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Die Roggenfelder zu beiden Seiten der steilaufsteigenden Chaussee nach Wilmersdorf waren gemäht, nun begann man auch, zum letztenmal im Jahre, das hohe Gras auf den tief gelegenen Wiesen zu schneiden. Die Zeit der schweren Gewitter war längst vorüber – erstes Herbstahnen lag in der Natur. Doch der Himmel, jetzt so hoch gewölbt, flimmerte in köstlichem Blau, in der klaren Luft klangen die Stimmen der Schnitter seltsam nah, und um die Mittagsstunde brannte die Sonne heiß hernieder. Morgens und abends aber woben feine, blaue Nebelschleier – ein schon merkliches Kürzerwerden der Tage, eigene Stille im Wiesengelände, als fehlten Vogelstimmen, die sonst unablässig jubilierten.
Der Tod des Museumsbeamten Wilhelm Kienitz hatte in der Zeitung gestanden. Die Begleitumstände – der Tobsuchtsanfall im Museum – waren doch bekannt geworden und hatten Anlaß gegeben, an einen ähnlichen Fall im Archäologischen Museum zu Florenz zu erinnern, wo kürzlich von einem plötzlich wahnsinnig gewordenen Saaldiener die kostbare François-Vase zertrümmert worden war.
Unglückliche häusliche Verhältnisse, vor allem aber der Kummer über eine mißratene Tochter, hätten wohl, hieß es in der Zeitung, das Gemüt des pflichttreuen, verdienten Kienitz so verdüstert, daß er – in der Wahnvorstellung, diese Tochter zu züchtigen – auf die Statue eingeschlagen. Der Schaden sei nicht bedeutend, da es sich nur um einen leicht wieder zu beschaffenden Gipsabguß handele – aber das Schicksal des unglücklichen Vaters sei zu bedauern. Eine Warnung an die Eltern, ihre Töchter vor der Verführung durch die Großstadt zu schützen, bildete den Schluß der ergreifenden Abhandlung.
Bei der Beerdigung, zu der eine Abordnung des Kriegervereins und der Kollegen des Verstorbenen sowie viele Neugierige erschienen waren, wäre es beinahe zu Beschimpfungen der mißratenen Tochter gekommen. Aber da hatte sich plötzlich eine stattliche Dame mit schlohweißem Haar durch die um das offene Grab Stehenden gedrängt und sich neben das verängstigte Mädchen gestellt. Der scharfe Blick der großen Blauaugen war über die erregten Gesichter geglitten, von einem zum andern, als suchte er den, der ihm standzuhalten vermöchte – diesem Blick, der drohende Warnung ausdrückte ...
Das war in jener kurzen Spanne gewesen, ehe der Geistliche zu sprechen begonnen hatte. Nun verklangen auch die letzten Worte des Vaterunsers, und man stieg auf die die Gruft einfassenden Bohlen, um drei Hände voll Erde auf den Sarg zu streuen. Als man sich dann umgesehen, waren die »ungeratene« Tochter und ihre merkwürdige Beschützerin verschwunden gewesen.
Einige wollten bemerkt haben, daß sich nachher noch zwei Herren den beiden am Friedhofsportal angeschlossen hätten. Die ehemaligen Kränzchenfreundinnen erzählten, daß der jüngere von ihnen der »Verführer« gewesen sei. In den beiden anderen Personen vermutete man den Direktor und die Leiterin der Besserungsanstalt für sittlich verwahrloste Mädchen. Rätselhaft nur, daß man dem »gemeinen Kerl« die Begleitung seines Opfers gestattet. Da stimmte also etwas nicht.
Und so hatte die Potsdamer Vorstadt auch diese Aufregung hinter sich und konnte zur Ruhe kommen und kam auch zur Ruhe, denn daß der reiche Holzhändler Wilhelm Balte vom Lützowplatz einen Meineid geschworen haben sollte, interessierte nur einen kleinen Kreis heiratslustiger Witwen, deren Hoffnungen nun allerdings vernichtet waren.
Ja – das Leben schiebt die Menschen wie Figuren auf dem Schachbrett des Daseins hin und her, läßt sie dann aber oft plötzlich stehen, hat sie vergessen – an ihnen selbst ist es nun, ihr Schicksal zu gestalten ...
Für Frau Kienitz hieß das, mit der kümmerlichen Witwenpension für sich und die jüngeren Kinder auskommen, denn für die ältere Tochter wurde ja von Fräulein Sandbohm gesorgt, die das Mädchen wieder zu sich genommen hatte, damit es nicht Spießruten im Hause und auf der Straße zu laufen brauchte. »Denn weiter wär's doch nischt, wenn sie bei Ihnen bliebe«, hatte Rieke gesagt. »Die Menschheit is ja total verrückt, das hab' ich doch bei's Bejräbnis jesehen. Na – es werden ja auch mal Zeiten kommen – freilich, ich werd' sie nich erleben –, wo man nicht mehr so erbärmlich über ein junges Mädchen denken wird! Ich hab mal 'ne Schachtel mit Pfefferminzplätzchen jehabt, da war ein Bild mit 'n Amor drauf und drunter stand:
»Der du so verwegen sprichst –
Kennst du Amors Pfeile nicht?«
»Ja – wenn sie einen erst ins Herz pieken – die Pfeile dann ist es zu spät, aber dafür kann doch keine nicht, denn sie kommen aus'n Hinterhalt! Und das wird man dann wissen und so'n armes Ding nich mehr steinigen, wie heutzutage.«
Und für Walter hieß es jetzt, Ernst machen mit der Arbeit. »Ich brauchte«, hatte er seinem Freunde Volkmar geantwortet, »noch einen anderen Lebensinhalt als das Studium, um nicht am Dasein zu verschmachten, nun habe ich ihn gefunden in meinem engen Verbundensein mit dem geliebten Mädchen. Deine teilnehmenden Folgerungen aus dem breitgetretenen Klatsch in den Zeitungen sind irrig, weil sie aus falschen Voraussetzungen gezogen werden, aber ich hab' nicht die Zeit, dir alles auseinanderzusetzen. Was mir bisher gefehlt hatte, um energisch auf ein Ziel loszusteuern, diesen Ansporn habe ich jetzt endlich! Verflucht nur, daß man die Karre eine bestimmte Zeitlang noch schleppen muß, ehe man zum Examen zugelassen wird – sonst wäre ich mit Hilfe eines Einpaukers vielleicht schon in vier Wochen dort, wozu ich jetzt noch Jahre brauche. Also – damit du es weißt – ich arbeite wie ein Irrsinniger und fülle meinen Kopf mit totem Wust an ...«
Seiner Mutter aber hatte er geschrieben: »Du hast es durch einen Brief an meine Verlobte hinter meinem Rücken versucht, unsere Liebe zu zerstören. Ich habe, an demselben Abend, an dem ich davon erfuhr, das getan, was notwendig war, um ein Auseinandergehen für immer unmöglich zu machen. Trennte ich mich jetzt von Elsbeth, so wäre ich derselbe gemeine Schuft wie Onkel Herbert. Nein, nun sind wir unlösbar miteinander verbunden, als hätten wir in der Kirche vor dem Traualtar gekniet. Dir aber, meine Mutter, will ich sagen: Du hättest, nachdem ich dir so offen gestanden, wie sehr ich Elsbeth liebe, den Versuch machen müssen, das Mädchen meiner Wahl kennenzulernen. Dann, dessen bin ich sicher, hättest du selber mitgeholfen, daß ich glücklich werde. Du zitierst Bibelsprüche, ich zitiere dir auch einen, weil die Worte der Heiligen Schrift mehr Eindruck auf dich machen als die Sprache meines Herzens. Und dieser Spruch lautet: ›Und der Mann wird Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen.‹ Die Unterstützung, die du mir entzogen hast, brauche ich nicht. Ich kann mein Studium auch ohne deinen Zuschuß beendigen, ebenso ist für meine Existenz gesorgt, denn es gibt ein Herz, betrogen und verraten, das doch an das Höchste im Leben – an die Liebe – glaubt und ihr hilft. Irgendwo, du wirst es in deiner Bibelfestigkeit besser wissen als ich, wo es steht, wird mahnend gerufen: ›Liebet einander!‹ Dein Leib- und Magenprediger sagte mal bei einem Gottesdienst in bezug auf diese Worte: ›Das ist hier, für dieses irdische Jammertal, der Weisheit letzter Schluß!‹ Eine für dich ›Verrückte‹ muß diese Weisheit betätigen, es gehört wohl aber ein Überschwang des Herzens dazu, den nicht alle haben. Was du jedoch vorher nie erreicht hättest, das geschieht jetzt: Ich studiere ›mit heißem Bemüh'n‹. Mache dir also keine Sorge um mich, ich bin auf dem besten Wege, um meiner Liebe willen, ›etwas zu werden‹. Wenn du dann eines Tages sehen wirst, was ich Elsbeth verdanke – ich meine in deinem Sinne verdanke, also was die Karriere anbetrifft, wirst du deine jetzigen Anschauungen über Elsbeth wohl korrigieren. Und dann – ja, wenn es dann nicht zu spät geworden ist für dich, wird dich dein Mutterherz zu uns treiben, dessen bin ich sicher ...«
Mit dumpfem Aufschlag war der trotzige Brief in den blauen Kasten gefallen. Mit jäh auflodernden Empfindungen der Liebe für die Mutter, die nun morgen früh dieses Schreiben erhalten würde, war Walter dann heimgekehrt. Ach – er hatte nicht Lust, die Lampe anzuzünden, weiterzuarbeiten. In seinen Briefen und seinem Auftreten sichere und sieghafte Zuversicht, aber im Herzen eine Bangigkeit, die sich nicht niederkämpfen lassen wollte. Nach außen hin bunt geflaggt – wie Tante Riekchen damals grelle Farben zeigte, als sie vom Glück betrogen worden war – im Inneren jedoch schwarzer Flor.
»Ich bin« – stand in Elsbeths Brief – »ich bin so unglücklich geworden, weil ich mit dir glücklich sein, ach, das höchste Glück meines Lebens haben wollte. Darum ließ ich es auf die Feuerprobe unserer Liebe ankommen, wollte wissen, ob du sie bestehst. Ich gab alles für dich preis, meine Eltern, meinen Stolz, meine Unschuld und dachte nur daran, wie du dich nun verhalten wirst, dachte aber nicht an die übrigen. Da bekam ich meine Strafe. Denn ich bin schuld, daß mein Vater, den andern erkenne ich nicht als Vater an, sterben mußte, daß mich meine Mutter mit verlegenen Augen ansah. Es hätte nur noch gefehlt, daß du dich voll Verachtung von mir abgewendet hättest, dann wäre es mir ganz recht gewesen, wenn man mich in eine Besserungsanstalt gebracht hätte. Jetzt nun ist nach Vaters Tode schon so lange Zeit vergangen, daß wohl so etwas nicht mehr zu erwarten ist, aber Liebesgedanken habe ich nicht mehr im Sinn, ängstige mich sogar davor. Laß mich also zur Ruhe kommen – bis ich dir schreibe ...«
Diesen Brief hatte Walter eine Woche nach dem Begräbnis erhalten. Die Tage wurden zu Wochen und die Wochen zu Monaten, Elsbeth schrieb nicht.
Sensenklang in den Roggenfeldern, ein Stillerwerden der Natur – erstes Herbstahnen ...
Und plötzlich besinnt sich das Leben – oder das Schicksal oder wie man sie sonst nennen will – diese Macht, auf die Menschlein und verändert ein wenig ihre Stellung auf dem Schachbrett des Daseins.
Wieder einmal an solch einem Spätsommerabend war die Stube vom Licht des Vollmonds erfüllt. Walter saß am offenen Fenster und starrte den bleichen Gesellen an. »Lügner«, dachte er – »alles sieht anders aus, wenn die Sonne kommt. Wie viele schon haben bei deinem Lügengesicht falsch geschworen! Onkel Herbert gehörte zu ihnen, ich aber nicht – nein, ich bin keine Verführernatur, will kein Opfer – will eine Einzige – für immer, denn ich will die, die solche Macht auf mich ausübt. Und das ist Elsbeth! Ach, geschähe doch ein Wunder, das sie mit Macht zu mir triebe!«
Eine Vollmondnacht vergeht, grelles Tageslicht ist da, die Welt sieht plötzlich wieder recht nüchtern aus. Aber, ja aber! Das erflehte Wunder geschieht trotzdem, es trifft ein, es kommt, doch es sieht gar nicht aus wie ein Wunder, zuweilen wie ein Unglück.
Elsbeth hatte erklärt, daß sie die Mutter besuchen wolle, ihre Sehnsucht lasse sich heute nicht bezwingen. »Wird's mir zu spät, dann schlafe ich mal wieder zu Haus und komme erst morgen, ängstige dich also nicht, Tante Riekchen!«
Und dann war sie bei der Mutter gewesen, freudig begrüßt von den jüngeren Geschwistern, denen sie Obst, Rettigbirnen und Pflaumen, aus dem Garten mitgebracht. Die Mutter aber hatte, wie immer jetzt, ein etwas gedrücktes, fast scheues Benehmen gezeigt – ja, das Verhältnis zu dieser Tochter hatte sich, beide fühlten es, schmerzlich-seltsam verschoben.
»Ich habe«, sagte Elsbeth – »am Abend noch eine Besorgung für Fräulein Sandbohm zu machen. Wahrscheinlich wird es zu spät werden, um noch über die Wiesen zurückgehen zu können. Ich nehme mir darum den Schlüssel mit, mein Bett in der Kammer ist ja in Ordnung, geht also ruhig schlafen, ich störe euch nicht!«
Frau Kienitz hatte sich ihr Teil gedacht, aber nichts gesagt, sich nur im stillen gewundert, daß diese Liebschaft so umständlich sei! Warum trafen sie sich nicht draußen, in der einsamen Villa?
Aber Elsbeth schlug nicht die Richtung ein, die zu dem Hause an der Apostelkirche führte. Nein, auf Umwegen, von der Lützow- durch die Dennewitzstraße, ging sie durch die Kurfürsten- nach der Steinmetzstraße.
Sie wollte zur »Frau Matthis«. Zu der ging man, wenn man sich Gewißheit über die nächste Zukunft zu schaffen versuchte. Schon einmal war sie da gewesen – früher – mit sechs andern von den Kränzchenschwestern. Aber damals war es nur Ulk gewesen, obwohl nachher alles eingetroffen, was die Alte prophezeit ...
Heute aber war es nicht Ulk, was sie zu der Kartenlegerin trieb, sondern eine seltsame Angst.
Frau Matthis wohnte im Hinterhause – im Keller.
»Wer ist da?« fragte sie mißtrauisch durch die Türspalte.
»Ich war schon mal bei Ihnen, machen Sie mir auf«, sagte Elsbeth.
Die Tür wurde geöffnet. »Ich bin eins von den jungen Mädchen, die mal bei Ihnen waren. Die Schneiderin Kuttig hatte uns Ihre Adresse genannt!«
»Na denn kommen Se man rin!«
Eine Petroleumlampe brannte bereits, aber so matt, daß gerade nur der Tisch beleuchtet wurde. Der übrige Raum blieb im Dämmerlicht. Und so wie damals, beim ersten Besuch, nahm Elsbeth ein Markstück und schob es, ein bißchen umständlich, unter den hohlen Fuß der Lampe.
Frau Matthis war viel zu sehr beschäftigt, um diesen Vorgang bemerken zu können. Sie stäubte eifrig einen Stuhl ab, stellte ihn nun Elsbeth hin und setzte sich auch an den Tisch. Und jetzt, da der Lichtschimmer darauf fiel, sah Elsbeth wieder das Gesicht der Alten. Ja, auch diesmal empfand sie es: Das war das Gesicht einer wirklichen Kartenlegerin – diese Nase, die wie ein Schnabel aussah – diese Augen, die denen einer Eule glichen – dieser furchtbare, zahnlose Mund!
»Sie haben Kummer – Fräuleinchen? Ja – dann kommen se immer alleine, die jungen Meechens, und immer, wenn ich jrade ans Schlafenjehen denke ...«
Elsbeth, ohne zu antworten, starrte die Alte nur an.
»Na – dann wollen wir mal sehen, wat los is!«
Frau Matthis zog ein Spiel Karten aus der Rocktasche, mischte es erst langsam und bedächtig, dann sehr rasch und begann die Karten in kurzen Reihen auf dem Tisch auszubreiten. Bei der dritten jedoch hielt sie schon inne, schüttelte ärgerlich den Kopf und machte eine Handbewegung, als sollte sich Elsbeth selber ansehen, was sich bereits offenbart habe.
Plötzlich nahm sie die Karten wieder zusammen, mischte sie – nun selbst erregt – aufs neue, warf die Coeurdame offen auf den Tisch und bedeckte sie mit einer Anzahl anderer, hastig herausgezogener Karten. Und als sie diese, die umgekehrt gelegen, aufhob und betrachtete, ließ sie bei jeder einen Schnalzlaut der Betrübnis hören.
»Ja – es is so, wie es is«, sagte sie, sich jäh an Elsbeth wendend.
»Was?«
»Aber, Fräuleinchen, es is so, Sie wissen ja selbst, wie es mit Ihnen steht!«
Ein Gefühl eisigen Entsetzens krampfte Elsbeths Herz zusammen. Sie begriff, was die Alte meinte.
»Aber dann nachher«, sagte Frau Matthis tröstend – »ja nachher, da wird alles wieder jut, und wat jetz wie ein jroßes Unjlück aussieht, wird nachher Ihr jrößtes Jlück sein!«
Elsbeth war aufgestanden, sank jedoch gleich wieder auf den Stuhl zurück, so schwach fühlte sie sich in den Knien.
»Aber, Kindchen, nehmen Sie sich det nich so zu Herzen, det kann jeder passieren, selbst 'ner Jräfin. Und wenn Sie Rat und Hilfe brauchen – und det werden Sie nu woll – na, dann schreib ick Ihnen jleich 'ne Adresse auf. Die Frau läßt immer mit sich reden und richtet sich janz nach die Verhältnisse. Wie ville habe ich schon dahin geschickt, keine hat's bereut, sie sind mir alle dankbar jewesen – alle, alle!«
Die Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt, schlich Elsbeth, sich immer an den Gittern der Vorgärten haltend, in die Wohnung nach der Lützowstraße zurück. Zuweilen durchrieselte sie ein Erschauern. Dann biß sie die Zähne zusammen, wollte das Schlottern des Kinns verhindern.
Um Petroleum zu sparen, gingen Frau Kienitz und die Kinder frühzeitig zu Bett. Die Mutter hatte nur gewartet, bis Elsbeth heimkam, war müde bis zur Erschöpfung. Jetzt, als sie hörte, daß der Schlüssel ins Loch gesteckt wurde, ließ sie den Unterrock fallen, sank in die Kissen.
Durch die dunkle Stube tastend, kaum hörbar der Mutter »Gute Nacht« erwidernd, kam sie in ihre Kammer, setzte sich auf die Bettkante.
Wäre sie doch nicht mehr hierhergekommen, wäre sie lieber doch gleich – –. Denn hier, wo sie als Konfirmandin mit schönen, reinen Empfindungen geschlafen, wurde alles noch schlimmer.
Wie ein Blitz durchzuckte sie plötzlich die Erkenntnis. »Ich bin ja aber nicht mehr ich allein! ... Und wenn ich – – dann würde ich zur Mörderin!«
Sie hob den Kopf, lauschte. Hatte nicht eben das Bett geknackt, als wenn die Mutter aufstünde? Doch da hörte sie deutlich wieder die Atemzüge der Schlafenden.
In ihrer Verzweiflung hatte sich Elsbeth erhoben, rang die Hände, denn nun war ihr der letzte Ausweg versperrt, als wäre eine schwere, eiserne Tür ins Schloß gefallen.
Nebenan hustete die Mutter, war wohl wieder durch ein Geräusch in Elsbeths Stube gestört worden, konnte jeden Augenblick erwachen.
»Was wird nun – was wird nun?« gellte es in Elsbeths Innern. Lange, lange saß sie und sann.
»Niemand darf es erfahren – niemand.«
In ihrer Qual hatte sie es laut hinausgeschrien. Jetzt starrte sie auf die Kammertür, denn da stand die Mutter, ein brennendes Lichtstümpfchen in der Hand.
»Biste krank, Elsbeth? Was haste denn?« Sie zog die Kammertür vorsichtig ins Schloß, um die schlafenden Kinder nicht aufzuwecken, klebte das Lichtstümpfchen auf die Streichholzschachtel, stellte es auf die Kommode, kam zu Elsbeth, faßte nach ihrer Stirn. »Fieber – haste Fieber? Warum biste denn noch nicht ausgezogen, wie spät is denn eigentlich? Ich hab' doch schon so lange geschlafen! Soll ich dir Fliedertee kochen, oder willste Baldrian, sag' doch was, Mädchen ...«
Da keine Antwort kam, leuchtete sie Elsbeth ins Gesicht. Als sie dann diese entsetzten Augen sah, umfaßte sie schnell die Tochter, öffnete ihr die Haken der Bluse, riß diese und den Rock ab, legte die Wimmernde in die Kissen zurück. »Stille liegen, ganz stille, hörste, Elsbeth? Ich will dir bloß ein Glas Zitronenwasser machen – geh nur in die Küche! Nee, nee sprich jetzt nich – weck die Kleinen nicht auf! Der Junge muß ja um Fünfe schon wieder raus – ist mit seinem Aufsatz nicht fertig geworden, weil es schon zu dunkel war. Und dann will ich mir auch noch rasch 'n Rock überziehen und ein neues Licht holen –«
Elsbeth lag regungslos, starrte in das flackernde Flämmchen. Ja, so hatte die Flamme auch gezittert – an jenem Abend, bis sie sie ausgeblasen.
