Maxim Gorki
Das Leben des Klim Samgin
Maxim Gorki

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Samgin war abgestumpft von der Fülle der Eindrücke. Alle diese kummervollen, erschrockenen, von Neugier erhellten oder einfach schwachsinnigen Gesichter, die auf der reich mit dreifarbigen Fahnen geschmückten Straße unaufhörlich vorüberzogen, vermochten ihn nicht mehr zu erregen. Diese Eindrücke erlaubten Klim, sich seines geistigen Gewichts und seiner Realität voll bewußt zu werden. Über die Ursache der Katastrophe dachte er nicht weiter nach. Im Grunde ging ja die Ursache auch einleuchtend aus Marakujews Bericht hervor: die Leute hatten sich auf das »Konfekt« gestürzt und einander dabei erdrückt. Diese Erklärung setzte Klim in die Lage, von der Höhe seiner Equipage gleichmütig und verachtungsvoll auf sie herabzublicken.

Makarow saß neben ihm. Er hatte den Fuß auf das Trittbrett der Droschke gesetzt, als mache er sich bereit, auf den Fahrdamm zu springen. Er knurrte:

»Weiß der Teufel, wie diese idiotischen Flaggen einem in die Augen stechen!«

»Wahrscheinlich wird der Zar die Familien der Getöteten großherzig entschädigen«, mutmaßte Klim. Makarow bat den Kutscher, rascher zuzufahren, und erinnerte Klim daran, daß auch bei der Hochzeit der Marie Antoinette ein Unglück passiert sei.

»Er bleibt sich treu«, dachte Klim. »Selbst hier steht bei ihm an erster Stelle die Frau, als hätte es einen Ludwig gar nicht gegeben.«

Onkel Chrisanfs Wohnung war zugeschlossen. Auch an der Küchentür hing ein Schloß. Makarow prüfte es, nahm die Mütze ab und wischte sich die nasse Stirn. Er faßte augenscheinlich die zugesperrte Wohnung als ein unheilverkündendes Zeichen auf. Als sie aus dem dunklen Hausflur auf den Hof traten, sah Klim, daß Makarows Gesicht eingefallen und bleich war.

»Wir müssen uns erkundigen, wohin die . . . Verwundeten gebracht werden. Wir müssen die Krankenhäuser absuchen. Gehen wir.«

»Du glaubst . . .«

Aber Makarow ließ Klim nicht ausreden.

»Gehen wir«, sagte er grob.

Bis zum Abend hatten sie bei einem Dutzend Krankenhäuser nachgeforscht und waren zwanzigmal zur eisernen Faust des Schlosses an der Küchentür Onkel Chrisanfs zurückgekehrt. Es war schon dunkel, als Klim leise vorschlug, auf den Kirchhof hinauszufahren.

»Unsinn«, sagte Makarow scharf. »Schweig du nur.«

Und eine Minute später fügte er empört hinzu;

»Das ist nicht möglich.«

Seine Backenknochen hatten sich auf völlig unnatürliche Weise zugespitzt. Er bewegte die Kiefer, als knirsche er mit den Zähnen, drehte fortwährend den Kopf hin und her und verfolgte die Hast der verstörten Menschen. Die Leute wurden immer stiller, sprachen übellauniger, und der Abend ließ sie erblassen.

Makarows Stimmung, aus der die Sorge um Lida sprach, wirkte auf Klim niederdrückend Er war physisch erschöpft und fühlte sich nach dem Anblick von Hunderten zerschlagener und abgerissener Menschen vergiftet und abgestumpft.

Sie gingen gerade zu Fuß, als aus einer Nebengasse eine Droschke herausfuhr. Im Wagen saß Warwara in völlig zerzaustem Zustand und hielt Hut und Schirm auf den Knien.

»Sie haben meinen Stiefvater erdrückt«, rief sie aus, während sie dem Kutscher einen Stoß in den Rücken gab. Klim hatte den Eindruck, als ob sie es mit Stolz rief.

»Wo ist Lida?« fragte Makarow, noch ehe Klim es tun konnte. Das Mädchen sprang auf das Trottoir, steckte dem Kutscher mechanisch, aber dennoch mit einer schönen Geste Geld in die Hand und ging auf ihr Haus zu. Es lag jetzt nichts Schönes mehr in der Art, wie sie in der einen Hand den Sonnenschirm, in der anderen den Hut schwenkte und hysterisch laut erzählte:

»Er war unkenntlich. Ich fand ihn an den Stiefeln heraus und an dem Ring, wissen Sie? Mit dem Karneolstein. Grauenvoll. Das Gesicht verschwunden.«

Ihr Gesicht war verweint, das Kinn zitterte, aber Klim schien, daß ihre grünlichen Augen wütend funkelten.

»Wo ist Lida?« wiederholte Makarow hartnäckig und kam Klim zum zweitenmal zuvor.

»Sie sucht Diomidow. Ein Schauspieler hat ihn in der Nähe des Alexander-Bahnhofs gesehen und erzählt, er, Diomidow, habe den Verstand verloren . . .«

Warwaras laute Stimme sammelte eine Schar neugieriger, festlich gekleideter Menschen um sie. Ein Herr mit Stöckchen und Strohhut drängte Samgin zur Seite, blickte dem jungen Mädchen ins Gesicht und fragte:

»Sind es wirklich zehntausend? Und viele Verrückte?«

Er nahm den Hut ab und rief fast mit Begeisterung:

»Welch ein außergewöhnliches Unglück!«

Klim blickte sich um, befremdet, daß Makarow diesen Idioten nicht fortjagte. Aber Makarow war verschwunden.

Bei sich in ihrem Zimmer verstreute Warwara mit schroffen Gesten den Schirm, den Hut, ein nasses Taschentuch und ihr Portemonnaie über Tisch und Bett und redete dazu in abgerissenen Sätzen:

»Eine Backe ist zerfetzt, die Zunge hängt aus der Wunde heraus. Ich sah nicht weniger als dreihundert Leichen, Mehr. Was soll das nun bedeuten, Samgin? Sie konnten doch nicht sich selbst . . .«

Sie schritt rasch und leichtfüßig durchs Zimmer, als würde sie vom Wind getragen, trocknete ihr Gesicht mit einem nassen Handtuch und suchte immerfort etwas, indem sie bald Kämme, bald Bürsten vom Toilettentisch nahm und sie sogleich wieder hinwarf. Sie leckte sich die Lippen, biß darauf.

