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III. Mater Dominika.

Die Zelle der Oberin lag im Erdgeschoß und war die größte, sonst aber so dürftig ausgestattet wie die anderen. Nur ein großer Schreibtisch, der knapp an das Fenster gerückt war, und ein guter Stich nach der »Heimsuchung Mariä« von Führich gaben dem Raum ein wohnlicheres Aussehen. Sonst war hier alles so wie in den übrigen Zellen. In der hintersten Ecke stand das weißverhangene Bett, der Tür zunächst ein Betschemel, dessen Aufsatz zugleich den Rahmen für ein Kruzifix bildete. Rechts und links von dem Betschemel hingen wieder die blutenden Herzen der Gottesmutter und ihres Sohnes.

Kam man zur Tür herein, konnte man die Finger sofort in den bis an den Rand gefüllten »Weihbrunnen« tauchen, was keine der Schwestern beim Aus- und Eingehen versäumte. Der Ziegelboden lag, von keinem Teppich verhüllt, in seiner ganzen Dürftigkeit bloß. Eine Heizung war nicht vorhanden. Die Konventualinnen hatten so viel in den Lehrsälen und der Kirche zu tun, daß sie ihre Zellen tatsächlich nur für die kurz, gemessene Zeit des Schlummers aufsuchten. Die Oberin konnte sich aber nicht einmal diese Stunden voll gönnen. Gab ihr die ausgedehnte Korrespondenz mit den Eltern oder Vormündern ihrer Zöglinge, die Berichterstattung an das »Mutterhaus« und die Durchsicht der laufenden Verwaltungskosten der Anstalt doch so viel zu tun, daß sie oft bis in die Nacht hinein dasaß und schrieb. Kaum graute aber der Morgen, rief der schrille Ton der Glocke wieder zum Stundengebet. So ging ein Tag wie der andere dahin, glitt Nacht um Nacht schweigend in das unbewegte Meer dieses Daseins.

Seit Jahren hatte keine der Schwestern das eigene Antlitz gefehlt, es wäre denn in der Flut des Bassins draußen oder in der Scheibe ihres Zellenfensters. Nur das Antlitz der anderen sagte jeder, um wieviel sie langsam älter wurde. Sah man diese Antlitze der Reihe nach an, frappierten sie durch den Zug einer fast durchgängigen Ähnlichkeit. Worin diese Ähnlichkeit eigentlich lag, hätte niemand sagen können, daß sie aber da war, auch niemand bestreiten. Dieselben Stürme hatten all diese Seelen durchtobt, derselbe Gehorsam alle unterworfen, bis Kampf und Widerstreit in allen Mienen zu derselben leidenden Ruhe erstarrten, dieselben Falten um braune und blaue Augen lagen, derselbe Zug um volle und schmale Lippen. Denn ob sie auch noch so ferne der Welt wohnten – ihren Frieden fand doch keine früher als die Natur wollte.

Die Fenster der Zellen hatten dichte Gitter und öffneten sich nach dem Garten. Sein bunter Blumenflor und das Licht- und Schattenspiel seiner Wipfel waren alles, was die Augen der Einsamen noch von der Welt sahen. Doch wäre es keiner der Schwestern jemals eingefallen, auch nur ein Blümchen von diesen Beeten, nur eine Rose aus diesen Hecken zu brechen, um damit die eigene kahle Zelle zu schmücken. Es hätte dies als »ungeordnetes Wohlgefallen« gegolten an Dingen, von denen man sich losgesagt, an einem Eigenbesitz, welcher der einzelnen nicht mehr zukam. So verwelkten die Blumen hier draußen wie drinnen die Menschen ...

Als die Tür der Zelle sich hinter Alba geschlossen hatte, sah ihr Mater Renée eine ganze Weile ins Gesicht, ernst, durchdringend ... Auf dem ganzen Wege hatte sie kein Wort gesprochen; so lang auch der hallende Korridor war, in dem Tür an Tür die Zellen der Nonnen logen. Aber irgend wer war doch noch immer um sie gewesen. In der Einsamkeit dieses Gemaches jedoch, in dem selbst die Frühlingslust etwas vom Atem des Kerkers annahm, fiel das Schweigen der Oberin mit Zentnerlast auf Albas Seele. Ohne daß sie es wollte, kam ihr wieder die Ziani in den Sinn. Die lag nun auch wohl auf den Knien in einer dieser Zellen und betete, oder was taten sie sonst mit ihr? Gewiß geschah es nur zum Heile der Ziani, wie der besorgt-ernste Blick im Auge Mater Renées sicher nur der Ausdruck von Gedanken war, die ihrem Besten galten. Wenn all diese Fürsorge nur nicht plötzlich etwas so Beängstigendes für Albas Empfinden bekommen hätte! Eine Liebe, die sich wie Sticklust auf die Seelen legte ... Und zum erstenmal fühlte Alba, wie sich etwas in ihr wehrte, Widerspruch erhob, nicht ganz unterdrückt sein wollte oder vielleicht auch nicht ganz erkannt. In der ihr anerzogenen Bescheidenheit und Selbstbeherrschung aber stand sie still und wartete, was nun kommen würde.

»Mater Ignazia hat mir von einem Buch erzählt, aus dem du allerlei törichtes Zeug vorgebracht,« begann die Oberin. »Wie heißt es?«

Ihr Ton war so vornehm und ruhig, der Blick ihrer Augen heftete sich mit einem Ausdruck solchen Wohlwollens aus Alba, daß das junge Mädchen unwillkürlich aufatmete. Ja ... mit Mater Renée ließ sich schon reden! Der konnte man die Wahrheit sagen, ohne sich fürchten zu müssen. Das hatte sie immer gefühlt. Nun erfuhr sie es. Und was sie der Präfektin und Mater Ignazia nie gestanden hätte, in der Angst, daß jene vielleicht jenes Buch anschaffen und lesen und darin noch Schlimmeres finden könnten – das gab sie nun so vertrauensvoll preis, daß ihr selbst dabei leichter wurde. »Ich glaube, es heißt ›Die natürliche Schöpfungsgeschichte‹.«

Mater Renée schrak zusammen, so überraschend schien ihr gerade dieser Titel zu kommen. Aber sie war eine gute Pädagogin; eine von jenen, die immer von der unerwarteten Seite heranschleichen. Und während Alba, der die heftige Bewegung der Oberin nicht entgangen, ihre Offenherzigkeit heimlich bereute, in der Angst, daß nunmehr auch Mater Renée losbrechen werde – sammelte sich die Asketin zu noch größerer Ruhe und zu einem Angriff, der so ganz anders war, als Alba befürchtete.

