Paul Grabein
In der Philister Land
Paul Grabein

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III.

»Ja, mein Kind, da wird Dir doch nichts weiter übrig bleiben, als Deinen Besuch zu machen, wenn Deine Mutter einmal so grossen Wert darauf legt!«

Frau Simmert sagte es zu Lotte Gerting, die nun schon ein paar Wochen bei ihr zu Gast weilte. Sie hatte zu Beginn des Winters die Braut ihres Sohnes auf längere Zeit eingeladen, um das Mädchen näher kennen zu lernen. Lotte hatte nun eben einen Brief von der Hofrätin aus Jena bekommen, worin diese die Tochter wieder einmal gemahnt hatte, nun doch endlich die bis jetzt verabsäumte Visite bei ihrer alten Freundin Henriette Hellmrich zu machen. Die rein persönliche Differenz zwischen Karl Hellmrich und ihrem Verlobten wäre doch schliesslich kein Grund, die alten guten Beziehungen zwischen den Müttern abzubrechen. Henriette wüsste aber doch, dass Lotti in Berlin sei, und ein längeres Hinausschieben des Besuches würde von ihr gewiss und mit Recht als eine verletzende Unaufmerksamkeit schmerzlich empfunden werden.

Lotte seufzte, als nun auch noch die Schwiegermama ihrer Mutter beitrat. Da würde ihr freilich nichts anderes übrig bleiben, als diesen Dornenweg zu wandeln. Aber es war ihr im höchsten Grade widerwärtig. Wie peinlich war es nicht für sie, der Mutter Hellmrichs nach allem Geschehenen entgegenzutreten, und womöglich ihm gar selber, denn sie wusste ja von Mama, dass er bei seinen Angehörigen wohnte.

»Ach Gott, wie kommt man denn bloss hinaus nach der Kastanien-Allee? Diese schauderhafte Gegend!« fragte Lotte mit kläglicher Miene und sah, ein verdriessliches Mäulchen machend, aber doch mit einem eingeschüchterten Blick zu der alten Dame hinüber, die steif und aufrecht ihr gegenüber am Schreibtisch ihres Arbeitszimmers sass und die zahlreichen für sie eingegangenen Briefschaften mit kühler, geschäftsmässiger Ruhe nach ihrem Inhalt in verschiedene Häufchen sortierte. Als die Schwiegermama, deren strenges Gesicht kein Zeichen näherer Teilnahme an ihrer Angelegenheit verriet, nicht gleich auf ihre Klage antwortete, fuhr das junge Mädchen mit noch stärker betonter Unlust fort: »Ich finde mich da ja überhaupt gar nicht zurecht und graule mich so furchtbar. Da gibt's doch bloss lauter Arbeiter und solch pöbliges Volk.«

»Liebe Charlotte, Arbeiter sind doch auch wohl achtbare Menschen, wenn sie ehrlich und fromm sind,« verwies sie, mit strafendem Blick aufschauend, Frau Simmert, die nach dem Tode ihres Mannes ganz in Wohlfahrtsbestrebungen kirchlicher Art aufging. »Und ausserdem, Du kommst ganz einfach dahin. Die Strassenbahn geht vom Nollendorfplatz aus direkt nach der Kastanien-Allee. Du kannst also bis vor's Haus fahren.«

Lotte fand in diesem Moment die Schwiegermama einfach wieder einmal empörend. Diese Gnietschigkeit! Statt dass sie vom Mädchen eine Droschke holen liess, mutete sie ihr wahrhaftig zu, Strassenbahn zu fahren, und diese endlose Strecke – womöglich mit lauter ekligen Marktweibern und schweissduftenden Arbeitern. Aber so war sie ja immer!