Schon kam die Mutter zurück, stützte ihr den Kopf, hielt das Glas an den Mund. »Trink – trink! Du hast ja ganz verdorrte Lippen! Warum haste mich denn nich gleich geweckt? So – nun leg dich wieder – ich bleib hier bei dir sitzen! Wenn's jetzt nicht besser wird, hol ich den Doktor, schlaf jetzt, schlaf!«
Aber Elsbeth hatte sich gewaltsam aufgerichtet. »Mutter, ich muß es dir sagen, ich war bei der Matthis, sie hat mir die Karten gelegt – es ist so, wie sie gesagt hat!«
»Erzähl's mir man morgen früh – alles, alles. Jetzt schlaf – schlaf!« Sie drückte die Tochter wieder in die Kissen, fuhr ihr sanft über die Augen, denn der starre Blick ängstigte sie.
»Mutter, ich muß es dir aber jetzt sagen, ich will fort, aber ich darf nicht sterben – sonst stirbt es mit – das Kindchen!«
»Ich werd den Jungen wecken, er soll den Doktor holen, aus dem Krankenhaus!« Sie wandte sich nach der Tür.
»Mutter, bleib doch, ich phantasiere nicht! Es ist so entsetzlich, daß du es nicht glauben willst!«
Frau Kienitz kam zurück, setzte sich auf die Bettkante, faßte der Tochter Handgelenk. »Sieh mich mal an, Elsbeth! Was ist denn so entsetzlich?«
»Mutter, damals in der Gewitternacht, in der Vater starb – da ist was vorgefallen – ich schäme mich so, ich kann's dir nicht sagen – –«. Der Mutter Hand legte sich hart ums Gelenk. »Dann werd ich dich fragen, aber nun antworte, verstehste?«
Drei, vier Fragen – dazwischen Pausen, in denen die Mutter überlegte – an den Fingern abzählte.
»Das ist die Strafe, weil du deine Mutter heimlich verachtet hast – so also mußte es kommen – so!«
Ein trocknes Schluchzen rang sich von ihr los – schlaff lagen die Hände jetzt im Schoß. Und dann sagte sie: »Ich hatte keine Mutter mehr, die mich rechtzeitig gewarnt hätte, wie ich dich! Wie viele solcher Nächte, wie du heute, hab' ich einsam durchkämpfen müssen – bis ich dann auch noch Brot und Lohn verlor! Der, der mir's angetan, war über alle Berge! Und jetzt du – wenn's wahr ist – du dich nicht täuschst! Denn was weiß denn die Matthis, was die redet, is ja dummes Zeug! Jetzt hol ich die Baldriantropfen, damit du schlafen kannst, denn das mußt du! Und dann werden wir morgen die Sache besprechen. Vielleicht ist alles bloß Einbildung, denn jetzt kann noch niemand was sagen, auch der Arzt nicht, auch Frau Schwanreiter nicht, da heißt's also vorläufig abwarten. So, und jetzt hole ich die Tropfen!«
»Und da heulste – jammerste?«
Rieke, in deren Stube Elsbeth saß, reckte die Arme zur Decke. »Ach – wenn mir dieses Glück geschehen, daß mein Leib gesegnet worden wäre, daß ich die höchsten und schönsten Empfindungen einer Frau, die Mutterliebe, hätte betätigen können! Ein Mädchen, das sich hingibt, ohne daß es ein Kind will, die spuck ich an! Eine aber, die es getan hat, um als Mutter selig zu werden, kann die janze Welt anspucken, denn sie richtet ja ihr Leben nich nach dieses dusselige Kaffernpack ein, sondern danach, daß sie ihre weibliche Bestimmung erfüllt und das Höchste von ihrem Leben hat!«
Rieke ging aufgeregt hin und her. »Wäre mir das Jlück jeschehen – aber ich traute mir nich – ohne Pasterich. Ich Dusseltier, wenn ich die heiligen Empfindungen jehabt habe und ich hatte sie ja – dann hätte ich mir den Deibel um das andere kümmern sollen. Dann wärst du vielleicht meine Tochter, und zu der würde ich dann nich anders sprechen als zu dir jetzt. Jauchzet dem Herrn alle Welt, haben wir neulich im Jottesdienst jesungen. Und ich sage dir – jauchze! Und nu will ich dir mal an was erinnern, was du wahrscheinlich verjessen hast. In die Jewitternacht damals habt ihr im Morjenjrauen ans offene Fenster so laut jesprochen, daß ich nebenan in meine Stube alles jehört habe. Und da haste zu ihm jesagt: ›Ich hab's jewollt, ich werde nich jammern und klagen, was nu auch kommt!‹ Nee – jammern darf bloß son armes Ding, die der Kerl, der es janich jeliebt hat, ohne Beistand läßt – eine, die an den Mann jejlaubt hat und nu in Stich jelassen wird. Aber du, was willst denn du? Er liebt dir, wartet bloß drauf, daß du nu auch B sagst. Und da schlägste ihn vorn Kopp, machst dir zur Mörderin von den Mann, der das Leben wie eine Padde angesehen hat und an dieser seiner Dusseligkeit zugrunde jehen mußte – was seine jerechte Strafe war. Es kann ja einer so dusselig sein, wie er will, aber dann muß er ein jutes Herz haben. Und das hatte er nicht, weg mit Schaden mit sonne Menschen, die können wir nich jebrauchen, wenn's besser in die Welt werden soll. Da brauchen wir Menschen mit ›Verstehste‹ – verstehste? Mir halten sie für verrückt – ach, wenn man alle so verrückt wären wie ich, dann würde weniger Herzeleid auf die Welt und viele jlücklicher sein. Denn da brauchte keiner zu bereuen – oder sich anzuklagen – oder zu verzweifeln!«
Die Sonnenkringel, durch das schon lichter werdende Laub der Bäume, tanzten auf der Diele. Die Goldammer sang im Lindenwipfel – ach, es war ein herrlicher, braungoldener Spätsommertag. Ein dumpfer Aufschlag im Obstgarten – ein reifer Apfel war abgefallen.
Rieke, die am Fenster gestanden, sagte: »Haste jehört, Elsbeth? Wir denken – er ist bloß für uns, daß wir ihn essen können. Aber er will mit seine Körner in die Erde – will ein Appelboom werden. Und nu bist du die Mutter Erde – junges Leben sitzt in dir! Recke die Arme zum Himmel und sage aus tiefstem Herzensjrund: »Lieber Jott – ich danke dir, daß du mir so bejnadigt hast!«
Das war am Morgen jenes Tages gewesen, an dem Elsbeth wieder in die einsame Villa zurückgekehrt, ihr Rieke nach und nach entlockt hatte, warum sie so verstört heimgekommen. Als sie es endlich gesagt, waren Riekes Worte wie ein Platzregen auf sie niedergeprasselt. –
Und nun saßen sie stumm da – erschöpft und matt. Elsbeth vom Anhören, Rieke vom erregten Sprechen. Und beide dachten wohl dasselbe: »Jetzt muß er es erfahren!«
»Am besten is woll, ich sag's ihm – du regst dir zu sehr bei auf und das darfst du nich mehr – du mußt dir jetzt wie ein rohes Ei behandeln! Jleich nach's Essen werd' ich jehen! Und ich werd' laufen, das tut mir jut, und Albert merkt nischt. Denn dem sagen wir's erst, bis es so weit is, und das hat ja noch jute Zeit! Aber was rede ich denn – Ihr müßt ja nu erst – aber das will ich mit ihm selbst alles besprechen –.«
Als Rieke am Nachmittag die Treppen in dem Hause an der Zwölfapostelkirche hinaufstieg, schlich Verzingetorix hinter ihr her – gefaßt darauf, daß es einen Skandal geben werde, denn er hatte »Eisrieke« sofort erkannt – das »verrückte Original«.
Dann hörte er aber, daß da oben, bei Herrn von Eschwege, die Tür geöffnet und – zu seinem Erstaunen – die Verrückte auch eingelassen wurde.
»Ja – du wunderst dir, aber warum soll ich dir nich mal besuchen kommen, wenn ich mir Sorge mache, daß du vielleicht krank bist! Und wenn du hier in sonne verqualmte Bude sitzt, kein Fenster aufhast, kannste dir nich wundern, daß du jelb und jrün aussiehst! Ich versteh nich, daß das deine Wirtin duldet, schon wegen die Jardinen!«
»Ist es denn wirklich so schlimm?«
»Na, seh dir doch den Aschbecher mal an, bis oben ran voll!«
Walter ging zum Fenster, öffnete es, atmete tief. »Ja – was ist das für ein schöner Tag! Als ich heute früh aufstand, war es trübe und kühl – und dann habe ich nicht mehr weiter drauf geachtet, ich wollte heute mit Gewalt ein bestimmtes Pensum fertig kriegen. Denn, dir kann ich's ja sagen, ich hab' vieles nachzuholen, hab' früher doch ein bißchen zu sehr gebummelt!«
»Und darum läßt du dir woll auch nich mehr bei uns sehen?«
»Ich glaube, ich werde nicht gerade sehr vermißt, denn sonst – –«
»Ach so 'rum meinste! Na ja – na ja!« Rieke schüttelte wehmütig den Kopf. »Die Welt hat sich woll doch verändert, seitdem ich ein junges Meechen war!«
»Aber – wieso denn? Deine Auffassung, denn ich weiß schon, was dich verstimmt, ist auch meine!«
»Nee – nee! Unterschied ist schon! Wenn einer, zu meine Zeit, Schwierigkeiten hatte, dann jing er los wie Blücher – nu erst recht, und wenn alles andere bei zujrunde jing – das Fortkommen im Beruf kam erst hinter die Liebe! Denn die war die Hauptsache!«
Walter verzog den Mund. »Du kannst überzeugt sein, Tantchen – ich habe unsere Liebe gesichert – was Elsbeth und mich betrifft, aber nun will ich sie auch gegen die Welt sichern, ihr einen Rückhalt geben, daraus kannst du mir doch wohl keinen Vorwurf machen wollen!«
»Doch – mach ich aber! Es findet nich jeder eine Eisrieke – du aber hast sie jefunden und da –«
»Nein, entschuldige! Es gibt – wenigstens für mein Gefühl, eine Grenze! In mir steckt, Gott sei Dank, doch immer noch was vom preußischen Offizier, so, wie ich ihn in meinem Vater verehre! Beschämend genug für mich, daß ich von deiner Gnade jetzt existieren muß, nur so studieren kann! Soll ich diese Großmut nun auch noch ausbeuten? Nein – für mich gilt es jetzt, dir zu beweisen, daß ich kein Schmarotzer bin! Ach, wenn du wüßtest, wie sehr ich unter dieser Abhängigkeit leide! Wenn ich nicht wüßte, aus wie gutem Herzen deine Unterstützung kommt, würde ich es überhaupt nicht ertragen! Vor mir selbst aber kann ich nur bestehen, wenn ich arbeite. Du hast ja gesehen, wie ich lebe! Seit heute früh sitze ich nun hier und büffle – außer den zwei Schrippen um sechs Uhr zum Kaffee habe ich noch nichts gegessen, weil ich weder an Essen noch Trinken gedacht habe, erst jetzt kommt mir das zum Bewußtsein. Und das alles doch nur meiner – unserer Liebe wegen! Denn dieser Beruf – ach, wenn's nur mich allein anginge, wäre ich auch längst über den Großen Teich, aber ich bin nu mal kein Onkel Herbert – –«
»Stille – sei stille!« Rieke hatte sich erhoben, ihr Blick ging durch das Fenster in die Weite. Plötzlich mit dem Pathos der Tragödin einer Vorstadtbühne – sagte sie: »Ja – so is's! Hat die jroße Liebe uns jepackt, dann tun wir alles bloß noch in Jedanken an den anderen, der Mann für die Jeliebte – das Meechen für den Jeliebten – anders kann's das arme Herz ja nich! Ach, Herbert, wieviel und oft hast du jeliebt ohne wirklich die Liebe dabei kennenzulernen, denn sonst wärst du doch nich mit deine Neigungen so rumvagabundiert! Ich, die – die du hast sitzen lassen, wieviel mehr hab' ich von meiner Liebe jehabt, mein janzes Leben is von ihr erfüllt jewesen – so jroß war sie! Daß ich sie an dir verschwendet, das warste janich wert, aber ich bin dir nich jram darum, denn wenn du man auch bloß ein Jammerlappen warst, hast du mir doch zu dieses jroße und heilige Jefühl erweckt!«
Sie sah Walter an: »Nu verwechsele ich dir nich mehr mit den andern – nu weiß ich, daß du woll so aussiehst wie er aber so bist, wie er hätte sein sollen. Die Liebe hat bei dir das Beste und Edelste erweckt! Nee – jlaube nich, daß ich irre rede, laß mir ruhig sprechen! In mir ist plötzlich so ein heiliger Friede, wie ich's dir janich sagen kann, am liebsten möchte ich jleich sterben, damit das nicht wieder kaputt jenen kann!«
Sie öffnete ihren Pompadour, kramte darin, zog ein Kristallfläschchen heraus: »Hier – riech mal!«
»Moschus!« sagte Walter, froh, daß sie wieder ruhiger wurde, sich setzte.
»Nee – Liebeszauber! Ein Troppen hier, wo das Herz is, auf den Anzug, und jedes Meechen, das es riecht, muß dir lieben – ich hab's von einer Zigeunerin! Aber du brauchst es ja janich, ich hatte es bloß mitjebracht, für den Fall, daß verstehste? Schmeiß es man jleich zum Fenster raus! Nee – ich such janz was anderes –«
Ein großes, gelbes Hanfkuvert kam aus dem Pompadour zum Vorschein. »So« – sagte sie befriedigt – »also das leg ich dir hier auf den Tisch, und das machste erst auf, wenn ich weg bin. Und damit du mir richtig verstehst: Ich will nich, daß die Liebe – das höchste Jefühl – durch Sorgen um das verfluchte Dreckjeld leidet – verstehste? Wenn du mir also jern hast, dann sprichste nie davon. Wenn ich zu janischt in die Welt nütze jewesen bin, na dann doch wenigstens zu das eine, du wirst mir schon verstehen, wenn du es nachher jelesen hast. Und mach' dir doch bloß keine Sorge um die dusselige Studiererei – mit die sechs Dreier nachher kannste doch auch nischt anfangen. Es hat mir tief jerührt, daß du dir deswegen so abquälst! Ach, Walter – in dein Leben is ja was jekommen – da kann ich dir bloß sagen: Fall auf die Knie nieder und höre es kniend an – denn siehe, ich verkündige dir jroße Freude! Und das is keine Lästerung, wenn ich die heiligen Worte spreche, sondern das Jefühl, daß ich dir das Höchste – außer der ewigen Seligkeit, die dir bloß der liebe Jott verkündigen kann – jetzt sagen darf: Du wirst in einem Kindchen fortleben – und das ist die höchste, irdische Seligkeit, die es jiebt!«
Walters erstes Bemühen war nur darauf gerichtet gewesen, die Aufgeregte zu beruhigen – dieser »ekstatische Anfall« mußte ja doch einmal wieder vorübergehen. Als Rieke dann aber nachher gefaßt zu sprechen begonnen, sich mit Blick und Worten gleichsam in die Wirklichkeit des Daseins zurückgefunden hatte, war er plötzlich stutzig geworden. Als Beauftrage Elsbeths wäre sie gekommen – um ihm diese Mitteilung zu machen? Ach, sie sprach ja wohl auch jetzt noch irre, denn da hatte sie ja eben dieses seltsame girrende Lachen wieder ausgestoßen, das er nur in der ersten Zeit der Bekanntschaft von ihr gehört, und das jene große innere Belustigung verriet, die nur geistig Gestörte haben.
»Ich weiß, was du denkst – ach ja, warum auch nicht! Wenn ich dir so vorkomme, kannst du ja nischt dafür, dann bin ich ja selber dran schuld. Aber für den Fall hab' ich mir was mitjeben lassen ...«
Aus einem zerknüllten, weißen Glacéhandschuh, den sie in der Kleidertasche gehabt, hatte sie ein Zettelchen vorgezogen, es geglättet und ihm hingehalten.
»Es ist so! Elsbeth.«
»Tante!«
»Ja – nu such das mal zu bejreifen – und dann das andere hier auch –« sie hatte auf den großen, gelben Briefumschlag geklopft. »Aber – dazu wirste woll doch 'n bißken längre Zeit jebrauchen – und ich will nu jehen.«
»Ich komme mit!«
»Nein – du kommst nich mit! Wir können dir jetzt absolut nich jebrauchen«, hatte sie sehr entschieden gesagt. »Jeh, hol mir 'ne Droschke, jleich in die Bülowstraße is ja ein Halteplatz. Denn nu fahr ich zurück, die janze Tour zu Fuß noch mal, das kann ich nich! Und du jehst Mittag essen, verstehste – aber jut! Sonst klappste zusammen – also, sei so freundlich – hol mir die Droschke.«
In dem offnen Wagen fuhr Rieke nun heim – den sandigen Feldweg über die Wiesen. Der Kutscher, der gleich beim Einsteigen gesehen, wen er als Fahrgast bekommen, hatte vergnügt geschmunzelt, er ahnte ein gutes Trinkgeld.
Als Rieke dann aber, kaum daß die Droschke am Amalienhaus vorüber, sich von den roten Polstern erhob und stehend laut zu sprechen begann, wurde ihm die Geschichte doch etwas unbehaglich.
»Verrückt sind sie ja alle – mit ihre Puschel! Der Kerl, der Kienitz, der das arme Meechen ins Zwangserziehung jeben wollte, weil er sie für ein lüderliches Frauenzimmer hielt! Die Kienitzen, die nich aus das finstere Loch ziehen und bei uns wohnen will, weil sie denkt, wir könnten ihr überkriegen! Die Hauptmannsche mit ihren Adelsfimmel, die den eignen Sohn nich jlücklich werden lassen will! Der Junge erst recht, weil er sich zu einem falschen Beruf zwingt, um man standesgemäß zu bleiben! Die Elsbeth, die sich jetzt nich freuen kann, der Schafskopp Albert, der einen Bandwurm in'n Kopp hat – –«
Der Droschkenkutscher drehte sich um und sagte: »Fräulein Eisrieke – nu jeht's uff'n Winter zu – nu wird bald wieder Eisbahn. Aber nu müssen Sie noch 'n bißken warten, bis die Blätter alle von die Bäume sind. Setzen Sie sich man noch so lange, sonst fallen Se am Ende raus, und ick muß dann for den Schaden uffkommen!«
Aber Rieke gab ihm eins auf seinen schwarzen Wachstuchzylinder, daß er ihm schief rutschte und sagte: »Ich werd' mir setzen, aber dann sing ich, wenn Ihnen das lieber ist!«
»Es is mir bedeutend lieber, aber tippen Se mir nich mehr an meinen Wichstopp, sonst werd' ich unjemütlich.«
»Kenn'n Sie das schöne Lied von das arme Mädchen an'n Bach und den reichen Mann, der jejangen kam?« Und ohne seine Antwort abzuwarten, begann sie schon zu singen:
»An ei-nem Ba-ach, der rau-schend schoß
Ein ar-mes Mä-ädchen saß –
Aus ih-ren blau-auen Au-gen floß
Manch Tränlein in das Gras.
Ein rei-cher Ma-an jejangen kam ...«
Der Kutscher, der das Lied auch kannte, hielt es für das beste, mitzusingen. Da das Gedicht viele Verse hatte und Rieke immer wieder von neuem begann, selbst, wenn sie den letzten gesungen, der Kutscher auch einen schönen Baß hatte, machte die Anfahrt vor der einsamen Villa einen recht munteren Eindruck.
Schon von weitem hatte Albert die Droschke gesehen, den Gesang gehört, stand jetzt vor der Gartentür, ohne sich vom Fleck zu rühren, sah der Weiterentwicklung schweigend zu.
Rieke kümmerte sich gar nicht um ihn, gab dem Kutscher einen Taler und ging gravitätisch ins Haus, suchte Elsbeth auf.
»Det war 'ne Fuhre«, sagte der Kutscher, nahm seinen Zylinder ab und wischte sich den Schweiß von der rotgedrückten Stirn.
»Hat sie« – fragte Albert – »hat sie bloß das eine Lied jesungen – oder noch ein anderes?«
»Bloß det eene, immer wieder von vorne!«
»Na denn is jut – denn weiß ich Bescheid! Und wo hat sie Ihnen denn aufjejabelt – war ein Auflauf?«
»An die Apostelkirche – een junger Mann hat ihr 'rinjeholfen. Nee – keen Ufflauf nich!«
Der Kutscher zog die Zügel an, der Wagen rollte davon, dem Kurfürstendamm zu.
