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Für die deutsche Grillparzer-Gedenkfeier zu Hannover, den 7. Mai 1922
Was ist das, daß wir heute hier zusammentreten, um einen der berühmtesten Dichter unseres Volkes zu feiern, dessen Ruhm doch unangefochten dasteht und durch die festlichen Anstalten, die wir hier an einem Punkte des großen vielstämmigen Vaterlandes vorbereitet haben, weder ungemein gemehrt, noch tiefer begründet werden kann? – Indem wir uns darauf hinwenden, dieser Frage zu antworten, geschieht in uns diese Einsicht: eines großen Menschen Ruhm ist keineswegs einem Hort Goldes zu vergleichen, der gesichert daliegt, wofern nur welche darüber wachen, daß ihm nichts entfremdet werde – sondern ein solcher Ruhm ist selber ein lebendiges Geisteswesen; er ist ein Aufforderndes, ein edler beflügelter Teil des gesamten Volksgeistes, der sich als lebend meldet, um dem Ganzen in besondern Nöten zu Hilfe zu kommen oder es in erhabenen Zeiten freudig zu umschweben. Wenn es nun über Volksgenossen kommt, daß sie eines ihrer Großen stark und sehnlich gedenken müssen, und wenn dies über Berge und Flüsse hinweg und sogar über Grenzschranken, doch aber innerhalb der Grenzen des großen deutschen Vaterlandes geschieht, so wie hier, daß an norddeutscher Stätte dessen feierlich gedacht werde, der in Österreich gelebt und gedichtet hat, so geht hervor, daß zuweilen eine deutsche Volksgliedschaft wie einen Ruf zu sich dringen fühlt, einer anderen edelste Kraft an sich zu ziehen, nicht anders wie in einem bemühten Leibe Erquickung von Brust zu Haupt aufsteigen, von Haupt zu Glied sich niedersenken kann.
So ziehen seit weit mehr als hundert Jahren alle Deutschen die höchste Kraft, Milde, geschmeidige Weltklugheit des fränkischen Stammes aus dem einen Wesen Goethe an sich, und aus unserem Österreich ist die gesänftigte tiefe Herzensgewalt des bayrischen Stammes in den Tönen Haydns, Mozarts, Schuberts über das ganze Deutschland seit ebenso langer Zeit wie Balsam geflossen; da aber nun unser größter Dichter, fünfzig Jahre nach seinem Tode, von versammelten vielen Volksgenossen anderer Stämme soll gefeiert werden, so geschieht uns noch Höheres: weil der Dichtkunst ja unter den Künsten der erste Rang zuerkannt wird von den bewußten, dem Geiste zugewandten Menschen.
Dunkel ist das meiste um uns, und verworren was zutage liegt, aber doch kann eines großen Volkes Lebenszeit nie dürr und vereinsamt sein – da ja doch das übergewaltige Leben des Ganzen immer vorhanden; aber es stockt wie Blut in den Adern, das freudige Fließen von Vergangenheit zu Gegenwart ist unterbunden, wenn die Geschicke dumpf und zweifelswürdig daliegen: da kann nur die innige Betrachtung einer einzelnen großen Gestalt uns aufrichten. Das Allgemeine, wie wir es zu erkennen glauben, ist trügerisch und wesenlos; in wenigen Wesen aber lebt das Menschengeschlecht ganz; ihnen ist nicht leicht zu begegnen, aber wir suchen beständig nach ihren Spuren, und sie in ihren geistigen Werken zu gewahren ist unser höchster Lebensgewinn.
