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Ella saß in ihrem Boudoir und sah hinaus in den sich entfärbenden Park, der seine bunten Blätter in die Lüfte streute. Was kümmerte sie draußen die absterbende Natur? In ihrem Herzen war es Frühling . . . ein Tag voll Werdelust mit tausend Keimen und Knospen; aber es lag etwas Schweres und Dumpfes in der Luft, daß sie sich nicht erschließen konnten zum Licht und zur Blüte. Noch war die Sonne verhängt und das schwere Gewölk hatte kein Einsehen und wollte nicht weichen, und nur selten blinzelte das Sonnenauge hindurch. Doch unter der dumpfen Decke regte es sich; die Lerchen sangen am Himmel, die Nachtigallen schmetterten in den Büschen . . . Frühlingsodem, Liebeswonne. Ella galt für eine kühle Schönheit, man traute ihr kein wärmeres Gefühl zu, sie erschien immer ablehnend, nie hingebend, sie war eine Denkerin – man glaubte, die Liebe vertrage das Denken nicht; ja, sie gerate in Gefahr, von einer Grüblerin ganz beiseite gedacht zu werden; sie war so überaus verständig, und die Liebe ist doch und bleibt ein süßer Unverstand.
Doch wer hat ihre Geheimnisse ergründet? Wenn ihr Feuerherd in der Tiefe loht, da bricht er sich 275 Bahn unaufhaltsam – und es gibt Eisvulkane, wo er durch die erstarrte Rinde der Erde bricht, sowie es auch Schlammvulkane gibt, aus denen die Erde gleichsam ihre Gemeinheit dem Himmel ins Gesicht speit.
Ella war früher kühl, ja kalt; fast nichts von allem, was sich ihr näherte, weckte ein warmes Empfinden; es war das gleichgültige Schattenspiel des Lebens, das an ihrer Seele ausdruckslos vorüberglitt. Nur im Reiche des Geistes war sie heimisch – aus seinem Kelche schäumte ihr, um mit dem großen Denker zu sprechen, die Unendlichkeit. Hand in Hand ging sie mit den Unsterblichen, wie konnte ein sterblich Wesen dagegen aufkommen?
Sie liebte ihre Schwester Berta; doch das war eine Liebe, die ihr Herz nicht ausfüllen konnte. Das war wie ein frischer Quell, der sie erquickte; sie schöpfte daraus mit der Hand, wenn sie durstig war, aber zu einem vollen Trunk fehlte ihr hier der Becher! Und ihre Mutter? Sie hatte Geist und Verständnis für alles; aber sie wollte sich damit nur ihr Leben schmücken. Und dabei gab es allerlei Unbegreifliches, Geheimnisse, deren Schleier die Tochter nicht lüften wollte; sie fürchtete, es möchte sich etwas aufrichten zwischen ihnen wie eine unüberwindliche Schranke. Sie trat der Mutter mit zaghafter Scheu gegenüber; denn auch die Liebe derselben zu ihr war keine hingebende, trotz mancher Anwandlungen von Zärtlichkeit und mütterlichem Stolz, doch ihr Verhältnis beherrschte die schweigende Voraussetzung, daß die Tochter sich den Wünschen der Mutter fügte.
Als Edgar Guttmann in ihr Leben trat, da rückte alles andere in den Schatten; auf einmal 276 lag's sonnenhell vor ihr, der Blick in eine freie, schöne Zukunft. Das sind die Wunder der Sympathie – und über Nacht wandelt Sympathie sich in Liebe. Und Ella kannte nur die Liebe, die das ganze Leben erfüllt, nur eine schöne Gemeinsamkeit der Geister und Herzen. Unverständlich war ihr eine flüchtige Neigung mit vergänglichem Sinnenrausch, verhaßt eine Liebe, die aus äußeren Rücksichten ein dauerndes Band knüpft.