Albert sah tiefsinnig auf die Spur, die der Gaul hinterlassen hatte, blickte dann nach allen Fenstern des Hauses und ging, da sich nichts rührte, wieder nach dem Hühnerstall, in dem er ein paar Fallennester für die Legehennen baute.
Nach einiger Zeit hörte er, wie die Jalousie rasselnd an Riekes Schlafstubenfenster niedersauste. Da nickte er befriedigt, denn nun wußte er, daß sie sich hingelegt hatte, erst zum Abendbrot wieder zum Vorschein kommen würde.
In dem hinter Häuserfronten versteckten Gärtchen beim Weißbierwirt Kabelitz saß, am Spätnachmittag, Walter und suchte zu einem Entschluß zu kommen ...
Starrte auf das schon rotwerdende Laub des wilden Weins an der Veranda, vernahm hinten auf der Bretterbahn das Fallen der Kegel und das Rollen der Kugeln, sah über sich ein Stück Himmelsblau und die Turmseglerschwalben, die ihre Jungen zum Flug für die Reise nach dem fernen Afrika prüften, hörte die Kirchturmuhr mahnend schlagen – und blieb doch unentschlossen noch immer sitzen.
Der Wirt kam an den Tisch und erkundigte sich, ob Herrn Leutnant der junge Gänsebraten geschmeckt, die Flasche Brauneberger Riesling trinkbar gewesen sei? »Wohl Jeburtstag heute? Nein – na, dann vielleicht in der Lotterie gewonnen?«
»So ungefähr!« sagte Walter, und Herr Kabelitz zog sich wieder zurück, lächelte verstehend, obwohl er nichts verstand, ließ erkennen, daß er nicht lästig fallen wollte.
Ja, wenn Walter nicht den gelben, großen Briefumschlag in der Brusttasche gefühlt, hätte er jetzt alles für einen Traum halten mögen: Den Besuch Riekes, ihre Botschaft von Elsbeth – die Benachrichtigung des Justizrates Michaelson, aus dessen Büro ihm die monatlichen Zahlungen zugingen und von dem das Schreiben stammte, das ihm Rieke auf den Tisch gelegt hatte. Walter goß den Rest der Flasche ins Glas, zog dann den Brief heraus und begann ihn nun Wort für Wort noch einmal prüfend zu lesen.
»An
den Herrn Sekonde-Leutnant a. D.
Walter von Eschwege
Berlin W. An der Apostelkirche.
Im Auftrage des Fräulein Friederike Sandbohm, Grenzbezirk Wilmersdorf-Charlottenburg, deren Vermögensverwalter ich bin, teile ich Ihnen folgendes mit: Fräulein Sandbohm hatte s. Z. ein Kapital von 30 000 Thl. – in Buchstaben:
dreißigtausend Thalern,
das in mündelsichern Papieren angelegt ist, für den Herrn Premierlieutenant Herbert von Eschwege bestimmt. Dieser ist jetzt verschollen. Infolgedessen beabsichtigt Fräulein Sandbohm, das Kapital dem Herrn Sekondeleutnant a. D. Walter von Eschwege, also Ihnen, den Adressaten, schenkungsweise zu überlassen und auf Ihren Namen umschreiben zu lassen. Das Kapital nebst den aufgelaufenen Zinsen steht Ihnen zur freien Verfügung.
Alles Nähere würde eine Besprechung ergeben. Vielleicht darf ich Sie zu einer Ihnen genehm erscheinenden Stunde um Ihren werten Besuch bitten; am liebsten wäre es dem Unterzeichneten, wenn Sie jedoch dazu die am Kopf dieses Schreibens angegebene Sprechstundenzeit innehalten könnten.
Mit vorzüglicher Hochachtung
A. Michaelson
Justizrat und Notar.«
Das Datum des Briefes lag weit zurück, es war offenbar wenige Tage später geschrieben worden, nachdem Walter seinen ersten Besuch in der einsamen Villa gemacht hatte ...
Während eines Manövers war Walter einmal schwer erkrankt, hatte Fiebernächte gehabt, war nur langsam wieder genesen. Während dieser Rekonvaleszenz auf dem pommerschen Gut, als er da – auch um dieselbe Jahreszeit – einsam in der großen, hellen Stube gelegen und auf das Leben draußen gelauscht, hatte er ähnliche Empfindungen gehabt wie heute: Daß er ein Doppelwesen sei, das etwas in seinen gesunden Tagen gewollt, erstrebt hatte und nun zu einem Objekt gemacht worden war, für das die bisherigen Werte seines Daseins völlig entwertet worden waren, das mit sich geschehen lassen mußte, was ihm geschah, nachdem es in den Fieberphantasien in schrankenloser Freiheit gelebt hatte.
Ja – wie damals in jenen Nächten – war sein bisheriges Leben in wallenden Nebeln plötzlich verschwunden. Jetzt regierten ihn Gewalten, die mächtiger waren als sein Wille, der in gerader Linie einem klaren Ziel zugestrebt hatte und sich jetzt nur durch ein Tappen ins Ungewisse äußern konnte.
Denn was war das mit Elsbeth?
Im dämmerigen Abendlicht schlich er, ein paar Stunden später, um die einsame Villa, spähte nach Elsbeths Fenster, wagte es, vorsichtig, den ihr bekannten Signalpfiff, mit dem er sonst sein Kommen schon von weitem angezeigt, auszustoßen. Aber nur der Abendwind bewegte den weißen Vorhang, sie selbst kam nicht zum Vorschein.
Und doch – wenn nicht jetzt – wann eigentlich sollte ihr Gefühl sie zu ihm treiben?
Traurig ging er zurück, kam unter die Bäume der Kaiser-Allee, ging mechanisch weiter, sann und sann ... sann für ihn noch Unfaßbarem nach.
Und so war er an wetterschief gewordenen Zäunen bis nach Wilmersdorf gelangt und ging nun, einer plötzlichen sentimentalen Regung folgend, zum Schrammschen Biergarten, unten am See.
Wie damals, an jenem Frühlingsabend, war er der einzige Gast. Ein müder und verdrießlicher Kellner brachte ihm auf die Glasveranda das Glas Bier.
Und da saß er dann, hörte – in der Erinnerung – das Klavier klingen. –
Mit einem seligen Tanz hatte das Glück begonnen – aber nun heute? Wie ernst und schwer war alles geworden durch ein paar Stunden Glücksüberschwangs.
Eine in unruhigem Halbschlaf verbrachte Nacht. Im Morgengrauen dann aber – erlöst von einem Wirrwarr sich hetzender, fliehender und immer wiederkehrender Gedanken – klare Entschlossenheit. Kalte Abreibung und – wie jeden Morgen – Hantelübungen am offenen Fenster. Dann machte sich Walter zum Ausgehen fertig.
Pfeifende, pantinenklappernde Bäckerjungen, die große, mit Frühstücksbeuteln gefüllte Körbe auf den Schultern trugen, Milchwagen, die von Schöneberg in die Stadt fuhren, Zeitungsfrauen mit ihren Sprößlingen, die beim Austragen helfen mußten oder, wenn die Mutter in ein Haus ging, den mit Zeitungen gefüllten Kinderwagen bewachten. Zuweilen ein Offizier zu Pferde, gefolgt von seinem Burschen in weißem Drillichanzug. Dann eine Droschke, die als erste Aufstellung am Halteplatz nahm, ein paar Straßenfeger in Staubwolken, die sie aufwirbelten – in der Überzeugung, nützliche Arbeit zu verrichten. Die Häuser und Geschäfte noch alle geschlossen.
Ach, er hatte viel Zeit noch bis zur Sprechstunde des Herrn Justizrats Michaelson.
Jetzt sehnte er sich nach einer Tasse starken Kaffees, aber die Konditoreien in der Potsdamer Straße lagen noch immer in tiefem Schlaf. Doch – eine Hoffnung bestand: In den Zelten, im Tiergarten, war man immer auf Frühgäste eingestellt – dort bekam er sicher sein Frühstück.
Und so ging er, jetzt schon am Potsdamer Platz, schließlich noch weiter – durch den nahen, taufrischen Tiergarten, sah, in den Reitwegen, kritisch und mit einiger Bitterkeit, den vorbeitrabenden Offizieren nach, hatte Mitleid mit einem jungen, blassen Mädchen, das, auf einer einsamen Bank, einen Brief schrieb und mit erschreckten, verweinten Augen aufblickte, als er vorüberging ...
Und kam schließlich nach den Zelten, suchte sich die ruhigste dieser Gaststätten aus, denn es widerstrebte ihm, sich unter die lärmenden Studenten zu setzen, die des Glaubens waren, daß sie in schäumender Jugendlust lebten, wenn sie jetzt, nach durchzechter Nacht, noch Rollmöpse oder saure Gurken aßen.
Wie lange schon nicht mehr war er in so früher Morgenstunde im Freien gewesen – seit der Militärzeit nicht. Nun kam es ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er, durch das Verschlafen dieser Zeit, die beste Anlaufspanne jener Tage verloren hatte; Anforderungen waren zurückgestellt worden, weil später nicht mehr genügend Kraft dazu vorhanden war ...
»Da bekomme ich wahrhaftig den moralischen Katzenjammer«, dachte er – »und dabei sollten die ihn da drüben kriegen!« Er blickte nach dem anstoßenden Restaurantgarten, wo nach dem lauten Treiben der Studenten jetzt sentimentale Empfindungen wachgeworden waren, denn man sang gefühlvoll das Lied vom »Feinsliebchen«.
Aber dann verstummten die Sänger plötzlich, lauschten der schmetternden Militärmusik, die von der Charlottenburger Chaussee herübergeweht wurde – Soldaten marschierten zu einer Übung nach der Jungfernheide – –
»Ja – ja! Es ist, als wenn ich mein Leben nicht in der Gewalt habe. – Mama hat vielleicht doch recht mit ihren ›Fügungen‹. Aber nun ist's wohl Zeit.«
»Herr Justizrat lassen bitten!«
Der junge Schreiber öffnete ihm die mit einem dicken Polster versehene Tür zum Sprechzimmer.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Leutnant!«
»Das war ich einmal, jetzt bin ich Stud. jur. – also noch gar nichts. Ich bekomme von Ihrem Büro die monatlichen Zahlungen und –«
»Benötigen einen Vorschuß?« Der nette, alte Herr lächelte in bereitwilliger Erwartung.
»Wieso? Nein – ich wollte nur wissen, ob diese Zahlungen noch weiter fortlaufen werden?«
»Ja – warum denn nicht?«
»Ich nahm es an – weil man mir gestern dieses Schreiben übergeben hat und die kleine Summe nun vielleicht für überflüssig hält!«
Der Herr Justizrat setzte den an einer schwarzen Schnur hängenden Zwicker auf, entfaltete den Brief – las.
»Diese Mitteilung haben Sie erst gestern erhalten? Hm! Ich gestatte mir, darauf aufmerksam zu machen, daß das monatliche Stipendium von Herrn Albert Sandbohm ausgesetzt worden ist – diese Stiftung aber hier von Fräulein Friederike Sandbohm. Ich wundere mich nur, daß Sie erst jetzt davon erfahren, denn – offen gestanden – ich konnte es mir nicht erklären, warum Sie bisher nicht gekommen sind.«
»Herr Justizrat – ich möchte mich ganz kurz fassen: Sollte wider Erwarten die monatliche Zahlung gesperrt werden, bitte ich Herrn Sandbohm darauf aufmerksam zu machen, daß ich sie nicht entbehren kann, weil ich sie für mein Studium brauche. Ich betrachte mich dann aber von jenem Tage an als Schuldner des Herrn Sandbohm und verpflichte mich, diese Summen von späteren Einkünften zurückzuzahlen.« »Bon!«
»Weiter aber: Die dreißigtausend Taler nebst Zinsen vermache ich hierdurch Fräulein Elsbeth Kienitz, die gegenwärtig bei Fräulein Sandbohm wohnt.«
»Darüber wäre dann ein notarieller Akt aufzunehmen«, sagte der Herr Justizrat, der sich aus seiner bequemen Haltung jäh aufgerichtet hatte.
»Ich bitte darum!«
»Wie Sie wollen!« Der alte Herr zuckte die Achseln. »Ganz wie Sie wünschen, Herr von Eschwege, Sie haben ja freie Verfügung!« Er griff nach einer kleinen silbernen Schelle, die auf dem Schreibtisch stand. Kaum hatte er sie in Bewegung gesetzt, als der junge Schreiber hereinsah. Der Herr Justizrat deutete auf ein Nebentischchen: »Ich diktiere!«
Der Schreiber nahm an dem Tischchen Platz, tauchte die Feder in das große, schwarze Tintenfaß, wartete ...
Im Zimmer auf und ab schreitend, übertrug Herr Michaelson Walters Bestimmung ins Juristendeutsch – tat manchmal zu seiner Information diese und jene Frage. »Fertig – geben Sie her!« Erst las er das Geschriebene selbst noch einmal, nur die Lippen bewegend, durch, dann reichte er Walter den Papierbogen hin. »In Ordnung, bitte, überzeugen Sie sich!«
Und als Walter mit der Durchsicht fertig, sagte er: »Nur noch Ihre Unterschrift, Herr von Eschwege!«
»So – ich danke sehr! Eine Kopie geht Ihnen morgen zu!« Er streute Goldsand auf die nasse Stelle.
»Und wann erhält Fräulein Kienitz die Nachricht?«
»Morgen, wenn Sie nicht anders bestimmen!«
»Nein – sobald wie möglich!«
Der Herr Justizrat, sehr kühl und förmlich geworden, erwiderte steif die Abschiedsverbeugung Walters. Kaum hatte dieser die Tür geschlossen, sah er seinen Schreiber an. »Ja – ja – Lindemann, auch einer« – und er tippte sich auf die Stirn. – –
Walter war, als er aus dem Hause getreten, auf den gerade durch die Potsdamer Straße nach Wilmersdorf ratternden Omnibus gesprungen, hatte sich draußen auf dem eigentlich nur für den Schaffner bestimmten Sitzriemen niedergelassen, brannte sich eine Zigarre an und reichte eine andere dem freundlichen Mann.
»Danke – jetzt darf ich nicht!« Der Schaffner nahm die Mütze ab, legte die Zigarre hinein, setzte die Mütze wieder auf. »Schönes Wetter heute«, sagte er.
Walter nickte nur, und der Schaffner, der seine eignen, sorgenvollen Gedanken im Kopf hatte, war froh, als er merkte, daß der Fahrgast, der ihm seinen Riemen genommen hatte, für die dafür geschenkte Zigarre nicht auch noch unterhalten zu werden wünschte.
Kurz vor Schöneberg, am Ende des Botanischen Gartens, bog der Omnibus ab, die beiden mageren, sehnigen Pferde keuchten nun langsam die steilaufstrebende Chaussee hinan.
Auf der Höhe, bei der Kaiserallee, sprang Walter ab und ging den Rest des Weges zu Fuß. Die einsame Villa lag in der Glut des Spätsommertages, nichts rührte sich im Hause oder Garten.
Vom Stamm der Linde gedeckt, stand er ein Weilchen, ließ ein wunderliches Gefühl seines Herzens ausklingen. »Stets wird mir die Freiheit meines Handelns genommen – wie von geheimnisvollen Mächten, die mich zu etwas zwingen, was ich freiwillig gewiß auch täte, nun aber tun muß!«
Über ihm, im schon gelbgewordenen Blätterdach, zirpten die Grillen – es klang wie ein Abschiedslied an den Sommer. Und es war Walter, als sei er plötzlich enger denn je mit Natur und Erde verbunden, als könne er nur dann das Dasein wirklich spüren, wenn er – mit dem Blick auf treibende Wolken – Werden und Vergehen erfasse ...
»Kommen und Gehen –
Treiben in Wind und Flut –«
Irgendwo hatte er einmal ein Gedicht gelesen, von dem ihm nur dieses Bruchstück haften geblieben war. Heiß loderte die Liebe in ihm auf. »Elsbeth, mein junges, schönes Weib, denn das bist du doch nun – mag die Natur jetzt ans Sterben denken, in dir ist das Werden – neues Leben –, in dem wir weiter existieren, wenn unsere eigene Zeitspanne abgelaufen ist. Ach Elsbeth, möchtest du doch, wenn ich jetzt vor dich hintrete, im Gleichklang des Empfindens mit mir sein!«
Aber es ist das Komische dieser Welt, daß uns nach den Akkorden der Seele, nach den Chorälen und Himmelsmelodien, plötzlich ein munteres Alltagslied entgegengepfiffen wird.
»Du hast woll keine Traute nich, Walter – was?«
Es war Albert, der von dem dichten Fliedergebüsch bisher verborgen, nun hervortrat und ihn listig ansah. »Ich hab' bis hundert jezählt wie'n Maikeber vorm Abschwirren, aber nu hab' ich's satt – auf was warteste hier eijentlich?«
»Auf dich«, sagte Walter und gab ihm, in den Garten getreten, einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. »Ja – da staunst du – aber ich kann auch so sein, wenn die Zeit gekommen ist – und jetzt ist sie da, mein Lieber!«
»Zum Mittagessen kommste aber doch zu spät!«
»Als ob du mir nicht sofort ein junges Huhn schlachten würdest, wenn ich Appetit drauf hätte!«
»Du hast woll Schlampanjer jetrunken«, sagte Albert, »Jott – Menschenskind – wenn du doch jleich so jewesen wärst, wie jut hätten wir uns da von Anfang an verstanden!«
»Ich kann es ja nachholen! Wenn ich mal erst soweit bin, geht's bei mir mit Siebenmeilenstiefeln.«
»Na – nu wollen wir aber hier nich Wurzel schlagen und lieber bei die andern jehen –«
»Halt – warte noch, ich habe was Wichtiges mit dir zu besprechen, aber bloß mit dir allein!«
»Wollen wir da nich lieber runter in'n Weinkeller jehen – da is hübsch kühl, und da sind wir janz unjestört. Jesehen haben sie uns noch nich – komm, wir schleichen uns hinter die Jebüsche lang!«
»Nein, ich kann's dir hier sagen: Weißt du, daß mir Tante Riekchen die dreißigtausend Taler vermacht hat, die sie damals für meinen Onkel Herbert ausgesetzt hatte?«
»Ach so, das Verrücktenjeld! Ja – so haben wir's immer jenannt. Das stammt noch von Vätern, der hatte es bei dem Justizrat einjezahlt für den Fall, daß Rieke ihr Lebelang in die Anstalt zubringen mußte. Na ja – und als sie Jottseidank dann schon nach ein Jahr wieder rauskam, Vater war inzwischen jestorben, hat sie's für ihren durchjebrannten Herbert umjeschrieben. So – und nu hast du's? Na – da bleibt's ja in die Familie – jratuliere! Nu biste doch 'n jemachter Mann, denn mit Zins und Zinseszins sind das nu doch woll so an die Vierzigtausend jeworden!«
»Und du erhebst keinen Einspruch gegen diese Schenkung?«
»Wenn ich auch wollte – ich könnte es janich, denn das is Riekes Anteil – ich meine, ein Teil von ihren Anteil – verstehste? Aber ich denke ja janich an so was, bin froh, daß das Jeld nich für 'ne verrückte Schwester nötig war, daß ich Rieke bei mir habe und nich in 'ne Jummizelle. Nee – das Jeld war nie in meine Rechnung drinne. Kauf dir ein Ritterjut für und werde Landwirt, das is das jescheiteste! Laß die janze Juristerei – jeh lieber 'n Jahr noch auf eine Landwirtschaftsschule – was du da nich lernst, kannste dann von mir beziehen oder von einem tüchtigen Inspektor, wenn du mir nich dazu anstellst!«
Walter sah ihn betroffen an. »Gewiß – das wäre ein Plan, dem ich zugestimmt hätte, wenn ich – aber damit du es weißt, ich habe das Geld jemand anders vermacht!«
»So, das is ja höchst komisch mit das Jeld, das vermacht immer einer dem andern! Nu hat's woll deine Frau Mama?«
»Nein – Elsbeth!«
»Jott, da is es doch nich für dich verloren. Nee – janz einfach, nu heiratet ihr, und sie bringt's dir in die Ehe wieder mit – als Morgenjabe! Sage man aber Rieke vorläufig nischt davon, sie nimmt's dir am Ende übel, daß du das Jeld nich selber behalten hast. Du weißt, sie hat manchmal ihren Dickkopp!«
»Eben – deswegen!«
Sie waren auf dem gelben Kiesweg weitergegangen, standen nun vor der Veranda. »Na – die sind woll da oben einjeschlafen«, fragte Albert verwundert, weil sich nichts regte. Als sie aber die Stufen hinaufgestiegen, sahen sie Rieke und Elsbeth hinten an der durch Glasfenster geschützten Seite sitzen. Beide erhoben sich jetzt überrascht.
»Siehste, da is er ja«, sagte Rieke.
Walter und Elsbeth hatten sich die Hände gereicht, sahen sich an, stumm in ihrer Ergriffenheit.
»Na – und keinen Kuß nicht?« fragte Albert.