Grillparzers Lebensgang war still und einsam, und doch ist er aus dem geselligsten der deutschen Stämme hervorgegangen. Vom Vater her ist das Blut bäurisch, und eine bäurische Schweigsamkeit, auch gegen die Nächsten, ist ihm überkommen; von der Mutter her eine Schwermut, die beredt wurde in der Klage und in der Selbstanklage und sich linderte oder steigerte in der Musik. Ihm war sein eigener Name verhaßt, er schämte sich, wenn er ihn ausgesprochen hörte, er schien ihm wie ein Spottname; uns dünkt er schön durch einen edlen Gehalt, wie ein Gesicht durch seinen Ausdruck schön wird. Auch von der Mutter her war die Abkunft bäurisch, obwohl diese Familie seit etlichen Geschlechterfolgen in der Stadt seßhaft war. Stellt man den Vaters- und den Mutternamen zusammen, Grillparzer und Sonnleithner, so meint man in eine österreichische Dorflandschaft hineinzublicken, und sieht linker und rechter Hand die weichgeformten Hügelhänge, da und dort ein dunkles Waldstück, den Gehöften zugehörig, und in der Ferne blitzend die Donau. Er war ein Beamter nach seinem bürgerlichen Geschäft und ein Dichter nach seinem Beruf. Er errang früh eine große Geltung in Österreich sowohl als im übrigen Deutschland; später, wie die Zeiten und das, was sie für ihren geistigen Inhalt ansehen, wechselten, denen er immer widerstrebte und ihr unruhiges, seichtes Gehaben verachtete, blieb er dem Namen nach berühmt, in der Tat unbeachtet und beinahe ungekannt. Ob er ein Christ gewesen und inwieweit, ist nicht leicht geantwortet. Der Seele nach war er ein Christ so gut wie Goethe und Schiller, denn es ist das Christentum, das unseren Seelen ihre Beschaffenheit und Bewußtheit gegeben hat. Zudem war er ein süddeutscher Katholik durch die Zugehörigkeit zu einer Lebensluft, die alle Poren durchdringt, und doppelt die seinen, der ein empfängliches Wesen war. Dem Bekenntnis nach war er ein Freigeist, wenn wir das Wort mit dem edleren und reineren Beiklang gebrauchen, der ihm bis in die ersten Zeiten des vorigen Jahrhunderts geblieben ist. Daß er von einer tiefen Gottgläubigkeit gewesen ist, das nicht zu erkennen, ist fast nicht möglich, wenn man denkt, was seine letzten Worte waren, die er uns hinterließ: die Gestalt des Kaisers Rudolf, die Reden der Libussa und die Erzählung des armen Spielmanns, freilich nicht Worte in der alltäglichen Bedeutung des Begriffes, aber deutbare, sinnbildliche Reden, richtige letzte Sprüche eines großen Lehrers, in denen er sein Selbst vergeistigt uns in die Seele legt. Als er diese gestalteten Worte aussprach, die er der Nachwelt bestimmte und in seinem Schreibschrank eingeschlossen liegen ließ, war er ein vereinsamter Greis, aber ein gewaltiges Wesen. Groß war in den Stunden, in denen er seiner höchsten Kräfte Herr war, in ihm die Strenge, Bewußtheit und Klarheit des Geistes; eine mächtige Erfahrung schmiegte sich an ihn. Die Zeit, die ihn noch umgab, war ihm ein Nichts. Aber mit dem Lande, dem er zugehörte, mit dem unzerstörbaren Wesen des Volkes, mit dem Weben der großen Geschicke – mit all dem wußte er sich verbunden. Man darf im greisen zögernden Rudolf, im einsamen armen Spielmann nicht alles für Sich-Kleindünken nehmen. Es waltet in diesen Dingen eine erhabene Ironie, mit der verglichen die Ironie der Romantiker nur ein unmündig verlegenes Gehaben ist, Ironie von Jünglingen, die noch meinen, den Zwiespalt des Lebens genießen zu dürfen, wo dem Greise ganz anders furchtbar das zerklüftete menschliche Dasein vor Augen liegt.