»Armes Kind!« sagte sie, während ihre feinen Rassehände sich leicht und kaum fühlbar auf Albas Schultern legten. »Und weißt du auch, daß dein Schutzengel in jener Stunde geweint haben wird?«

Alba war bis heute tief gläubig gewesen, von jenem kindlich-arglosen, unerschütterlichen Glauben beseelt und durchdrungen, der sich im steten Verkehr mit dem Himmel fühlt und durch die Kirche eins mit der gnadenvollen Gemeinschaft der Heiligen. Das Gefühl, daß ihr Schutzengel sie leite, behüte, jeden Augenblick umschwebe, war ihr eine süße Gewißheit. Sie glaubte das leuchtende Sonnengelb seiner Gewänder zu kennen, den Duft seiner Nähe, das Säuseln seiner Schwingen, den Glanz der göttlichen Augen, die Tag und Nacht ihrer Seele nachgingen. Daß Mutter und Amme ihr dies alles zuerst erzählt und geschildert, hatte sie längst vergessen. Es reichte in Fernen ihrer Kindheit zurück, deren sie sich nicht mehr entsann. Aber was ihr Gedächtnis nicht als wache Erinnerung festgehalten, das kam in ihren Träumen als Erscheinung zurück: aus den geheimnisvollen Tiefen des Bewußtseins in eine Seele gespült, die sich noch nicht so klar auf das eigene Selbst besann. So nahm Alba, wie jedes Kind, ihre Träume als schöne Wirklichkeit und die leuchtenden Gesichte der Nacht als Himmelsboten, die sie leibhaftig gesehn.

»Mama, heute Nacht ist mein Engel durchs Zimmer gegangen!« »Mama, mein Schutzengel hat mir heute Konfekt gebracht, weil ich brav war. O, wie das schmeckte! Und dann hat er Rosen über mein Bettchen gestreut.«

Mit solchen Schilderungen ihrer nächtlichen Erlebnisse hatte die kleine Alba wie oft den Tag eingeleitet und nie hatte ihr jemand widersprochen. Immer war sie dafür geherzt und geküßt worden. »Siehst du, wenn man brav ist!«

Als diese Träume aber seltener wurden, und der Eigenwille des Kindes mächtiger und zuweilen auch boshaft – da ließen Mama und Bonne den »ließen Schutzengel« weinen.

»Weint er wirklich?« hatte die kleine Alba in einer Stunde vorlauten Nachdenkens gefragt.

»Gewiß ... vielleicht siehst du's einmal selbst!«

Zu sehn bekam es Alba wohl nie. Doch fügte es ein seltsamer Zufall, daß ihr am Abend eines mutwilligen Tages wirklich ein Tropfen auf die Stirne fiel, und zwar in der dämmerigen Halle der Villa Chietti, die sie allein durchschritt. Mit dem Schreckensruf: »Mama – Papa – mein Schutzengel weint!« war sie damals totenblaß zu den anderen hereingestürzt. Mama hatte ihr mit einigem Befremden wirklich etwas von der Stirne gewischt, das einem Wassertropfen nicht unähnlich sah. Nachher freilich zwinkerten sich die Großen zu und lächelten.

Für Alba aber war und blieb es eine Gewißheit, daß ihr Schutzengel damals geweint habe, wirkliche Tränen, die ihr warm und schwer auf die Stirne fielen. Seit jenem Tage brauchte man sie nur daran zu erinnern, um alles von ihr haben zu können. So entsetzlich war ihr der Gedanke, ihren Schutzengel weinen zu machen.

Nun hatte Alba keine Ahnung, daß Mater Renée als kluge Pädagogin die ersten Zügel immer aus den Händen der Eltern nahm.

So hatte ihr die Prinzipessa Chietti auch jene harmlose Geschichte zu jeweiliger Nutzanwendung mitgeteilt. Natürlich war Alba bei jenem instruktiven Gespräche nicht zugegen gewesen. Deshalb trafen sie die Worte der klugen Nonne jetzt doppelt überraschend.

Ihre Augen taten sich weit auf, ihre Lippen zuckten. Also hatte Mater Ignazia recht gehabt, als sie ihr das Bild des Gekreuzigten entgegenhielt, ihren Gott, den sie beleidigt! Hatte ihr Mutwille damals in Racconigi genügt, ihren Schutzengel zu Tränen zu bringen – wie mußte er jetzt leiden! Wenn er sich nicht vielleicht schon ganz von ihr abgewandt hatte ... Immer heftiger zuckten ihre Lippen, und der tränenverschleierte Blick ihrer Augen gab Mater Renée die Gewähr, daß diese da wirklich noch einen Schutzengel habe!

Damit konnte sich eigentlich auch die Asketin zufrieden geben. Aber Mater Renée sah weiter. Sie wußte, wie Albas Onkel dachte, und die stete Nähe dieses Verirrten konnte mit der Zeit auf dieses Kind noch einen verderblichen Einfluß gewinnen. Für solche Versuchungen aber würde der »weinende Schutzengel« nicht mehr lange ausreichen, das fühlte sie. Nun galt es, eine Erwachsene für den großen Kampf zu rüsten, den heute oder morgen jeder kämpfen mußte und das wollte sie tun.