Lotte war überhaupt sehr wenig entzückt von ihrem Aufenthalt hier. Wie anders hatte sie sich das alles vorher ausgemalt. Sie hatte gehofft, recht viel von Berlin zu sehen zu kriegen, ordentlich Gesellschaften mitzumachen und als Bräutchen allenthalben gehätschelt und gefeiert zu werden – und nun nichts von alledem! Rolfs Mutter war ja eine so ernste, bigotte Frau, die ewig bloss von ihren Bibelstunden, Missionsversammlungen und Komitee-Sitzungen sprach – es war ja zum Auswachsen. Und so furchtbar streng! Sowie man bloss mal ein unbedachtes Wort sagte, wie sie es doch von Haus aus so gewöhnt war, bums, kriegte man gleich immer eins auf den Mund. Und von Vergnügen keine Ahnung! Immer nur im Haus glucken, einen Tag wie den andern. Keine Gesellschaften, nicht einmal ins Theater kam man. Nur einmal, da war sie mit ihr ins Schauspielhaus, in die »Jungfrau von Orleans« gegangen – die sie als Schulmädel schon nicht mehr hatte ausstehen können. Und dann dieser wirklich ekelhafte Geiz! Bei dem Riesenvermögen, das ihr doch ihr verstorbener Mann hinterlassen hatte, gönnte sich diese Frau nichts, aber rein gar nichts! Da sass sie zwar, – doch lediglich aus Pietät gegen den Verstorbenen – noch in der grossen, eleganten Wohnung in der Tauenzienstrasse, aber bloss mit zwei Mädchen. Kein Diener, kein Kutscher, kein Wagen, was sie sich doch gewiss alles hätte bequem leisten können. Ja – es war wirklich zum Lachen! – – sie spendierte sich nicht einmal eine Droschke, wenn sie ausging, sondern immer bloss Hochbahn und Elektrische. Wirklich, es war gar nicht zu begreifen, wie ihr Rolf, der reizende, elegante Mensch, solche Mutter haben konnte. Na, wenn es nicht um ihn gewesen wäre, so hätte sie ja auch schon längst wieder eingepackt! Aber leicht war's hier wahrhaftig nicht, sie sehnte sich schon wieder ganz furchtbar nach Haus, wo sie doch nach ihrer Façon leben konnte und von allen Leuten verhätschelt wurde. –

Lotte hatte sich also richtig auf den Weg gemacht; aber in die »Elektrische« hatte sie sich doch nicht bequemt. Sie wollte recht schneidig und vornehm bei Hellmrichs vorgefahren kommen, wie es der Braut eines so reichen Erben zukam. So griff sie denn lieber in ihre kleine Privat-Reisekasse und riskierte mal zwei bis drei Mark für einen Taxameter, den sie ein paar Strassenecken weiter nahm. Sie kam sich nun sehr chik vor, als sie so ganz solo, in ihrem hübschen, extra für diese Reise angefertigten Visitenkostüm flott dahinfuhr. Die beifälligen, mitunter zwar auch recht dreisten Mienen und Blicke der Herren, die sie prüfend musterten, nahm sie als eine angenehme, prickelnde Huldigung insgeheim sehr befriedigt hin, wenn sie zwar auch äusserlich eine sehr vornehme kalte Gleichgültigkeit markierte und sich nonchalant in ihren Wagen zurücklehnte.

So war die Fahrt, so lange sie durch die belebten Stadtteile führte, wo es »anständige« Menschen gab, sehr amüsant; aber dann, nach dem Norden zu, wurde es abscheulich. Pfui! wie konnte man bloss in diesem grässlichen, düsteren Viertel, zwischen all diesen kleinen Leuten wohnen! Na, Gott sei Dank, dass sie dem Schicksal klug aus dem Wege gegangen war! – Nun war sie am Ziel ihrer Fahrt angelangt. O Gott, der Taxameter zeigte schon zwei Mark siebzig; das gab ein schönes Loch in ihren Reisefonds. Aber ganz gleich; um alles in der Welt hier nur nicht zu Fuss zurückgehen oder in die Strassenbahn steigen! So hiess sie denn den Kutscher warten und sprang schnell aus der Droschke. Ein paar Arbeiterfrauen, die die elegante jugendliche Gestalt sahen, wie sie leichtfüssig, die Röcke vorsichtig, mit einer leichten Gebärde des Ekels hochgenommen, als scheue sie die Berührung dieses Vorstadtbodens, schnell ins Haus eilte, grinsten ihr höhnisch nach. »Kiek doch die da. Det is ja woll janz wat Feinet!« – »Na, wer weess, wo die die feine Kledage her hat! Wat Reelles is det doch nich,« klang es ihr giftig nach. Ganz blutrot vor Scham und Empörung, helle Tränen in den Augen, stürzte das Mädchen die Treppen empor.