»Zu trinken, Samgin! Ich habe entsetzlichen Durst . . .«

Ihre Pupillen waren geweitet und trübe. Die geschwollenen Lider, die überanstrengt zwinkerten, wurden immer röter. Sie weinte, zerriß ihr tränenfeuchtes Taschentuch und schrie:

»Er stand mir näher als die Mutter . . . so komisch war er, so lieb. Und seine Liebe zum Volk, wie war sie gut . . . Auf dem Friedhof erzählt man sich, die Studenten hätten Löcher gegraben, um das Volk gegen den Zaren aufzuhetzen. O mein Gott!«

Samgin war ratlos. Er verstand es noch nicht, weinende Mädchen zu trösten und fand, daß Warwaras Tränen zu malerisch waren, um aufrichtig zu sein. Aber sie beruhigte sich auch von selbst, sobald die gewaltige Anfimowna gekommen war und liebevoll, aber geschäftig zu berichten begann.

»Man hat ihn in die Kapelle überführt. Ihn nach Hause zu nehmen, erlauben sie nicht. Sie haben sehr darum gebeten, Chrisanf Wassiljewitsch nicht nach Hause zu schaffen. ›Urteilen Sie doch selbst‹, haben sie mir gesagt, ›man kann doch keine Beerdigung machen, jetzt, wo die Feierlichkeiten sind‹.«

Mit kummervoller Miene sagte die Köchin:

»Und wahrhaftig, Warja, was für einen Zweck hat es, den Zaren zu ärgern? Gott mit ihnen! Sie haben gesündigt, sie werden es auch verantworten!«

Warwara nickte schweigend, bat, Tee zu bringen, verschwand in ihr Zimmer und erschien einige Minuten später in einem schwarzen Kleid, gekämmt und mit einem traurigen, aber gefaßten Gesicht.

Beim Tee warf Klim einen Blick auf die Uhr und fragte beunruhigt:

»Was meinen Sie, wird Lida diesen Diomidow finden?«

»Woher soll ich es wissen?« fragte sie trocken und erklärte im prophetischen Ton eines Menschen, der über große Lebenserfahrung verfügt:

»Ich billige ihre Neigung für ihn nicht. Sie kann Liebe nicht von Mitleid unterscheiden, und ihrer harrt ein furchtbarer Irrtum. Diomidow weckt Erstaunen, aber kann man denn so einen lieben? Frauen lieben Starke und Kühne, diese lieben sie aufrichtig und lange. Sie lieben natürlich auch Sonderlinge. Ein gelehrter Deutscher hat einmal gesagt: ›Um bemerkt zu werden, muß man auf Grillen verfallen‹.«

Als habe sie den Tod ihres Stiefvaters ganz vergessen, redete sie fünf Minuten lang kritisch und anzüglich über Lida, und Klim begriff, daß sie die Freundin nicht liebte. Es setzte ihn in Erstaunen, wie gut sie es bis zu diesem Augenblick verstanden hatte, ihre Abneigung gegen Lida zu verbergen, und dieses Staunen hob das grünäugige Mädchen ein wenig in seinen Augen. Dann erinnerte sie sich, daß sie von ihrem Stiefvater sprechen mußte, und bemerkte, wenn auch Menschen seines Schlages sich überlebt hätten, so seien sie doch von eigentümlichem Reiz.

Klim fühlte sich immer stärker beunruhigt und unbehaglich. Er verstand, daß er überhaupt Lida gegenüber anständiger und taktischer gehandelt haben würde, wenn er die Straßen nach ihr abgesucht hätte, statt hier zu sitzen und Tee zu trinken. Aber jetzt wäre es auch unschicklich gewesen, fortzugehen.

Es war schon ganz finster, als Lida ins Zimmer stürzte, hinter ihr Makarow, der am Arm Diomidow hereinführte. Samgin schien, daß alles im Zimmer erbebte, und die Zimmerdecke sich senkte. Diomidow hinkte. Seine linke Hand war in Makarows Mütze gewickelt und mit einem Fetzen irgendeines Halsbesatzes verbunden. Keuchend, mit fremder Stimme, sagte er:

»Ich wußte es ja, ich wollte nicht . . .«

Sein lichtes Haar hing ihm, zum Wollklumpen geballt, herab. Das eine Auge war hinter einer dunklen Geschwulst verschwunden, das andere, weit geöffnet und trübe, glotzte schreckenerregend. Er war vom Kopf bis zu den Füßen zerlumpt. Ein Hosenbein war über die ganze Fläche aufgerissen, im Loch zitterte das nackte Knie, und dieses Zittern des runden, von schmutziger Haut überzogenen Knochens war widerwärtig.

Makarow setzte ihn sorglich auf den Stuhl an der Tür, den gewohnten Platz Diomidows in diesem Zimmer. Der Requisitenmacher stemmte sein zuckendes Bein gegen den Fußboden, schüttelte mit der Hand den Staub aus dem Haar und bellte heiser:

»Ich sagte, man muß die Massen spalten, aufteilen, damit sie einander nicht zerdrücken. O mein Gott!«

»Nun, was soll jetzt geschehen?« fragte Makarow Lida in scharfem Ton. »Wir brauchen warmes Wasser, Wäsche. Man hätte ihn ins Krankenhaus bringen sollen, aber nicht hierher . . .«

»Schweigen Sie! Oder – gehen Sie hinaus«, schrie Lida und lief in die Küche. Ihr böses Schreien ließ Warwara im Ton eines epileptischen Bauernweibes aufheulen:

»Man muß sie richten, verfluchen, strafen!«

Sie starrte auf Diomidow, griff sich an den Kopf, wiegte sich auf ihrem Stuhl und stampfte mit den Füßen. Auch Diomidow glotzte sie an und schrie:

»Jedem sein Raum! Wagt es nicht! Keinerlei Köder! Kein Konfekt! Keinen Schnaps!«

Sein Bein begann von neuem zu hüpfen, es trommelte gegen den Boden, und das Knie sprang aus dem Riß hervor. Ein erstickender Kotgeruch ging von ihm aus. Makarow stützte ihn an der Schulter und sagte mit lauter, finsterer Stimme zu Warwara:

»Geben Sie Wäsche her, Handtücher . . . Und lassen Sie das Schreien! Man wird sie schon richten, beunruhigen Sie sich nicht.«

»Jeder für sich!« stieß Diomidow schreiend hervor. Aus seinen Augen liefen in zwei ununterbrochenen Bächen die Tränen.