Niemals hätte sie einen geistig unbedeutenden Mann geheiratet, mochte sein Äußeres noch so bestechend, seine Verhältnisse noch so glänzend sein. Das geistige Übergewicht der Frau in der Ehe mußte etwas Beschämendes haben, doch wie herrlich, wenn die Kraft der geistigen Schwingen sie zusammen mit gleichem Flug in die Höhe trägt, eins im andern lebt und strebt, gemeinsam die Freude ist über jeden geistigen Gewinn, und in gleicher Beleuchtung beiden die Welt und die Menschheit vor Augen steht! In Edgar glaubte sie gefunden zu haben, was sie suchte, oder viel mehr, sie fand hier, ohne gesucht zu haben, was ihrem Herzen dauerndes Genügen, ihrem Leben dauernden Wert verleihen konnte. Es kam über sie wie eine Offenbarung – das ist das Wunder der Liebe, wie es das Wunder jedes geistigen und künstlerischen Schaffens ist. Der schöne Einklang von Gedanke und Gefühl, Geist und Herz stellt sich immer wieder her, wenn ihn auch böse Disharmonien zu stören scheinen. So drängte sich kurze Zeit hindurch ihr der Zweifel an Edgars geistiger Begabung und Bedeutung auf, nach der vernichtenden Kritik seiner Schrift durch eine wissenschaftliche Autorität; doch dann empfand sie erst, wie innig sie ihm zugetan war, wie ihr Glauben 277 und Vertrauen mächtiger war als der Verstand der neunmal Weisen, und die Hochflut ihrer Liebe durchbrach die Dämme, welche ein zögerndes Bedenken aufgerichtet.
Doch so lange hatte sie ihn nicht gesehen, nicht gesprochen. Da berichtete ihr Berta über ihre Unterredung mit Doktor Biesner, und so scherzhaft und schalkhaft die Einkleidung dieses Berichtes war – darüber ließ er keinen Zweifel übrig, daß Edgar sie liebte, daß er sich nach einem Wiedersehen nicht weniger sehnte, als sie selbst – und sie billigte die Abmachung ihrer Schwester. Doch so langsam verging die Zeit, und ihre Ungeduld vermochte sie nicht zu beflügeln; wie viele Tage und Nächte vergingen noch, ehe sie ihm wieder ins Auge sehen konnte!
Eines Tages wurde Ella zur Mutter beschieden. Diese war nicht allein; Baron Perling hatte es sich im Boudoir bequem gemacht, und stand, als Ella eintrat, von der Causeuse auf, wo er neben der Frau Geheimrat Platz genommen.
»Liebe Ella, ich habe dich rufen lassen, weil der Baron uns wichtige Aufklärungen über einen jungen Herrn zu geben vermag, der sich in unsere Gesellschaftskreise eingedrängt hat; wir werden nach diesen Mitteilungen unser Benehmen ihm gegenüber einzurichten wissen. Glücklicherweise vermeidet er ja jetzt unser Haus, aber eine Begegnung beim Bruder oder in einem anderen Salon ist doch nicht ausgeschlossen.«
»Sie sehen heute so frisch, so blühend aus, gnädiges Fräulein,« sagte Perling, »Ihre fleißigen Studien beim Lichte der Nachtlampe haben dieser bewundernswerten Frische nicht Eintrag getan.«
278 »Blasen wir die Nachtlampe aus,« versetzte Ella, »meine Mutter hat mich wohl nicht hierhergerufen, um mir Schmeicheleien sagen zu lassen, die meinen Charakter verderben könnten.«
»Man wird zum Dichter, der Schönheit gegenüber und auch unbegnadete Sterbliche finden dann ein geflügeltes Wort. Doch wenn Sie es wünschen, will ich erzählen, was ich in Erfahrung gebracht. Doktor Guttmann stammt aus einer Familie, die durch traurige Vorgänge zerrüttet ist. Seine Mutter hat vor langen Jahren in Begleitung eines Liebhabers ihr Heim verlassen, trägt jetzt einen englischen Namen und weilt in Italien. Man kann den jungen Gelehrten nicht für dies alles verantwortlich machen; doch es ist wohl natürlich, daß es bei ihm abgefärbt hat und daß er sich in eine geordnete Häuslichkeit, in ein stilles Familienglück nicht wird hineindenken und hineinfinden können.«