»Ja,« nickte sie mit einem traurigen Lächeln der noch immer fassungslosen Alba zu. »Und weißt du warum? Weil jenes Buch auf dem Index steht.«

Als Tochter einer durch und durch päpstlich gesinnten Familie wußte Alba natürlich sofort, welcher Sünde sie sich schuldig gemacht. Aber auch in dem ewigen Gehechel zwischen ihrem Vater und ihrem Onkel tauchte das unheimliche Wort immer wieder auf. Für Onkel Bartolo war der Index die fortlaufende Liste aller Bücher, die man gelesen haben mußte. Nach ihm vervollständigte er seine Bibliothek, mit dem pfiffigen Lächeln eines Mannes, der gewiß war, auf diese Weise immer au fait zu bleiben. Fragte ihn jemand im Klub oder im »Café Aragno«, ob er schon dieses oder jenes Werk gelesen, war seine ständige Antwort: »Noch nicht, aber die ›Indexkongregation‹ hat sich eben für mich an die Arbeit gemacht.« Kam das Werk wirklich auf den Index, war Bartolo gewiß der erste Römer, der es kaufte. Der erste aber, den er damit ärgerte, war sein Bruder.

»Da hab' ich dir ein Buch ausfindig gemacht, Prospero!«

»Steht es auf dem Index?«

»Natürlich.«

»Was soll ich also damit?«

»Eh, eh ...« lachte Onkel Bartolo. So begann jeder Streit zwischen den beiden. Dem guten Prospero genügten die Glaubenssätze und sie genügten ihm so vollauf, daß ihm jedes Buch gleichgültig war, ob es nun auf dem Index stand oder nicht. Insgeheim aber war er mit der Existenz der Indexkongregation ebenfalls zufrieden. Sie hielt dem Volke »den Dunst schädlicher Aufklärung« fern, und Prospero Chietti überhob sie ein für allemal der Mühe, dieses oder jenes Buch lesen zu müssen. Kam im Klub die Rede darauf, so zuckte man mit den Achseln: »Es steht auf dem Index!«

Alba wußte also genau, wie sehr sie sich durch den bloßen Blick in ein solches Buch vergangen, und wenn sie nun bedachte, daß es ja immer »solche Bücher« waren, die Onkel Bartolo ins Haus brachte, erschien ihr ihre Sünde noch größer. Sie hätte sich das ja im vorhinein denken können, und die Tränen, die sie bisher noch stolz zurückgehalten, fielen plötzlich heiß auf ihre gefalteten Hände nieder, so reichlich und rasch, wie sie nur Kinder weinen.

»Gott sei Dank!« dachte Mater Renée. Ein mütterliches Lächeln huschte über ihr Antlitz, und während sie auf ihren Schreibtisch zuschritt, sprach sie: »Komm einmal her, liebes Kind.«

Alba gehorchte, und sie gehorchte gern. Wenn Mater Renée ihren Schreibtisch öffnete, kam immer etwas Hübsches zum Vorschein: kleine, auf Seide gemalte Heiligenbildchen, schlanke Lourdesfigürchen oder irgend ein schönes Erbauungsbuch. Diesmal war es eine vergoldete Medaille.

Albas Wangen röteten sich. »Sie nimmt mich in die Sodalität auf,« dachte sie. Und schon trat die Oberin an sie heran und legte ihr das weiße Seidenband, an dem die Medaille hing, langsam und feierlich um den Hals.

Alba wollte zum Dank ihre Hand an sich reißen. Sie ließ ihr bloß die kühlen schlanken Nonnenfinger, und während Albas Reuetränen auf die blassen Spitzen dieser Finger niederfielen sprach Mater Renée ernst: »Eigentlich wollt' ich dich erst bei deinem Austritt in die Sodalität der allerseligsten Jungfrau aufnehmen wie all unsre Zöglinge, die in diesem Zeichen immer wieder hierher zurückfinden und zu bestimmten Zeiten hier an den Tisch des Herrn treten; von der jüngsten bis zur ältesten. Da ich aber deine Reue gesehn und überzeugt bin, daß Gott und die heiligste Jungfrau dir in Gnade dazu verholfen, will ich dich schon jetzt ihrem besonderen Schutze empfehlen. Marienkind, sei gegrüßt!«

Damit knüpfte sie das Band fest, und Alba, die wußte, daß die Medaille »auf bloßem Leibe und über dem Herzen zu tragen« sei, knöpfte rasch ihren Kragen auf und ließ das flimmernde Plättchen durch eine keusche Handbewegung verschwinden. Wie ein großer, kühlender Tropfen glitt es tiefer und tiefer, bis es mitten zwischen den jungen, knospenden Brüsten lag. Aber – war ihr ganz wohl jetzt? Sie glaubte, noch eine Frage stellen zu müssen.

In diesem Augenblicke eilte Mater Dominika an dem offenen Fenster vorüber. Sie war allein und hatte offenbar große Eile. Die Oberin sah es und trat ans Fenster, um ihr nachzublicken; sichtlich besorgt. Vielleicht fiel es ihr auch auf, daß die Präfektin nicht in der Nähe war. Genug, sie achtete in diesem Augenblick kaum mehr auf Alba, hörte vielleicht nicht einmal recht, was das junge Geschöpf noch vorbrachte.

Das in tiefster Seele bewegte Mädchen aber wollte sein Gewissen voll und ganz entlasten und deshalb bat es stammelnd um die Gnade, vielleicht schon heute dem Fra Clemente beichten zu dürfen, zugleich mit den Nonnen. Ob das wohl anginge?

Mater Renée, die noch immer zum Fenster hinausstarrte, hatte so gut wie nichts gehört. Da schlug der Name »Clemente« an ihr Ohr. Und während sie mit einem jähen Ruck herumfuhr, rief sie: »Wo?« Ihre Augen aber suchten die Tür: weit, groß, strahlend ... in ihre Wangen stieg ein jähes Rot. Mit einer instinktiven Bewegung nestelte sie an ihrem Schleier. »Wo?« fragte sie wieder. Und ihre Stimme zitterte.