Lida stürzte ins Zimmer, stieß Makarow zurück, stellte Diomidow mit leichter Hand auf die Füße und führte ihn in die Küche.

»Wird sie ihn wirklich selbst waschen?« fragte Klim. Er verzog angeekelt sein Gesicht und schüttelte sich.

Warwara warf heftig den Kopf zurück, so daß ihre üppigen roten Haare ihre ganze Schulter zudeckten und ging rasch in das Zimmer ihres Stiefvaters. Samgin, der ihr mit den Blicken folgte, fand, daß der Moment zum Auflösen des Haares schlecht gewählt war. Sie hätte es früher tun müssen. Makarow öffnete die Fenster und murmelte:

»Ich fand sie auf der Chaussee. Dieser Kerl steht da, brüllt und predigt: ›Auseinanderjagen! Zerstreuen!‹ Während Lida ihm zuredet, mitzukommen. ›Ich hasse alle die Deinen‹, brüllt er . . .«

In der Stadt ächzte und heulte es, als gerieten in einem ungeheuren Ofen feuchte Holzscheite heftig in Brand.

»Ich bin neugierig, ob die Illumination stattfinden wird«, sagte Klim.

»Natürlich wird sie abgesagt, was glaubst du denn?« bemerkte Makarow unwillig.

»Weshalb denn?« wandte Klim ein. »Es lenkt doch ab. Es wäre eine Dummheit, wenn sie sie absagten.«

Makarow setzte sich auf die Fensterbank, zupfte am Schnurrbart und schwieg.

»Hat Diomidow den Verstand verloren?« fragte Klim, nicht ohne Hoffnung auf eine bejahende Antwort. Makarow, der erst nach einer Weile antwortete, enttäuschte ihn:

»Schwerlich. Mir scheint, er gehört zu jener Sorte Menschen, die ihr ganzes Leben an der Schwelle des Wahnsinns zubringen, ohne sie zu überschreiten.«

In der Tür zeigte sich Lida. Es sah so aus, als sei sie über eine Schwelle gestolpert, die nicht da war. Mit der einen Hand griff sie nach dem Türpfosten, mit der anderen bedeckte sie die Augen.

»Ich kann nicht«, sagte sie und wankte dabei, als ob sie einen Platz zum Hinfallen suche. Die Ärmel ihrer Bluse waren bis zu den Ellenbogen umgeschlagen. Vom nassen Rock tropfte Wasser auf den Fußboden.

»Ich kann nicht«, wiederholte sie in sehr seltsamem Ton, schuldbewußt und mit offenkundigem Staunen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Geht ihr hin und wascht ihn«, bat sie.

»Gehen wir. Du kannst mir helfen«, sagte Makarow zu Klim.

In der Küche, auf dem Fußboden, saß vor einer großen Waschschüssel Diomidow. Er war nackt, drückte den linken Arm an die Brust und stützte ihn mit dem rechten. Aus seinem nassen Haar rann das Wasser, und es schien, als ob er schmelze und sich auflöse. Seine sehr weiße Haut war mit Kot besudelt, mit blauen Flecken bedeckt und von Striemen zerrissen. Mit einer unsicheren Bewegung seiner rechten Hand schöpfte er Wasser aus der Schüssel und sprengte es sich ins Gesicht und auf das geschwollene Auge. Das Wasser rann die Brust hinunter, ohne die dunklen Flecke fortzuwaschen.

»Jedem sein Raum«, stammelte er. »Weg voneinander. Ich bin kein Spielzeug . . .«

»Isaak«, fiel Klim Samgin nicht ganz am rechten Platz ein. Aber er verbesserte sich sofort: »Schlachtopfer.«

Die Köchin Anfimowna stand am Herd und sah zu, wie das Wasser aus dem Hahn mit schnaubendem Geräusch in den Kessel spritzte.

»Ganz wirr geworden ist der Bengel«, sagte sie mißbilligend und warf scheele Blicke zu Diomidow hin. »Von einfacher Herkunft und so verzärtelt. Mit Launen. Nimmt da einen Krug mit Wasser und gießt ihn Lidotschka ins Gesicht . . .«

Samgin vernahm ein seltsames Geräusch. Als knirsche Makarow mit den Zähnen. Er hatte seine Litewka abgelegt und begann vorsichtig und gewandt, wie eine Mutter ihr Kind, Diomidow abzuwaschen, wobei er vor ihm niederkniete.

Und plötzlich fühlte Klim sich wie verbrannt von Empörung: Wie, diesen verpfuschten Körper würde Lida umarmen, hatte sie vielleicht schon umarmt? Dieser Gedanke jagte ihn augenblicklich aus der Küche hinaus. Er ging eilig in Warwaras Zimmer, entschlossen, Lida einige vernichtende Worte zu sagen.

Lida saß auf dem Bett. Sie hatte mit der einen Hand Warwara umschlungen und hielt ihr ein geschliffenes Flakon unter die Nase. Das Lampenlicht ließ das Flakon in Regenbogenfarben schillern.

»Was gibt es?« fragte sie.

»Er wäscht ihn«, antwortete Klim trocken.