Als ein solcher einsamer aber gewaltiger Greis bleibe er in unser Gedächtnis eingegraben, eine Gestalt von großem Ernst, uns Österreichern zu besonderem Stolz und eindringlichem Trost, und wenn uns die Züge des Antlitzes geisterhaft verschwimmen mit denen des Habsburgerkaisers auf dem Hradschin und andererseits mit denen des einsam auf seiner Geige stümpernden Sonderlings, oder auch gar mit denen der verlöschenden Seherin Libussa, so sei's; es ist kein Zufall, wie ein großer Dichter zuletzt sich der Erinnerung des Volkes eindrückt, auch hierin erkennen wir das Walten einer Macht, die dort, wohin der Zufall nicht reicht, unsere eigentliche Geschicke formt; vor ihr beugen wir uns und empfangen aus ihrer Hand, was mehr ist als biographische Erkenntnisse und Messungen, das Bild des Lebens, worin das Schicksal sich ausprägt. Hierher zählen wir Schillers frühes, jähes Wegsterben, wie die stark geschwenkte Fackel jäh abbrennt, aber auch Goethes nach außen fürstlich-geselliges, im tiefsten einsames Greisenalter, für das man, um es zu schildern, zu den Namen von Zauberern, Merlin und Klingsor, gegriffen hat; auch Kleists jäher Zusammenbruch gehört hierher, auch Hölderlins langer, sanfter Wahnsinn. Dies sind unsere wahren heroischen Mythen, an denen unser Gemüt tiefer und gespannter wird, wie anderen Geschlechtern ihres an ihrem Homer und Plutarch.
Er war ein geborener Dramatiker; sein erster Schritt trägt ihn in den Mittelpunkt jedes ersonnenen Wesens, und er wohnt in diesen wie in seinem eigenen. Darum hat er sich selber mit sicherem Gefühl den Platz zugewiesen zunächst Goethe, dem Gestalter, und Schiller, dem Erfinder großer Lebenslagen, aber beiden nachgeordnet. Die Nachwelt gönnt ihm den Platz, die so vieler anderer Ansprüche für ewig verworfen hat; aber sie sieht einen neben ihm, dessen ganzen Wert er noch nicht erkannte: Kleist.
Der Streit, ob Klassiker, ob Romantiker, der die Zeitgenossen seiner Jugend bewegte, findet auf ihn keinen Bezug. Alle die abgeleiteten und künstlichen Gegensätze, in denen sie sich ergötzten: Künstler und Philister, Frömmigkeit und Weltverstand, das schöne Alte und das häßliche Neue, sind ihm fremd. Wie sollte der Landsmann Haydns und Schuberts zwischen Volk und Künstler unterscheiden, der Verehrer und Schüler Mozarts zwischen Frömmigkeit und Verstand! Und wie sollte der Österreicher zwischen Altem und Neuem unterscheiden, da um ihn die herrlichen Denkmäler vergangener Zeit eins ins andere übergingen, das im dreizehnten Jahrhundert Angehobene in den Werken des siebzehnten seine Schwingung fortsetzte und bis in die Gegenwart hineinschwang, indem die Saiten weitersangen, wo die Steine zu reden aufgehört hatten. Die Romantiker machen den Geist zum Spielzeug der Einbildungskraft, die Jungdeutschen dann machen aus dem Gemüt die Magd ihres kalten, seichten Verstandes. Grillparzer hält Geist und Gemüt zusammen: ihrer beider Zusammenklang, den seltenen, nennt er Sammlung, und er kennt keinen höheren Begriff als diesen. Indem er lebt, tut sich eine Schule nach der andern auf. Aber wie wenige sind zu lernen fähig, und er war es. Mit Ernst und Stetigkeit geht er seinen eigenen Weg, aber wahre Lehrer treten ihm auf jeder Lebensstufe entgegen, freilich keine Lebenden, sondern Tote, die wahren gereinigten Begleiter dessen, der in der Stille den Weg des echten Künstlers sucht. Lessing nennen wir zuerst unter ihnen; in der Anlage der dramatischen Verwicklung schuldet er ihm viel; auch sein Vers bis in die späten Werke hinein ist am »Nathan« vielleicht mehr noch gebildet als an Schillers Sprache, an der ein Zuviel von Schwung und Prunk seiner Natur, die wählerisch und streng war, widerstehen mußte. Von Goethe ist es der »Egmont« vielleicht neben dem ersten »Faust«, dem er sich am tiefsten verschuldet bekannt hätte; Shakespeare nenne ich erst gar nicht, seinem Einfluß hat sich kein Deutscher entzogen. Den Euripides muß ich aber nennen, an dem ihm die Mischung des Seelengemäldes mit dem schönen geformten Mythischen reizend war. Aus den großen Spaniern machte er das Studium seines reifen Mannesalters: daß alles Gefühlte gleich Tat wird, alles Geschehen gleich Bild, dies Unerreichbare bezauberte ihn an diesen und hielt ihn ewig in ihrem Bann. Vielleicht darf ich einen noch nennen, dessen Spur ich hie und da zu merken glaube, in der zarten geistigen Abgrenzung der Figuren: den Terenz.