Lotte Gerting musste sich, oben angekommen, erst ein paar Augenblicke sammeln, ehe sie die Klingel zog. Aber ruhig war sie noch immer nicht, und dazu kam die Befangenheit, wie die peinliche Szene sich hier wohl abspielen werde. Nun, sie würde es ja jedenfalls sehr kurz machen, höchstens ein paar Minuten, dann empfahl sie sich wieder. Nun näherten sich drinnen Schritte, und ein junges Mädchen öffnete, sehr einfach angezogen, aber dem hübschen, feinen Gesicht nach offenbar doch kein Dienstbote, also gewiss Hellmrichs Schwester. Lotti nestelte etwas verlegen an ihrem modischen Portemonnaie herum, in dem sie auch ihre schmalen Visitenkarten untergebracht hatte, und sagte mit halblauter Stimme: »Bitte, ich wollte der gnädigen Frau meine Aufwartung machen – Charlotte Gerting aus Jena.«

»Ah, Fräulein Gerting!« In unverhüllter Überraschung kam es von Lisbeths Lippen, und ihre Miene nahm im ersten Augenblick einen kühlen, fast abweisenden Ausdruck an. Doch sofort besann sie sich auf ihre Pflichten und fuhr höflich fort: »Aber bitte, treten Sie doch näher. Mama wird sich sehr freuen.«

Sie führte den Besuch in die gute Stube, das einzige Zimmer der kleinen Wohnung, das nicht auch zugleich als Schlafraum diente, und bat, sie ein paar Augenblicke entschuldigen zu wollen. Charlotte liess sich auf einem der altmodischen, kleinbürgerlichen roten Sammetfauteuils nieder, die wohl noch aus der Hochzeitseinrichtung der Frau Hellmrich stammten, wie überhaupt das ganze bescheidene Mobiliar dieses Raumes.

Prüfend musterte sie das Zimmer. Im ersten Augenblick schürzten sich die Lippen des jungen Mädchens etwas geringschätzig. Mein Gott, wie spiessbürgerlich, wie dürftig! Wenn sie an die stilvolle Eleganz der Simmertschen Wohnung dachte! Aber dann, wie sie so im einzelnen ihre Wahrnehmungen machte – da in der Ecke der schöne, edle Kopf der Goethebüste, die wohl einst den Ehrenplatz in der Studierstube des verstorbenen Professors Hellmrich eingenommen haben mochte; über dem Sofa ein paar alte, wertvolle Stiche und hier und da auf den Möbeln manch pietätvoll aufbewahrtes altes Zierstück, das von einem feingebildeten Geschmack und einer besseren Zeit zeugte – da wandelte sich leise ihr Empfinden.

Eine mitfühlende, weichere Stimmung stieg in ihr auf. Ähnelte doch hier so manches dem eigenen Hause, wenn freilich dieses auch grössere Behaglichkeit und einen gewissen Komfort zeigte; aber hier wie da wehte ein stiller, leiser Hauch der Trauer um einen allzufrüh Dahingeschiedenen, die liebevolle Pflege der Erinnerung an den teuren Toten durch das Haus. Und seltsam – mit einem Mal tauchte in Charlotte ganz unvermittelt der Gedanke an jenen fernen Waldgang mit Karl Hellmrich auf, so greifbar, dass sie seine warmen, treuen Blicke und den Klang seiner herzlichen Worte wieder wahrzunehmen glaubte, und wie damals umwebte sie im Augenblick wieder ein seltsames Gefühl, dass alte unsichtbare, aber tiefinnerliche Bande sie mit ihm verknüpften.

Das junge Mädchen schloss einen Moment lang die Augen, und ein leiser Seufzer entfuhr ihren Lippen. Denn zugleich mit diesem Bilde drängte sich ein anderes vor ihre Seele: Die Gestalt der ernsten, strengen Mutter Rolfs, mit all dem Frosthauch, der sie wie ihr ganzes Haus trotz seines Glanzes erfüllte und ihr jugendlich-warmes Empfinden ängstlich erstarren liess.