»Hat er Schmerzen?«

»Anscheinend nicht.«

»Warja«, sagte Lida, »ich verstehe mich nicht aufs Trösten. Und überhaupt, brauchst du denn Trost? Ich weiß nicht . . .«

»Gehen Sie hinaus, Samgin«, schrie Warwara und ließ sich mit der Hüfte aufs Bett fallen.

Klim ging fort, ohne Lida ein Wort gesagt zu haben.

»Sie hat ein so gequältes Gesicht. Vielleicht ist sie jetzt – geheilt.«

In Kübeln prasselten und qualmten die Flammen der Fettlampen. Samgin fand die Illumination dürftig und selbst im Licht etwas Zauderndes, den Lärm der Stadt aber wenig festlich, vielmehr zornig und übelgelaunt. Auf dem Twerski Boulevard bildeten sich kleine Menschenansammlungen. In der einen wurde erbittert gestritten, ob man das Feuerwerk brennen lassen werde oder nicht. Jemand beteuerte hitzig:

»Man wird es.«

Ein langer Mensch mit Hut sagte überzeugt und streng:

»Seine Majestät, der Kaiser, wird keine Scherze zulassen.«

Eine dritte Stimme versuchte die Gegensätze auszusöhnen:

»Das Feuerwerk ist auf morgen verschoben worden.«

»Seine Majestät der Kaiser . . .«

Von irgendwoher, hinter den Bäumen hervor, rief jemand klingend:

»Der tanzt jetzt gerade auf dem Adelsball, Seine Majestät der Kaiser!«

Alles blickte in die Richtung, aus der die Worte kamen, und zwei Männer gingen in so entschlossener Haltung darauf zu, daß Klim es vorzog, sich zu entfernen.

»Wenn es wahr ist, daß der Zar zum Ball gefahren ist, dann bedeutet das, daß er Charakter hat, ein kühner Mensch ist, Diomidow hat recht.«

Er schlug den Weg zum Strastnaja-Platz ein und bewegte sich inmitten eines Chaos von Stimmen. Mechanisch fing er einzelne Sätze, auf. Mit verwegener Stimme rief jemand aus:

»Ach, denke ich mir, du willst doch nicht umkommen!«

»Wahrscheinlich ist er auf einen Menschen draufgetreten, vielleicht auf Marakujew«, mutmaßte er. Aber im übrigen arbeiteten seine Gedanken schlecht, wie es immer zu sein pflegt, wenn man mit Eindrücken überlastet ist und ihr Gewicht schwer auf das Denken drückt. Überdies war er hungrig und durstig.

Am Puschkin-Denkmal hielt jemand vor einem Menschenhäufchen eine Ansprache.

»Denkt nur über unsere ganze Ordnung nach. Wie werden wir regiert?«

Samgin sah sich den Redner an und erkannte am krausen Bart und am Lächeln im zottigen Gesicht seinen redseligen Pritschennachbar in Jakow Platonows Keller.

»Der Stein ist ein Dummkopf . . .«

Auf dem Platz holte ihn Pojarkow ein, der wie ein Kranich einherstelzte. Samgin rief ihn zögernd an:

»Wohin?«

Pojarkow paßte sich seinem Schritt an und berichtete mit matter und leiser Stimme:

»Seit dem Morgen bin ich unterwegs, mache die Augen auf, höre. Ich versuchte, aufzuklären. Aber es dringt gar nicht bis zu ihrem Bewußtsein. Dabei ist es so einfach: man braucht bloß mit der ganzen Masse vom Feld geradewegs zum Kreml zu rücken und fertig! In Brüssel soll das Publikum sich vom Theater aus, nach der Aufführung des ›Propheten‹, in Marsch gesetzt und die Konstitution erzwungen haben. Man hat sie gegeben.«

Er blieb vor dem Eingang eines kleinen Restaurants stehen und schlug vor:

»Gehen wir in diesen ›Hafen kummervoller Herzen‹. Marakujew und ich sind häufig hier.«

Als Klim ihm von Marakujew erzählte, seufzte er:

»Es konnte schlimmer kommen. Man sagt, fünftausend sollen umgekommen sein. Eine wahre Schlacht.«

Pojarkow sprach mit dumpfer Stimme. Sein Gesicht zog sich unnatürlich in die Länge, und Samgin entdeckte heute zum erstenmal unter der langen, griesgrämigen Nase Pojarkows einen rötlichen Schnurrbart.

»Es ist ganz überflüssig, daß er sich das Kinn rasiert«, dachte Klim.

»Dieser Tage sagte mir ein Kaufmann, dem ich Unterricht erteile: ›Ich möchte gern Bliny essen, aber die Bekannten wollen nicht sterben.‹ Ich frage: ›Warum wollen Sie denn, daß sie sterben?‹ ›Weil‹, entgegnet er, ›die Bliny auf Totenfeiern besonders gut zu sein pflegen.‹ Wahrscheinlich wird er jetzt Bliny essen können . . .«

Klim aß kaltes Fleisch und trank Bier dazu. Ohne große Aufmerksamkeit folgte er Pojarkows Worten, die vom Wirtshauslärm übertönt wurden, aus dem er einzelne Sätze auffing. Ein dicker, bärtiger Mann im schwarzen Anzug schrie:

»Man darf das Volksunglück nicht dazu mißbrauchen, um heimlich falsches Geld in Umlauf zu bringen . . .«

»Gut gesagt«, lobte Pojarkow. »Man spricht bei uns gut und lebt schlecht. Unlängst las ich bei Tatjana Passek: ›Friede den Gebeinen derer, die im Leben nichts taten, weder Gutes noch Schlechtes‹ Wie gefällt Ihnen das?«

»Sonderbar«, antwortete Klim mit vollem Munde.

Pojarkow schwieg, trank sein Bier und sagte darauf seufzend:

»Es liegt eine stille Verzweiflung darin . . .«

An ihrem Tisch erschien Marakujew. Seine Backe war mit einem weißen Tuch verbunden. Unter seinem krausen Haar sahen komisch ein Knoten und zwei weiße Ohren hervor.

»Ich war sicher, dich hier zu treffen«, sagte er zu Pojarkow und setzte sich an den Tisch.