»Du denkst immer, es muß alles wie ins Theater zujehen«, sagte Rieke verweisend, »bloß die Affen in'n Zappalotschen machen alles vor andere Leute. Herbert hat mir nie jeküßt, wenn's jemand sehen konnte.«
»Ja – das war ein feiner Pinkel, dein Herbert, der wird da drüben das Jold woll mit weiße Jlacés jebuddelt haben.«
»Nicht doch, kabbelt euch doch nicht!« sagte Walter. »Komm, Elsbeth, wir beide setzen uns hinten in unsere Laube, wenn's nach Kaffee riecht, finden wir uns wieder ein!«
»Aber nu muß alles so werden, wie ich's mir jedacht habe, daß es damals bei mir hätte werden sollen«, sagte Rieke dann am Spätabend, als sie um den großen Tisch herumsaßen. Denn nun hatten sie sich gründlich ausgesprochen, brauchten mit nichts mehr Verstecken zu spielen. Am befriedigtsten war Albert.
»Was haste denn«, fragte Rieke, »du quietschst ja ordentlich vor Vergnügen.«
»Weil ich's naturwissenschaftlich ansehe«, sagte er. »Weißte noch – wenn wir als Kinder mit Vätern in'n Zappalotschen jejangen sind? Da hatte er ein Buch, wo er uns die Beschreibung von die Tiere vorlas. Und da war eins, das ich mir immer janz jenau anjesehen habe, obwohl es nich jrößer als ein Eichhörnchen war. Das war die ostindische Manguste. Das kleine Biest stand in dem Buch – kämpft sogar mit Brillenschlangen, und wenn ihn eine jebissen hat, dann jräbt sich's eine Wurzel Mungo aus, frißt sie und kehrt jestärkt in den Kampf zurück.«
»Was willste denn nu damit wieder beweisen und wieso paßt das überhaupt hierher?«
»Weil wir auch so sind – wir – die Berliner! Uns kann das Unjlück beißen – na, da heulen wir ein bißken, dann aber jraben wir uns schnell 'ne Schutzwurzel aus unseren Jehirnkasten aus, und dann jeht's wieder rein in den Kampf ums Dasein und ums Jlück! Und jetzt haben wir alle hier so eine Schutzwurzel jefressen, die das Jift von die Unjlücksschlange unschädlich macht, und da fangen wir jetröstet von neuem an is nicht so, Rieke? Denn du bist die jrößte Manguste und hast auch für die beiden da Schutzwurzel ausjebuddelt!«
»Jott – Albert, wenn du dir mit deine Naturforscherei nich immer so dicke tätest, könntest du mir jetzt direkt sympathisch sein! Aber nu wollen wir doch nicht wieder vons Hundertste ins Tausendste kommen, sondern bei die Sache bleiben. Und darum sag ich's noch einmal: Jetzt muß nu alles so werden, wie's damals bei mir hätte werden sollen, wenn ich mit Herbert ...«
Sie hielt sich plötzlich die Hände vors Gesicht – schluchzte.
»Buddele dir rasch eine Mungowurzel aus«, sagte Albert. »Oder soll ich dir eine jeben, Rieke? Sieh mal, das jrößte Jlück für uns beide is doch, daß wir andere jlücklich machen können, und die beide da sollen doch nu jlücklich werden. Wie hast du dir's also jedacht?«
Sie schluckte noch ein paar mal und sagte dann – verschämt und ängstlich, als fürchte sie einen Einwand: »Die Trauung soll in die kleine Schöneberger Kirche sein und sobald wie möglich. Und dann sollen sie 'ne Hochzeitsreise machen nach die Sächsische Schweiz, und wenn sie zurückkommen und das mit das Jut noch nischt is, sollen sie so lange hier bei uns wohnen – ins oberste Stockwerk – Platz is jenug. Und Elsbeths Aussteuer besorge ich, mit Monojrams und blaue Bänder fürs Dutzend.«
Albert machte eine weltumspannende Handbewegung. »Habt ihr jehört, ihr beide da? Nu braucht ihr bloß noch Ja und Amen zu sagen, dann is alles in Butter!«
»Mir ist das wie ein Traum«, sagte Walter, »ich muß mich erst in diese ganze Umwandlung hineinzufinden versuchen. Als ich heute früh aus meiner Stube ging, dann in den Zelten saß, wie sah mich da die Zukunft an! Und nun jetzt –«
»Mit's Jlück is das sonne komische Sache. Mit's Unjlück, ja –«
»Ich kann dir sehr jut verstehen«, sagte Rieke wehmütig, da bejreift man immer jleich, daß es da is, weiß auch, daß es nu nich wieder wegzukriegen is und daß man sich dreinfinden muß. Beis Jlück aber denkt man immer, daß es doch wieder fortlaufen wird. Hier aber nich, Walter, hier nich, denn ich bin doch deine Jlücksjöttin, und die is dir treu, das weißte ja!«
»Ich hab' mal«, sagte Albert, »als Sextaner eine Landpartie jemacht – mit andere Sextaners. Da haben wir uns früh um Sechse jetroffen, und ich war ohne Kaffee und Schrippen von zu Hause weg. Bloß zwei harte Eier und 'ne Karbonade hatte ich mitjenommen. Erst abends um achte bin ich wieder zu Hause jewesen. Mutter hatte mir aber alles aufjehoben: Zuerst hab' ich Kaffee jetrunken und meine Schrippen einjetunkt, dann hab' ich zweites Frühstück jejessen – dann mein jewärmtes Mittag, dann hab' ich jevespert und endlich meine Abendbrotstullen reinjewürgt.«
Alle sahen ihn an, und Rieke sagte schließlich: »Wozu du das erzählst, weiß ich nich, ich möchte bloß wissen, wie du dann in die Nacht jeschlafen hast.«
»Wie eine Abjottschlange, die zwei Kanickels intus hat. Ich hab' mir zusammenjerollt und so jeschnarcht, daß Vater von aufjewacht is.«
»Schön«, sagte Rieke, »nu is mir bloß die Nutzanwendung von deine Vielfresserei noch nich janz klar!«
»Ich will damit bloß sagen, daß Walter und Elsbeth sich nu feste ranhalten müssen, damit nich alles auch so zusammenkommt: Verlobung – Heirat – Hochzeitsreise – Jeburt und Kindtaufe.«
»Albert«, sagte Rieke mit hoheitsvollem Mitleid – »Albert, zerbrech dir doch dadrüber nich den Kopp, von die Naturjeschichte verstehste nischt! Die Verlobung is schon vorbei, wenn du auch nich ville von jemerkt hast. Und Pfingsten sind noch nie nich die Äppel reif jewesen, das solltest du nu auch schon wissen, also warte es ab. Jetzt fängt's erst mal mit's Standesamt an, da werden sie übermorgen hinjehen, das andere kommt dann auch zu seine Zeit, denn da is noch verschiedenes andere vorher zu erledigen. Mach dir also keine Sorge, daß du nich aus's steife Oberhemd rauskannst – so weit ich dir aber kenne, wirste dir woll man bloß ein Schemisett umbinden.«
»Bequemer wäre es ja, weil ich doch das Katzenfell drunterbehalten will, denn sonst hab' ich jleich wieder was weg mit meinen verflixten Reißmatüchtig! In die Kirchen is es immer kühl!«
»Na ja« – sagte Rieke – »nu haste deinen Mostrich auch dazu jejeben, da wird's schon werden! Ich jlaube, jetzt haben wir aber alle Sehnsucht nachs Bette bekommen, da wollen wir man schlafen jehen. Ja, Walter, du mußt hier aufs Sofa kampieren – aber du kriegst die dicke, jrüne Reisedecke und auf das Papajeikissen kommt ein Bezug, daß du dir das Muster nich auf die Backe abdrückst.«
»Also – soll der bedeutungsvolle Tag wirklich schon alle sein?« fragte Albert enttäuscht. »Wann war denn die Verlobung, können wir sie heute nich noch ein bißken nachfeiern, ein kleines bißken – Walter? Denn ich kann noch nich in die Posen – ich muß noch was Stärkendes trinken! Laß die Weiber in ihre Kemenate jehen, ich hole einen juten Troppen rauf– es is ein so wunderschöner, stiller Abend – einfach Sünde, so was zu verschlafen!«
Und Walter hatte es ihm nicht abschlagen können, bis in die Mitternachtsstunde hinein hatten sie auf der Veranda gesessen und Burgunder getrunken. Aber es war zuerst keine sehr lebhafte Unterhaltung gewesen – nur hin und wieder hatte Albert eine Bemerkung gemacht über die Sternenpracht, die unermüdlich hechelnden Grillen, den kommenden Winter.
»Ich bin ja jespannt« – hatte er gesagt und war plötzlich gesprächig – »wie es diesmal eigentlich mit Rieke werden wird, ob sie da auch wieder ihren Rückschlag kriegt, wie alle Jahre vorher. Sobald es schneet und friert, hat sie man bloß immer ein Jedanken jehabt, immer da an die Eisbahn – na, und du weißt ja, was sie für Hoffnungen hatte. Wenn das diesmal nich wieder kommt, hat sie vielleicht auch die letzten Spinnweben aus ihr Oberstübchen gefegt. Bloß ich fürchte – ich fürchte – aber man nich Trübsal blasen – Schwamm drüber! Nu sag du aber ooch mal 'n Ton!«
»Ich, was soll ich sagen!« Walter kam aus seinen Gedanken. »Ich hab' mich früher, wenn sich etwas erfüllt hatte, stets geprüft, ob ich denn nun endlich ganz glücklich; sei – aber da blieb dann immer doch noch etwas zu wünschen übrig. Und heute sitze ich – wie seltsam ist das – hier in diesem Hause – da oben funkeln die Sterne – ja, und eben dachte ich noch, daß sie wohl dazu gehören müssen, wenn ein Mensch so glücklich sein soll, wie ich es jetzt bin. Und wenn doch noch – auch heute – ein Rest von früher bleibt, ist es das Gefühl, dieses Glück doch nicht selbst errungen zu haben, nur ein Glückspilz zu sein.«
»Du weißt doch« – sagte Albert –, »ich sehe alles naturwissenschaftlich an. Da jiebt's also Jlückspilze und Pechvögel, warum soll nu einer mal kein Jlückspilz sein? Der muß auch vorkommen, irgendwo wachsen sie doch in die schöne, weite Welt. Aber ich versteh dir schon – du meinst, daß der was Unverdientes is. Na, dadrüber hab' ich nu auch wieder meine eigene Auffassung. Haste nich deinen Tribut ans Pech bezahlen müssen, daß sie dir, bloß weil du dir für soziale Fragen interessiert, als Leutnant jeschaßt haben, wo du doch so jerne Offizier jeblieben wärst? Du hast heute Rieke jesagt – na, du weißt ja selbst, was! Sie hat drüber jelacht und es nicht jelten lassen wollen. Nu will ich dir man verraten, daß ich mir bloß dumm jestellt habe und es von Rieke selbst wußte, daß sie dir das Verrücktenjeld vermacht hat. Und warum hat sie es jetan? Da hat sie neulich, als wir darüber sprachen, was jesagt – was sehr Richtiges! Ein Jeschenk soll bloß der kriegen, der es sich verdient hat, und du hättest es dir verdient, weil du deinem Herzen und nich, wie andere kluge Leute, dem Verstand jefolgt bist. Und weil – hat Rieke jesagt – das bloß alle hundert Jahre mal vorkommt, so muß es jrade deswegen belohnt werden, damit der Jlaube daran nicht stirbt. Für die Padden und Paddexen – horste, wie sie unter dem Sternenhimmel quoraxen? – kommt so was natürlich nich vor – die können nich übern Jrabenrand kieken, die haben kaltes Blut, es sind man bloß Amphibien, denen die Verstehste dafür fehlt. Wunder jiebt's auch für mich nicht, ich habe Büchners Kraft und Stoff jelesen, aber ein Evangelium der Natur jiebt's für mich, und an das jlaube ich. Wenn juter Samen auf fruchtbares Land fällt, dann nutzt das allein nischt, es muß auch die Sonne drauf scheinen, verstehst du mir, Walter? Aber ich will mir hier vor dir nich aufspielen mit salbungsvolle Redensarten, das is nich mein Fall – nee, jewiß nich.«
Er brannte sich eine frische Zigarre an, paffte, bis sie in voller Glut war, und sagte dann: »Ich will dir mal was anderes erzählen – aus meiner Schulzeit. Du weißt, es is mir immer dreckig jejangen – aber einmal hatte ich doch einen glorreichen Tag. Da hatten wir mit die janzen Klassen eine Partie nach den Jrunewald, nach den jroßen Stern, jemacht, und da hatte der Turnlehrer vorjeschlagen, daß wir nach antiken Muster athletische Spiele veranstalten sollten. Na – Diskusse hatten wir nich, auch keine Bogen und keine Pfeile, und da sollte deshalb bloß jerungen werden. Wer als Sieger aus eine Abteilung hervorging, der mußte mit dem Sieger aus eine andere Abteilung ringen und so immer weiter. Was nu die Klassenkameraden anjing, die legte ich sofort um, auch die Tertianer und Untersekundaner. Ich hatte einen Druck ins Kreuz, da knickten sie sofort ein. Schließlich bekam ich den letzten Sieger, einen Obersekundaner, der einen janzen Kopp jrößer war als ich – denn wir beide waren bloß noch übrig. Unter normale Verhältnisse hätte er mir sicher jeschmissen, aber jetzt war er schon zu abjerackert, während ich noch frisch war mit meinen Kunstjriff. Also – was soll ich dir sagen, ich legte ihn auch hin und hatte damit die janze Schule, bis auf die Primaner, die nicht mit beiwaren, besiegt. Als ich mir erhob, kam der Direktor zu mir und sagte: ›Melde dir morgen bei mir!‹ Mir schwante nischt Jutes, denn ich dachte, der Direx hätte meinen Kunstjriff jemorken. Aber er hatte es janz ehrlich jemeint, denn er schenkte mir als Prämie ein schönes Buch: ›Jriechische Heldensagen‹. Und da hatte er auch was reinjeschrieben: ›Dem Sieger im olympischen Wettspiel‹. Jlaubst nich? Na – ich hab' ja das Buch noch und werde es dir mal zeigen, bloß jetzt möchte ich nich nach oben klettern.«
»Ja« – Albert hatte hastig an seiner Zigarre gezogen, um sie wieder in Brand zu bringen – »ja, das war der schönste Tag aus meine verkorkste Schulzeit. Warum ich dir das aber erzähle? Darum! Ich hatte was vollbracht – hatte mir mit meine janze Person für was einjesetzt, und so was muß belohnt werden. Und das hast du auch jetan – hast dir für dein Ideal einjesetzt, janz ejal, was aus dir selbst werden würde – und deswegen kriegste die Prämie, obschon du an die janich jedacht hast, ebensowenig, wie ich damals.«
Der Wein war doch wohl stärker gewesen, als Albert vermutet. »Donnerwetter ja – der hat's intus!« sagte er jetzt, als er aufstand. »Na ja, du – mit deine paar Jläskin, das übrige habe ich doch jetrunken! Na – da wollen wir mal – wollen wir mal sehen, daß wir nu auch in die Falle kommen! Also träume süß von ihr! Jute Nacht!«
Schwankend, wie ein Seemann auf dem Lande, war er gegangen, ohne sich noch weiter aufzuhalten. Nun schnarchte er wohl längst, Walter jedoch fand keinen Schlaf. Hörte die Stimmen der Nacht – fernes Hundekläffen, den langgezogenen Pfiff einer Lokomotive draußen im Lande. Sein ganzes Empfinden und Denken galt jetzt dem Wiedersehen heute mit Elsbeth, als sie, in der Laube, sicher vor jeder Beobachtung, sich nun beide gegenübergestanden hatten. Dieses Alleinsein – Elsbeth hatte es wohl kaum noch erwarten können, denn, gleich hatte sie ihn umfaßt und an sich gepreßt. »Du – du – ach du!« Und war dann auf die Bank gesunken – hatte geweint. Doch plötzlich hatte sie den Kopf gehoben: »Und wenn ich nun nicht diese Zuflucht gefunden hätte – was wäre dann geworden? Begreifst du es denn – ich fasse es nicht! Ich bin doch noch so jung – was kann ich denn für eine Mutter sein! Und wenn ich dabei sterbe – wer wird das Kindchen so lieben können wie ich! Und ich bin sicher, daß ich sterben muß – ja, ja – ich habe jetzt immer so gräßliche Träume, sterbe schon jede Nacht und lasse mein Kindchen hilflos zurück!«
»Warum hast du so lange allein gekämpft – war ich denn nicht da – –«
»Ach, Walter – ich war ja zuerst ganz irrsinnig vor Angst und schämte mich so, weil es doch nun alle erfahren müßten, was ich getan hatte. Es ist doch das Schlimmste, was ein Mädchen tun kann. Tante Riekchen sagt, sie würde jedes Mädchen anspucken, das es tut, ohne auch Mutter werden zu wollen. Und ich hatte es doch gar nicht gewollt – hatte doch nur wissen wollen, ob du dich dann von mir trennen würdest, und wollte dir die Kraft dazu geben. Denn, wenn du mich dann vielleicht auch noch lieben würdest – ein solches Mädchen – –«
»Und ich hab's getan, um unlöslich mit dir verbunden zu sein – durch deine Hingabe. Denn an das andere hab' ich ja auch nicht gedacht! Aber jetzt – Elsbeth – jetzt – dieses Wunderbare! Ja – was wäre aus uns geworden, ohne dieses merkwürdige Haus hier und ohne diese gütigen Menschen!« –
Ach, es war ja doch unverdient – dieses Glück, daß er nun auch die Existenzsorgen, die Angst um die Zukunft plötzlich lossein sollte. Einer Ähnlichkeit mit dem Bruder seines Vaters verdankte er alles – war das nicht beschämend? Er kam darüber nicht hinweg – und jetzt, hier in der Stille der Nacht, wurde dieser Gedanke quälend wie eine Brandwunde. Marterte ihn so sehr, daß er aufstand, sich nach dem Sessel am Fenster tastete und dort niederließ – in der Hoffnung, endlich schlafensmüde zu werden.
Nie hatte er mit Elsbeth über ihren wirklichen Vater gesprochen – sie ertrug nicht einmal eine Andeutung. »Hätte das Mutter doch nie verraten – nie – nie – dann wäre ich glücklicher«, hatte sie heute gesagt, als er sie gefragt, ob die Mutter denn schon etwas wüßte. »Ja – sie war doch die erste, die es erfuhr, und in dieser Nacht nannte sie es meine Strafe, weil ich sie heimlich verachtet hätte. Ach, das hab' ich ja nicht getan – es war mir nur so verwunderlich, daß meine verschüchterte, abgehärmte Mutter solche Empfindungen gehabt haben sollte – ich konnte sie mir nicht als junges, leidenschaftliches Mädchen vorstellen ...«
In Elsbeths blassem und leidvollem Gesicht – so schmal geworden, seitdem er sie nicht gesehen – war dann plötzlich jenes Lächeln aus der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft gewesen. »Ich hab' dir einmal ein Gedicht gesagt – weißt du noch:
Der Hirt bläst seine Weise –
Von fern ein Schuß noch fällt –
Die Wälder rauschen leise –
die Ströme tief im Feld.
Nur hinter jenem Hügel
Noch spielt der Abendschein –
O hätt' ich – hätt' ich Flügel
Zu fliegen da hinein!«
Sie hatte ihn starr angesehen, als lausche sie auf etwas. »Ja – nun weiß ich auch, warum ich gerade dieses Gedicht so liebe: Es ist etwas Geheimnisvolles darin – und in meinem Leben ist auch Geheimnisvolles – das weiß ich nun, denn sonst wäre nicht alles so gekommen, wie es jetzt ist ...«
Walter dachte plötzlich an die »Fügungen«, von denen seine Mutter gesprochen hatte. Und in dieser Stimmung der Ergriffenheit jetzt war sein Herz bereit, zu glauben, daß in dieser nüchternen, natürlichen Welt geheimnisvolle Kräfte wirkten, auch in seinem Leben. Aber dann, wenn es so war, warum sollte er sich ihnen nicht unterwerfen, wenn sie ihm Glück brachten. War dieses Geld denn nichts anderes als eine Erbschaft seines Onkels aus Amerika?
Er fühlte, wie die Gedanken verschwammen, wie die Erschlaffung endlich über ihn kam.
Und so ging er zurück zum Sofa, wickelte sich, plötzlich fröstelnd, in die Reisedecke. Hörte noch, wie die Uhr im Hause schlug, der Hahn im Stalle krähte, spürte, daß nun schon ein Lichtschimmer durch die Fenster kam, und war endlich eingeschlafen.
»Ihre Frau Mutter ist jestern dreimal hierjewesen – früh, mittags und auf'n Abend und hat jedesmal lange jewartet!«
»Schön, Frau Vietz!«
»Herr von Eschwege – ich sage noch einmal: Ihre Mutter ist jestern drei – mal hierjewesen!«
»Nehmen Sie an, daß ich schwerhörig geworden bin?«
»Nein, aber harthörig – da kann man mit die Ohren an'n Kopp wohl janz jut hören, aber das Herz is taub! Die Frau Hauptmann tut mir in die Seele leid!«
»Frau Vietz – Sie wissen, wir haben seit der Unterhaltung in Ihrer Küche nur noch geschäftlich miteinander gesprochen, ich möchte davon auch nicht abweichen. Was in Ihrer Seele vorgeht, ist mir schnuppe!«
»Jut – scheen, Herr von Eschwege, aber ich hab's bloß für meine Pflicht jehalten, Ihnen das recht eindringlich zu sagen!«
»Sie hätten sich die Mühe sparen können, denn ich wußte es schon von Verzingetorix. Was Sie jetzt aber hertreibt, ist ja ganz was anderes. Sie sind moralisch entrüstet, daß ich die Nacht über nicht zu Hause war, weil Sie glauben, daß ich mich mit lüderlichen Weibern rumgetrieben habe.«
Frau Vietz zog die Schultern hoch und legte den Kopf auf die Seite. Und das besagte: »Wer kann's wissen!«
Walter trat ans Fenster, sah angelegentlich hinaus, wartete, bis er die Tür ins Schloß schnappen hörte.