Die toten Meister antworten wohl, aber nur dem, der zu fragen versteht. Aus sich selber mußte er in stetem Nachdenken die hohe Einsicht in die Kunstgesetze gewinnen; wie die Erfindung der Handlung übereinzubringen mit dem Eigenleben der Charaktere – das, was der Komposition in der Malerei gleichkommt und was zu bewältigen die Hände der Neueren meist zu schwach sind, die sich im besten Fall mit dem allzu breiten Charaktergemälde begnügen – und wie auch das Zarte und Verflochtene, sodann das Besondere und Jähe, das im Innern der Figuren sich vollzieht, mit sparsamen aber unübersehbaren Zügen nach außen gebracht werde, daß alles im mimischen, sinnfälligem Geschehen fortfließe, alles wahrhaft ein Theater sei, darin ist er Meister geworden unter den Deutschen und übertrifft an Sicherheit auch noch den Kleist, dem zuweilen hierin auch das Erstaunliche gleichsam wie im Traum gelingt, der aber dann wieder mit gewaltsamem Eigensinn jäh sich selber vom Ziel wegreißt. Hierin freilich kommt ihm zugute, daß er ein Wiener war: immer hatte er eine lebendige Bühne vor sich, wo alles, vom Tragisch-Höchsten bis zum Platt-Gewöhnlichen, zum sinnfälligen Bild sich formte, alles in der Gebärde des Schauspielers zusammenlief. Ihm war Theater ein mit allen Sinnen zu fassendes Schauspiel, nicht ein geträumtes Gedicht, noch ein gelesenes Buch. Ja noch die aufnehmende Menge, die das Haus in allen Räumen füllt, der bunte Haufe, der hier, und nur hier, zur fühlenden erregten Einheit wird, sie gehörte ihm dazu, sie war ihm Lehrmeisterin, Natur, wie die sinnende Natur in seiner Brust selber. An das volkstümliche Theater lehnte sein hohes Theater sich an, ja es war mit jenem aus genau einer Wurzel gewachsen; auch die Oper ist immer nahe, die rührenden und geistreich ersonnenen Situationen von Metastasios Libretti, die wunderbare klingende Zauberei der »Zauberflöte«; fließend ist die Grenze zwischen seinem Geschaffenen und all diesem. Nur die lustige Person, die so nahelag, bleibt verbannt aus seinen Stücken, darin ist er bei allem Reichtum der Phantasie zu sehr ein Sohn des achtzehnten Jahrhunderts mit seinem verstandesmäßig gereinigten Geschmack. Auch von der Mundart hält er sich zurück, die seinen Frauengestalten leicht und lieblich über die Lippen springen würde; er verharrt beim Hochdeutschen, worin, nach Jacob Grimms Wort, aufgeht, was in den Dialekten sich entgegentritt. Aber das volkstümliche Wiener Theater ist sich seiner brüderlichen Nähe, der geheimen, nie ausgesprochenen, nie aber auch verleugneten Zugehörigkeit im stillen bewußt: in Ferdinand Raimunds rührender Gestalt tritt es ihm leibhaftig entgegen, streckt ihm die Hände hin mit scheuer Liebe, mit einem Etwas von Eifersucht: es ist, als wären diese Begegnungen selber eine Allegorie und Erdichtungen der zarten Feder Raimunds, der die rührendsten, unvergänglichsten Allegorien unseres Theaters entflossen sind. Wunderbar ist das Verhältnis zwischen diesen beiden, es kann nicht in Worten auseinandergelegt, nur in der Anschauung genossen werden – wo aber Grillparzer aus wahrer Erkenntnis geehrt wird, da ist Raimunds Gestalt von der seinen untrennbar.