Doch schon raffte sie sich wieder zu einer korrekten Haltung zusammen. Die Tür wurde aufgeklinkt, und eine ältere Dame erschien, im dunklen, schlichten Hauskleid, ein grauseidenes Häubchen im Haar, mit etwas blassem, aber freundlichem Gesicht – Hellmrichs Mutter. Hinter ihr trat auch die Tochter wieder ins Zimmer.

Charlotte klopfte das Herz lebhaft, als sie nun rasch auf die Hausfrau zuging und ihr mit einem tiefen Knicks wohlerzogen die Hand küssen wollte, eine schmale, weisse, aber faltenreiche und ausgearbeitete Hand, die nur zwei dünne, gelbe Goldreifen am Ringfinger schmückten. Aber Frau Hellmrich liess es nicht dazu kommen, sondern zog das junge Mädchen an sich, einen mütterlichen Kuss auf ihre noch umschleierte Stirn hauchend. »Wie lieb, Fräulein Lotti, dass Sie sich bei mir sehen lassen!« sagte sie, und man hörte ihrer Stimme die herzliche Freude an. »Nun seh' ich doch wenigstens die Älteste von meiner guten Anne-Marie, anstatt ihrer selbst!«

Sie führte Charlotte, den Arm zutraulich um ihre Schultern legend, zum Sofa und zog sie zu sich nieder. »Und was für eine grosse Dame Sie geworden sind, seitdem ich Sie nicht mehr gesehen habe. Aber natürlich, wenn man sogar schon verlobt ist! Nun, nehmen Sie noch einmal, jetzt mündlich, meine aufrichtigen, innigen Glückwünsche entgegen, meine liebe Lotti! Möchten Sie so recht von Herzen glücklich werden mit ihrem Verlobten!« Und abermals küsste sie das Mädchen auf die Stirn.

Charlotte stieg dabei eine brennende Röte der Scham und tiefer Verwirrung ins Gesicht. Sie wagte nicht aufzusehen, als ahnte sie die scharf prüfenden Blicke von Hellmrichs Schwester, die ihr da stumm gegenüber sass. Mein Gott, wie entsetzlich waren ihr diese Glückwünsche aus dem Munde der offenbar nichts ahnenden Mutter des Mannes, dem sie das schwerste Herzeleid zugefügt hatte! Wie glühende Dolchspitzen drangen ihr diese gütigen, herzlichen Worte in die Brust. Nur mit höchster Selbstüberwindung gelang es ihr endlich, ein paar abgerissene Dankesworte zu stammeln.

Zum Glück erleichterte ihr Frau Hellmrich die Situation wenigstens nun dadurch, dass sie mit grossem Interesse nach Charlottes Mutter, ihren Geschwistern und Angelegenheiten ihrer Familie fragte. So brauchte sie nur zu antworten und fand dabei ihre Sicherheit wieder. Trotz der grossen Peinlichkeit des ganzen Zusammenseins regte sich doch in Charlotte bald ein aufrichtiges Gefühl der Sympathie für die alte Dame. Sie hatte etwas so Herzliches, ehrlich Teilnehmendes an sich, dass es ihr im Gegensatz zu der gefühlskalten Atmosphäre des Simmertschen Hauses ausserordentlich wohl tat.

Frau Hellmrich ähnelte darin sehr ihrer Mutter, nur dass jene offenbar ein tiefer und ernster angelegter Charakter war. Unwillkürlich kam ihr der Gedanke: Der Sohn ist ganz ihr Ebenbild. Dagegen fühlte Charlotte sofort vom ersten Augenblick an eine starke Schranke zwischen sich und Hellmrichs Schwester. Die trotz aller Höflichkeit kühle Zurückhaltung Lisbeths verriet ihr, dass diese von dem Bruder in sein Herzensgeheimnis eingeweiht worden war, und dass sie der Fremden, die ihm solchen Schmerz bereitet hatte, nicht verzeihen konnte.