Frau Vietz war gegangen – tief beleidigt. Diese brave Frau, diese würdige Matrone! Nichts mehr war jetzt vor ihr sicher, alles durchschnüffelte sie, selbst Schrank und Kommode, die sie mit Nachschlüsseln öffnete. Walter wußte auch, warum! Und nun, da sie nichts mehr der Mutter zu berichten hatte, war diese selbst gekommen – gerade an einem Tage, da er von früh an nicht daheim gewesen und selbst die Nacht über weggeblieben war. Wenn das keine moralische Verkommenheit bewies – nicht alle vorangegangenen Verdächtigungen bestätigte? –
Trotz alledem, wenn die Mutter den Weg zu ihm gefunden, fand er ihn auch zu ihr.
Und so stand er, eine Stunde später, auf dem Korridor des Stiftshauses, klopfte an die Tür.
»Herein!«
Ach, die öde Kasernenstube! Da saß die Mutter am Fenster beschäftigt, ein Wäschestück auszubessern. Und das ließ sie nun sinken und wollte – –
Aber ehe sie sich noch erhoben, war er schon bei ihr. »Nicht doch, Mama – sitzen bleiben! Ist denn – ja, da ist ja noch ein zweiter Stuhl!«
Er hatte ihn ergriffen und sich zu ihr gesetzt. »Ja – wahrhaftig, da liegen sie ja beide, Gerocks ›Palmblätter‹ und Sturms ›Fromme Gedichte‹. Und wenn es hier nicht so spartanisch einfach aussähe, könnte ich denken, wir wären am Fenster unserer früheren Wohnung in der Bülowstraße, aber da drüben ist nicht das Omnibusdepot. Nicht doch, Mama – nicht so weinen!« bat er dann.
»Laß – laß, Walter! Laß mich nur, es erleichtert mir mein Herz!«
Er saß gequält da – streichelte ihre Hände – stach sich dabei an der Nadel und nahm ihr das Nähzeug aus dem Schoß. Er hatte eins der beiden Bücher aufgeschlagen. »Hör«, Mama, was hier steht:
›Und wie und wo wir immer geh'n,
Im Hermelin, im Bettlerkleid,
Im dunklen Tal, auf lichten Höh'n –
Ein jeder hat sein eignes Leid ...‹
Na – ja! Aber jetzt wird alles wieder gut, Mama – nicht wahr?«
Sie wischte sich die Augen, die doch immer wieder tränennaß wurden, suchte ihn anzusehen. »Hat man dir gesagt, daß ich bei dir gewesen bin? Nun siehst du ja selbst, wie es mit mir steht! Ich bin mürbe geworden! Mag da nun werden, was will – aber das Unglück braucht ja doch nicht auch noch zu sein, daß ich meinen Sohn verlieren muß und du deine Mutter – wegen einer Fremden!«
»Mama, weißt du, was du eben gesagt hast? Nein, du weißt es nicht, denn jetzt, in dieser Stunde würdest du mir doch nicht wehtun wollen – und das hast du eben getan! Aber, bitte, laß mich mal sprechen, antworte mir bloß auf meine Fragen jetzt: Würdest du nicht bereit sein, ein Mädchen meiner eigenen Wahl als Schwiegertochter anzuerkennen, wenn dieses Mädchen so reich wäre, daß ich mir durch seine Mitgift sofort eine sorglose Existenz schaffen könnte?«
»Sorglose Existenz, was meinst du damit? Es wäre doch das Schimpflichste, was es für einen Mann überhaupt gibt – sich von der Frau erhalten zu lassen. Diese letzte Möglichkeit, die sich damals für den unglücklichen Onkel bot, hat er aus Ehrgefühl dann doch verschmäht, ist lieber auf und davongegangen!«
»Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist, ich nehme an, er hat da drüben im Dollarlande, wo er ja frei von allen sogenannten Standesrücksichten war, praktisch gearbeitet. Wenn er nun aber das Geld seiner Frau hier nur als Darlehn betrachtet, sich zum Beispiel dann als Landwirt eine Tätigkeit geschaffen, das, was er gebraucht, nachher wieder zurückgezahlt hätte, wäre es so schimpflich gewesen?«
»Wenn er die Frau nicht geliebt, nur aus Spekulation genommen, wäre er sicherlich ein ganz gemeiner Charakter in meinen und auch in deines Vaters Augen gewesen! Walter, um Gottes willen, Junge, du willst doch nicht etwa eine Scheinehe eingehen mit der alten, verrückten Närrin?«
»Mama – wenn du so etwas – solche Ungeheuerlichkeit für möglich hältst, könntest du doch auch an etwas viel Wahrscheinlicheres glauben: Daß Onkel drüben jetzt erst gestorben ist und sein Geld, na sagen wir mal dreißig- bis vierzigtausend Taler, seiner Tochter vermacht hätte. Warum sollte ich dir solch ein Märchen nicht erzählen?«
»Seiner Tochter?«
»Mama, du weißt ganz genau, wen ich meine!«
Die Frau Hauptmann schüttelte es plötzlich wie ein Frost, der ihr durch die Glieder ging. »Ach Walter, wie unsäglich zuwider ist mir das alles, was kommt durch diesen unseligen Menschen über uns, dessen Vergangenheit sich wie Pech an uns klebt, fühlst du es denn nicht selbst, wie fremd uns so was sein muß, wenn wir unserer ganzen Tradition nicht untreu werden wollen? Das ist es ja, was mich so schmerzt, daß du das nicht fühlst!«
»Mama – liebe Mama – jetzt erst merke ich, was uns beide gegenseitig so entfremdet hat. Es war nicht Lieblosigkeit von dir, sondern Mangel an Kraft, Anschauungen zu übernehmen, die sich Bahn gebrochen haben. Glaube mir – glaube mir um der Liebe willen, die du zu mir, deinem einzigen Kinde, hast, daß wir, die junge Generation, ein Stückchen, ich sage nur ein Stückchen, weiter sind in der Freiheit der Anschauung. Was dir so unsagbar zuwider, ist ja mir ein Gewinn an Menschlichkeit. Diese Empfänglichkeit dafür hat mich schon damals in die sozialistischen Versammlungen getrieben, wo man solche Rechte auch für die bisher Entrechteten zu erkämpfen versuchte, indem man veraltete und unwürdige Formen des Menschentums zerschlug. Mich hat es die Offizierskarriere gekostet, heute weiß ich, daß das ein Gewinn war, der mich von mittelalterlichen Fesseln freigemacht hat. Und in dieser Freiheit hab' ich mich, wie ein aus dem Käfig entflogener Vogel, weiterentwickelt! Ich habe es ja gar nicht gewußt, es wird mir jetzt erst klar, wenn ich dich so sprechen höre, wenn ich Ansichten höre, die nichts mehr mit dem wirklichen Leben zu tun haben.«
»Mag sein – mag alles sein! Aber ein Mädchen, dessen Herkunft so – wie soll ich es nennen, um dich nicht wieder zu verletzen –«
»Also so – romantischer Art ist«, sagte Walter.
»Ja, und wie in einem Hintertreppenroman auf so romantische Weise plötzlich eine Erbschaft aus Amerika erhält.«
»Es ist nicht ganz so hintertreppenhaft, aber lassen wir es einmal gelten, denn das Leben schafft so noch viel geheimnisvollere und unglaubwürdigere Vorgänge als in Hintertreppenromanen. Also, was wolltest du sagen, Mama?«
»Und mit dieser merkwürdigen Erbschaft nun die Existenz des gesellschaftlich über ihr stehenden Mannes ermöglichen will.«
»Ja, Mama, und nun laß mich noch weiter befremdende und unerwartete Dinge aufzählen, die im wirklichen Leben absolut nicht vorkommen: Dieses Mädchen also von fragwürdiger Herkunft, von noch fragwürdigerem Reichtum, wird in einer ganz unglaublich romantischen Gewitternacht in einer ebenso romantischen einsamen Villa verführt und fühlt sich – während sich im wirklichen Leben kirchlich regelrecht getraute Ehepaare erst jahrelang angestrengt bemühen müssen – durch diese einzige Hingabe sofort Mutter. Ja, Mama, du siehst mich entgeistert an, wenn dir alles andere Hintertreppenroman ist – brauchst du ja auch dies nicht zu glauben, wenn du es aber glaubst, bitte, Mama, dann bestehe ich darauf, daß du dich mal von der Stufenleiter des Philisterlebens freimachst, an deine ›Fügungen‹ denkst und daß du in absehbarer Zeit – ich könnte sie dir an den Fingern ausrechnen – Großmama sein wirst!«
Die Frau Hauptmann hatte sich in ihren Stuhl zurückgelehnt, sie atmete hastig. »Soll denn alles zertrümmert werden, was ich an Vorstellungen von Ehrbarkeit, Heiligkeit der Beziehungen zwischen Mann und Frau hatte?« wimmerte sie.
»Ja, Mama! Denn diese Anschauungen gehören in einen Hintertreppenroman, das Leben, in dem wir leben, hat sich von solchen Anschauungen befreit! Um das zu begreifen, scheinen aber vorläufig nur die von den anderen für verrückt Gehaltenen vorbestimmt zu sein; die andern müssen, glaube ich, erst so verrückt geworden sein, wie – na, sagen wir mal, um bloß ein Beispiel zu nennen, es Eisrieke ist. Das heißt also, Mama um es ganz klar und unmißverständlich zu sagen: Diese Verrückte, diese Eisrieke, oder wie ich sie nenne, ›mein geliebtes Tantchen Rieke‹ ist die einzig Normale unter uns Verrückten, weil sie erkannt hat, was die heutige Zeit verlangt, was sich in der Ideenwelt der immer siegreicher werdenden Sozialdemokratie Bahn bricht. Als ich damals, als Leutnant, durch eine einsame Straße ging, wurde mir von einem Arbeiter eine Flugschrift in die Hand gedrückt. Überschrieben war sie: ›Der Kartätschenprinz‹; sie handelte von der Liebschaft unseres alten Kaisers zu einer Unebenbürtigen und endete dann in den üblichen Beschimpfungen des damaligen Prinzen. Was ich aber vorher nicht gewußt hatte, in dem Leben dieses Mannes war also eine romantische, ja, heute für uns fast unglaublich klingende Liebesgeschichte. Und jetzt denke ich oft: Wenn er den Mut gehabt hätte, dieser seiner Herzensneigung zu folgen, wie viel mehr Menschentum noch wäre dann in ihm gewesen! Ich habe nur auf der untersten Stufe des Offizierstums gestanden – habe, weil ich mein Menschentum nicht verleugnen wollte, den Dienst quittieren müssen; bin dann, freier geworden, meinen Weg weitergegangen, habe mich nicht gegen die Gesetze des wirklichen Lebens gestemmt. Und in dieser absolut realen Welt werden nun Kräfte spürbar, die sonst nur in der unwahrscheinlichen Welt – oder, wie du es nennst – in der Hintertreppenwelt walten. Da sie mir jetzt aber in meinem wirklichen, nicht abzuleugnenden Dasein entgegentreten, muß ich doch an sie glauben. Ja – wenn alles eine Täuschung wäre – aber die Vorzeichen sprechen dafür, daß das von mir geliebte Mädchen Mutter werden wird – und damit ist auch für dich –«
Er atmete tief auf: »Mama, oder Mutter, wie ich jetzt natürlicher sagen möchte, liebe Mutter – dein Herz hat dich zu mir getrieben, du warst – wie es auch sein mochte, bereit, dich dreinzugeben. Nun, wenn sich erfüllt, was ich erhoffe, sollst und mußt du mit Freuden anerkennen, was nicht irgendeine Hintertreppenphantasie erfunden, sondern das wirkliche Leben geschaffen hat. Du, die du am zähesten an alter Tradition festgehalten, mußt nachgeben. Du, die du an Fügungen glaubst, mußt dich selbst fügen. Soll ich umsonst hierher gekommen sein, sollst du umsonst gestern einen ganzen Tag lang vergeblich auf mich gewartet haben? Nein, Mama, und jetzt nenne ich dich wieder so, wie ich dich als kleiner Junge genannt habe – liebe, heißgeliebte Mama, jetzt ist es an der Zeit, dein wirkliches Menschentum zu zeigen, beweise, daß du meine Mutter bist, drücke mein geliebtes Mädchen an deine Brust; erkenne, welches Glück es mir gebracht und danke ihm dafür, sonst gehe ich heute hier weg und habe dich für immer verloren!«
In der ersten Nachmittagsstunde des nächsten Tages wartete vor dem »Stift adliger Offizierswitwen« eine stattliche, etwas altmodische Kalesche, bespannt mit zwei zu gut genährten Handpferden, die verwundert das ungewohnte Steinpflaster mit den Hufeisen bearbeiteten und in ihrem Benehmen etwas Anmaßendes zeigten, das gar nicht zu ihnen paßte.
Oben – an jedem Fenster des melancholischen Hauses – standen, zu zwei und drei, die alten aristokratischen Stiftsdamen und hatten sich allerlei zu sagen. Aus den Unterhaltungen der Frau Hauptmann von Eschwege mit ihrem Sohn – die man ja, ohne daß man horchen wollte – i, bewahre doch, was geht's uns denn an, ganz deutlich in den Nebenzimmern mit angehört hatte, stellten sie nun recht wunderliche Mutmaßungen an.
Und nun jetzt kamen die beiden Erwarteten endlich aus dem Hause heraus. Der Kutscher in dem verschossenen, blankknöpfigen Rock, zu dem die Mütze zu neu und teuer aussah, gab sich durch plötzlich stramme Haltung ein stattliches Aussehen, das aber ebensowenig zu ihm paßte, wie das hochmütige Kopfwerfen seiner dicken Ackergäule.
»Jochen, wir fahren nun wieder zurück, denselben Weg!« sagte Walter.
»Scheen, Herr Premierlieutnant!«
Die Frau Hauptmann warf ihrem Sohn einen fragenden Blick zu: »Ist der auch verrückt, daß er dich für Onkel Herbert hält?« Und dann stieg sie – etwas geniert durch die Blicke da oben hinter den kleinen Fenstergardinen, in die Kalesche und erschrak, als sie in den Polstern wie in einem eben gesonnten, aufgeblühten Bett einsank.
Der Fuchs wieherte, als sei er ein arabischer Hengst, aber ehe das andere Tier dazu kam, sich in gleicher Weise aufzuspielen, hatte Jochen die Zügel angezogen, eben noch, daß Walter gerade einsteigen konnte.
»Ja – ja, Mama«, sagte er jetzt mit einem merkwürdigen Lächeln, »ich hätte gern gewünscht, daß es eine Gummi-Equipage und zwei Apfelschimmel wären, wie sie bei solch einer Gelegenheit in den schönen Geschichten immer vorkommen. Ach ja, und welche Vorstellungen wirst du dir nun von meiner, also von Elsbeth gemacht haben!«
Die Frau Hauptmann sah starr geradeaus, auf Jochens breiten Rücken. Dort saßen regungslos zwei ungewöhnlich große Fliegen, richtige Pferdestallfliegen – die wahrscheinlich die ganze Herfahrt mitgemacht hatten und nun auch wieder zurück in die einsame Villa wollten. Walter verscheuchte sie mit einem Schlag seines Taschentuches, aber nachdem sie schon verschwunden waren, saßen sie plötzlich wieder auf Jochens Puckel.
»Anhänglichkeit«, sagte Frau von Eschwege.
Sie hatte ihr Grauseidenes an, bedeckt von einer schwarzen Seidenmantille, von der ein muffiger Eau-de-Cologne-Duft ausging, er hatte zu lange in alten, verschlossenen Kleidungsstücken gehaftet.
Walter spürte ihn fortwährend, wurde durch ihn an längstvergangene Zeiten erinnert und wehmütig gestimmt. Und plötzlich schien ihm selber alles – diese Wendung, die da sein Leben genommen hatte, unwirklich und unwahrscheinlich. – –
Aber – das war doch nun die Sandbohmsche Kutsche, und der da auf dem Bock war doch Jochen, und der Wagen rollte doch einem Ziel zu.
Also war es auch, wie es nun war, sein wirkliches Dasein, in das ja noch viel Unwahrscheinlicheres hätte hineinspuken können, das dann ebenfalls als Geschehnis zu buchen gewesen wäre. Wenn zum Beispiel, dieser Gedanke durchzuckte ihn, Onkel Herbert jetzt zurückgekommen wäre, als Millionär, von Sehnsucht getrieben ...
Er mußte nun selbst über seine Gedanken lächeln – ach nein, die Berliner Romantik trieb keine Prachtblüten, auf den Schöneberger Wiesen wuchsen keine blauen Orchideen, nur Vergißmeinnicht oder Kornblumen. Wenn wirklich etwas wunderbar und unglaublich erschien, dann war es die Beharrlichkeit der beiden dicken, metallisch blauglänzenden Fliegen auf Jochens Puckel. Noch nie hatten Fliegen so lange unbeweglich auf einem Fleck gesessen!
Und die Kalesche rollte doch auch durch eine recht unromantische Welt! Holte, in der Potsdamer Straße, den nach Wilmersdorf ratternden Omnibus ein. Freilich, dem Schaffner wäre es sehr unglaubwürdig und romantisch vorgekommen, daß der junge Herr, der vorgestern auf seinem Sitzriemen geschaukelt hatte, heute in solchem Wagen an ihm vorüberfuhr, aber der Mann kam gar nicht zu solcher Verquickung der Geschehnisse, weil er den jungen Herrn überhaupt nicht beachtete, da er nur Bilder seines eigenen und zwar recht trübseligen Familienlebens vor sich hatte – auch mit einer romantischen Person: der Stiefmutter seiner Kinder, eine Stiefmutter, die Anspruch hatte, als direkte Nachkommin der bösen Stiefmütter in den Märchenbüchern zu gelten ...
Ganz absonderlich aber war die Gedankenwelt der Frau Hauptmann geworden, seitdem sie in der »Kalesche der Verrückten« saß. Sie, die doch alles bezweifelt, fand heute alles höchst natürlich. Ja – konnte es denn überhaupt anders sein, daß man ihrem Sohn nicht die Wege ebnete! Und wenn dieses Mädchen Onkel Herberts Kind, also sozusagen diskret, ehelicher Geburt war, hellte sich da der düstere Begriff »Mesalliance« nicht doch etwas auf? Und daß Walter unter den vielen, vielen hübschen jungen Mädchen in dieser Stadt gerade auf Elsbeth gestoßen, war dann eine Fügung vom lieben Gott, der solche Ehen im Himmel schloß. Da sie, die Frau von Eschwege, so fromm und ergeben und so oft und beharrlich das schöne, alte Lied: »Befiehl du deine Wege ...« gesungen, nun, da war auch alles, was ihr Herz gekränkt, von ihr genommen worden ...
Jetzt fuhr die Kalesche in die Wilmersdorfer Chaussee, vorbei am Akazienwäldchen. Rechts unten lag das feuchte Wiesengelände, links aber, steil ansteigend, sandiger, trockner Boden, in dem die Haferfelder, von Disteln und Winden stark durchwachsen, noch zur Ernte bereitstanden.
Plötzlich fragte die Mutter: »Sind wir denn nun noch nicht bald da? Das ist ja wie eine Reise in der Postkutsche zu Großmutters Zeit!«
»Mama, du wirst früh genug enttäuscht werden!«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm, sah ihn an. »Jetzt nicht mehr, Walter! Mir sind Schuppen von den Augen gefallen – ach, ich weiß selbst nicht, was mit mir vorgegangen ist – ich denke, es sollte wohl alles so kommen!«
Jochen hatte mit der Peitsche geknallt, und das hagere Mädchen war herbeigestürzt, um beide Torflügel zu öffnen. Dann war der Wagen bis zu jener Stelle gefahren, wo die Insassen unbedingt aussteigen mußten, wollten sie nicht in der Remise landen.
Nun half Walter der kleinen, gebrechlichen Frau aus dem Wagen, bot ihr den Arm und führte sie den Kiesweg zur Veranda hinauf. Die Glasfenster waren schon eingesetzt, und darum war hier draußen gedeckt worden. Zwei mächtige Georginensträuße – altmodisches, schweres Silberzeug und Porzellan aus der Königlichen Manufaktur – so stand der Tisch in festlich-feierlicher Erwartung einsam da.
»Ja, Mama, setzen wir uns hier so lange her.« Walter wies enttäuscht auf etwas abseitsstehende Korbsessel – »man wird wohl gleich kommen!«
Kaum aber hatte sich die Frau Hauptmann niedergelassen, als Elsbeth aus dem dämmerigen Zimmer nebenan auf die Veranda trat.