Grillparzer verbindet meisterlich die Züge, die zu einem Charakter passen, und bringt meisterlich die Charaktere und die Handlung überein. Wir erinnern uns, wenn wir an seine Stücke denken, anders als bei Goethe, stärker noch an das Geschehen als an die Figuren; hier ist er wahrer Dramatiker, Shakespeare und den Spaniern näher als etwa Schiller, dessen Stärke die Hinsetzung großer Kontraste, die sich in gewaltigen Reden entladen. – Kleist ist ihm hier wieder ganz nahe, der im »Käthchen«, im »Prinzen von Homburg« die Charaktere plötzlich enthüllt durch Situationen von unvergeßlicher Besonderheit. – Den stärksten geistigen Gehalt legt Grillparzer nicht in die Rhythmen, sondern in die Erfindung, die recht eigentlich für die Bühne ersonnen ist; in ihr läßt er dann die Figuren das Notwendige, Entscheidende sagen, oft sparsam und beinahe nüchtern. Nur manchmal, dann aber unwiderstehlich, trifft er die Seele mit einer sehr warmen vollen Rede, wie mit einem vollen Blick. Er läßt seine Figuren herankommen, zögert ihnen ihr Tiefstes heraus. Wie anders als Schiller, der sie in einem Feuersturm ihr Inneres auswerfen läßt, oder gar der vielen Geistes aber geringer Gestaltung mächtige Hebbel, der uns durch Luken und Fugen in sie hineinzuschauen zwingt, zudringlicher als wir uns wünschen und nicht beglückend.
Grillparzers Figuren ziehen uns leise aber unwiderstehlich in sich, und sie scheinen es nicht zu wollen – es ist, als wollten sie sich an uns vorüberdrücken. Wer denkt nicht, indem ich dieses ausspreche, an den armen Spielmann. Aber ist nicht die Esther genau so? Schon wollte der König an ihr vorüber. Da – an einem »fast nicht«, an einem »kaum noch« bleiben sie aneinander hängen, und das Schicksal knüpft sein Gewebe an. Bei Rudolf II. aber scheint es allen, als wollte die Welt über ihn hinweg: er aber weiß, sie kann nicht. So ist hier die Natur darin nachgeahmt, worin ihr nachzuahmen am schwersten ist: in ihrer Bescheidenheit.
Darin liegt des dramatischen Dichters hoher Rang mitbegründet, daß er schöne und besondere Bezüge herstelle zwischen seinen Gestalten. Wer vergißt je die hinreißende Musik der Freundschaft zwischen Hamlet und Horatio, zwischen Antonio und Bassanio, um aus Shakespeares Fülle nur eines zu nennen, das juwelenhaft hervorblickt; wie schön aber stehen Jugend und Alter zueinander im Küchenjungen Leon und dem weisen Bischof Gregor, wie schön steht nach wenigen Sekunden, aus völliger Fremdheit, Esther zum König Ahasver; edel und besonders stehen Kaiser Rudolf und der Herzog von Braunschweig gegeneinander, höchst geheimnisvoll und ungemein steht Rudolf zu Don Cäsar. Die schönsten Bezüge aber tun sich auf zwischen Mann und Weib, und so vielfältig, dabei aber doch gehalten und nie ans Äußerste, aller Maße Entratende gehend, wohin Kleist so schnell gelangt: Hero und Leander, Edrita und Leon, König Alfons und Rahel, Jason und Medea, Primislaus und Libussa – hier ist der volle ewige Strahl wie durch ein zauberisches Prisma in die wechselnden Farben auseinandergelegt! – und welche Situationen: die Liebenden, durchs Meer getrennt; die märchenhafte Brautwahl des Perserkönigs, die mythische Reise von Kolchis nach Korinth; welche Erfindungen, das, was zuletzt das Herz betreffen soll, zu allen Sinnen sprechen zu lassen, wie märchenbunt und tiefsinnig ausgesonnen in der »Libussa«, wie geistreich schnell und gefährlich sich verwickelnd in der »Jüdin von Toledo«, worin ich nicht der Spanier nur, auch Lessings Schüler, den einzigen des Lehrers würdigen, immer wieder