»Nein, nein, bitte!« stammelte Alba. »Er ist noch nicht da. Ich hab' nur gefragt, ob ich das gleich heute beichten darf, wenn Fra Clemente im Haus ist.«

Jäh, wie sie gekommen, schwand die Röte aus dem Antlitz der Nonne. Ihre Stirne legte sich in Falten und sie atmete auf, tief und schwer wie jemand, dem der Atem eine ganze Weile ausgeblieben. »Wenn du – willst.« Und wie wenige Worte es auch waren, sie kamen so langsam, so unfroh, so – enttäuscht heraus, daß Alba die bewegte Spenderin der Medaille kaum wieder erkannte.

Da schlug ein Schrei aus dem Garten herein, laut, schrill, Mark und Bein durchdringend. Die Oberin erbleichte. »Mater Dominika!« Sie eilte hinaus; Alba ihr nach.

Die Tür, durch die man hier in den Garten hinaustrat, lag erst am Ende des Korridors. Ihn entlang lief die ganze Reihe der Zellen. Vor einer der letzten hielt die Oberin plötzlich an. Ein herzbrechendes Geschluchze drang durch die Tür. Gleich darauf schrie jemand auf, gereizt, qualvoll, wie in tiefster Seele verwundet. »Sie lügen ... Sie lügen! Das ist nicht wahr!«

Die Stimme der Ziani! Hier also war die Präfektin ... Ein Schauer kroch über Albas Herz ... Wie tief mußte die Nonne dieses arme Geschöpf hassen, daß sie über der Befriedigung ihrer Rache sogar den Auftrag ihrer Oberin vergaß. »Achten Sie heute auf Mater Dominika!« Alba war dabeigestanden, als diese Worte fielen. Nun stand sie wieder dabei, und eine heftige Bewegung der Oberin verriet ihr, wie peinlich es Mater Renée war, gerade eine Schülerin als Zeugin dieses Ungehorsams zu wissen, und einer solchen Szene!

Sonst pflegte die Oberin immer erst an die Tür der Zelle zu pochen, in die sie gerade eintreten wollte. Diese riß sie mit einem Ruck auf und schritt sofort über die Schwelle.

Alba trat zurück, so nah' ihr das Schicksal der Ziani auch ging. Ihr angeborenes Taktgefühl sagte ihr, daß sie hier nichts mehr zu tun habe. Doch das Geschluchze der Gequälten lag ihr noch lange im Ohr, und jener Schrei wollte ihr nicht mehr aus der Seele. »Sie lügen ... Sie lügen ... Das ist nicht wahr!« Was hatte ihr die Präfektin vorgeworfen? Aber was es auch sein mochte – jener Schrei klang wie die Wahrheit selbst. Und noch etwas anderes hatte darin mitgeklungen: eine tiefe, wilde, atemlose Angst! Der jähe Schreck eines Menschen, dem man mit einem Wort in einem Augenblick alles nehmen will. Dachten sie hier wirklich so schlecht von der Ziani? Alba wußte nicht mehr, was sie glauben sollte.

In der Hast, von jener Tür wegzukommen, lief sie förmlich in den Garten hinaus. Der volle Glanz der Mittagssonne lag auf seinen Beeten. Selbst in die kühle Tiefe der Schatten sickerten die goldenen Tropfen des Lichts. Über den fernen Albanerbergen aber ballten sich blauschwarze Sciroccowolken, und so klar der Himmel noch auf Rom herabsah – schon war in der Luft jenes erregende Vibrieren fühlbar, das dem Südwest vorangeht. Jener heiße, sengende Atem, der die Nerven reizt, die Muskeln erschlafft, aus den Seelen der Menschen Handlungen und Visionen heraufholt, die etwas von der Glut des Fiebers und dem Atem des Wahnsinns haben.

Der vordere Teil des Gartens lag vollkommen einsam. So rasch waren Nonnen und Zöglinge dem Schrei Mater Dominikas nachgeeilt, und das Gewirr ihrer Stimmen wies auch Alba den Weg.

Knapp vor den Ruinen des Apollotempels war Mater Dominika hingesunken – an dem verruchten Orte, den die abergläubische Scheu der Nonnen sonst so strenge mied. Lag Mater Dominika aber einmal so da, war sie nur schwer fortzubringen. Dazu kam eine Art Ehrfurcht vor ihrem Zustande, der den meisten der Nonnen als eine Wirkung göttlicher Gnade, nicht als Krankheit erschien, und eine fromme Neugierde, der die unter so schmerzhaften Krämpfen geborenen Gesichte und Offenbarungen eine nicht unwillkommene Sensation boten im grauen Einerlei dieses Lebens. Bloß die Gegenwart der Zöglinge empfanden die Nonnen als störend, und einigen der Frömmsten war es ein stilles Ärgernis, daß Mater Dominika gerade an dieser Stelle niedergesunken. Was hatte sie da zu suchen gehabt? Von den seelischen Dämmerzuständen, die solchen Anfällen vorausgehen, hatte die fromme Einfalt der Konventualinnen natürlich keine Ahnung.

Da im Augenblick weder die Präfektin noch die Oberin zugegen war, wagte auch keine der Schwestern irgend eine Anordnung zu treffen. So kamen ihrer immer mehr hinzu, bis schließlich das ganze Kloster versammelt war: von den Chorschwestern angefangen bis zu den Laienschwestern und den »Winden«, wie jene dem Konvent bloß beigesellten Schwestern genannt werden, die den Dienst bei der »Pforte« versehen und Tag für Tag die nötigen Gänge und Einkäufe besorgen. Bloß die »Türschwester« durfte nicht von ihrem Platze weichen, und als die in immer kürzeren Pausen sich wiederholenden Schreie der Hysterischen ihre Neugierde in Versuchung führten, sich die Sache auch einmal anzuschauen, schlug sie ein mächtiges Kreuz, spuckte nach links, wo ihrer Meinung nach der Teufel stehen mußte, und begann mit einer Art Ingrimm zu beten.