Ein hastiges Kopfnicken, ein flehender Blick zu Walter hinüber, und da stand sie nun in ihrem weißen Kleid, das sie damals an jenem Frühlingsabend getragen hatte, wagte sich nicht weiter und sah gequält von Angst und Verwirrung zu Boden.
Und wenn die Frau Hauptmann etwa noch Gelüst nach einem Triumph gehabt, so hätte sie ihn jetzt beim Anblick dieses zaghaft-bangen Mädchens feiern können. Doch sie hatte sich betroffen erhoben, ging rasch auf Elsbeth zu und sagte: »Mein Gott, aber Sie sind ja noch ein Kind!« Schwerer Vorwurf lag in dem Blick, der Walter traf. Und mütterlich-zärtlich strich sie Elsbeth über das Haar: »Ja, sieh mir nur in die Augen, und laß dir in die Augen sehen!« Und die welken Lippen der alten Frau bewegten sich, als ob sie spräche, aber die Worte wurden nicht hörbar.
»Gott sei Dank, Mama, ich wußte es«, sagte Walter. »Man muß sie ja sofort liebhaben, wenn man sie sieht, und jetzt wirst du mich verstehen.«
»Hemhem!«
Es war Albert, der mit Rieke auf der Schwelle stand und sich mit diesem »Hemhem« bemerkbar zu machen suchte. »Wir möchten jerne an die alljemeine Rührung teilnehmen, aber wir kommen woll schon zu spät? Siehste Rieke, dadran bist du bloß wieder schuld, was mußte dir auch im letzten Augenblick noch ein anderes Kleid anziehen, als wäre das Rosane nich fein jenug gewesen.«
Frau von Eschwege bekam sofort etwas von ihrer früheren Haltung. »Walter – bitte!«
Und Walter sagte: »Darf ich bekannt machen, meine Mutter! Mama, Fräulein Sandbohm ist dir schon bekannt, nur Herrn Sandbohm kennst du wohl noch nicht?«
Albert, der eine Verbeugung machte, sagte: »Ich hab' mal Tanzstunde jehabt, da war's auch, wie jetzt hier, bloß da mußte man bei die Verbeugung auch noch einen Kratzfuß machen, aber das krieg ich nich mehr so raus, ich hab' nämlich ein Bruchband um!«
Rieke drückte ihn mit einer weit ausladenden Handbewegung zurück und sagte feierlich: »Sehen Sie hier – zwei weiße Handschuh! Hab' ich Ihnen damals nich jesagt, daß noch viel Schwarzes zwischen liegt, ehe mein anderer weiß wird? Doch ich habe auch jesagt: »Er aber«, sie wies auf Walter, »wird der Schlange den Kopf zertreten, also an ein Mädchen jutmachen, was ein anderer an mir jesündigt hat. Nu is es gesühnt, und da brauch ich nich mehr zu Ihnen zu kommen, denn da kommen Sie selbst. Auch das is also in Erfüllung jejangen! Was mein Bruder Albert is, der wollte ein jedrucktes Herzlichwillkommen hier an die Wand nageln, aber ich hab' ihn jlücklich wieder von abjebracht, denn es war mir zu papiern – nee, Sie sind uns von Herzen willkommen, auch ohne son jekauftes Ding!«
»Jroßartig, Rieke«, sagte Albert, »so kenn ich dir ja noch janich, du müßtest dir mit die Lina Morjenstejrn zusammentun, die braucht sonne wie du!«
»Stille biste, siehste denn nicht!«
Nein, in seiner Bewunderung hatte Albert nicht bemerkt, daß die Frau Hauptmann auch etwas sagte, und darum hörte er jetzt nur noch den Rest: »... und ich bin deshalb von Herzen gekommen und danke Ihnen von Herzen für alles!«
»Na, dann können wir ja nu endlich Mittag essen«, sagte Albert befriedigt, »oder« – er sah Walter und Elsbeth an – »wollt ihr auch noch einen Toast ausbringen? Nee, na vielleicht dann nachher, wenn wir was zum Anstoßen haben, und es jiebt was Jutes, ihr werdet mit die Zunge schnalzen!«
Das »Jute« hatte sich als Champagner erwiesen, der aus hohen Kelchgläsern getrunken worden war. »Das Zeugs kann man wie Selterwasser schlucken«, hatte Albert gesagt, »und ihr tätet mir einen jroßen Jefallen, wenn ihr feste von trinken würdet, denn sonst kommt's nie weg, weil ich mir nischt draus mache, bloß bei feierliche Jelegenheiten! Und ich jlaube – was Rieke, jesteh's man, heute is wohl doch erst die richtige Verlobung, und was du neulich meintest, war woll bloß so 'ne Vorverlobung!«
Was von heimlicher Verlegenheit und leisem Unbehagen noch vorhanden gewesen, war nun verflogen, da ja die Frau Hauptmann ganz anders erschien, als man sie sich vorgestellt. Sie hatte zwar immer nur sehr vorsichtig genippt, nur ein einziges Mal, nach ihres Sohnes Ansprache, ein ganzes Glas auf einen Zug geleert, aber der Wein hatte wohl stärker auf sie gewirkt, als auf alle andern. Ihr vergrämtes, blasses Gesicht hatte Farbe bekommen, und wie ein junges Mädchen hatte sie fortwährend gekichert.
Walter hatte seine Mutter noch nie so froh gesehen, dachte wehmütig, wieviel weniger schwer sie das Leben aufgefaßt hätte, wenn sie sich ab und zu einmal ein Gläschen Wein gegönnt, in ein Konzert oder in Gesellschaft gegangen wäre. Ja, aber seinetwegen hatte sie sich doch alles versagen, seinetwegen in ewiger Angst leben müssen, in dieser Sorge um seine Zukunft! Und welch furchtbare Schläge waren es für sie gewesen, als er den Abschied bekommen, als sie den Rest des kleinen Vermögens verloren, die Wohnung aufgeben, in das öde Stift ziehen mußte. Und so hatte sie doch auch nur neues Unglück befürchtet, als sie von des Sohnes Liebe zu dem armen Mädchen erfuhr. War es nicht begreiflich, daß sie sich mit aller Kraft dagegen gestemmt? Nun, da sie endlich, endlich auch einmal ein Glückswallen spürte, Glauben daran gewann, war sie vollständig verändert, rührend in diesem Frohgefühl! Ihr Blick ruhte immer wieder auf Elsbeth, glitt zu Walter, zu Rieke und Albert, und weiter dann in den herbstlich-bunten Garten – ja, es war alles Wirklichkeit, aber doch so unwirklich ...
Und diese »Verrückte«, die doch, wie sie sich, benahm und sprach, so gar nicht den Eindruck einer Geisteskranken machte – hätte also ihre Schwägerin sein können – dieser fidele Mann dort, der so verunglückt in seinem zu eng gewordenen Bratenrock aussah, ihr Schwager. Ja, bei Lebzeiten ihres Mannes wäre ein Verkehr mit diesem Geschwisterpaar wohl ebensowenig möglich gewesen, als wenn der Herr Hauptmann Erster Klasse einen Omnibus benutzt hätte. Und es dünkte ihr plötzlich, daß diese »Standesrücksichten« doch recht hinderlich im Verkehr von Mensch zu Mensch sein könnten, ja, recht hinderlich für das Herz! Und dieses junge, schöne Mädchen, diese Elsbeth, sollte sich Mutter fühlen? Zu merken war nichts. Aber Walter hatte es doch gesagt, und so mußte es wohl wahr sein. Und da saß sie, die Frau von Eschwege, hier mit der Verführten zusammen, sank nicht vor Scham über sich selbst in die Erde! Nein, mit Verwunderung stellte sie fest, daß es ihr ganz unmöglich war, ein solches Gefühl aufzubringen. Im Gegenteil, ihr Herz schmolz hin in Zärtlichkeit und Entzücken, vielleicht, entschuldigte sie sich, weil es Herberts Tochter war.
Und plötzlich hatte sich die Frau Hauptmann an Elsbeth gewandt: »Aber, ich vermisse deine Mutter!«
»Ach, Mutter wollte nicht kommen, sie glaubte, es würde Ihnen vielleicht nicht recht sein!«
»Nimm dein Glas, Kind, stoßen wir jetzt beide einmal an, wir beide nur! Und nun nennst du mich Mama und sagst du zu mir, versprich es mir!«
»Ich versprech es dir, Mama, aber zuerst werde ich mich wohl doch noch oft versprechen!«
»Und sobald es geht, machst du mich mit deiner Mutter bekannt!«
»Ja, liebe Mama!«
»Gott, du bist ja wirklich noch ein Kind«, die Frau Hauptmann zog Elsbeth an sich und küßte sie.
»Mir haste keinen Kuß nich jejeben, als wir Brüderschaft jetrunken«, hatte Albert gesagt, »na schad' nischt, vom naturwissenschaftlichen Standpunkt is Küssen unjesund, bei manche Völkerschaften reiben sie sich deshalb bloß die Nasen aneinander, was meiner Meinung aber auch unhygienisch is, von wegen Schnuppen!«
Riekes ganzes Wesen war selige, stille Verklärtheit gewesen. Gleichsam aufgeplustert wie eine Glucke saß sie still und zufrieden da und beobachtete das Treiben ihrer Kücken.
»An was denkst du, Tante Riekchen?« hatte Walter sie leise gefragt.
»An was, ach, an alles! Aber jetzt eben dachte ich, daß es doch wohl nicht janz richtig ist, daß Unjlück läutert, ich habe immer jefunden, daß vom Unjlück verfolgte Menschen nich jut jejen andere Menschen sind, sich sojar über das Unjlück der andern noch freuen. Wenn aber ein unjlücklicher Mensch jlücklich wird, dann is er plötzlich auch jut jegen andere. Wer Zahnschmerzen hat, stößt mit die Beine um sich, wenn aber der hohle Zahn jezogen is, tanzt man jerne mit dieselben Beine!«
»Aber du warst doch so unglücklich, viele Jahre, und bist immer gut zu allen Menschen gewesen!«
»Sage das nich, ich habe Alberten das Leben jrade nich leicht jemacht, er is manchmal die Wände hochjejangen vor Verzweiflung! Wenn er mir nich für verrückt jehalten, hätte er es woll kaum ertragen. Ja aber nu! Nu is ja alles anders jekommen! Aber, sieh bloß mal den Albert an, jetzt macht er noch 'ne Pulle Schlampamper auf, das jeht doch nich, sie werden ja alle beschwipst und bereuen es dann nachher, wenn sie Kopfschmerzen kriegen. Lieber einen schönen, starken Kaffee jetzt, daß die Lebensgeister wieder munter werden. Minna, komm mal her!«
Sie hatte dem hageren Mädchen, das beim Abräumen war, verstohlen Anweisungen gegeben – als Albert wieder einschenken wollte, war die Flasche leer. Verdutzt hatte er sie gegen das Licht gehalten. »Ich dachte, sie is einjefroren, das kommt nämlich in die antarktischen Jejenden vor – aber sie is wirklich schon wieder leer. Na, ich hole 'ne andere–«
»Nee, jetzt jiebt's Kaffee«, hatte Rieke gesagt, »und wenn wir den jetrunken haben, machen wir's uns alle ein bißchen jemütlich. Die Frau Hauptmann legt sich auf die Schaise, so 'ne lange Wagenfahrt macht ja immer 'n bißken matt, und wir andern drücken uns. Ich jehe oben bei mir, ich muß die Joldkeberschuhe aushaben, und nachher zieh ich mir die Jummizug an, die sind bequemer. Und du, Albert, kannst dir auch was anderes anziehen, in den Rock siehste ja wie'n Konfirmande aus. Du kannst ja nich mal die Arme runter machen, so kneift dir das unter die Achseln ...«
»Ich komme mir ja selber wie'n Pinguin vor, das sind –« wandte er sich erläuternd an Frau von Eschwege – »die dicken, jroßen Vögel mit die janz kleenen Flügel. Die leben auch in die Antarktis, und dabei is unser Eis bloß aus die Teltower Eiswarte!«
»Albert«, sagte Rieke streng, »Al-bert! du stößt mit die Zungenspitze an!«
»Ja, die is schon janz wund, das kommt bloß von das verdammte süße Zeugs! Wein soll man überhaupt erst in die Dämmerung trinken, hat ein weiser Mann jesagt!«
Die Sonne war untergegangen, aber der ganze Westhimmel glühte in flammendem Rot.
Hinten, im letzten Teil des Obstgartens, der schon wieder auf das Wiesengelände hinausführte, standen Elsbeth und Walter. Sie hatten Sehnsucht gehabt, jetzt beide für sich allein zu sein.
»Frau Matthis hat doch recht behalten ... ›Aber nachher wird alles gut‹ – ja, so hat sie's gesagt!«
»Süß warst du, als du wirklich wie ein kleines Mädchen ›liebe Mama‹ zu meiner Mutter sagtest. Ich habe nicht gewußt, daß du dich einschmeicheln kannst!«
»Das hatte ich schon gar nicht mehr nötig, ich merkte doch, daß ich ihr gefiel. Aber jetzt, wo ich sie kenne, weißt du, was da ist?« Sie blickte sich rasch nach dem Hause um, niemand konnte sie beobachten. Und da schlang sie die Arme um seinen Hals und preßte ihn an sich: »Ja, nun bist du doch wieder mein hoher Herr! Es ist was Besonderes um euch beide, ich kann's nicht beschreiben!« Sie küßte ihn wild begehrend immer wieder, trat dann aufatmend zurück. »Es überwältigte mich eben so, ich mußte dich mal so küssen! Und eigentlich, warum sagst du nicht, daß auch an mir was Besonderes ist? Wenn das wahr ist, du weißt schon, bin ich doch eigentlich deine Cousine, ich müßte doch auch was Apartes an mir haben, oder bekommt man das bloß, wenn man auch eine adlige Mutter hat? Du mußt mich nicht auslachen, aber das beschäftigt mich jetzt sehr, wegen – na ja, wegen! Albert hat mir ein ganz komisches Buch zu lesen gegeben – ›Darwins Zuchtwahl‹ heißt es, aber Tante Riekchen hat's mir wieder weggenommen und ihn ausgeschimpft. Er hat gesagt, weil ich eine Landwirtsfrau werde, müßte ich mich um so was alles kümmern!«
Das Glas Champagner, das sie getrunken, wirkte wohl selbst jetzt noch nach, denn nie hatte sie so rasch und viel hintereinander gesprochen.
»Ich entsinne mich, als wir uns kennenlernten, hattest du so niedliche romantische Wünsche«, sagte Walter. »Drei Rosen auf einem Stiel, die doch bloß im Märchen etwas Besonderes sind, denn in jedem Rosengarten kommen sie vor! Dann, was war's doch noch – ja, im Mondschein bei Schildhorn auf der Havel zu rudern! Es war alles so rührend bescheiden! Und welche romantischen Wünsche – nein, nicht Wünsche, denn so etwas haben wir beide ja gar nicht zu wünschen gewagt, wieviel Märchenhaftes ist doch in unser armes, bedrücktes Dasein, meins und deins, gekommen!«
»Und in meins erst! Ach, ich werde wohl dran zugrunde gehen müssen –«
Und nun kam der Rückschlag der seelischen Erregung, der jähe Stimmungswechsel in diesem Stadium. Kein Trostwort vermochte die Weinende zu beruhigen, hemmungslos gab sie sich ihren Todesahnungen und Unglücksbefürchtungen hin.
»Aber wenn nur das kleine Wesen am Leben bleibt, das dich an mich erinnert! Meinetwegen ist es nicht, ich bin so überirdisch glücklich geworden durch dich! Ach, wie wird alles werden, nach so viel Glück kommt immer Unglück, so ist es ja stets! Und deshalb hab' ich ein heimliches Grauen vor diesem vielen Glück!«
Der schrille Pfiff einer Trillerpfeife. Albert gab das Signal, daß der Abendbrottisch gedeckt sei.
»Komm, Elsbeth! Hoffentlich sehen sie's dir nicht an, daß du geweint hast!«
»Ach, was schadet es denn, ich weine, wenn ich weinen will, und ich muß jetzt sehr viel weinen, manchmal liege ich die ganze Nacht und weine das Kopfkissen naß!«
Die standesamtliche Anmeldung war erfolgt, seit vierzehn Tagen hingen Walters und Elsbeths Namen in dem durch ein Drahtmaschennetz noch besonders geschützten Kasten am Schöneberger Gemeindehaus. Auch der Pastor hatte von der Kanzel nach Schluß des Gottesdienstes verkündet, daß Sekondeleutnant a. D. Herbert Ullrich Walter von Eschwege und Jungfrau Agnes Louise Elsbeth Kienitz in den Stand der heiligen Ehe zu treten gedächten ...
Und Elsbeth, die mit Walter oben auf dem Chor des kleinen Dorfkirchleins saß, war bei dem Wort Jungfrau fast von der Bank gerutscht und hätte sich am liebsten verborgen. Denn da unten, am Eingang, stand der Gendarm, und der wußte doch, aus der Anzeige des Vaters, daß sie – »die pp. Kienitz – wegen ihres lüderlichen Lebenswandels« eigentlich in eine Besserungsanstalt für verwahrloste Mädchen gehört hätte. Wenn er jetzt vorgetreten und vor der ganzen Gemeinde Einspruch erhoben! Aber der Herr Gendarm stand da, ohne sich zu rühren! Ach, wie war sie ihm dankbar.
»Ich kann nur mit Mama sagen: ›Du bist ein Kind!‹« flüsterte ihr Walter zu. »Komm, nun haben wir's ja gehört!«
Durch ein Hintertürchen gelangten sie auf den Friedhof. Elsbeth zog Walter mit, durch die engen Pfade zwischen efeuumsponnenen Hügeln. Alte Geschlechter Schöneberger Bauern lagen hier. Spinnen hatten Netze in dem Blättergewirr gezogen, der Tau hatte sich darin gefangen und glänzte wie Tränen. Auf einer morschen Bank, hinter hellentlaubten Fliederbüschen, warteten sie, bis sich die Kirchenbesucher verlaufen.
»Wer mag der gewesen sein, an dessen eingesunkenem Grab wir jetzt sitzen?« sagte Walter. »Der Name ist so verwittert, daß man ihn nicht mehr lesen kann. An welche Orte verschlägt uns doch unsere Liebe. In solchen Stunden, in denen ich mein Leben am stärksten spüre, war ich bisher immer allein, nun bin ich es nicht mehr, nun empfindest du diese Stunden ebenso stark als dein Leben, als unser Leben, und ich begreife: Wir zwei sind eins!«
Sie sah ihn seltsam an: »Du vergißt, auch ein drittes erlebt diese Stunde hier schon mit uns!«
Walter saß versonnen. Plötzlich sagte er:
»Kommen und Gehen –
Treiben in Wind und Flut ...«
»Ich weiß nicht, dieses Bruchstück irgendeines Gedichtes kommt mir immer wieder in solchen Augenblicken in den Sinn, es ist mir, als erschöpften sie das ganze menschliche Dasein. Pastor Vorberg war in seiner Predigt vorzüglich, besser hat's Frommel, unser Garnisonprediger, auch nicht verstanden, Funken aus versteinerten Herzen zu schlagen, als dieser Dorfgeistliche. Hier aber, wenn ich jetzt in der Herbstsonne mit dir sitze, die Spatzenschar in der Hecke schilpen höre, die alten Bibelsprüche auf den Leichensteinen lese und daran denke, daß du mein Weib bist – ja, mein Weib, heilig durch die Aufgabe, die du übernommen hast, da ... – Ja, Elsbeth, ich merke selbst, daß ich zu überschwenglich werde ... Und da läßt du dich durch den Anblick eines Gendarmen in deinen heiligsten Empfindungen stören – ach, welcher Schmutz ist doch an uns hochgespritzt, weil wir menschlich gefühlt und gehandelt haben, ehe man uns erlaubt hat, menschlich zu sein. Wer hat uns getraut, ehe die konventionelle Zeremonie es erlaubte? Entsinnst du dich der Gewitternacht? Vor dem Altar werde ich nicht inniger geloben können, mit dir fürs Leben verbunden zu sein, wie damals, als die Blitze zuckten, du mein wurdest. Und diese Opferwilligkeit ist gesegnet worden, der da oben zürnt uns nicht, den Glauben soll mir niemand nehmen! Und dieses Recht der Selbstbestimmung kann ich verteidigen – vor Gott selbst, der mein Vater ist und als Vater mich verstehen muß – muß, sage ich!«
Nie hatte ihn Elsbeth in solcher seelischen Erregung gesehen. Und als er jetzt aufstand, sagte sie: »Ich nehme ein Efeublatt von diesem Grabe mit, ich lasse es mir in den Myrtenkranz flechten, selbst wenn es inzwischen welk geworden ist. Walter, hier haben wir unsere heiligste Stunde erlebt, merke dir den Platz, damit wir ihn später wiederfinden können, ja, wenn alles gut geworden ist.« – –
Und in diesen Wochen bekam Albert täglich – zur Verwunderung des Briefträgers und zu noch größerer Verwunderung Minnas – drei, vier, ja oft sogar ein halbes Dutzend Briefe auf einmal. Seine Anzeige in der »Tante Voß«, daß gegen sofortige Barzahlung und Übernahme sämtlicher Lasten und Verpflichtungen ein Gut gesucht würde, hatte ein überraschendes Angebot zur Folge gehabt. Wie vielen verschuldeten Bodenbesitz gab es noch immer, nach dem doch scheinbar längst überstandenen Rückschlag der Gründerjahre, in der Mark.