Beide beugten sich dicht zueinander und flüsterten.

»Störe ich?« fragte Klim.

Pojarkow sah ihn von der Seite an und murmelte:

»Ja, wobei könnten Sie wohl stören?«

Seufzend fuhr er fort:

»Ich sagte ihm also, die Marxisten wollen Flugblätter herausgeben, während wir . . .«

Marakujew unterbrach seine verdrossene Rede:

»Samgin, kennen Sie Ljutow gut? Eine interessante Type. Ebenso der Diakon. Aber wie bestialisch saufen die beiden! Ich schlief bis fünf Uhr nachmittags, dann stellten sie mich auf die Beine und fingen an, mich vollzupumpen. Ich ergriff die Flucht, und seitdem treibe ich mich in Moskau herum. Ich war schon zweimal hier . . .«

Er bekam einen Hustenanfall, schnitt Grimassen und hielt sich die Hüfte.

»Staub habe ich geschluckt – fürs ganze Leben«, sagte er.

Im Gegensatz zu Pojarkow befand er sich in angeregter und geschwätziger Stimmung. Er blickte um sich, wie jemand, der soeben erwacht ist und noch nicht weiß, wo er sich befindet, und griff aus den Wirtshausgesprächen einzelne Sätze und Worte heraus, um sie mit Anekdoten zu illustrieren. Er war ein wenig angeheitert, aber Klim begriff, daß dieser Umstand allein seine merkwürdige, ja, sogar ein wenig beängstigende Gemütsverfassung nicht erklären konnte.

»Wenn es die Freude ist, mit dem Leben davongekommen zu sein, dann freut er sich auf läppische Weise. Vielleicht redet er bloß, um nicht denken zu müssen?«

»Es ist drückend heiß hier, Kinder, gehen wir auf die Straße«, schlug Marakujew vor.

»Ich will nach Hause«, sagte Pojarkow finster. »Ich habe genug.«

Klim hatte noch keine Lust, schlafen zu gehen, aber er wäre gern aus der düsteren Unrast des Tages in ein Reich freundlicherer Eindrücke hinübergewandert. Er machte daher Marakujew den Vorschlag, auf die Sperlingsberge zu fahren. Marakujew nickte wortlos.

»Wissen Sie«, sagte er, nachdem sie in einer Droschke Platz genommen hatten, »die meisten der Erstickten und Zerquetschten sind sogenanntes besseres Publikum. Moskauer und – junge Leute. Jawohl. Ein Polizeiarzt, ein Verwandter von mir, hat mich darauf aufmerksam gemacht. Auch Kollegen, Mediziner, sagten es mir. Ich habe es ja auch selbst beobachtet. Im Kampf ums Dasein siegen die Robusteren. Die instinktiv Handelnden . . .«

Er murmelte noch etwas, was vom Rasseln und Klirren der alten, ausgeleierten Equipage übertönt wurde, hustete, schneuzte sich mit abgewandtem Gesicht, und als sie außerhalb der Stadt angelangt waren, schlug er vor:

»Wollen wir nicht aussteigen?«

Vor ihnen, auf schwarzen Hügeln, blinkten die Lichter der Restaurants. Hinter ihnen wogte über den Steinmassen der Stadt, die sich über einem unsichtbaren Boden ausbreiteten, ein rötlich gelber Flammenschein. Klim fiel plötzlich ein, daß er Pojarkow noch nichts von Onkel Chrisanf und Diomidow gesagt hatte. Dies versetzte ihn in heftige Verlegenheit. Wie konnte er es nur vergessen! Aber er führte sogleich zu seiner Entschuldigung an, daß Marakujew sich ja auch nicht nach Onkel Chrisanf erkundigt hatte, obwohl er doch selbst erzählt hatte, daß er ihn in der Menge gesehen habe. Samgin suchte nach eindrucksvollen Worten, fand jedoch keine, und sagte einfach:

»Onkel Chrisanf ist erdrückt worden, Diomidow verstümmelt und hat, wie es scheint, jetzt vollständig den Verstand verloren.«

»Nein!« rief Marakujew ganz leise aus, blieb stehen, starrte sekundenlang wortlos Klim ins Gesicht und zwinkerte angstvoll.

»Tödlich?« fragte er dann.

Klim nickte. Marakujew verließ die Straße, stellte sich unter einen Baum, drückte sein Gesicht an den Stamm und sagte:

»Ich gehe nicht weiter.«

»Ist Ihnen schlecht?« fragte Klim.

»Wundern Sie sich nicht. Lachen Sie nicht«, antwortete keuchend und mit gepreßter Stimme Pjotr Marakujew. »Die Nerven, wissen Sie. Ich habe soviel gesehen. Es ist unerklärlich! Welch ein Zynismus! Welch eine Niedertracht!«

Klim schien, daß dem lustigen Studenten die Beine einknickten. Er stützte ihn am Ellenbogen. Marakujew riß sich mit einer schroffen Bewegung der Hand die Binde vom Gesicht, rieb sich damit Stirn, Schläfen und Wangen und tupfte sich die Augen.

»Zum Teufel, beide sind ja noch Säuglinge!« schrie er.

»Er weint. Er weint«, wiederholte Klim für sich. Es war unerwartet, unbegreiflich und machte ihn stumm vor Staunen. Dieser begeisterte Schreihals, unermüdliche Kampfhahn und Meister im Lachen, dieser kräftige, hübsche Junge, der einem kecken Harmonikaspieler aus dem Dorf glich, schluchzte am Straßengraben unter einem verkrüppelten Baum, vor den Augen des endlosen Zuges schwarzer Menschen mit Zigaretten zwischen den Zähnen, wie eine Frau.

Ein zottiger Kerl, der wahrscheinlich für eine Sekunde haltgemacht hatte, um ein Bedürfnis zu verrichten, musterte Marakujew und rief lustig:

»Hast schon gerade Kummer, um Tränen zu vergießen, Student! Hätte ich bloß soviel!«

»Ich weiß, es ist lächerlich zu heulen«, stammelte Marakujew.