Unterdes war der Himmel ganz dunkel geworden und die blaugrauen Schatten der Sciroccowolken warfen einen fahlen Schein auf die Antlitze der Nonnen und Zöglinge, die eng aneinandergerückt dastanden und von Sekunde zu Sekunde warteten, was nun geschehen würde. Einige beteten, andere flüsterten miteinander. Mehrere Schwestern weinten, ohne daß eine sagen konnte, warum, bis die Welle der Erregung, die von den immer schrilleren Schreien der Hysterikerin ihren Stoß bekam, auch den Kreis der jungen Mädchen ergriff und aus ihren Wangen das Blut jagte, aus ihren Seelen das Gefühl ruhiger Sicherheit, mit der sie bisher alle Geschehnisse des Lebens hingenommen.

Rita Dallago war eine der ersten am Platze gewesen. Nun stand sie da und gab keinen Laut von sich. Vergeblich bemühte sich Schwester Benedikta ihr nahe zu kommen. In der Hast, Mater Dominika so rasch als möglich den Augen der Zöglinge zu entziehen, hatten die Nonnen um die Kranke sofort einen dichten Kreis gezogen, und mitten in diesem Kreise stand Rita, ohne daß ihre Gegenwart auch nur einer der Nonnen auffiel. So war man zusammengelaufen, so stand man jetzt eben da. Was sie aber früher noch klaren Sinnes gewollt, darüber gaben die Erregten sich jetzt keine Rechenschaft mehr, ganz fasziniert vom Anblicke der »Begnadeten«, die jeden Augenblick den Mund öffnen konnte, um ein Wort auszusprechen, das von Gott kam.

Wie sie hingesunken, lag Mater Dominika noch immer da: die Beine krampfhaft von sich streckend, die Hände zu Fäusten geballt und nach den Vorderarmen hingebogen, beide Daumen so fest gegen die flache Hand gedrückt, daß sie fast verschwanden. Der schaumbedeckte Mund war halb geöffnet und ließ die Zähne sehen, die so lang und schmal waren, daß sie an das Gebiß eines Pferdes erinnerten. Zwischen den bläulichen Lippen schnellte von Zeit zu Zeit die Zunge hervor und pendelte mit einer grotesken Regelmäßigkeit von einem Mundwinkel zum anderen. Zuweilen geschah es, daß unmittelbar nach einem Schrei der Oberkiefer plötzlich wie gelähmt herabfiel und dann bohrten sich die langen Zähne in die noch nicht zurückgezogene Zunge und bissen sie blutig. Die Augen schienen weit in die Höhlen zurückgesunken und ihr Blick hatte den Ausdruck einer gräßlichen Starrheit. Aber die runzeligen Lider bewegten sich mit einer unglaublichen Raschheit auf und nieder und schienen den Nonnen der Reihe nach zuzublinzen, je nachdem das Haupt von einer Seite zur anderen gerissen wurde.

Minuten vergingen so, ohne daß eine dieser krampfhaften Bewegungen sich änderte, ein anderer Laut zwischen den fahlen Lippen hervorkam, als diese gellen, markerschütternden Schreie. Da plötzlich schnellte der Oberleib der Kranken empor, die zu Fäusten geschlossenen Hände öffneten sich, die Finger begannen herumzutasten, suchten einen Halt und stemmten sich endlich fest gegen die Erde. Das Antlitz der Kranken war noch immer leichenfahl, ihre Lippen blieben geöffnet, aber die Zunge kam nicht mehr zum Vorschein. Die fürchterlichen Schreie setzten aus, und unter den Lidern, die sich plötzlich voll aufschlugen, traten groß und ruhig die Augen hervor, mit einem Glanze, der wirklich etwas Überirdisches hatte.

»Schauen Sie, Schwester ... schauen Sie!« stammelte Mater Ignazia, ohne zu merken, daß es Rita Dallago war, die sie ansprach. Rita blieb stumm, doch die tödliche Blässe aus ihrem Antlitz, der stiere Blick ihrer Augen, das zuckende Spiel ihrer Finger verriet, daß auch sie in diesem Augenblicke nichts anderes sah. So starr und hingenommen stand sie da, »als sollte sie im nächsten Augenblicke selbst zur Erde fallen!« dachte Schwester Benedikta, der es noch immer nicht gelungen war, sich bis zu dem jungen Mädchen durchzudrängen. Ihr Blick glitt über die atemlose Neugierde der Nonnen hin. Und was sie nie gewagt hätte, in Worte zu fassen, sagte das leise Schütteln ihres Hauptes; mit einem Seufzer begann sie zu beten.

In diesem Augenblick atmete Mater Dominika tief auf und während sie die Hände wie in stummer Andacht vor der Brust faltete, begann sie den Oberkörper wie grüßend nach vorne zu neigen. Einmal ... zweimal ... dreimal ... immer tiefer, immer hingebungsvoller, in einer Devotion, die nicht mehr Ehrfurcht, die schon Anbetung war.

»Sie sieht den Herrn!« flüsterte eine der Nonnen.

»Den Herrn ... den Herrn!« ging es leise von Mund zu Mund. Und plötzlich sank die ganze Runde ins Knie, stumm, lautlos, wie niedergemäht. Nur Rita stand noch immer bewegungslos; den Blick starr auf Mater Dominika gerichtet, um die Lippen ein Zucken, das gegen einen aufquellenden Schrei zu kämpfen schien, auf den Backenknochen zwei weiße Flecke, die fahl und geisterhaft aus dem dunklen Braun ihres Antlitzes stachen.

»Der Herr ist unter uns!« murmelte an ihrer Seite Mater Ignazia. Aber Rita hörte sie so wenig mehr, als Mater Ignazia sah, daß es keine Konventualin war, die neben ihr stand.

Ein leises Geknister kam durch die Luft ... huschte von Baum zu Baum ... der nahende Scirocco! In der Ferne leuchtete etwas auf – grell-weiß, daß die violetten Albaner Berge wie in einer plötzlichen Glorie aus den fahlen Schleiern des Dunstes traten. Dann glitten wieder die zerrissenen Schatten der Wetterwolken über den Rasen – lautlos, geisterhaft wie die Boten von Dingen, die jenseits alles Geschehens lagen. Grell und scharf stach mitten hindurch ein Sonnenstrahl.

