßen, die gefesselt, und in den Armen, die ringend sind, der Überrest der vorhergehenden Situation oder Handlung zeigt, so entsteht eine Zusammenwirkung von Streben und Fliehen, von Wirken und Leiden, von Anstrengen und Nachgeben, die vielleicht unter keiner andern Bedingung möglich wäre. Man verliert sich in Erstaunen über die Weisheit der Künstler, wenn man versucht den Biß an einer andern Stelle anzubringen, die ganze Gebärde würde verändert sein, und auf keine Weise ist sie schicklicher denklich. Es ist also dieses ein Hauptsatz: der Künstler hat uns eine sinnliche Wirkung dargestellt, er zeigt uns auch die sinnliche Ursache. Der Punkt des Bisses, ich wiederhole es, bestimmt die gegenwärtigen Bewegungen der Glieder; das Fliehen des Unterkörpers, das Einziehen des Leibes, das Hervorstreben der Brust, das Niederzucken der Achsel, und des Hauptes, ja alle die Züge des Angesichts seh ich durch diesen augenblicklichen, schmerzlichen, unerwarteten Reiz entschieden.

Fern aber sei es von mir, daß ich die Einheit der menschlichen Natur trennen, daß ich den geistigen Kräften dieses herrlich gebildeten Mannes ihr Mitwirken ableugnen, daß ich das Streben und Leiden einer großen Natur verkennen sollte. Angst, Furcht, Schrecken, väterliche Neigung scheinen auch mir sich durch diese Adern zu bewegen, in dieser Brust aufzusteigen, auf dieser Stirn sich zu furchen, gern gesteh ich, daß mit dem sinnlichen auch das geistige Leiden hier auf der höchsten Stufe dargestellt sei, nur trage man die Wirkung, die das Kunstwerk auf uns macht, nicht zu lebhaft auf das Werk selbst über, besonders sehe man keine Wirkung des Gifts, bei einem Körper, den erst im Augenblicke die Zähne der Schlange ergreifen, man sehe keinen Todeskampf bei einem herrlichen, strebenden, gesunden, kaum verwundeten Körper. Hier sei mir eine Bemerkung erlaubt, die für die bildende Kunst von Wichtigkeit ist; der höchste pathetische Ausdruck, den sie darstellen kann, schwebt auf dem Übergänge eines Zustandes in den andern. Man sehe ein lebhaftes Kind, das mit aller Energie und Lust des Lebens rennt, springt und sich ergötzt, dann aber etwa unverhofft von einem Gespielen hart getroffen oder sonst physisch oder moralisch heftig verletzt wird; diese neue Empfindung teilt sich wie ein elektrischer Schlag allen Gliedern mit, und ein solcher Übersprung ist im höchsten Sinne pathetisch, es ist ein Gegensatz, von dem man ohne Erfahrung keinen Begriff hat. Hier wirkt nun offenbar der geistige sowohl als der physische Mensch. Bleibt alsdann bei einem solchem Übergange noch die deutliche Spur vom vorhergehenden Zustande, so entsteht der herrlichste Gegenstand für die bildende Kunst, wie beim Laokoon der Fall ist, wo Streben und Leiden in Einem Augenblick vereinigt sind. So würde z. B. Euridice, die im Moment, da sie mit gesammelten Blumen fröhlich über die Wiese geht, von einer getretnen Schlange in die Ferse gebissen wird, eine sehr pathetische Statue machen, wenn nicht allein durch die herabfallenden Blumen, sondern durch die Richtung aller Glieder und das Schwanken der Falten, der doppelte Zustand des fröhlichen Vorschreitens und des schmerzlichen Anhaltens ausgedrückt werden könnte.

Wenn wir nun die Hauptfigur in diesem Sinne gefaßt haben, so können wir auf die Verhältnisse, Abstufungen und Gegensätze sämtlicher Teile des ganzen Werkes mit einem freien und sichern Blicke hinsehen.

Der gewählte Gegenstand ist einer der glücklichsten, die sich denken lassen. Menschen mit gefährlichen Tieren im Kampfe, und zwar mit Tieren, die nicht als Massen oder Gewalten, sondern als ausgeteilte Kräfte wirken, nicht von Einer Seite drohen, nicht einen zusammengefaßten Widerstand fordern, sondern die nach ihrer ausgedehnten Organisation fähig sind, drei Menschen, mehr oder weniger, ohne Verletzung zu paralisieren. Durch dieses Mittel der Lähmung wird, bei der großen Bewegung, über das Ganze schon eine gewisse Ruhe und Einheit verbreitet. Die Wirkungen der Schlangen sind stufenweise angegeben. Die eine umschlingt nur, die andre wird gereizt, und verletzt ihren Gegner. Die drei Menschen sind gleichfalls äußerst weise gewählt: Ein starker, wohlgebauter Mann, aber schon über die Jahre der größten Energie hinaus, weniger fähig Schmerz und Leiden zu widerstehen. Man denke sich an seiner Statt einen rüstigen Jüngling, und die Gruppe wird ihren ganzen Wert verlieren! Mit ihm leiden zwei Knaben, die, selbst dem Maße nach, gegen ihn klein gehalten sind; abermals zwei Naturen empfänglich für Schmerz.