Und da saß nun Albert Tag für Tag, eine Landkarte von Brandenburg vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, prüfte die Angaben, verglich, rechnete, schrieb Rückanfragen, verbat sich aufdringliche Vermittler. Und schließlich schien er zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Jochen mußte ein Telegramm zur Post bringen und dann, zurückgekehrt, ein Paar seit vielen Jahren nicht mehr getragene Stulpenstiefel seines Herrn blankputzen und das hartgewordene Leder geschmeidig machen.
»Ja, morgen früh um fünfe muß mir Jochen nach die Bahn bringen, ich werde woll zwei, drei Tage wegbleiben, denn is es nich das eine, is's bestimmt das andere!«
»Jott sei Dank, dann quirlste uns doch nich immerzu um die Beine rum. Kannste nich jleich acht Tage wegbleiben, damit wir hier auch mal zu was kommen können!«
Rieke und Elsbeth standen in einem sonst immer verschlossen gewesenen Zimmer vor offenen Schränken und Kommoden und musterten aufgespeicherte Wäschevorräte.
»Also morgen früh um fünfe«, sagte Rieke, ohne sich dann noch weiter um ihren Bruder zu bekümmern. »Am besten is doch, du sagst es Minna selbst, dann hab' ich keine Schuld, wenn du's verschläfst. Und nu laß mir jetzt bloß mal was in Ruhe machen, siehste denn nich, wie's mir in die Finger kribbelt, daß ich weiterkomme! Ach, is das alles verjilbt, und da hat man jedacht, Wunder was man hat, und daß kein Stück mehr zu kaufen ist. Und nu sieh dir das an – Elsbeth! Ist das nicht jammerschade? Adje, adje, mach schon bloß die Türe zu, es zieht doch!« schrie sie Albert an.
Und als er verschwunden war, sagte sie: »Nee – mein Puttchen, das kann ich dir nich zumuten! Vielleicht, daß es nach dem Waschen raus ist! Aber die Monojramms müssen alle weg, die stimmen ja nu nich zu dir! Da werden wir also jroße Wäsche machen, und dann wird sich ja rausstellen, was noch brauchbar ist. Und da werden wir uns auch nich jroß aufhalten, da wird ausrangiert ohne Jnade und Barmherzigkeit und neu angeschafft. Jawohl, wenn schon, denn schon! Da fahren wir übermorjen in die Stadt bei Herzog.«
Sie hatte sich erschöpft auf einen Stuhl gesetzt und starrte auf die seltsam-beweglichen Sonnenkringel am Fußboden. »Ach, was is bloß mit mir, ich habe jetzt immer son komisches Angstjefühl! Ich bin woll zu vollblütig jeworden, ich müßte mir mal Blutigel ansetzen lassen. Aber ich ekle mir so vor die ollen Dinger – das is mir, als läge ich schon im Sarge und die Maden fräßen mir. Wenn ich dann bloß nicht Scheintod wäre – denn davor hab' ich die jrößte Angst. Ich bitte dir, Elsbeth, sorge du dafür, daß ich die Klingel aus der obersten Kommode mit in'n Sarg kriege, daß ich euch doch wenigstens ein Zeichen jeben kann. Nich Sigellack auf die Fußsohlen trippen, wie soll ich denn nachher wieder laufen mit die Brandblasen.«
»Ach Tantchen, warum machst du dir und mir das Herz schwer! Ich sterbe eher als du, da kannst du mir die Klingel mitgeben!«
»Nee, die Klingel kriegst du nich, das is meine Klingel, ich werd' dir zu Weihnachten 'ne andere schenken!« Sie atmete tief auf. »So, nu is wieder mal vorüber, das sind sone Anfälle, wo ich manchmal sojar ohnmächtig werde wie damals auf die Eisbahn. Immer, wenn ich mir aufrege – und wie ich jetzt hier meine alte Aussteuer sah, da sind mir Erinnerungen jekommen – ach, ich kann dir janich sagen, was mir da alles wieder durch den Kopp jejangen is!«
»Ich kann es mir ja denken!«
»Nee, nee, das kannste nich, mein Puttchen! Das sind Jedanken, die eine so olle Fumzel wie ich nich mehr haben sollte, ohne sich zu schämen. Da heißt's immer: Nach die Wechseljahre, aber ich jlaube, den Deibel seine Jroßmutter würde sich auch noch verlieben können! Wen mag die überhaupt als Mann jehabt haben, war der auch schon ein Deibel? Und wenn ihre Tochter, die den richtigen Deibel als Sohn hatte, was war denn deren Mann für einer? Und is der Jroßvater und Vater von den eigentlichen Deibel, sind die nu tot? Können Deibels überhaupt sterben? Weißt du da nich Bescheid, Elsbeth?«
»Nein, Tante, aber wollen wir jetzt nicht lieber runtergehen? Hier oben, so dicht unterm Dach, ist so drückende Luft, und mir wird immer so schwindlig und schlecht!«
»Weil du nischt Vernünftiges mehr ißt! Von saure Jurken kriegt man keine Buljong in die Knochen! Ach, wenn du man schon erst ein, zwei Monate weiter wärst und dein Magen wieder in Ordnung!«
Elsbeth standen die Tränen in den Augen. »Ich bin mir ja selbst zuwider und nehme mich zusammen, wie ich nur kann!«
»Das müßte anders sein, mit die kleinen Kinder«, sagte Rieke – »es wäre doch so schön, wenn das mit den Klapperstorch wahr wäre! Und dann wäre die Menschheit auch jesünder, denn dann jäbe es doch bloß Sommerkinder, keine sone mickrigen Winterkinder, weil der Storch dann doch in Afrika is!«
Sie war an das Fenster getreten und blickte hinaus. »Siehste, da fliegt der Altweibersommer – ja, es is Herbst, wieder is ein Jahr von mein verpfuschtes Dasein rum. Na, im nächsten Jahr steh ich hier nicht mehr, das weiß ich, da kannste mir bejießen kommen, Elsbeth!«
»Lieber Albert«, Walter war aufgestanden, »kann ich jetzt auch mal was sagen – wie ich alles auffasse? Du hast Kienitzhagen ausgesucht, dir gefällt das Gut, nach deiner Ansicht wird sich die Bewirtschaftung rentieren. Ich brauche es also gar nicht zu sehen, denn ich würde ja doch, selbst wenn ich innerlich Einwände hätte, nichts dagegen sagen, aus Angst, daß sich dieser Traum vielleicht doch nicht verwirklichen könnte. Meine Braut, Agnes Louise Elsbeth Kienitz, wird dir also Vollmacht geben, daß du von ihrem Vermögen die zum Ankauf nötige Summe abheben kannst – –«
»Hem!« sagte Albert. »Entschuldige man, ich hab' mir bloß eben verschluckert.«
»Ja, und nu weiter! Was deine Person anbetrifft, bin ich überzeugt, daß du aus deiner früheren Praxis tüchtige landwirtschaftliche Kenntnisse besitzt. Wenn du dich um eine Inspektorstelle bei uns beworben hättest, ich spreche jetzt im Namen meiner Braut, würden wir dich gegen angemessenes Gehalt sofort engagieren. Da du uns jedoch näher stehst, bitten wir dich, diesen Posten bei uns anzunehmen – gegen eine Entschädigung nach deinem Gutdünken.«
»Ich werd's mir mal beschlafen!«
»Schön! Den Vorschlag, meine Mutter auf dem Gut wohnen zu lassen, müssen wir ablehnen. Meine Mutter weiß diesen Vorschlag zu schätzen, dankt bestens für die gute Gesinnung, möchte aber lieber in der Stadt bleiben. Ich hoffe, ihr so viel bieten zu können, daß sie sich irgendwo in den vielen neuen Häusern hier im Westen eine kleine Wohnung nimmt ...«
»Schön, schön, nu man weiter!« sagte Albert.
»Frau Kienitz aber soll zu uns, soll Elsbeth unterstützen. Den Bruder bringen wir als Alumnen im Joachimstalschen Gymnasium unter, die kleine Schwester kommt mit uns aufs Gut, eine Schule für die ersten Jahre wird wohl in der Nähe sein!«
»Sie kann ja ein Ponnyjespann kriegen«, sagte Albert – »wie ich's als Junge hatte. Na, da is also alles im Lot, oder habt ihr euch sonst noch was ausgedacht?«
»Eins noch!« sagte Walter. »Du meintest, ich soll ein paar Semester auf die landwirtschaftliche Hochschule. Ist das wirklich nötig? Könnte ich nicht aus Fachbüchern –«
»Kannste«, sagte Albert. »Besser wäre es natürlich. Warum willste eijentlich nicht?«
»Ich müßte doch dann in Berlin wohnen – und so getrennt von Elsbeth ...«
»Na ja«, sagte Albert, »ich verstehe! Jleich nach die Flitterwochen wieder weg!«
Er kratzte sich nachdenklich die Backe. »Es macht mir bloß Sorge, daß ich Rieken hier bei Minnan und Jochen so allein lassen soll. Wenn die man nich dajejen is! Sie tut zwar immer, als wenn sie mir nicht verknusen kann, aber plötzlich kriegt sie dann doch Sehnsucht nach mir!«
»Sie hat doch das alles selbst angeregt!«
»Hat se – so?« Albert seufzte. »Is dir nich an ihr was aufgefallen in die letzte Zeit? Nee? Mir kommt sie 'n bißken verändert vor, ich merkte es, als ich jetzt zurückkam. Sie ist, naturwissenschaftlich jesprochen, wie 'ne Blume, die man lange nich bejossen hat. Aber ich täusche mir vielleicht auch bloß! Was ich sagen wollte: Die Ernte is vorbei, jetzt kommt die Herbstbestellung, da is mächtig Arbeit, da jiebt's massig zu tun. Ich sage das bloß, damit du nich etwa denkst, daß wir erst nächstes Frühjahr anfangen. Einige von die Leute hab' ich behalten, sobald ich hier weg kann, muß ich jleich wieder hin. Wann soll die Hochzeit sein? So, und wie lange werdet ihr wegbleiben?«
»Am liebsten gar nicht, aber Tante Riekchen besteht doch auf diese Hochzeitsreise. Wenn das Gutshaus auch frei ist, sagst du doch, die Wohnung müsse noch renoviert werden, also so lange etwa!«
»Ja, na, und anderes ist auch zu machen. Überhaupt, es jiebt 'ne Hucke voll zu tun. Ich werd' Jochen woll doch brauchen, dann hat Rieke also man bloß noch Minnan, wenn sie uns da man nicht doch noch Schwierigkeiten machen wird, ich fürchte – ich fürchte!«
Aber Rieke machte gar keine Schwierigkeiten. »Kümmert euch bloß nich um mir, ich bin jetz janz Nebensache, nu seid ihr dran!«
Und als dann Albert wieder abgefahren, ohne Jochen, weil Rieke ihn brauchte, ließ sie sich Tag für Tag in die Stadt kutschieren, um einzukaufen oder zu bestellen, was für die Hochzeit notwendig wurde. Und auf allen diesen Fahrten mußte Elsbeth und oft genug auch Walter sie begleiten. »Es soll nach euerm Jeschmack jehen, nich nach meinem! Ihr schlaft nachher doch in die Betten, und eure Möbel sind's doch dann!«
In den ersten Vormittagsstunden fuhr man gewöhnlich ab, und erst spät nachmittags kam man mit vollbepacktem Wagen heim. Gegessen wurde bei Habel Unter den Linden.
»Hier hab' ich oft mit Herberten jesessen, da in die Ecke, wo der vorige König hängt!« Rieke wies auf das Porträt Friedrich Wilhelms IV. »Nischt hat sich verändert seit damals! Der Kachelofen war auch schon so braun wie jetz, auch der eine Kellner is noch aus die Zeit. Und manchmal wird mir wieder so komisch, Walter, wenn ich dir an den Tisch hier sitzen sehe! Wenn schon Eisbahn im Tiergarten wäre, könnte ich denken, wir sind eben von die Rousseau-Insel jekommen. Dann trank Herbert erst immer 'n Konjak ans Büfett, ehe er Chablis bestellte. Und ich aß jedesmal 'n Knüppel mit Schabefleisch und Sardellen, das war damals meine Leidenschaft. Er hatte 'ne Schwäche für Schinken in Burjunder, ja – ja!«
Sie lachte, jedesmal wenn sie dies erzählte, ihr girrendes Lachen. Walter sah Elsbeth an – es wurde ihnen stets beklommen zumute. Sie hatten ja nun auch längst bemerkt, daß Tante Riekchen wieder unter kritischen Augenblicken litt.
»Das Hochzeitsessen hätte ebensojut auch hier sein können, aber Albert war für Hillern. Na – einmal soll er auch seinen Kopp haben! Es wird ja doch nicht so, wie ich's mir vorjestellt! Wir sind 'ne zu kleine Gesellschaft, außer den beiden Schwiegermüttern man bloß noch Justizrat Michaelson, dann sind wir also im janzen sieben! Du sagtest doch, du hättest einen Freund, wollen wir denn den nich einladen?«
»Nein!« sagte Walter kurz.
»Meine Geschwister hast du vergessen, Tante!«
»Richtig – an die hab' ich ja janich jedacht! Na denn is's ja jut, denn sind wir ja über die Unjlückssieben weg, denn sonst hätte ich Minnan an'n Tisch jesetzt. Auch die Sieben is 'ne komische Zahl, nich bloß die Dreizehn!«
An solch einem Tage, den sie wieder in der Stadt verbracht, wies Rieke, auf der Rückfahrt durch das Wiesengelände, erregt nach jener hohen Weide, bei der Walter und Elsbeth im Anfang ihrer Bekanntschaft so oft gesessen hatten.
»Da seht ihr, da sind sie wieder, die verflixten Totenvögel!«
Ein Schwarm Krähen hatte sich im Wipfel des Baumes niedergelassen, ihr heiseres »Ark – ark!« erklang durch die stille Luft herüber, übertönte das Quietschen der Wagenräder.
»Ja, da is sie, die verdammte Brut! Jedesmal, wenn es auf 'n Abend zujeht, kommen sie von weit her. Manchmal beißen sie sich in die Luft – alle sind hinter eine einzige her – hacken auf ihr rum, bis sie tot runterfällt. Neulich lag eine bei uns hinten in'n Jarten, Minna hat sie jefunden! Na, ihr beide seid ja nich abergläubisch, da wißt ihr also auch nich, was das zu bedeuten hat!«
»Tantchen«, sagte Elsbeth und zwinkerte Walter rasch zu, »ist es nicht sonderbar, daß das Gut Kienitzhagen genannt wird, nicht etwa nach mir, es hieß schon früher so!«
»Schade bloß, die nächste Bahnstation is beinahe eine Stunde weit ab, und nur ein Fahrweg, keine Chaussee dahin!« sagte Walter.
»Auch ein großes Stück Wald soll noch dazu gehören, Kiefernwald, aber nicht solche dünne Stämme wie im Grunewald, und da soll man Pfifferlinge und Steinpilze finden«, sagte Elsbeth.
»Bei Grabungen hat man viele Anzeichen gefunden, daß da früher eine slawische Siedlung gewesen ist.«
Rieke riß sich vom Anblick des krächzenden Krähenschwarms los und begann zuzuhören.
»Wenn man bloß das Haus keinen Schwamm hat«, sagte sie – »der Boden wird ja jut sein, da hat Albert schon die richtige Verstehste. Aber das Haus, das Haus! Als ich ihn nach fragte, sagte er: ›Auf das eine Scheunendach is 'n Storchnest.‹ Ich jlaube, deswegen bloß hat er das und nich das andere Jut jenommen, das er doch bloß mit 'ner Anzahlung hätte haben können. Die Hypothek sollte drauf stehenbleiben. Aber nee, bloß von wejen den Storch, als wenn ihr den noch kaufen müßtet! Denn, mein liebes Puttchen, ach, lieber nich, ich beiß mir schon selber auf die Zunge!«
Endlich angelangt, fanden sie einen vier Seiten langen Brief von Albert vor. Er erstattete, wie ein richtiger Inspektor, einen regelrechten Bericht. Die Renovierungsarbeiten im Gutshause wären schon im Gange. »Kauft man bloß für die Einrichtung der Schlafstube, die janz leer steht. Für die andern Stuben sind alle Möbel da – und sojar sehr schöne aus Eichenholz. In das jroße Eßzimmer, wo die Wände jetäfelt sind, hängen Hirschjeweihe, auch eine janz jute Flinte hab' ich jefunden. Die Störche sind leider schon weg! Schade, daß ihr nicht hier seid von wegen die Tapeten, denn ich weiß nicht, ob sie euch jefallen werden – für eure Schlafstube habe ich eine mit lauter kleine Rosenbuketts ausgesucht.«
Walter, der den Brief vorgelesen hatte, sagte: »Jetzt möchte ich wirklich mal hin, Tante Riekchen, hast du nicht Lust?«
»Nee, aber fahrt ihr beide hin! Die Einkäufe sind ja nu fertig – ich finde es überhaupt komisch von euch, daß ihr nich neujieriger seid. Am Ende macht ihr euch janischt draus!«
Walter lachte vergnügt. »Neugierig bin ich schon – aber, Tantchen, mir ist zumute wie früher als kleiner Junge, wenn Papa den Weihnachtsbaum putzte. Andere Kinder gucken da vielleicht durch die Türritze, ich habe das nie getan, verkroch mich sogar in der Kabuse, weit weg von der Stube. Bis Papa klingelte und Mama mich rief. Aber ja, jetzt möchte ich doch hin, Elsbeth, was meinst du?«
»Sofort, noch heute abend, wenn es ginge. Aber morgen früh habe ich Anprobe, das Kleid muß doch endlich fertig werden!«
»Dann also übermorgen! Dann schlafe ich morgen hier, damit wir früh losfahren. Jochen weiß ja, wenn der Zug geht, den Weg von der Station machen wir zu Fuß!«
»Nee, ihr schickt morgen Alberten ein Telejramm, daß er euch von der Bahn abholen kommt, Puttchen muß sich schonen!«
»Eben nicht, im Gegenteil, ich soll mir tüchtig Bewegung machen!«
»Keine Überanstrengung, hat der Doktor jesagt, und das wäre eine, stundenlang über Land laufen. Nee – morgen telejrafiert Walter – er soll euch abholen kommen!« –
Ehe Walter ging, saß er mit Elsbeth noch ein Weilchen auf der Veranda.
»Mir ist alles unfaßbar!« sagte er.
»Mir auch«, sagte sie. »Ach, wie mich das Haar drückt!«
Er zog ihr den Kamm heraus, schwer sanken die Flechten auf die schmalen Schultern. Sie schüttelte den Kopf, das Haar löste sich, das Gesicht wurde ganz schmal durch die Umrahmung.
Sie sahen sich an, als sähen sie sich zum erstenmal erst wirklich, keiner konnte sich vom Anblick des andern losreißen. Und dann fuhr ihm Elsbeth über die Augenbrauen, über die Stirn, über die Lippen. »So wie du soll es aussehen, Walter!«
Vor dem Hause in der Lützowstraße machte eine Kutsche halt. Frau Kienitz, die schon hinter der Haustür mit den Kindern wartete, sagte: »Noch nicht – erst bis er mit der Peitsche knallt, und dann auch noch nicht gleich, der Kutscher soll doch denken, daß wir dann erst die Treppe herunterkommen.«
Doch – nun hielt sie es selbst nicht länger aus, kam, auch ohne Peitschenknallen, zum Vorschein, stieg ein. »Nach der Kirche in Schöneberg«, gab sie die Anweisung, und der Kutscher nickte, als wenn dies ganz überflüssig gewesen sei.
In dem Seifengeschäft im Nachbarhause sagte eine der Frauen, die neugierig vor die Ladentür getreten waren: »Komische Welt det jetzt! Nu fährt sie zur Hochzeit von die Tochter. Ja, dieses Meechen, das den Tod ihres braven Vaters auf'n Jewissen hat, läßt sich in ihr Vergnügen nich im jeringsten stören, und die Olle macht mit. Wat sollen die jingeren Kinder da für 'ne Erziehung kriegen! Passen Sie uff, det werden jenau sonne Früchtchen!«
»Na, sie ziehen ja nu bald weg«, sagte die Seifenhändlerin – »die Wohnung is schon wieder vermietet!«
»Man hätte eijentlich hinjehen sollen, wer weiß, was wieder passiert, wie damals beis Bejräbnis, da hätten sie ihr ja beinahe verhauen, ick meine det Meechen!«
»Ja wenn's in die Apostelkirche wäre – aber bis nach Schöneberg!« -
Währenddessen rollte die Kutsche die Potsdamer Straße hinunter und kam als erste vor dem alten Dorfkirchlein an. Ein Schwärm Neugieriger wartete dort, eine Gruppe junger Mädchen stand am Eingang.
»Wir zischen, wenn sie kommt!« sagte eine.
»Und ich, na, ich spuck' sogar vor ihr aus.«
Die Mietskutsche der Frau Hauptmann fuhr jetzt in schlankem Trab vor. Ein Diener sprang vom Bock und half der gebrechlichen Dame beim Aussteigen.