Dieses Bewusstsein, das infolge Lisbeths auffälliger Nichtbeteiligung an der Unterhaltung in dem jungen Mädchen immer klarer und stärker wurde, drängte Charlotte schliesslich dazu, schneller, als sie es trotz aller Vorsätze der gütigen Dame zu Liebe sonst getan haben würde, sich zum Aufbruch zu erheben. Aber da wehrte ihr Frau Hellmrich lebhaft:

»Nicht doch, Fräulein Lotti, Sie wollen doch nicht etwa schon gehen? Aber das wäre! Nein, so schnell lass' ich Sie nicht wieder weg! Und Sie haben ja auch noch nicht einmal unserem Karl Guten Tag gesagt. Der würde Ihnen das aber sicher sehr übel nehmen,« fuhr sie harmlos scherzend fort. »Wo er in Jena so viel mit Ihnen zusammen gewesen ist und so schöne Stunden mit Ihnen verlebt hat! – Ja, wo steckt denn der Junge überhaupt nur?« wandte sie sich fragend an die Tochter. »Er weiss am Ende wohl noch gar nicht, dass Fräulein Lotte hier ist?«

Eine für Charlotte entsetzlich drückende kurze Pause entstand. Ihr war, als müsste sie ohne jedes weitere Wort davon stürzen, und unwillkürlich suchten ihre verstörten Blicke Lisbeth. Zum erstenmal sahen sie sich da in die Augen. Hier ein allen Stolz vergessendes, verzweifeltes Flehen: Bitte, bitte, erspar' mir doch das Letzte wenigstens! Dort einen Augenblick eine kalte, strafende Genugtuung; dann ein Blick, der zu sagen schien: Ich täte es wohl, zwar nicht um Deinetwegen, sondern um ihm die Qual dieser Begegnung zu ersparen. Doch alsbald ein kaum merkliches Achselzucken: Aber es wird ja nicht gehen! Wie soll ich der armen Mutter Karls Fernbleiben plausibel machen?! Und die Lippen sprachen nun etwas verlegen:

»Allerdings, Mama! Ich wusste nicht – Karl sitzt gerade über einer sehr wichtigen Vorbereitung für morgen, für die schriftliche Prüfungsarbeit in der Zoologie.«

Sofort griff Charlotte nach dem Rettungsseil, das ihr zugeworfen wurde. Eilends sprach sie und suchte die Hand Frau Hellmrichs zum Abschied zu erfassen:

»Aber nein, auf keinen Fall, gnädige Frau! Ich möchte um alles in der Welt nicht Ihren Herrn Sohn bei seiner Examenarbeit stören. Ich hoffe ihn ja bald – das nächste Mal zu sehen. Also –«

»I, so schlimm ist das doch nicht. Auf eine Minute kommt es doch nicht an! Nein, da kenne ich meinen Jungen besser; der würde mir im Gegenteil schön böse sein, wenn ich Sie so fortgehen liesse. Also, Liesel, spring' schnell hinein und sag' ihm, wer da ist.«

Dieser bestimmten Aufforderung der Mutter gegenüber gab es natürlich kein Ausweichen mehr. Stumm also ging Lisbeth hinaus, den Bruder zu holen.

Ein paar martervolle Minuten verrannen. Lotte war, als würde sie jeden Augenblick hilflos in Weinkrämpfe ausbrechen; dabei musste sie auch noch reden. Sie wusste nicht, was ihre Lippen mechanisch murmelten; hinterher nur wunderte sie sich, dass Frau Hellmrich ihr nicht zweifelnd an den Kopf gegriffen hatte, ob sie denn wirklich nach all dem wirren Geschwätz noch zurechnungsfähig sei.

Dann – dann endlich kam das Gefürchtete, und doch war es nach dieser Tortur des Erwartens schier wie eine Erlösung.

Unter fast ganz gesenkten Wimpern scheu zu Hellmrich aufschauend, sah sie nur so viel, dass er blass, aber völlig gefasst war, wie er vor ihr stand. Ja, seine Stimme klang ganz kühl, als er ihr nun eine förmliche Verbeugung machte.

»Mein gnädiges Fräulein, ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen. Darf ich fragen, wie es Ihrer Frau Mutter geht?«

Höchst betroffen sah Frau Hellmrich den Sohn an. Was war das? Diese steife, mehr als förmliche Begrüssung gegenüber der Tochter ihrer alten Freundin, gegenüber der Lotte, von der er ihr doch so oft in seinen Briefen und in den Ferien warmherzig vorgeschwärmt hatte?