erkenne. Die Stärke des Österreichers aber ist die dichterisch-theatralische Erfindung, aus immer neuen überraschenden Gliedern, wie ein reichströmendes Bühnenleben ihrer unzählige auf breitem Rücken dahinträgt, zum Teil uralter Überlieferung entnommenen, zum Teil mit frischem Griff dem Leben abgewonnen. Hier ist Grillparzer dem jungen Goethe nahe, dem unerschöpfliche theatralische Erfindungskraft, der Nähe eines lebendigen Theaters entbehrend, dann allmählich abgedorrt ist, bis er sie im zweiten »Faust«, als Phantasmagorie mehr denn als wirkliches Theater, noch einmal gewaltig hervortreten ließ. Aber gleichbürtig steht hier Raimund daneben, dem geistreiche, oft wahrhaft tiefsinnige Bezüge zwischen den Figuren, kühne und schlagende Gegensätze bezeugen, wie hoch er in Wahrheit als Theaterdichter zu stellen ist: wenn wir an das Gegeneinanderstehen von Flottwell und Valentin denken, von Rappelkopf und seinem gespenstischen Ebenbild, oder wie die Jugend und der alte Wurzel einander gegenübergebracht sind, oder in einem Stück die wüste Schenke des Harfenisten Nachtigall und in einem andern das »stille Haus« und der melodische Abschied, den seine Inwohner von ihm nehmen.
Da wir von Grillparzer hier als einem der großen Dichter der Nation reden, so wird die Frage sich auf die Lippen drängen, ob wir erhabene Züge aufweisen können in seiner Schöpfung – denn nicht ohne diese Merkzeichen darf das sein, was wir der Jugend als höchstes Beispiel hinstellen. Den Begriff des Erhabenen dürfen wir uns nicht verwirren dadurch, daß wir ihn nur gepaart mit dem Riesenhaften und Furchteinflößenden suchen. Das Furchtbare finden wir nicht in seinem Werk: keine Begegnung Hamlets mit dem Geist, auch nicht die ärgere mit der verderbten Mutter; nichts was sich neben Othellos und Jagos Zwiegespräche stellen ließe; auch nicht die Höllentöne aus dem »Don Juan«, noch die riesigen aus Beethovens letzten Werken. Aber er hatte ein großes Herz. Seine Gedichte sind von jener gehaltenen strengen Trauer, von der man gesagt hat, die Fähigkeit zu ihr sei der Maßstab für die Tiefe und Weite des Geistes. Er befreit sich in ihnen nur notdürftig von der furchtbaren Bedrängnis des Lebens, in den Gestalten erst, die ihm aus der Fingerspitze quollen, befreit er sich ganz: denn sie, wie um sich selber zu retten, gibt er dem vollen Druck des Lebens preis. Er gibt ihnen viel von sich selber mit. Fast alle sehen sie uns mit dem gleichen klaren Blick an, wie er selbst in den Gedichten, in der Beschreibung seines eigenen Lebens, in den Tagebüchern das Auge aufschlägt. Ihre Rede gleicht der seinen in diesem, daß sie wahrhaftig ist; seine Worte sind wahr, und das mehr, als bei Dichtern die Regel ist. Seine Klagen sind wahr, sein Nachdenken ist wahr – er dachte nur, wo es ihn zu denken trieb, er kannte keine Routine, auch nicht die des großen Talents, keine Aufreizung der eigenen Kräfte, wovon selbst Schiller nicht ganz frei geblieben ist. Solcher Art sind seine Figuren wahr in sich und auch wahr in ihrem Schicksal, wogegen einem Kleist es widerfährt, daß er die Verhältnisse gewaltsam fortzieht zu einer Handlung, mit deren Gedanken man sich bloß zu spielen erlaubt hätte. – Darum aber auch findet sich in Grillparzers Werken hie und da, und nicht selten, jener höchste Zug, den wir das Erhabene nennen müssen: der »unmittelbare Strahl, der aus dem Charakter schießt, das, was aus dem Tiefsten kommt und am weitesten reicht, jener Zug der letzten Aufrichtigkeit, worin die schicksalhafte Not einer reinen Seele offenbar wird«.