»Seine Mutter, grau und alt geworden über die Schande, die ihr der Sohn von kleinauf gemacht hat. Der Vater soll sich aus Kummer damals erschossen haben – als sie den Sohn beim Militär geschaßt hatten!«
»Weswegen eigentlich?«
»Liebschaften mit Kellnerinnen – und Spielschulden. Es war auch was mit einem Wechsel!«
Niemand kannte den alten, würdigen Herrn, der jetzt aus der eben gekommenen Equipage stieg. So passierte der Herr Justizrat Michaelson unbekrittelt, nur mißtrauisch beobachtet, das Spalier der Neugierigen.
»Jetzt kommen sie aber!«
Ja, es war die Brautkutsche mit dem glückbringenden Schimmelgespann, den großen, silbernen Laternen, dem betreßten Kutscher und Bedienten. Und noch standen die feurigen Pferde nicht ganz, als der Kirchendiener herbeieilte, den Wagenschlag öffnete, dem Bedienten zuvorkam.
Allgemeines Erstaunen: Der Bräutigam in Gala-Uniform. Hatte er denn überhaupt noch ein Recht dazu, Uniform zu tragen? Und nun sie in dem weißen Seidenkleide mit der langen Schleppe, die der Bediente zu fassen versuchte, damit sich die Braut nicht darin verwickelte.
»Habt ihr gesehen, der Kranz war offen!«
»Nee, bloß an einer Stelle war was anderes reingeflochten, bestimmt, ganz bestimmt, ich hab' nur nach dem Kranz gekuckt!«
Die Sandbohmsche Kutsche ratterte heran. Albert half Rieke beim Aussteigen.
»Ist sie das, ist sie das? Und wer ist denn der Mann?«
»Ja, det war Eisrieke!« sagte jemand laut und herausfordernd. »Sie hat ihm das Jeld zur Hochzeit jepumpt, nu kann sie warten, bis sie's wiederkriegt! Der Mann, na det is der Wärter aus die Maison de la Santé, der soll ihr die Zwangsjacke anziehen, wenn sie tobsüchtig wird. Aber nu man rin – jleich hinterher, dat wird ja 'n Knatsch jeben!«
Doch gerade dieser aufgeregten Frau drückte der Kirchendiener die Türe vor der Nase zu – die Kränzchenschwestern aber waren alle hineingekommen und setzten sich nun in großem Abstand von der Hochzeitsgesellschaft auf die hinteren Bänke.
Und als dann, zart und leise, mählich anschwellend, Orgelton erklang, der Blick auf dem Altar haftete, der Geistliche zu sprechen begann, da fiel wie Schlacken ab, was Elsbeths Herz noch eben so peinvoll belastet hatte. Nun mochten die da hinten, diese Freundinnen, von ihr denken, was sie wollten. Nun erfüllten ihr Herz jene heiligen Schauer wie damals bei ihrer Einsegnung.
Und dann hörte man auf die Frage des Pastors:
»Ja!«
»Ja!«
Ein kurzes Aufweinen, ein leiser Ruf wurde in diesem Augenblick vernehmbar. »Herbert, Herbert!« Aber gleich darauf war Tante Riekchen wieder still, nur das krampfhafte Zucken ihrer Schultern verriet noch, wie sehr es sie bewegte.
Merkwürdig, was vorher an neidischen, feindseligen Empfindungen in den Gemütern der neugierigen, ungeladenen Gäste gewesen, war plötzlich verflogen. Sie alle wußten, daß die verlachte, verspottete »Eisrieke« diesen Jammerlaut ausgestoßen, konnten sich auch die Ursache erklären: Die Uniform des Bräutigams hatte wohl Erinnerungen an ihren alten nie erfüllten Jugendtraum erweckt. Und jetzt sah sie, daß eine andere ...
Ja, selbst denen, die das Leben nur nach den Oberströmungen des Daseins beurteilen können, kam sekundenlang die Erkenntnis, daß es die Unterströmungen sind, die den Wert des menschlichen Lebens ausmachen. Von der Tiefe des Empfindens hing es ab, ob man sein Dasein wirklich lebte oder ob man nur eine »Existenz war, die das Vegetieren mitmachte«.
Die Orgel erbrauste, verebbte, schwieg.
Die Kirchentür wurde geöffnet, das helle Licht des schönen, stillen Herbsttages flutete in den Vorraum, aus einer andern Welt kam man in den geschäftigen Alltag zurück.
Die kleine Hochzeitsgesellschaft bestieg die vorfahrenden Kutschen, in kurzen Abständen rollten die Wagen davon, zu Hiller, Unter den Linden.
Aber der Alltag gibt den andern recht, denn der Alltag ist der Feind der Romantik. Er ist nüchtern, duldet keine Poesie, ist unbarmherzig.
Am andern Morgen stand im »Kleinen Journal«, das immer das Neueste ganz ausführlich brachte, ein sensationeller Bericht:
Tragödie eines Berliner Originals
Ein aufsehenerregender Vorfall ereignete sich gestern vor dem bekannten, vornehmen Restaurant Hiller, Unter den Linden. Das stadtbekannte Original »Eisrieke«, die durch unglückliche Liebe zu einem adligen Gardeoffizier vor vielen Jahren wahnsinnig geworden war und nach Entlassung aus der Maison de la Santé in einer einsamen Villa auf den Schöneberger Wiesen wohnte, hat gestern einen Tobsuchtsanfall bekommen und mußte aufs neue der Irrenanstalt zugeführt werden.
Wir erfahren über das tragische Schicksal der bedauernswerten Person folgende Einzelheiten: Eisrieke, die jahrelang unliebsames Aufsehen auf der Rousseau-Insel hervorgerufen hatte, wo sie jedesmal nach Eröffnung der Eisbahn erschien, litt am »Buntenrock-Koller«. In jedem Offizier glaubte sie ihren verschwundenen Bräutigam, einen Premierleutnant vom 2. Garderegiment, zu erkennen, dessen Bekanntschaft sie beim Schlittschuhlaufen gemacht hatte. Einmal hat sie sogar Se. Kgl. Hoheit den Kronprinzen, der – wie bekannt – dort dem Eislaufvergnügen huldigt, zu attackieren versucht, wurde aber sofort von der Bahn entfernt. Seitdem war Vorsorge getroffen worden, daß »Eisrieke«, die an ihrer lächerlichen Kleidung sofort erkennbar war, die Rousseau-Eisbahn nicht mehr betreten durfte. Ständig waren zwei Kriminalbeamte zur Bewachung dort, wenn Se. Kgl. Hoheit der Kronprinz Schlittschuh liefen.
Eisrieke wurde in letzter Zeit nur noch auf abgelegenen Bahnen bemerkt, aber ihre Besuche wurden von Jahr zu Jahr seltener. Im vergangenen strengen Winter hatte sie auf einer solchen Eisbahn einen jungen adligen Herrn kennengelernt, einen ehemaligen Offizier, der sich aber für des Königs Rock als unwürdig erwiesen hatte. Auch in dieser entgleisten Existenz, wahrscheinlich durch falsche Vorspiegelungen noch bestärkt, hatte sie den ungetreuen Bräutigam zu erkennen geglaubt. Unter dem Versprechen, sie heiraten zu wollen, entlockte er Eisrieke, bekanntlich der Tochter des vor vielen Jahren verstorbenen Schöneberger Millionenbauers Sandbohm, ungeheure Summen.
Als nichts mehr zu haben war, weil selbst Eisrieke mißtrauisch geworden, zog er sich zurück und heiratete eine mittellose Cousine, die durch ihren leichtsinnigen Lebenswandel schon verschiedentlich mit der Sittenpolizei in unliebsame Berührung gekommen war. Als Eisrieke von dieser Hochzeit erfuhr, drang sie abends in das Restaurant von Hiller Unter den Linden ein, beschimpfte den vermeintlichen Bräutigam und seine eben angetraute Frau und verfiel dann in Tobsucht, so daß sie – mit großer Mühe endlich überwältigt – in eine Droschke gepackt und in die Irrenanstalt nach Dalldorf gebracht werden mußte.
Soweit der Bericht des »Kleinen Journals«.
In Wahrheit hatte sich folgendes ereignet: Vor dem Hillerschen Weinlokal wartete die Sandbohmsche Kutsche, die das junge Paar nach dem Bahnhof bringen sollte.
Als Walter und Elsbeth hinaustraten, hatten ihnen die andern das Geleit gegeben. Dann war die Kutsche davongefahren – aber Tante Riekchen hatte dagestanden und immer noch mit dem Taschentuch gewinkt, selbst als keine Spur mehr von der Kutsche zu sehen gewesen war. Und dann hatte sie einen Weinkrampf bekommen, war von den andern wieder hineingeführt und später in einer herbeigeholten Droschke heimbefördert worden.
Ja, nun fiel der Schnee, unerwartet früh schon war auch diesmal wieder der Winter hereingebrochen. Der »olle Busch« trug bereits seine gelbe, mottenzerfressene Pelzmütze und ließ die Umzäunung für die Eisbahn errichten. Das Terrain lag jetzt aber viel weiter draußen, denn auf dem vorjährigen Gelände war inzwischen ein Neubau begonnen, wenn auch nicht vollendet worden, dem Unternehmer war nach Errichtung des ersten Stockwerks bereits das Geld ausgegangen. Der Weißbierwirt Fiedler hatte die Konkurrenz aufgegeben. An der Ecke beim Winterfeldtplatz standen jetzt neue Häuser, für Eisbahnen war dort kein Platz mehr.
Das Wiesengelände sah recht trübselig aus unter der nassen, dünnen Schneedecke, und die Melancholie wurde noch erhöht durch das heisere Krächzen der Krähen, die nun wieder in dichten Scharen dort ihr Wesen trieben. Sie wurden von den Jungen aus der Potsdamer Vorstadt »Prairie-Adler« genannt und mit Katapulten und Luftpistolen beschossen, ohne jedoch sonderliche Einbuße zu erleiden, sie waren noch zu scheu und mißtrauisch, flogen zu früh auf, mußten durch Hunger erst wieder zutraulicher werden.
In grauen Dunstschleiern lagen die »Villa Schulemann«, das Joachimstalsche Gymnasium, und dahinter die »einsame Villa«. Die Wilmersdorfer Bauern, die sich mit ihren Milchkarren auf dem nassen, weichen Sandwege vorüberquälten, blickten stets neugierig nach dem Eckfenster im ersten Stock ...
Denn da saß sie noch immer – »die olle verrückte Schraube«, die nicht leben und nicht sterben konnte und wie ein kleines Kind jetzt gepäppelt werden mußte, damit sie nicht verhungerte, weil sie aus eigenem Antrieb ja nichts mehr aß.
Vom Gendarm wußte man auch, wer die »alte Madam« war, die man jetzt immer als Pflegerin neben Eisrieke sah.
»Nee, keine Irrenwärterin! Die Mutter von dem jeschaßten Leutnant, auf dessen Hochzeit sie den Kollaps jekriegt hat – ihr habt's doch in die Zeitung jelesen? Nich, wenn ihr nischt lest, könnt ihr auch nich wissen, was in die Weltgeschichte vorjeht! Also, die Madam is 'ne Verwandte von den ausjekniffenen Bräutigam, wegen den sie verrückt jeworden is. Die will hier sozusagen was jutmachen helfen. Ich, für meine Person, jlaub' an sowas nich! Nee – die hat der jeriebene Junge hier als Wachtposten aufjestellt, denn wenn er sie selbst auch schon ausgelaugt hat, jiebt's da immer noch wat zu erben. Über eins wundere ich mir allerdings: Über den Albert Sandbohm, diesen ollen Esel, daß der den janzen Schwindel nicht durchschaut. Aber der hat ja auch 'n Knall weg, für janz normal hab' ich ihn nie jehalten!«
Der Herr Gendarm nickte herablassend und ging weiter. Die Bauern spuckten sich in die Hände, um die Peitsche besser fassen zu können, und schlugen auf die Pferde ein, die den festgefahrenen Karren nicht gleich von der Stelle bekamen. »Schlau muß der Mensch sein, aber wer kommt denn auf sonne Jemeinheiten, unsereins nich, wir müssen uns hier im Dreck weiterquälen. Wer nischt erheiratet und nischt ererbt, bleibt 'n armet Luder bis er sterbt! Wozu die neue Militärvorlage? Doch bloß, damit die Adligen ihre Söhne als Offiziere unterbringen können.« – –
»Fräulein Riekchen, mir zu Gefallen«, bat Frau von Eschwege, und die Kranke, die durch die Scheiben in die trübe Landschaft blickte, öffnete den Mund und schluckte den vorgehaltenen Bissen immer wieder auf gütliches Zureden. Als sie dann auch das Gläschen Wermutwein getrunken, wurde sie etwas lebhafter, erfaßte die Umgebung.
»Was quälen Sie sich so mit mir«, sagte sie wehmütig, »lassen Sie mir doch, ich brauche ja nischt mehr. Nur eins möchte ich noch erleben, is denn immer noch nischt Kleines bei die Elsbeth anjekommen?«
»Ach, doch erst im Frühjahr ist es zu erwarten.«
»So – ins Frühjahr! Wenn's wieder in die Dachrinnen kluckert – ach, das höre ich so jerne, da wird mir immer so wohl, als wenn auch in mir was schmilzt! Im Frühjahr also, aber nu kommt doch erst noch der lange Winter! Sehen Sie doch mal nach, ob die Klingel in die oberste Kommode liegt. Ja, na denn is jut!«
Sie lachte ihr girrendes Lachen. »Das wird ja 'ne schöne Überraschung sein, wenn ich denn klingele und sie mir wieder rauslassen müssen. Wissen Sie denn überhaupt, daß mein Sarg unten in'n Keller steht? Den hab' ich mir schon vor viele Jahre machen lassen, oben, ans Koppende, is'n kleenes Fenster drinne, das jeht aufzuschieben ...«
»Ihr Bruder läßt Sie herzlich grüßen«, sagte Frau von Eschwege. »Elsbeth hat geschrieben, heute früh kam der Brief an!« Sie zog ihn aus der Tasche, las ihn vor.
»Über Alberten kann ich bloß den Kopp schütteln«, sagte Rieke, »was war das für ein Elend mit dem Menschen, als er hier rumsaß und an sich dokterte! Nu is er plötzlich janz jesund, ohne Katzenfelle und Bruchband, und von seinen Bandwurm hört man janischt mehr – dem hat bloß 'ne richtige Beschäftigung jefehlt!«
»Walter fragt, ob sie nicht schon jetzt mal herkommen sollen, nicht erst zu Weihnachten!«
»Dann haben Sie woll was Schlechtes hinjeschrieben! Und das sollen Sie doch nich – wozu denn? Die Elsbeth darf jetz keine traurige Jedanken haben, sonst wird das auch ein trauriges Kind. Nee – schreiben Sie ihr, sie soll recht ville Appelsinen essen, dann kriegt der Kleine 'ne feine, weiße Haut, daß man die Adern an die Schläfe durchschimmern sieht – das hat mir immer so an Herberten jefallen.« –
»Soll ich Ihnen nicht wieder was aus Gerocks Palmblätter vorlesen?«
»Meineswegen, ich werde dann immer so schön schläfrig, und der Doktor Levin hat ja jesagt, ich soll jetz viel schlafen, das wäre die beste Medizin!«
In dem großen Eßzimmer des Gutshauses bullerte der riesige braune Kachelofen. Der Frühstückstisch war eben abgeräumt worden, Albert und Walter machten sich zum Ausritt fertig.
»Bloß jut, daß nu endlich Frostwetter jeworden is, der Matsch war ja fürchterlich! Heute über acht Tage haben wir Heiligabend, es wird nu Zeit, daß wir an die Jeschenke denken. Zu schade, daß Rieke und deine Mutter nich herkommen können, da müssen wir also rein, überlegt euch mal, wann wir fahren wollen ...«
Elsbeth, die am Fenster gestanden und in den klaren Frosttag geblickt, sagte: »Nanu, der alte Briefträger war doch schon da, hatte aber nur was für die Wirtschafterin. Jetzt kommt der junge Aushelfer auf'n Velociped, da hat der Alte wohl was für uns liegen lassen!«
»Bloß keene Briefe«, sagte Albert, »ich hab' jetz immer Angst vor Briefe. Jutes steht doch nie drinne!«
Walter war hinausgegangen, kam mit einem geöffneten Telegramm zurück. Er ging zu Elsbeth und sagte: »Komm, setz dich hierher« – er schob ihr den Stuhl zurecht und wandte sich zu Albert.
»Ihr seht's ja, ein Telegramm! Mama hat es geschickt!«
»Wir sollen kommen, es steht wohl nich jut mit meiner Schwester?« fragte Albert. Er faßte nach der Tischkante, atmete schwer.
»Es – ach Gott, lieber Albert, wie soll ich's dir denn sagen! Elsbeth, unser gutes Tantchen Rieke ist gestern abend gestorben!«
Albert kam tappsend auf Walter zu – faßte nach dem Telegramm – starrte auf die Buchstaben. »Friedlich entschlafen!«
Er tappte zurück, ließ sich in den Sessel beim Ofen fallen, starrte vor sich hin. Aber plötzlich hob er den Kopf und sagte: »Elsbeth – Puttchen, wie sie dir immer jenannt hat -« und da brach ihm plötzlich die Stimme – »hör doch auf, ändert ja nu nischt mehr! Und besser so als so! War doch man bloß noch ein elendes Rumjequäle! Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet – –«
Doch da riß er sein rotes Taschentuch aus der Joppe und weinte bitterlich. »Arme Rieke, det war nu dein Leben!«
Drei Tage später – an einem Sonntagnachmittag – war die Eröffnung von »Büschs Nordpol-Eisbahn«. Die Fläche war schwarz von Schlittschuhläufern, und die Kapelle auf dem Lattengerüst spielte:
»Röschen hatte einen Piepmatz ...«
Über den hartgefrorenen Feldweg kam – gefolgt von zwei Kutschen – ein Leichenwagen. Man konnte ihn von der Eisbahn aus sehen, sah ihn auch, stellte wohl auch Betrachtungen an, von woher er sei, aber niemand kam auf die Vermutung, daß »Eisrieke« in ihm läge. Nein, das fixe »Kleine Journal« hatte die Sensationsnachricht vom Tode des »alten Originals« noch nicht erhalten, die Eisläufer konnten also auch nichts wissen.
Diese Fahrt an der Eisbahn vorüber war ein Umweg gewesen, man hätte einen kürzeren Weg nach dem Schöneberger Kirchhof nehmen können, aber Riekes letzter Wunsch war damit erfüllt worden.
Nun kam man auf gepflasterte Straßen, und die neben dem Wagen her gehenden Leichenträger stampften den Schnee von den Stiefeln ab, sahen sich an. »Heißer Jrog nachher!« besagte dieser Blick.
In der kleinen Kapelle knisterten die Lichter der beiden Kandelaber, ein bitter-aromatischer Duft von Lorbeerkränzen schwebte in der Luft.
»Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt ...«
sang der Kirchenchor, aller Blicke hafteten auf dem schwarzen Sarge mit dem Glasfensterchen. Und dann begann der Geistliche zu sprechen:
»Von Erde bist du, und sollst wieder zu Erde werden, das was sterblich an dir ist. Deine Seele aber lebt weiter, sie hat sich schon hier, im Diesseits zu jener Vollkommenheit durchgearbeitet, die, über unsere Zeit hinaus in eine Zukunft deutet, da auch die anderen liebevoll-gütig über Menschliches urteilen werden, – so wie du – an deren Sarge wir jetzt stehen. Unbekümmert um das, was andere taten und trieben, bist du stets nur deinem Herzen gefolgt, bist verkannt und verspottet unbeirrt deinen Weg gegangen. Der oben aber, unser himmlischer Vater, der deines Herzens Einsamkeit gesehen, weiß, daß du aus den schönsten, reinsten Empfindungen eines Weibes dein von hartem Erlebnis betroffenes Dasein geformt hast, weiß, daß du den Glauben an die Liebe nicht verlorst, jene Liebe, die frei von den Schlacken unseres irdischen Daseins ist, und zu jener Pforte da oben führt, über der nur das eine Wort »Liebe« steht. Jetzt bist du eingetreten, jetzt erfüllt sich deine Sehnsucht. Den irdischen Teil aber übergeben wir nun der Erde ...«
Der Chor, unsichtbar hinter den Lorbeerbüschen, sang:
»Wenn ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir.
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür ...
Die Türen der Kapelle wurden geöffnet, die kalte Winterluft drang ein. Die Träger hoben den Sarg.
Da war das »Sandbohmsche Erbbegräbnis«. Neben dem Hügel des Vaters lag gelbe, frisch aufgeschaufelte Erde, die Gruft für Friederike Sandbohm. Nun verschwand der Sarg in der Tiefe, nun klangen die Worte des Vaterunsers, nun wurden die drei Hände voll Erde hinuntergestreut – und dann war alles vorüber.
»So –« sagte Albert – »und nu wollen wir sehen, wie wir ohne ihr auskommen können, es hilft ja nischt, das Leben jeht weiter!«
Illustrationen von Ulrich, Gerhard (1903-1988) aus Urheberrechtsgründen nicht aufgenommen. Re.