Da begann Mater Dominika zu sprechen. Das Haupt in tiefster Devotion nach vorne geneigt, die gefalteten Hände so krampfhaft gegen die Brust gepreßt, daß Atem und Stimme nur mühsam und stoßweise hervorkamen, den Blick der verzückten Augen auf eine Erscheinung gerichtet, die schwebenden Fußes über die Ruinen einherwandeln mußte, denn gerade dahin starrte der Blick der Ekstatischen.

»O Herr!« murmelte sie, während ihr Haupt noch tiefer sank, mit einem Lächeln, das ihr wie aus Tagen der Jugend zu kommen schien: »Wie bist du schön, o Herr!«

Ein leiser Schauer ging durch die Reihen der Gottesbräute, ihre Lippen preßten sich an die silbernen Kruzifixe ihrer Rosenkränze, stumm, aber mit einem Seufzer, der wie ein einziger Atem der Inbrunst von Reihe zu Reihe lief. Einige zogen den Schleier vors Antlitz, wie bei der Kommunion, daß Augen und Stirnen dahinter verschwanden und nichts sichtbar war, als die jungfräulichen Knospen der Lippen, die auf dem Kreuze ruhten, und während sie mit der Linken die Rosenkränze an den Mund hielten, schlug die Rechte langsam gegen die Brust.

Auch in die Stimme der Verzückten kam ein leises Beben. »Und wie hab' ich immer gezittert vor dir!« lächelte sie selig vor sich hin. »Aber du – ja, du bist mächtig ... hier auf deiner Höhe!«

Etwas befremdet hob Mater Ignazia das Haupt. »Wie meint sie das?« stieß sie leise hervor. Doch niemand gab ihr eine Antwort, weder Rita, die noch immer in statuenhafter Unbeweglichkeit zu ihrer Rechten stand, noch die junge Nonne, die zu ihrer Linken kniete und deren Andacht eine einzige Hingebung war. Nur der Föhn stöhnte plötzlich auf und ließ seine erste Welle heiß und schwer über die Knienden hingehn. Die Bäume knarrten, in den Lüften raschelte es, mit feinem Geklirr schlugen die Wedel einer alten Phönix-Palme aneinander. Dann trat wieder eine Pause atemloser Stille ein. Nur aus der Tiefe des Forums schlug noch ein dumpfer Ton empor wie das langsam nachrollende Echo einer fernen Brandung.

Auch Mater Dominika schwieg. Doch die Art, in der sie das nun leicht erhobene Haupt zur Seite hielt, war die einer Lauschenden, ihr Lächeln eine einzige Seligkeit. Welche Sehnsucht wurde ihr erfüllt? Welche Wunder verheißen?

Da und dort hob eine der Nonnen den Blick von ihrem Kreuz und starrte mit zuckenden Lidern in die Richtung, nach der die Lauschende das Haupt wandte. Noch immer stach jener zitternde Sonnenstrahl mit blendender Leuchtkraft zwischen den dunklen Wolken hervor. Wer sagte den Betenden, ob es nicht ein Widerschein der Glorie war, die auf dem Haupt ihres göttlichen Bräutigams lag?

Plötzlich entstand eine Bewegung unter den Knienden: die Oberin trat in den Kreis. Hinter ihr die Präfektin und Mater Benedikta, der es endlich gelungen war, sich Raum zu schaffen. Noch aber konnte sie nicht zu Rita gelangen, obwohl sie ihr nun gerade gegenüber stand. Denn zwischen ihr und dem jungen Mädchen befand sich die Kranke, und um an dieser vorbeizukommen, hätte Mater Benedikta entweder das Geröll der Ruinen übersteigen oder dicht an den Antlitzen der Knienden vorüber müssen. Weder das eine noch das andere ziemte ihrem Kleid. So begnügte sie sich, Rita einstweilen im Auge zu behalten.

Das Erscheinen der Oberin brachte die Spannung auf ihren Höhepunkt. War sie doch die einzige, die Mater Dominika anrufen durfte, wenn sie in der Ekstase lag, die einzige, der es gestattet war, sie über die himmlischen Gesichte zu befragen, die an ihrem inneren Schauen vorüberglitten. Und Mater Dominika war gewohnt, ihr zu antworten, selbst im Dämmerzustand ihrer Seele jener dumpfen Macht untertan, die auch das letzte Fünkchen der Selbstbestimmung in ihr erstickt hatte – dem Gehorsam! So nahmen es die Schwestern. Daß die Hysterikerin mit der ihrem Zustand eigentümlichen Geschwätzigkeit jeder von ihnen ebenso mechanisch geantwortet hätte, ahnten sie nicht. War bis heute doch noch keine so kühn gewesen, die »Heilige« des Klosters auch nur anzureden, wenn sie so dalag.

Sprach aber die Oberin mit Mater Dominika, dann lockten die Worte Bild für Bild ihre Gesichte hervor. Visionen, die entweder die Tore des Himmels öffneten oder eine Vorstellung von den Greueln der Hölle gaben, den Gedankenreihen entsprechend, die dieses kranke Hirn erhitzten oder quälten. Zuweilen freilich war es auch, als atme ein Hauch des Paradieses in ihren Schilderungen, ein Blumengruß seiner jenseitigen Auen, ein Widerschein vom Geleucht seiner Farben, der Lilienduft der himmlischen Scharen, die von seinen Quellen tranken. Die Gestirne wurden zu farbigen Kugeln, die sich mit seligem Gesang in den Chor der Engel mischten, die Blumen hatten Menschenantlitze, die Engel Fittiche, die vom Purpur des Erlöserblutes leuchteten. Das Lamm Gottes stand auf dem Altar, wie der Evangelist es gesehen zu mystischem Genuß allen hingegeben, die es liebten.

Oder die Jungfrau kam über einen Rasen daher, der wie ein riesiger Smaragd leuchtete. Tanzende Engel hielten die Schleppe ihres Mantels, der die Bläue des Maienhimmels hatte.

