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XIX

Acht Tage nach dem frohen Ereignis kehrte die frühere Ordnung im Hause wieder ein. Wikentjews Mutter war auf ihr Gut zurückgekehrt, und der junge Wikentjew war nun täglicher Gast im Hause und wurde fast ganz als Familienmitglied behandelt. Er und Marfinka hüpften jetzt nicht mehr umher. Beide waren zurückhaltend und disputierten zuweilen nur etwas lebhaft oder sangen oder lasen zusammen.

Es bestand zwischen ihnen jedoch kein sentimentaler, poetischer Gefühlsaustausch, kein feingeistiger, erlesener Gedankenverkehr mit seiner ewigen Abwechslung, seinem bunten Phantasiespiel – kurz, es fehlten jene köstlichen, unerschöpflichen geistigen Genüsse, wie die Liebe sie nur hochentwickelten Menschen zuteil werden läßt.

Auch der Geist der Analyse blieb ihren Herzensbeziehungen fern. Ihren Bedarf an geistiger Anregung entnahmen sie den Erzählungen, die sie gemeinsam lasen, den Neuigkeiten, die aus der Residenz zu ihnen drangen, und den flüchtigen Eindrücken, die die sie umgebende Natur und Menschenwelt auf sie ausübten.

Eine frische, unmittelbare, unverhüllte Poesie sprudelte wie ein lebendiger Quell in der jugendlichen Unverdorbenheit ihrer jungen, reinen Herzen.

Keine Ferne lockte sie, kein Nebel, keine Rätsel waren für sie vorhanden. Klar und einfach lag die beiden gemeinsame Perspektive vor ihnen. Nur eng war der Horizont ihrer Beobachtungen und Gefühle.

Marfinka hielt sich die Ohren zu oder ging aus dem Zimmer, sobald Wikentjew in seinen Gefühlsäußerungen über die Grenzen der gewohnten Ausdrucksweise hinausging und von der Liebe im Stil der Romane und Novellen sprach.

Ihr Verkehr trug den Stempel der Einfachheit und Natürlichkeit, wie die Natur sie vorschrieb und wie sie auch der lauteren Moral der Großtante entsprach. Nicht einen Kuß gab ihm Marfinka bis zum Tage der Hochzeit, nicht eine Zärtlichkeit mehr durfte er sich gegen früher erlauben, und wenn er ihr einen Kuß stahl, so betrachtete sie das als eine Vermessenheit und drohte ihm, sofort wegzugehen oder es Tantchen zu sagen.

Dabei überließ sie ihm jedoch unbewußt ihren Arm, wenn er ihn einfach ohne weitere verliebte Präludien nahm, ja sie hing sich sogar selbst in den seinen, stützte sich vertraulich auf seine Schulter, ließ sich von ihm über eine Pfütze tragen und fuhr ihm sogar kosend mit der Hand durchs Haar oder nahm Kamm und Bürste, trat ganz nahe an ihn heran, daß ihre Köpfe sich berührten, kämmte ihn, machte ihm einen Scheitel und salbte sein Haar gelegentlich mit Pomade ein.

Sobald er sie jedoch bei einer solchen Gelegenheit um die Taille faßte oder sie küßte, wurde sie rot, warf ihm den Kamm an den Kopf und ging davon.

Die Hochzeit war aus irgendwelchen wirtschaftlichen Erwägungen von Tatjana Markowna auf den Herbst verlegt worden, und im Haus begann man nun mit der Herrichtung der Ausstattung. Aus den Vorratskammern wurden die alten Spitzen hervorgeholt, das alte Familiensilber wurde herausgesucht, die Goldsachen, die Perlen und Brillanten, das kostbare Geschirr, das Pelzwerk, die Wäsche und sonstigen Wertdinge in zwei gleiche Teile geteilt.

Mit der Akkuratesse eines Juweliers bestimmte Tatjana Markowna die Karate und Lote, wog die Perlen und zog Juweliere, Goldarbeiter und sonstige Fachleute zur Begutachtung heran.