Ganz in der Nähe stieg zischend eine Rakete empor, platzte prasselnd und übertönte die begeisterten Hurrarufe der Kinder. Dann flammte bengalisches Feuer auf, sein Widerschein verlief sich über den Himmel. Marakujews Gesicht nahm eine unnatürlich weiße, quecksilberne Färbung an, wurde dann leichenhaft grün und schließlich blutrot, als hätte man ihm die Haut vom Gesicht gerissen.

»Natürlich ist es lächerlich«, wiederholte er und wischte sich mit den schnellen Gesten eines Hasen die Wangen ab. »Hingegen haben Sie hier die Illumination, die Kinder freuen sich. Niemand begreift, niemand versteht etwas . . .«

Der zottige Mensch befand sich auf einmal neben Klim und zwinkerte ihm zu.

»Nein, sie verstehen ausgezeichnet, daß das Volk ein Dummkopf ist«, begann er mit halblauter Stimme zu reden und schmunzelte in den Klim wohlbekannten krausen Bart. »Es sind Apotheker, sie verstehen sich darauf, mit harmlosem Zeug zu heilen.«

Marakujew trat so unvermittelt an ihn heran, als wolle er ihn schlagen.

»Heilen? Wen?« fragte er laut, und begann so hitzig zu reden wie im Eßzimmer bei Onkel Chrisanf. Schon nach zwei oder drei Minuten umringten ihn sechs dunkle Menschen. Sie verhielten sich schweigend und drehten die Köpfe mechanisch gleichmäßig bald nach der Seite, wo die Feuerwirbel die Wirtshäuser auf den Hügel emporhüpfen und herabstürzen, erscheinen und verschwinden ließen, bald zu Marakujew hin, dem sie auf den Mund sahen.

»Er spricht mutig«, bemerkte jemand hinter dem Rücken Klims. Eine andere Stimme sagte gleichmütig:

»Es ist ein Student, was macht es ihm aus? Gehen wir.«

Klim Samgin entfernte sich. Er sagte sich, daß ein beliebiger unter Marakujews Zuhörern ihn beim Kragen nehmen und auf die Polizei schaffen konnte.

Samgin fühlte sich sehr sicher. In Marakujews Tränen lag etwas, das ihn tief befriedigte. Er sah, daß seine Tränen echt waren und sehr gut die Schwermut Pojarkows, dem seine abgehackte und brüske Sprechweise abhanden gekommen war, das verwunderte und schuldige Gesicht Lidas, die hinter ihren Händen eine Grimasse des Ekels versteckt hatte, und das Zähneknirschen Makarows erklärten. Klim zweifelte nicht mehr daran, daß Makarow wirklich mit den Zähnen geknirscht hatte, er hatte gar nicht anders können.

Dies alles, was die Menschen unvermittelt und gegen ihren Willen offenbarten, war die reine Wahrheit, und sie zu kennen, war von ebenso großem Wert, wie den nackten, zerschlagenen und schmutzigen Körper Diomidows zu sehen.

Klim kehrte mit raschen Schritten in die Stadt zurück. Kühne Gedanken beflügelten ihn und trieben ihn an:

»Ich bin der Stärkere. Ich würde es mir nicht erlauben, mitten auf der Straße zu weinen, überhaupt zu weinen. Ich weine nicht, weil ich nicht fähig bin, mich zu vergewaltigen. Jene knirschen mit den Zähnen, weil sie sich zwingen. Aus demselben Grunde schneiden sie Grimassen. Es sind sehr schwache Menschen. In allen und jedem steckt etwas von der Nechajew. Der Nechajewismus – das ist es!«

Der Feuerschein über Moskau beleuchtete die goldenen Kuppeln und Kirchen. Sie funkelten wie die Helme der gleichgültigen Feuerwehrleute. Die Häuser sahen aus wie Klumpen Erde, aufgewühlt von einem ungeheuren Pflug, der tiefe Furchen durch die Scholle gezogen und das Gold des Feuers in ihr bloßgelegt hat. Samgin fühlte, daß auch in ihm geradlinig ein starker Pflug arbeitete und dunkle Zweifel und Ängste aufriß.

Ein Mann mit einem Spazierstock in der Hand stieß ihn an und rief:

»Sind Sie blind geworden? Wie die Kerle gehen!«

Weder der Stoß in den Rücken noch der ärgerliche Zuruf vermochten den frischen Gedankengang Samgins zu verscheuchen oder zu verwirren.

»Marakujew wird vermutlich mit dem kraushaarigen Arbeiter Freundschaft schließen. Wie albern ist es, von der Revolution zu träumen in einem Lande, dessen Menschen einander im Kampf um den Besitz eines Päckchen billigen Konfekts oder Pfefferkuchens zu Tausenden totdrücken. Selbstmörder.«

Dieses Wort erklärte Klim in vollkommen zufriedenstellender Weise die Katastrophe, an die er nicht zu denken wünschte.

»Sie haben einander zerquetscht und ergötzen sich jetzt an Leuchtraketen und Blendwerk. Makarow hat recht: die Menschen sind Kaviar. Warum habe nicht ich es gesagt, sondern er? Auch Diomidow hat recht, wenn er auch dumm ist: die Menschen müssen Raum zwischen sich lassen, dann sind sie auffälliger und einander verständlicher. Und jeder muß Platz für einen Zweikampf haben. Einer gegen einen sind die Menschen Leichtbesiegbare . . .«

Samgin gefiel das Wort, halblaut wiederholte er:

»Leichtbesiegbare . . . so ist es!«

In seiner Erinnerung tauchte für eine Sekunde ein unangenehmes Bild auf: die Küche, mitten darin, auf den Knien, der betrunkene Fischer. Am Boden kriechen nach allen Seiten blind und sinnlos die Krebse auseinander. Der kleine Klim drückt sich ängstlich an die Wand.