Er besitzt – seltene Gabe! – er besitzt, was ihm zunächst. Ein fast erschreckend Naturnahes tritt manchmal hervor: so im vierten Aufzug der »Hero«, im ersten und zweiten der »Jüdin von Toledo«, auf vielen Seiten des »Armen Spielmanns«. Das gleiche überwältigt uns beim jungen Goethe, der »Urfaust« ist fast nur aus solchen Zügen geschaffen, beim mittleren Goethe dann tritt es zurück. Viel ist auch Bekenntnis in Grillparzers Werken, das sich nicht dem ersten Blick als solches preisgibt; geheimnisvoll und schön die Hindeutung auf sein eigenes Leben, auf das eigentliche Schicksal, nicht auf das, das Hinz und Kunz kennen und bereden: so, wie Libussa aus zaubervoller Einsamkeit ins Leben zweimal gezwungen wird, zuletzt als widerwillige und doch kundige Seherin. In Rudolf II. dann fließt alles zusammen: das besondere Schicksal und das Geschick des geschichtlichen Ganzen und der Dynastie, Herrschertum und geistiger Vorrang, Verantwortlichkeit und Unberührbarkeit. Der Gemütszustand dieser drei letzten Figuren – der Kaiser, der Spielmann, die Seherin – gehört zu denen, die sich nicht umschreiben lassen: denn es wohnt ihm das Schöpferische inne, das der Einordnungen spottet. Diese Figuren sind Heilige, Wissende und Liebende, nicht nach den Maßen des Alltags, noch nach den Maßen derer, die alles mit Worten wie mit Zahlen zu messen meinen, sondern nach den bleibenden Maßen der Dichter. Der Orden, den Rudolf seinem Freunde Braunschweig umhängt, ist der Orden derer, in deren Herzen der Geist Herrscher geworden ist. Es sind Gestalten ohnegleichen in der deutschen Literatur, und nicht nur in der deutschen. Sie scheinen weniger oder mehr gedichtet als fast alle großen erdichteten Gestalten, die wir kennen. Sie leben völlig für sich und doch scheinen sie nicht gänzlich abgetrennt von ihrem Schöpfer: er lebt und leidet noch im Geist mit ihnen, und darum bezaubern sie uns mit seiner ganzen Macht.
Was mußte er freilich an Redeschwall erdulden von den Zeitgenossen: seine Gedichte seien arm an Ideen und darum müsse er hinter einem Hebbel oder einem Gutzkow zurückstehen, die so viele Ideen und Probleme in ihre Werke versponnen hätten, geschweige denn wie weit hinter einem Schiller, der alle großen Ideen des Jahrhunderts dramatisch ausgesprochen. Freilich deuten die Zeitgenossen immer auf Probleme hin, überall sehen sie, nach Hegels Redeweise, Prozesse anhängig. Aber ihre Probleme waren sehr oft nur Täuschungen eines unreifen Verstandes, Gesichtsfehler, Hysterien, Unerfahrenheiten; er aber hat vieles zu Ende gelebt und durchschaut die Zustände wirklich. Wer nicht gestalten kann, schleppt den Prozeß der Begriffe von einer Instanz zur andern. In der Gestalt erst ist das Problem erledigt.