Der Jüngere strebt ohnmächtig, er ist geängstigt aber nicht verletzt; der Vater strebt mächtig aber unwirksam, vielmehr bringt sein Streben die entgegengesetzte Wirkung hervor. Er reizt seinen Gegner und wird verwundet. Der älteste Sohn ist am leichtesten verstrickt; er fühlt weder Beklemmung noch Schmerz, er erschrickt über die augenblickliche Verwundung und Bewegung seines Vaters, er schreit auf, indem er das Schlangenende von dem einen Fuß abzustreifen sucht, hier ist also noch ein Beobachter, Zeuge und Teilnehmer bei der Tat, und das Werk ist abgeschlossen.

Was ich schon im Vorbeigehen berührt habe, will ich hier noch besonders bemerken: daß alle drei Figuren eine doppelte Handlung äußern, und so höchst mannigfaltig beschäftigt sind. Der jüngste Sohn will sich durch die Erhöhung des rechten Arms Luft machen, und drängt mit der linken Hand den Kopf der Schlange zurück, er will sich das gegenwärtige Übel erleichtern, und das größere verhindern; der höchste Grad von Tätigkeit, der ihm in seiner gefangenen Lage nach übrig bleibt. Der Vater strebt sich von den Schlangen loszuwinden, und der Körper flieht zugleich vor dem augenblicklichen Bisse. Der älteste Sohn entsetzt sich vor der Bewegung des Vaters, und sucht sich von der leicht umwindenden Schlange zu befreien.

Schon oben ist der Gipfel des vorgestellten Augenblicks als ein großer Vorzug dieses Kunstwerks gerühmt, und hier ist noch besonders davon zu sprechen.

Wir nahmen an, daß natürliche Schlangen einen Vater mit seinen Söhnen im Schlaf umwunden, damit wir bei Betrachtung der Momente eine Steigerung vor uns sähen. Die ersten Augenblicke des Umwindens im Schlafe sind ahndungsvoll, aber für die Kunst unbedeutend. Man könnte vielleicht einen schlafenden jungen Herkules bilden, wie er von Schlangen umwunden wird, dessen Gestalt und Ruhe uns aber zeigte, was wir von seinem Erwachen zu erwarten hätten.

Gehen wir nun weiter und denken uns den Vater, der sich mit seinen Kindern, es sei nun wie es sei, von Schlangen umwunden fühlt, so gibt es nur Einen Moment des höchsten Interesse: wenn der eine Körper durch die Umwindung wehrlos gemacht ist, wenn der andere zwar wehrhaft aber verletzt ist, und dem dritten eine Hoffnung zur Flucht übrig bleibt. In dem ersten Falle ist der jüngere Sohn, im zweiten der Vater, im dritten der ältere Sohn. Man versuche noch einen andern Fall zu finden! man suche die Rollen anders, als sie hier ausgeteilt sind, zu verteilen!

Denken wir nun die Handlung vom Anfang herauf und erkennen, daß sie gegenwärtig auf dem höchsten Punkt steht, so werden wir, wenn wir die nächstfolgenden und fernern Momente bedenken, sogleich gewahr werden, daß sich die ganze Gruppe verändern muß, und daß kein Augenblick gefunden werden kann, der diesem an Kunstwert gleich sei. Der jüngste Sohn wird entweder von der umwindenden Schlange erstickt, oder, wenn er sie reizen sollte, in seinem völlig hülflosen Zustande, noch gebissen. Beide Fälle sind unerträglich, weil sie ein letztes sind, das nicht dargestellt werden soll. Was den Vater betrifft, so wird er entweder von der Schlange noch an andern Teilen gebissen, wodurch die ganze Lage seines Körpers sich verändern muß, und die ersten Bisse für den Zuschauer entweder verloren gehen, oder wenn sie angezeigt werden sollten, ekelhaft sein würden; oder die Schlange kann auch sich umwenden, und den ältesten Sohn anfallen, dieser wird alsdann auf sich selbst zurückgeführt, die Begebenheit verliert ihren Teilnehmer, der letzte Schein von Hoffnung ist aus der Gruppe verschwunden, es ist keine tragische, es ist eine grausame Vorstellung. Der Vater, der jetzt in seiner Größe, und in seinem Leiden auf sich ruht, müßte sich gegen den Sohn wenden, er würde teilnehmende Nebenfigur.