»Die Krebse – das sind Ljutow, der Diakon und überhaupt alle diese Anormalen . . . die Turobojews und Inokows. Sie erwartet natürlich das Schicksal des unterirdischen Menschen Jakow Platonowitsch. Sie müssen ja umkommen, wie sollte es auch anders sein?«

Samgin fühlte, daß die Menschen dieses Schlages ihm heute besonders verhaßt waren. Man mußte mit ihnen ein Ende machen. Jeder von ihnen verlangte besondere Einschätzung, jeder trug in sich etwas Absurdes und Unklares. Gleich knorrigen Holzscheiten leisteten sie jedem Versuch Widerstand, sie so fest aneinander zu legen, wie notwendig war, um sich über sie zu erhöhen. Ja man mußte sie an einem besonders starken Faden aufreihen. Das war ebenso notwendig wie die Kenntnis der Gangart jeder Figur eines Schachspiels. An diesem Punkt angelangt, glitten Samgins Gedanken zum »Kutusowismus« hinüber. Er beschleunigte seine Schritte, denn er erinnerte sich, daß er nicht zum erstenmal an den Kutusowismus dachte, ja, daß er im Grunde immer nur dieses eine im Kopfe hatte.

»Diese zerzausten und verrenkten Menschen fühlen sich recht wohl in ihrer Haut . . . in ihrer Rolle. Ich habe gleichfalls ein Anrecht auf einen bequemen Platz im Leben«, entschied Samgin und fühlte sich verjüngt, erstarkt und unabhängig.

Mit diesem Gefühl der Unabhängigkeit und Stärke saß er am nächsten Abend in Lidas Zimmer und berichtete in leicht ironischem Ton über alles, was er in der letzten Nacht erlebt hatte, Lida fühlte sich schlecht, sie hatte Fieber. Auf ihren bräunlichen Schläfen perlte der Schweiß, aber sie wickelte sich nur um so fester in ihren flaumigen Pensaer Schal, wobei sie die Arme um ihre Schultern schlang. Ihre dunklen Augen blickten ratlos und angstvoll. Von Zeit zu Zeit richtete sie den Blick auf ihr Bett. Dort lag Diomidow auf dem Rücken, hatte die Brauen hoch emporgezogen und starrte gegen die Zimmerdecke. Sein gesunder Arm lag unter dem Kopf, und die Finger irrten fieberhaft durch den Kranz goldener Haare. Er schwieg. Sein Mund stand offen, und sein zerschlagenes Gesicht schien zu schreien. Er trug ein weites Nachthemd, dessen Ärmel bis zu den Schultern geschürzt waren und wie Fittiche von ihnen abstanden. Der klaffende Kragen entblößte die Brust. Sein Körper hatte etwas Kaltes, Fischgleiches. Ein tiefer Striemen am Hals erinnerte an Kiemen.

Warwara trat herein, ungekämmt, mit Pantoffeln an den Füßen und in einer zerknüllten Bluse. Mit düster blitzenden Augen hörte sie ein paar Minuten lang Klims Bericht an, verschwand und erschien von neuem.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie. »Ich habe nicht genug Geld für das Begräbnis . . .«

Diomidow hob den Kopf und fragte mit einem pfeifenden Geräusch:

»Sterbe ich denn?«

Er schrie und fuchtelte mit dem Arm:

»Ich sterbe nicht! Geht weg, geht alle weg!«

Warwara und Klim gingen hinaus. Lida blieb und versuchte, den Kranken zu beruhigen. Ins Eßzimmer drang sein Geschrei:

»Bringt mich ins Krankenhaus . . .«

»Ich glaube nicht an seinen Irrsinn«, sagte Warwara laut. »Ich liebe ihn nicht und glaube nicht daran.«

Jetzt kam auch Lida, Sie preßte die Hände an die Schläfen und setzte sich schweigend ans Fenster.

Klim fragte:

»Was hat der Arzt festgestellt?«

Lida sah ihn mit verständnislosem Blick an. Die blauen Schatten in den Höhlen ließen ihre Augen heller erscheinen.

Klim wiederholte seine Frage.

»Die Rippen sind gequetscht. Ein Arm ausgerenkt. Aber das schlimmste ist die Erschütterung der Nerven. Er hat die ganze Nacht im Fieber geschrien: ›Zerdrückt mich nicht!‹ und verlangt, man solle die Leute weiter auseinander jagen. Nein, sag du mir, was das ist!«

»Eine fixe Idee«, sagte Klim.

Das Mädchen blickte ihn wieder verständnislos an und sagte dann:

»Das meine ich nicht. Nicht ihn. Übrigens weiß ich selbst nicht, was ich meine.«

»Er war auch vorher nicht normal«, bemerkte Klim hartnäckig.

»Was heißt hier normal? Daß die Menschen einander erst zerquetschen und dann Harmonika spielen? Nebenan wurde bis zum Morgen Harmonika gespielt.«

Mit Paketen behängt, trat Makarow ins Zimmer. Er blickte Lida scheel an:

»Habt ihr schlafen können?«

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen und ohne zu antworten, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort:

»Normal bedeutet, wenn alles ruhig ist, nicht wahr? Aber das Leben wird ja immer unruhiger.«

»Ein normaler Organismus verlangt Beseitigung krankhafter und unangenehmer Erregungen«, knurrte böse Makarow, während er die Pakete mit Verbandstoff und Watte aufschnürte. »Das ist ein biologisches Gesetz. Wir dagegen begrüßen vor Langerweile und Nichtstun die krankhaften Erregungen wie Feiertage. Deshalb, weil einige Schwachköpfe . . .«

Lida sprang auf und schrie gepreßt:

»Unterstehen Sie sich nicht, in meiner Gegenwart so zu sprechen!«

»Und in Ihrer Abwesenheit darf ich es?«

Sie lief hinaus in Warwaras Zimmer.

»Neigung zur Hysterie!« bellte Makarow hinter ihr drein. »Gehen wir, Klim, hilf mir, ihm seine Kompresse zu machen.«

Diomidow drehte sich stumm und gehorsam unter seinen Händen, aber Samgin bemerkte, daß die leeren Augen des Kranken Makarows Gesicht auswichen, und als Makarow ihn aufforderte, einen Löffel Brom zu nehmen, wandte Diomidow das Gesicht zur Wand.