Eine Riesentaube stand zwischen Himmel und Erde und rauchende Blutstropfen entsickerten ihrem Herzen. Wo sie aber hinfielen, blühten Rosen auf.

Die Dreifaltigkeit tauchte aus Wolken, die sie singend und leuchtend umschwebten. Und eine geheimnisvolle Stimme rief: »Bete an – was du siehst, ist ein großes aber fürchterliches Geheimnis ...«

So fanden die Gesichte der Kranken ihren Weg nach außen und bestimmten tagelang selbst die Gedanken derjenigen, deren Andacht sonst die nüchterne Straße frommer Gewohnheit wandelte. Wo aber eine heimliche Sehnsucht weinte oder unverbrauchte Jugendkräfte sich feindselig wider die Tyrannei der Askese kehrten, da wirkten diese Gesichte wie ein Opiumrausch. Sie lullten aufs neue ein, gaben der Trauer Tränen, die süß erschienen, und der Freude ein Lachen, das etwas Krampfhaftes hatte, allen aber eine Leichtigkeit, die sie förmlich wie über Wolken dahintrug.

»Arme Mädchen,« pflegte der Klosterarzt zu murmeln, wenn er nach solchen Tagen eine neue Baldrianmixtur verordnen mußte.

Schwester Benedikta war die einzige, die sich bisher immer ferne gehalten hatte, wenn »der Geist« über Mater Dominika kam, wie um anzudeuten, daß da etwas vorging, woran sie kein Teil haben mochte. Was sie darüber dachte, auch auszusprechen, verbot ihr die Demut und der Gehorsam, die sie gelobt. Auch den Beichtvater des Klosters mochte sie nicht damit behelligen. Es hätte dies wie eine versteckte Anklage ihrer Oberin ausgesehen, der sie vom Herzen ergeben war. Und wenn sie für ihr Teil meinte, von diesen »Erscheinungen« mehr zu verstehen, als das ganze Kloster, hatte sie ihre guten Gründe. Mater Benedikta war vor ihrem Eintritt bei den Salesianerinnen als Krankenschwester tätig gewesen und hatte mehr als eine Hysterikerin beobachtet. So waren ihr alle Phasen dieser Krankheit bekannt. Die erste, die immer mit diesen entsetzlichen Schreien und Kontraktionen begann und bis zum Eintritt des Starrkrampfes eine seltsame Ähnlichkeit mit der Fallsucht hatte. Die zweite oder »clownische Periode«, in der die Starrheit der Gliedmaßen sich oft in einem geradezu gefälligen Gebärdenspiel auflöste ... und die Periode des »Deliriums«, in der diese Kranken sich genau so gebärdeten, wie Mater Dominika.

Sogar der diskrete Handgriff war Mater Benedikta geläufig, mit dem der Nervenarzt durch einen einzigen Druck auf eine Stelle des Unterleibs den Anfall sofort aufheben konnte. Und weil sie dies wußte, war es ihr entsetzlich, ihre Mitschwestern in diesem Irrtum befangen zu sehen. Konnten Delirien – Visionen sein? Und welche »Offenbarungen«, deren Schicksal jeder Wissende durch einen Druck auf den Unterleib in der Hand hatte!

Bloß dem Klosterarzt hatte sie einmal eine Bemerkung darüber gemacht. Aber Meister Tapponi wollte sein Fixum behalten. Und zudem ... wenn man erst alles untersuchen müßte, woran die Menschen durchaus glauben wollen ... du lieber Gott, da würde zuletzt auch die Praxis aufhören. Und Meister Tapponi betrachtete alles als Praxis, auch die Krämpfe Mater Dominikas. Da war es schon besser, man schwieg.

Anders stellte sich die Oberin zu dieser Sache. Sie war von der Heiligkeit Mater Dominikas überzeugt und betrachtete es als eine Gnade des Himmels, daß die Wunderblume dieser Seele gerade unter ihrem Regime den mystischen Kelch geöffnet hatte. Riet Mater Dominika in ihren Visionen von etwas entschieden ab, konnte man gewiß sein, daß es nie geschehen würde. Dies war es, was Schwester Benedikta am peinlichsten empfand: der römische Konvent hatte zwei Oberinnen und die Delirien einer Hysterikerin ordneten seine Angelegenheiten.

Voll ehrfürchtiger Scheu trat die Oberin an ihre Konventualin heran und während sie sich so tief als möglich zu ihr hinabbeugte, sprach sie: »Mater Dominika, hören Sie mich?«

Die Kranke hob das Haupt, lauschte nach der Richtung, aus der die Stimme an ihr Ohr gedrungen, schien den Ton in der Erinnerung noch einmal nachzubilden. Plötzlich verbeugte sie sich, und während ein unbestimmtes Lächeln über ihre Züge ging, sprach sie: »Die ehrwürdige Frau Oberin?« Sie sprach es laut und doch mit einem offenbaren Frageton im Ausklang, als befände sich zwischen der Oberin und ihr eine Wand oder eine Tür oder sonst ein Hindernis, das ihren Augen die Gewißheit nahm, die ihr Ohr zu haben meinte.

Aus den Händen der Schwestern glitten langsam die Rosenkränze, aber sie blieben auf den Knien. Alle »Offenbarungen« Mater Dominikas wurden kniend angehört.

»Können Sie mir sagen, wo Sie sich im Augenblick befinden?« fragte die Oberin weiter.

»O ...« kam es wie zögernd zurück. »Ich steh' in einer hohen, weißen Marmorhalle vor einem Altar, auf dem Räucherwerk brennt. Eine große, schwarze Schlange kriecht langsam über die Fliesen gerade auf mich zu ... Hinter einem gelbseidenen Vorhang werden silberne Harfen gespielt ...«

»Sehen Sie, wer bei Ihnen ist?«

Über das Antlitz der Gefragten huschte ein warmer Hauch wie der Widerschein einer Scham, die ihr langsam an die Seele stieg. Leise antwortete sie: »Er!«

Die Nonnen bekreuzten sich. Wer konnte das sein, wenn nicht ihr himmlischer Bräutigam? Er, der seinen Altar errichtet über den Pforten der Hölle! Mochte die alte Schlange nur herankriechen ... Hinter sonnenfarbigen Vorhängen standen die himmlischen Chöre und sangen zu silbernen Harfen ihr liebliches »Sanctus!«

»Spricht Er zu Ihnen?« forschte die Oberin.