Charlotte merkte es wohl und, einem echt weiblichen Instinkt folgend, um nur keine kompromittierende Szene, keinen Eklat zu haben, zwang sie sich lieber in übergrosser Anspannung zu einem völligen Verleugnen ihres innersten Fühlens. Schnell streckte sie Hellmrich die Hand hin, die dieser nur zögernd ergriff – sie fühlte deutlich, wie widerspenstig sich seine kalten Finger in ihre fiebrig heisse Hand legten – und lächelnd sprach sie, allerdings etwas in nervöser Hast:

»Danke vielmals! Mama lässt Sie speziell herzlich grüssen. Wir sprechen so oft von Ihnen. Es war doch manchmal zu famos in Jena – nicht? Aber wie geht's Ihnen vor allen Dingen? Die Examenarbeiten strengen Sie gewiss sehr an. Sie sehen auch wirklich ein bisschen angegriffen aus. Nun, dafür werden Sie sich aber nachher um so schneller erholen, wenn Sie erst glücklich durch sind – natürlich oben durch!« lachte sie. »Wann ist's denn so weit?«

Hellmrich starrte sie eine Sekunde aufs tiefste betroffen an. War es denn wirklich möglich, dass sie sich so verstellen, da leichtfertig lachen und scherzen konnte, wo ihm hoffnungslos traurig zu Mute war? Aber, er sah es, hörte es ja nur allzudeutlich! Und plötzlich überkam ihn eine unendliche Bitterkeit, fast ein Ekel vor dieser Weibesnatur, die so zu spielen und täuschen verstand.

Sein noch kälterer, fast eisiger Ton, als er dann gemessen antwortete, und ein verächtlicher Zug um seine Lippen verrieten Charlotte nur allzu deutlich sein Empfinden, aber seine Blicke vermieden es, die ihren zu treffen. So konnte er das gedemütigte, todwunde Flehen in ihren feuchtschimmernden Augen nicht sehen, das ihn anschrie: »Nicht diese unbarmherzige Verachtung! Siehst Du denn nicht, wie mir mein Herz in diesem Augenblick blutet, während der Mund lacht?!« Er sah es nicht, sondern wandte sich, ihrer nicht mehr achtend, mit einem Wort an die Schwester.

Da war Charlottens Kraft zu Ende. Mühsam stammelte sie nur noch einige Abschiedsphrasen. Frau Hellmrich, die nunmehr wusste, dass da etwas in der Luft lag, nötigte sie auch nicht länger zum Bleiben; vielmehr geleitete sie den jungen Gast, der sich nur mit einem flüchtigen, verwirrten Kopfneigen von den steif und stumm dastehenden Geschwistern verabschiedete, schnell hinaus. Wenn sie nun auch ahnte, dass ihr Sohn eine unerwiderte Liebe zu Charlotte im Innersten trug, empfand sie doch im Augenblick keinen Groll gegen diese. Vielmehr war ein warmherziges, mütterliches Mitleid in ihr mit dem jungen Ding, dessen schwere Qualen sie da eben ja nur allzu deutlich mitangesehen hatte. So zog sie denn Lotte ganz unerwartet, sodass diese heftig zusammenschrak, vor der Flurtür an sich – sie waren beide hier ganz allein – und flüsterte ihr mit herzlichem Ton leise zu:

»Wenn Sie einmal das Bedürfnis haben sollten, sich auszusprechen, kommen Sie zu mir, Lotti. Sie dürfen auf ein völliges Verstehen und herzliches Mitempfinden rechnen!«

Das war zu viel für das aufgewühlte junge Gemüt. Diese unerwartete, beschämende Güte gerade von der Seite raubte ihr den letzten kleinen Rest von Fassung. Heisse Tränen schossen ihr aus den Augen, während sie die Hand der mütterlichen Freundin heftig ergriff und an ihre zuckenden Lippen presste:

»O, Sie sind so gut, so gut! Ich verdiene das ja gar nicht. Wenn Sie wüssten!« –

Dann riss sie sich eilends los und war im nächsten Augenblick draussen.



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