»Und mit dem Herrn Papa ist er zerfallen,« fügte die Mutter ein, »er ist jahrelang nicht nach Hause gekommen und der würdige Herr hat zu seinem täglichen Umgang eine Wirtschafterin.«
»Das alles wußt' ich freilich nicht,« sagte Ella, die ihre innere Erregung kaum bemeistern konnte, »Herr Doktor Guttmann ist sehr zu beklagen; er gehört zu denjenigen, denen die eigene Familie keinen festen Halt bietet; doch ist dies seine Schuld? Wirft das einen Schatten auf seinen Charakter?«
»Nennen Sie ihn einen Unglücklichen, meinetwegen. Doch mit den Unglücklichen ist es wie mit den Irrsinnigen; man verurteilt sie nicht, doch man geht ihnen gern aus dem Wege.«
»O nein, das Unglück adelt und schafft edle 279 Charaktere und große Gesinnung; das Glück tanzt auf der Oberfläche; die Tiefen des Lebens ergründet nur das Unglück.«
»Nun, liebster Baron,« sagte die Frau Geheimrat, »ich hoffe, daß wir noch recht lange auf der Oberfläche tanzen werden. Wenn man meine Tochter sprechen hört, so muß man glauben, daß sie irgendwo in einem Abgrund steckt, und mit ihrem Köpfchen hervortaucht, um der Welt die Greuel der Tiefe zu offenbaren.«
»Zu sehr hat sich der junge Doktor indes sein Unglück nicht zu Herzen genommen; er genießt das Leben – und ich bin der letzte, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Wie heißen doch die jungen Damen, die vor grauen Zeiten in den Baumstämmen lebten? Da läßt mich mein Griechisch und Latein im Stich. Doch halt, ich hab's – Dryaden, und ich habe Herrn Guttmann belauscht, wie er mit einer solchen Dryade ein reizendes Waldabenteuer bestand!«
»Es läßt sich hoffentlich erzählen,« warf Frau Schweiger ein.
»Ich bin kein Casanova, gnädige Frau, es ist eine ganz harmlose Begebenheit, ein kleines Genrebild, das sich im Schatten der Eichen und Buchen abspielt. Die Dryade des Doktor Guttmann war ein reizendes aschblondes Mädchen, das er in der Handhabung des Jagdgewehrs unterrichtete. Er befand sich gerade auf dem Anstand, und ich weiß nicht, aus welchem Baumstamme die kleine Halbgöttin hervorgetreten ist. Ich glaube, sie schoß dann auch das Gewehr ab. O auf dem Anstand ist es oft sehr langweilig, und es ist keine üble Idee, da für etwas Zeitvertreib zu sorgen.«
280 Die Geheimrätin lachte hell auf.
»Die Hasen meines Herrn Bruders haben keine Ahnung davon, welch zarte Hand ihnen mit Pulver und Blei den Garaus gemacht hat.«
Ella war blaß geworden. »Warum erzählen Sie mir diese Geschichte, Baron?«
»Sie hatten Mitleid mit dem Armen; ich wollte Ihnen nur beweisen, daß Sie ein Gefühl an ihn verschwenden, das Sie für einen anderen, einen Unglücklicheren aufsparen können. Ich war in der Tat neugierig, ob er diese Schöne von den Bäumen herabgeschüttelt, wo sie doch im Sachsenlande wachsen sollen, und zog nähere Erkundigungen ein; ich erfuhr durch den Waldläufer, daß das Mädchen bei einer verwitweten Förstersfrau zur Miete wohnte, daß sie dort von Doktor Guttmann Besuche empfängt. Er hat ihn selbst dort gesehen; ja, daß er sie zuletzt in die Stadt entführt hat. Der Waldläufer ist ihnen im Gehölz begegnet, und hat sie dann im Wagen sitzen sehen, der durch die Lindenallee nach der Stadt rollte.«
»Liebe Mama,« sagte Ella, »wenn es dich auch interessieren mag zu hören, wie unsere jungen Herren sich die Zeit vertreiben, so wirst du wohl mich beurlauben. Mir ist das alles sehr gleichgültig, und ich begreife nicht, warum du mich hast rufen lassen? Soll ich diese alltäglichen Geschichten mit anhören? Ich habe keinen Sinn dafür, das solltest du doch wissen, und der Klatsch ist mir verhaßt, ob alte Weiber oder jüngere Herren damit zu glänzen suchen!«
Ella verließ das Zimmer nach einer flüchtigen Begrüßung des Barons.