»Er – sieht mich an!« kam es noch leiser zurück.

»Aber Er will Ihnen einen Auftrag geben, nicht wahr? Und wenn Er nicht spricht, was tut Er?«

Ein Gefühl der Unruhe schien sich der Kranken zu bemächtigen, durchbebte ihre Glieder, ihre Stimme: »Er schließt die Pforten des Tempels zu mit seinen eigenen Händen, eine nach der anderen, damit wir allein sind. Draußen wimmert ein tötlich Getroffener ... Aber Er kommt auf mich zu und sieht mich an.«

»Der Glaube, der den bösen Feind tötet!« dachte Mater Ignazia; und mit einem Seufzer: »O wären erst alle Pforten zu, daß keine Sünde mehr hereinfände!« Sie gedachte ihrer Schadenfreude und schämte sich.

»Spricht Er noch immer nicht zu Ihnen?«

Das Zucken einer heimlichen Angst irrte über das Antlitz der Gefragten. Ein Schauer schüttelte ihren Leib, ihre Arme erhoben sich und beide Daumen aneinanderpressend, stieß sie die Hände zwei-, dreimal in die Luft hinein, mit der wilden Gebärde schreckhafter Abwehr.

»Sie fürchtet sich vor der Schlange,« murmelte die Oberin und legte den Arm wie schützend um Mater Dominika, aber mit einem heftigen Ruck riß die Kranke sich los. Und während der Blick der weitgeöffneten Augen mit dem Ausdruck toten Entsetzens ins Leere stierte, schrie sie laut: »Lass' mich ... Lass' mich! Wenn du auch der Cäsar bist ... mein Gott ist stärker!«

Das kam wie der Schrei einer Märtyrerin und wurde von den Schwestern auch so gedeutet. Während die Knienden noch enger an die Seherin heranrückten, begannen sie so laut als möglich zu beten, damit die heiligen Worte ihr Trost brächten und Hilfe in ihrer Bedrängnis.

Wieder trat die Oberin hinter Mater Dominika, nahm ihr Haupt zwischen beide Hände, suchte es festzuhalten, und indem sie sich wie schützend über sie beugte, sprach sie fest: »Ja, Gott ist stärker und ist Er bei Ihnen, wird auch die Macht Ihres Feindes zuschanden werden!«

»Aber Er hat alle Türen geschlossen!« kam es in wilder Angst zurück. »Die Priester hat Er getötet und seine Trabanten vor die Pforten gestellt. Nicht opfern will Er, Er will mich! Jetzt faßt Er mich an, jetzt ...«

Doch die wie zur Abwehr erhobenen Hände fielen plötzlich herab, die bleichen Lippen öffneten sich, ein durstiges Lächeln trat um die zuckenden Mundwinkel. Und während Entzücken und Ekel abwechselnd im Ausdruck ihres Antlitzes kämpften, stammelte sie wie ermüdend: »Wer hat dir gesagt, daß ich von dir geträumt habe? Du Fürchterlicher du ... du –«

Ihre Zähne schlugen aneinander, ihre Augen kehrten das Weiße hervor, Schaum und Blut traten auf ihre Lippen, mit weitgeöffneten Armen fiel sie zurück; in einem schlürfenden Geröchel starb ihr letzter Schrei.

Die Oberin taumelte zur Seite – aber schon stand Benedikta neben ihr, beugte sich über Mater Dominika und zog unter dem Leib der steif daliegenden mit bebender Hast den Schleier hervor, um ihn über ein Antlitz zu werfen, das in einem Augenblick kranken Wahns einmal auch die Züge derjenigen gezeigt, die hier immer verleugnet wurde – der Natur!

Noch für eine andere kam Schwester Benedikta gerade zurecht: für Rita, die mit einem gellenden Schrei im selben Augenblick zusammenbrach und wie leblos in die Arme der Nonne sank.

»Ich hab' es ja kommen gesehn,« murmelte Benedikta. Sie hob das junge Geschöpf empor und trug es hoch und schlank wie ein Erzengel auf ihren starken jungen Armen in das Kloster hinein.

Die Nonnen standen erst sprachlos. Endlich verlor sich eine nach der anderen: scheu, wie beschämt. Auch nicht eine wagte es, in diesem Augenblick ein Wort an Benedikta zu richten. Die Oberin öffnete ihr selbst die Tür und hinter ihr schlichen die Zöglinge ins Haus stumm und kleinlaut, wie eine versprengte Herde.

Bloß die Präfektin und eine robuste Laienschwester blieben bei Mater Dominika zurück. Hatte der Anfall seinen Paroxismus überschritten, war es leichter, sie fortzubringen. Aber welch eine Wache war das! Mitten im Sturm ... am Abgrund schweigender Ruinen, in deren Nähe noch immer die Dämone zu lauern schienen, die vor dem Kreuze die Welt verwirrt. Heidnische Götter und Herrscher, deren leiser Gespensterschritt noch so viel Macht hatte, eine christliche Seele in Versuchung zu führen. Wer war noch sicher hier, wenn es nicht einmal Mater Dominika war?

Und noch einer stand draußen – Furbo, der Klosterhund und heulte mit gesträubter Rute zum Himmel empor. Heulte das Grauen von sich, mit dem die hysterischen Schreie der Nonne seine stumme Seele erschüttert und die Angst vor den Blitzen, die sich wie blau-leuchtende Adler plötzlich auf Rom herabwarfen ... mitten in die gelbbraunen Wolken des Campagnasandes, den der Scirocco in goldenen Wellen über das Forum jagte.


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