»Ich will nicht. Geht weg.«

Makarow zwang sich, ihm zuzureden, und blickte dabei aus dem Fenster, ohne zu bemerken, daß die Flüssigkeit vom Löffel auf Diomidows Schulter tropfte. Da hob Diomidow den Kopf und fragte, während sein geschwollenes Gesicht sich verzerrte:

»Warum quält ihr mich?«

»Sie müssen trinken«, sagte Makarow gleichmütig.

In den Augen des Kranken erschienen blaue Fünkchen. Er schluckte die Mixtur hinunter und spuckte gegen die Wand.

Makarow verweilte noch eine Minute an seinem Bett. Er hatte ein vollkommen fremdes Aussehen, zog die Schultern hinauf, krümmte den Rücken und krachte mit den Fingern. Dann seufzte er und bat Klim:

»Sag Lida, diese Nacht werde ich Wache halten . . .«

Damit ging er.

Diomidow lag ausgestreckt, mit geschlossenen Augen, aber sein Mund stand offen, und sein Gesicht schrie wieder wortlos. Man konnte glauben, er habe den Mund absichtlich geöffnet, weil er wußte, daß sein Gesicht dann tot und unheimlich aussah. Auf der Straße rasselten ohrenbetäubend die Trommeln. Der gleichmäßige Tritt von Hunderten von Soldatenstiefeln erschütterte den Boden. Hysterisch bellte ein erschrockener Hund. Es war unbehaglich im Zimmer. Es war nicht aufgeräumt und erfüllt von schwerem Alkoholgeruch. In Lidas Bett lag ein Schwachsinniger.

»Vielleicht lag er auch darin, als er gesund war . . .«

Klim zuckte zusammen, als er sich Lidas Körper in diesen kalten, sonderbar weißen Armen vorstellte. Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten, wobei er rücksichtslos laut auftrat. Er stampfte noch heftiger, als er sah, daß Diomidow seine bläuliche Nase zu ihm hinwandte, die Augen öffnete und sagte:

»Ich will nicht, daß er wacht, Lida soll es tun. Ich liebe ihn nicht.«

Klim trat an sein Bett, reckte den Hals, drohte ihm mit der Faust und sagte leise:

»Schweig, du schwachsinnige Laus!«

Klim verspürte zum erstenmal in seinem Leben die berauschende Süßigkeit der Wut. Er weidete sich an dem erschrockenen Gesicht Diomidows, an seinen vorquellenden Augen und den Zuckungen seines Arms, der sich abmühte, das Kissen unter dem Kopf hervorzuziehen, während sein Kopf das Kissen nur noch fester ans Bett preßte.

»Schweig! Hörst du?« wiederholte er und ging aus dem Zimmer.

Lida saß im Eßzimmer auf dem Sofa, in der Hand eine Zeitung, sah aber über sie hinweg auf den Boden.

»Was macht er?«

»Fiebert«, sagte Klim geistesgegenwärtig. »Fürchtet jemanden. Phantasiert von Läusen und Flöhen . . .«

Samgin, der einem Menschen, wenn es auch nur ein armseliger war, Schrecken eingejagt hatte, fühlte sich stark. Er nahm an Lidas Seite Platz und sagte kühn:

»Lida, Täubchen, das alles mußt du aufgeben, es ist nichts als Einbildung, hat keinen Wert und reißt dich nur ins Verderben.«

Sie hob mahnend die Hand.

»Pst«, machte sie und blickte besorgt auf die Tür. Er dämpfte die Stimme und fuhr, während er ihr ins erschöpfte Gesicht sah, fort:

»Verlasse diese kranken, theatralischen und verpfuschten Menschen und versuche einfach zu leben, einfach zu lieben . . .«

Er redete lange, ohne klar zu verstehen, was er sagte. An Lidas Augen sah er, daß sie ihm vertrauensvoll und aufmerksam zuhörte. Sie nickte sogar unwillkürlich mit dem Kopf, auf ihren Wangen erschien und verschwand tiefe Röte, manchmal schlug sie schuldbewußt die Augen nieder, und dies alles erfüllte ihn mit wachsendem Mut.

»Ja, ja«, flüsterte sie, »aber nicht so laut! Er erschien mir so ungewöhnlich. Aber gestern, im Schmutz . . . Und ich wußte nicht, daß er feige ist. Aber er ist ja feige. Er tut mir leid, aber das ist nicht mehr dasselbe. Auf einmal ist es nicht mehr dasselbe. Ich schäme mich sehr. Ich bin natürlich schuldig . . . ich weiß!«

Sie legte zögernd ihren Arm auf seine Schulter:

»Ich täusche mich immer. Auch du bist ja ein anderer, als ich gewohnt war, in dir zu sehen.«

Klim versuchte, sie zu umarmen, aber sie entzog sich ihm, erhob sich, stieß mit dem Fuß die Zeitung zur Seite und trat an Warwaras Zimmertür, vor der sie lauschend stehenblieb.

Durchs offene Fenster drang aus dem Hof das aufdringlich klagende Pfeifen eines Leierkastens herein. Und der neiderfüllte und spöttische Ausruf:

»Ach, werden die Sargtischler ein schönes Geld verdienen!«

»Sie scheint zu schlafen«, sagte Lida leise und entfernte sich von der Tür.

Klim begann ihr ernsthaft klarzumachen, daß man Diomidow ins Krankenhaus schaffen müsse.

»Und du, Lida, solltest dir die Schule aus dem Kopf schlagen. Ohnehin lernst du gar nicht. Höre lieber Vorlesungen. Wir brauchen nicht Schauspieler, sondern gebildete Menschen, Du siehst ja, in was für einem wilden Land wir leben.«

Er wies mit der Hand nach dem Fenster, hinter dem die Drehorgel träge einen neuen Gassenhauer leierte.

Lida schwieg gedankenvoll. Als Klim sich von ihr verabschiedete, sagte er:

»Du solltest trotz alledem nicht vergessen, daß ich dich liebe. Meine Liebe verpflichtet dich zu nichts, aber sie ist tief und ernst.«


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