Der Mensch hat bei eignen und fremden Leiden nur drei Empfindungen, Furcht, Schrecken, und Mitleiden, das bange Voraussehen eines sich annähernden Übels, das unerwartete Gewahrwerden gegenwärtigen Leidens und die Teilnahme am dauernden oder vergangenen, alle drei werden durch dieses Kunstwerk dargestellt und erregt und zwar in den gehörigsten Abstufungen.

Die bildende Kunst, die immer für den Moment arbeitet, wird, sobald sie einen pathetischen Gegenstand wählt, denjenigen ergreifen, der Schrecken erweckt, da hingegen Poesie sich an solche hält, die Furcht und Mitleiden erregen. Bei der Gruppe des Laokoons erregt das Leiden des Vaters Schrecken und zwar im höchsten Grad, an ihm hat die Bildhauerkunst ihr höchstes getan; allein, teils um den Zirkel aller menschlichen Empfindungen zu durchlaufen, teils um den heftigen Eindruck des Schreckens zu mildern, erregt sie Mitleiden für den Zustand des jüngern Sohns, und Furcht für den ältern, indem sie für diesen auch noch Hoffnung übrig läßt. So brachten die Künstler, durch Mannigfaltigkeit, ein gewisses Gleichgewicht in ihre Arbeit, milderten und erhöhten Wirkung durch Wirkungen, und vollendeten sowohl ein geistiges als ein sinnliches Ganze.

Genug wir dürfen kühnlich behaupten, daß dieses Kunstwerk seinen Gegenstand erschöpfe, und alle Kunstbedingungen glücklich erfülle. Es lehrt uns: daß, wenn der Meister sein Schönheitsgefühl ruhigen und einfachen Gegenständen einflößen kann, sich doch eigentlich dasselbe in seiner höchsten Energie und Würde zeige, wenn es bei Bildung mannigfaltiger Charaktere seine Kraft beweist, und die leidenschaftlichen Ausbrüche der menschlichen Natur, in der Kunstnachahmung, zu mäßigen und zu bändigen versteht. Wir geben in der Folge wohl eine genauere Beschreibung der Statuen, welche unter dem Namen der Familie der Niobe bekannt sind, so wie auch der Gruppe des farnesischen Stiers, sie gehören unter die wenigen pathetischen Darstellungen, welche uns von alter Skulptur übrig geblieben sind.

Gewöhnlich haben sich die Neuern bei der Wahl solcher Gegenstände vergriffen. Wenn Milo, mit beiden Händen in einer Baumspalte gefangen, von einem Löwen angefallen wird, so wird die Kunst sich vergebens bemühen, daraus ein Werk zu bilden, das eine reine Teilnahme erregen könnte. Ein doppelter Schmerz, eine vergebliche Anstrengung, ein hülfloser Zustand, ein gewisser Untergang können nur Abscheu erregen, wenn sie nicht ganz kalt lassen.

Und noch zuletzt nur noch ein Wort über das Verhältnis des Gegenstandes zur Poesie.

Man ist höchst ungerecht gegen Virgilen und die Dichtkunst, wenn man das geschlossenste Meisterwerk der Bildhauerarbeit, mit der episodischen Behandlung in der Aeneis, auch nur einen Augenblick vergleicht. Da einmal der unglückliche vertriebene Aeneas selbst erzählen soll, daß er und seine Landsleute die unverzeihliche Torheit begangen haben, das bekannte Pferd in ihre Stadt zu führen, so muß der Dichter nur darauf denken, wie die Handlung zu entschuldigen sei? Alles ist auch darauf angelegt, und die Geschichte des Laokoons steht hier als ein rhetorisches Argument, bei dem eine Übertreibung, wenn sie nur zweckmäßig ist, gar wohl gebilligt werden kann. So kommen ungeheure Schlangen aus dem Meere, mit Kämmen auf dem Haupte, eilen auf die Kinder des Priesters, der das Pferd verletzt hatte, umwickeln sie, beißen sie, begeifern sie; umwinden, umschlingen darauf Brust und Hals des zu Hülfe eilenden Vaters, und ragen mit ihren Köpfen triumphierend hoch empor, indem der Unglückliche unter ihren Windungen vergebens um Hülfe schreit. Das Volk entsetzt sich und flieht beim Anblick, niemand wagt es mehr ein Patriot zu sein, und der Zuhörer, durch die abenteuerliche und ekelhafte Geschichte erschreckt, gibt denn auch gern zu, daß das Pferd in die Stadt gebracht werde.

So steht also die Geschichte Laokoons im Virgil bloß als Mittel zu einem höhern Zwecke, und es ist noch eine große Frage, ob die Begebenheit an sich ein poetischer Gegenstand sei?

 


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