»Wir haben gesiegt,« sagte Perling, »sie ist so erregt, daß sie selbst die gesellschaftlichen Formen 281 vernachlässigt – und dagegen pflegt Fräulein Ella sonst nie zu sündigen. Daß sie uns in diesem Augenblicke haßt, darf uns nicht wundern, wir haben ihr ein tiefes Weh bereitet; aber die Wunde wird heilen, und wenn das Wundfieber überstanden ist, wird sie in mir einen Freund und Wohltäter sehen.«
Ella selbst war in ihr Zimmer geeilt und warf sich in stiller Verzweiflung auf das Sofa.
Sie hatte nur den einen Gedanken, »er liebte sie nicht, er liebte eine andere.«
Ihr ganzes Leben wurde auf einmal so schattenhaft, alle die Sterne verdunkelten sich, zu denen sie mit Begeisterung aufgesehen: die allmächtige Liebe triumphierte.
Was galt ihr alles andere? Mochte in seiner Familie sich Schuld auf Schuld häufen . . . er blieb ja unberührt davon; das eine nur; das eine – sein Herz durfte keiner anderen gehören. Darüber mußte sie Klarheit haben, und nur er allein vermochte sie ihr zu geben.
Sie ging zu ihrer Schwester, welche nicht ohne Bestürzung ihre Aufregung sah.
»Berta, du hast den Doktor Biesner mißverstanden!!«
»O nein!«
»Ich habe andere Nachrichten; Edgar ist mir untreu.«
»Papperlapapp! Das glaub' ich nicht! Im übrigen sind die Männer ja niemals treu, und wenn man darauf warten wollte, so gäb' es keine Ehe auf Erden; man muß schon zufrieden sein, wenn man mitgeliebt wird mit der anderen oder den anderen.«
282 »Das ist Torheit, Berta! So bescheiden bin ich nicht – und so geartet sind auch nicht alle Männer.«
»Ich nehme nur die Philosophen aus, welche die Liebe verabscheuen, wie der Doktor Biesner, mit dem zusammen ich für dich intrigiere. Nun, da soll wohl aus der verabredeten Begegnung mit dem Ungetreuen nichts werden?«
»Im Gegenteil, ich erwarte sie mit fieberhafter Spannung; er soll sich rechtfertigen, er wird sich rechtfertigen. Wird der Onkel die Wirtschafterin nicht bald fortschicken? Rede ihm doch zu; sie taugt ja nicht viel, und wir werden unsere Sache besser machen.«
»Unsere Sache – jawohl! Doch ob das gerade die Wirtschaft ist! Onkel ist heute im Schachklub; er hat jetzt einen schwachen Gegner. Da gewinnt er immer, und wenn er dann nach Hause kommt, ist er in der rosenfarbigsten Laune. Dann ist er um den Finger zu wickeln! Er soll der alten Mamsell schon früher Urlaub geben, ich werde darauf bestehen, schon um meinetwillen! Denn wenn's noch lange dauert, ehe ihr zusammenkommt, so wirst du gewiß von Tag zu Tag unausstehlicher – und du bist es schon so genug mit deiner fatalen Gelehrsamkeit, mit der ein armes Menschenkind wie ich nicht Schritt halten kann.«