»Sieh her, Werotschka – das gehört dir, und das hier Marfinka. Nicht eine Schnur Perlen, nicht ein Karat Gold soll die eine mehr haben als die andere. Seht beide her!«

Doch Wera sah nicht hin. Sie schob den für sie bestimmten Haufen von Perlen und Brillanten mit Marfinkas Haufen zusammen und erklärte, daß sie nur ganz wenig von dem Zeug brauche. Die Großtante wurde böse und begann alles von neuem herauszusuchen und zu teilen.

Raiskij hatte sich von seinem ehemaligen Vormund die von seiner Mutter geerbten Brillanten und Silbersachen schicken lassen und sie den beiden Schwestern geschenkt. Aber die Großtante vergrub diese Schätze in den Tiefen ihrer Truhen – bis zu gelegener Zeit, wie sie sagte.

»Du wirst sie selbst noch einmal brauchen«, meinte sie. »Vielleicht kommst du doch noch einmal auf den Einfall, zu heiraten.«

Er ließ auch eine Urkunde darüber ausstellen, daß er das Haus samt dem Grundbesitz und dem Dorf den beiden Schwestern geschenkt habe, wofür ihm beide, jede auf ihre Weise, ihren Dank abstatteten. Die Großtante brummte, machte ein finsteres Gesicht und sah ihn unzufrieden an. Dann aber konnte sie sich doch nicht halten und schloß ihn in ihre Arme.

»Du bist doch ein ganz ungewöhnlicher Mensch, Borjuschka«, sagte sie, »ganz abscheulich, und doch wieder so lieb! Gott mag wissen, wer du eigentlich bist!«

Im ganzen Hause – in der Mägdestube, im Kabinett der Großtante, selbst im Empfangszimmer und noch in zwei weiteren Räumen waren Tische aufgestellt, an denen Wäsche genäht wurde. Das Paradebett war in Arbeit, desgleichen die Kissen mit den echten Spitzen und die Bettdecken. Ein Heer von Näherinnen und Schneiderinnen war schon vom frühen Morgen an tätig.

Wikentjew nahm Urlaub, um nach Moskau zu fahren und dort Equipagen und Garderobe zu bestellen. Bei dieser Gelegenheit kam Marfinkas Gefühl zum vollen Durchbruch: ganze Bäche von Tränen entströmten ihren Augen, daß Nase und Augen anschwollen und ganz rot wurden. Als Wikentjew sie so sah, weinte er mit – nicht aus Kummer, sondern weil er nach seiner bestimmten Versicherung immer weinen mußte, wenn andere weinten, wie er auch immer lachen mußte, wenn andere lachten. Marfinka blickte ihn durch ihre Tränen hindurch an und hörte plötzlich auf zu weinen.

»Ich will ihn nicht heiraten, Tantchen. Sehen Sie doch, er kann nicht mal so weinen wie andere Menschen! Bei anderen rinnen die Tränen über die Backen, und bei ihm über die Nase – da, sehen Sie doch, gerade an der Spitze hängt eine Träne, so groß wie eine Kirsche!«

Er trocknete rasch seine Tränen.

»Ja, sehen Sie nämlich: bei mir ist da solch eine Rinne, die gerade nach der Nase führt«, sagte er und neigte sich vor, um seiner Braut die Hand zu küssen, doch gab sie sie ihm nicht.

Eine Stunde nach seiner Abfahrt sang sie schon wieder, wie früher, im Garten:

»Du mein herziger Schatz,
Ach, wie liebe ich dich!«

Man brachte Pferde auf den Hof, die Wikentjew irgendwo in einem Gestüt gekauft hatte. Kurz und gut, eine muntere, geschäftige Tätigkeit erfüllte das ganze Haus, und nur Raiskij und Wera merkten nichts davon.

Raiskij hatte für nichts anderes Augen als nur für sie. Er suchte seine Gedanken abzulenken, ritt über die Felder, machte sogar Besuche. Beim Gouverneur lernte er einige Räte, irgendeinen Großgrundbesitzer, einen aus Petersburg herübergeschickten Adjutanten und sonstige Leute kennen; die Unterhaltung drehte sich um das, was in der Petersburger Welt vorging, oder um die Landwirtschaft, um die Pachten. Doch alles das interessierte ihn nicht im geringsten.

Er hatte, wenn auch ungern, Marks Bitte erfüllt und dem Gouverneur gesagt, daß er die beschlagnahmten Bücher mitgebracht und an Bekannte weitergegeben habe, von denen sie dann ins Gymnasium gelangt seien. Die Bücher waren konfisziert und verbrannt worden. Der Gouverneur gab Raiskij den Rat, in Zukunft vorsichtiger zu sein, doch erstattete er nach Petersburg keinen Bericht über die Sache, damit dort nicht erst eine »große Affäre« daraus gemacht würde.

Mark schlich sich einmal nach seiner Gewohnheit zur Nachtzeit quer durch den Garten nach Raiskijs Wohnung, um zu hören, welches Ende die Sache genommen. Er dachte nicht daran, Raiskij für den ihm geleisteten Dienst zu danken, sondern sagte nur, daß sich das so gehört habe und daß er ihm schon eine große Ehre erweise, wenn er ihm etwas so Einfaches und Selbstverständliches zumute. In dem Fall anders zu handeln, sei nur ein Denunziant und Spion imstande.

Seinen Freund Leontij bekam Raiskij nur selten zu Gesicht; er vermied es, ihn zu besuchen. Kam er einmal hin, so empfing ihn Uljana Andrejewna, innerlich triumphierend, mit leidenschaftlichen Blicken und dem heimlichen Lachen in den unbeweglichen Zügen, und die Erinnerung an die Art, wie er großmütig seine Freundespflicht erfüllt hatte, nagte an ihm. Unwillkürlich verfinsterten sich seine Züge, und er entfernte sich, so rasch er konnte.

Sie nahm nun, um ihn anzulocken, zu einem andern Manöver ihre Zuflucht. Sie sagte ihrem Mann, daß sein Freund sie nicht kennen wolle, sie nicht ansehe, als sei sie nichts weiter als ein Stück Möbel, daß er sie mißachte, daß sie das sehr verletzen müsse, und daß er, Leontij, an alledem schuld sei, da er es nicht verstehe, anständige Leute in sein Haus zu ziehen und dafür zu sorgen, daß sie seiner Frau den nötigen Respekt erwiesen.

»Sprich du doch wenigstens mit mir«, klagte sie, »leg deine Bücher beiseite und beschäftige dich mit mir!«

Koslow nahm sich vor, den Wunsch seiner Frau nach Kräften zu erfüllen, und als Raiskij am Abend desselben Tages an seinem Fenster vorüberging, rief er ihn an:

»Komm doch herein, Boris Pawlowitsch, du hast mich ganz vergessen. Auch meine Frau beklagt sich.«

»Worüber beklagt sie sich denn?« fragte Raiskij, als er ins Zimmer trat.

»Sie glaubt, daß du sie mißachtest. Ich sagte ihr: ›Das ist ja Unsinn, er ist gar nicht stolz.‹ Du bist doch nicht stolz, nicht wahr? ›Aber er ist ein Poet‹, sagte ich, ›er hat seine eigenen Ideale – du bist ein Rotkopf, und du gefällst ihm einmal nicht.‹ Sei doch ein bißchen nett zu ihr, Boris Pawlowitsch, besuch sie gelegentlich einmal, wenn ich im Gymnasium bin!«

Raiskij wandte sich von ihm ab und sah zum Fenster hinaus.

»Oder noch besser: komm am Donnerstag- und am Sonnabendabend. An diesen beiden Tagen gebe ich nämlich hier in drei Familien Privatstunden und komme erst gegen Mitternacht nach Hause. Opfere doch einmal einen Abend, unterhalte sie ein bißchen, kokettiere ein wenig mit ihr! Du plauderst doch so gern mit den Weibern, und sie phantasiert nur von dir.«

Raiskij blickte durch das zweite Fenster hinaus.

»Ich selbst versteh mich nicht darauf«, fuhr Leontij fort, »dem Gatten steht das auch nicht so an: ich liebe, du liebst, wir lieben. Dieses ewige Konjugieren hab ich auch schon im Gymnasium über. Ihre ganze Liebe, all ihre Fürsorge, ihr Leben – alles gehört mir.«

Raiskij mußte husten. ›Wie soll ich ihm nur die Sache beibringen?‹ dachte er.

»Ist's wirklich so, Leontij?« fragte er.

»Wie denn sonst?«

»Alle Liebe, sagst du?«

»Ja, natürlich, sie ist sogar auf meine Griechen und Römer eifersüchtig. Sie kann sie nicht leiden, nur lebende Menschen liebt sie!« sagte Koslow mit einem gutmütigen Lächeln. »Diese Weiber sind doch überall und zu allen Zeiten dieselben«, fuhr er fort. »Die römischen Matronen, selbst die Frauen der Cäsaren, der Konsuln und Patrizier hatten immer einen ganzen Schweif von Liebhabern. Ich kann mich ihr leider nicht so widmen, ich habe Beschäftigung genug. Sie sorgt für mich, sie ist mir treu, während ich ihr, offen gestanden« – er dämpfte seine Stimme zum Flüstern – »bisweilen untreu werde und gar nicht weiß, ob sie im Hause ist oder nicht ...«

»Das ist sehr unrecht«, sagte Raiskij.

»Ich habe einfach keine Zeit. Im vorigen Monat zum Beispiel fielen mir zwei deutsche Werke in die Hände, Kommentare zu Thukydides und Tacitus. Die deutschen Forscher haben den beiden Autoren förmlich die Eingeweide umgekehrt, ich hatte wirklich Mühe, alle diese Details nachzuprüfen. Ganz vergraben hatte ich mich in meine Bücher. Und sie sagte einfach, sie ekle sich, wenn sie mich so sehe. Komm doch gelegentlich, besuch sie! Der einzige, der sich noch zeigt, ist mein Kollege Charles, der Franzose – ein so netter Plauderer, mit dem langweilt sie sich wenigstens nicht.«

»Leb wohl, Leontij«, sagte Raiskij. »Übrigens, diesen Charles solltest du doch nicht so oft ins Haus lassen.«

»Warum nicht? Wenn der nicht wäre, hätte ich ja gar keine Ruhe vor ihr. Warum soll ich ihn nicht ins Haus lassen?«

»Nun, damit sich nicht solch ein Schweif bildet wie bei den römischen Matronen.«

»An meine Ulinka reicht, wie an die Gemahlin des Cäsar, kein Verdacht heran!« bemerkte Koslow humorvoll. »Komm nur, ich will's ihr sagen.«

»Nein, sag ihr nichts – und laß den Charles nicht ins Haus!« sagte Raiskij und verließ rasch das Zimmer.

Bei Polina Karpowna zeigte sich Raiskij gar nicht, dafür erschien sie um so öfter bei ihm im Hause und langweilte entweder ihn mit ihren faden Zärtlichkeiten oder die Großtante mit ihren unerbetenen Ratschlägen betreffs der Hochzeitsvorbereitungen. Ganz besonders mißfiel Tatjana Markowna ihre Behauptung, daß die Ehe das Grab der Liebe sei, und daß, wie sie mit einem süßlichen Blick auf Raiskij hinzufügte, auserlesene Herzen sich trotz aller Hindernisse auch außerhalb der Ehe zu finden wüßten.

Noch zwei- oder dreimal malte er an ihrem Porträt, beendete es jedoch nie und sagte, er wisse nicht, in was für einem Kleide er sie malen und was für eine Blume er ihr an die Brust stecken solle.

»Eine gelbe Georgine wird mir sehr gut stehen, ich bin doch brünett!« meinte sie.

»Gut, später, später!« sagte er, nur um sie irgendwie loszuwerden.

Tit Nikonytsch kam nach wie vor, höflich und liebenswürdig wie immer, küßte der Großtante die Hand und brachte ihr eine Blume oder irgendeine seltene Frucht. Openkin fand sich ein, hielt seine langen, lärmenden Reden und betrank sich zuletzt. Junge Damen und Herren erschienen, ein Tänzchen wurde im Hause der Braut arrangiert. Und alles das langweilte Raiskij und Wera, und jedes von ihnen suchte, wonach sein Herz stand: er – sie, sie – die Einsamkeit, und er war nur glücklich, wenn er mit ihr zusammen war, und sie nur dann, wenn niemand sie sah, niemand sie bemerkte, wenn sie im Dorf, oder im Dickicht der Schlucht, oder jenseits der Wolga, bei ihrer Popenfrau, wie ein Spukgeist verschwinden konnte.


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