In dieser Verkennung hat er einen Gefährten gehabt: den edlen Stifter, der mit seinen reinen Gestalten tiefere Fragen beantwortet, als jenen zu stellen in den Sinn gekommen wäre: denn um tief und bedeutend zu fragen, muß man auch anderswo stehen als im Vorhof, den der Lärm der Zeit erfüllt.
Unter Ideen aber, wenn man das Wort mit Ernst gebrauchen will, ist weit etwas anderes zu verstehen als der gemeine und gestaltlose Begriff, den die heutige Gemeinsprache damit verbindet, wo das edle Wort nichts anderes mehr besagt als die erbärmlichen sogenannten Zeitgedanken, die platten, von Myriaden Zungen abgeschliffenen Schlag-Stückworte, die wie Schmeißfliegen den Wanderer eine Strecke Wegs umschwirren und dann wieder plötzlich von ihm ablassen und auf Nimmerwiedersehen ins Gebüsch verschwinden. Was das Wort bedeute und welche Würde ihm innewohne, dahin gibt uns Schillers hohe Kunstsprache, wie er sie in seinen Ästhetischen Schriften anwendet, einen Fingerzeig, wo freilich der Gebrauch des Wortes kein scharf gesicherter und gegen das Wort »Ideal« die Grenze verschwimmend ist, wo aber durchaus der hohe antike Begriff noch fühlbar bleibt und das Grundwort eidos – Bild – durchschimmert. Im gleichen Sinn wird der Begriff, den Künstler mit dem Wort verbinden, uns faßlich, wenn wir lesen, wie Raffael an den Baldassar Castiglione schreibt: Da es in dieser Welt an schönen Frauen Mangel habe, so bediene er sich dafür einer gewissen Idee, die er in seinem Geist trage. Der Dichter denkt, indem er das Menschliche tief sieht. Darüber entsteht in ihm von den Grundverhältnissen des Daseins eine Idee, und mit solchen Ideen, die Gestalten sind, bringt er in das schwanke und wirre Weltwesen die herrliche Ordnung, die aus seinen Gedichten widerstrahlt. Nicht anders ist es zu verstehen, wenn im Prolog zu »Faust« der Herr seine Engel heißt, das, was in schwankender Erscheinung schwebt, mit dauernden Gedanken zu befestigen. An solchen, den einzigen dichterischen Ideen, sind Grillparzers Werke überaus reich. Wunderbar und vielfältig tritt uns die Idee der Verantwortung entgegen; rührend die Idee der Einsamkeit. Die Idee der Ehe durchstrahlt »Das Goldene Vlies« mit deutlichem Licht. Die Ideen der Tat und der Nicht-Tat treten im Traumstück einander gegenüber, in der »Libussa« die Ideen des Herrschertums und der Untertanenpflicht, in »Weh dem, der lügt« wird die Idee selbst in ihrer Reinheit und Unbedingtheit konfrontiert mit dem Weltwesen, das ihr keinen Platz verstatten will. Wir rühren vor dem Schluß dieser Rede noch an eines, wodurch die seltenste Meisterschaft sich bezeugt: daß jedes seiner Dramen, nicht dem Gegenstand nach, was ja selbstverständlich, sondern dem Stil nach ein Gebilde völlig für sich ist. Jedes, dränge man in der Betrachtung tief genug und dürfte sich in der Darlegung genug ausbreiten, erschiene innerhalb der dramatischen Gattung als die Vertretung einer Gattung für sich. Wir können aber hier nur auf das deutlich und schnell ins Auge Fallende flüchtig hinweisen.
Die »Ahnfrau« in ihrer Vermischung des Volkstümlichen, des Gespenster- und Räuberstückes mit der spanischen Trochäenform, die dem Stück das Atemlose, Fliegende und zugleich das Entfernte gab, machte ihn mit einem Schlag zum berühmten Dichter; nie wieder aber hat er auf die gleiche oder ähnliche Mischung der dichterischen Elemente zurückgegriffen. Das »Goldene Vlies« sodann knüpft wohl an Euripides und auch an Schillers Stil an, verbindet aber in einer ganz neuen Weise das Mythische mit einer Zergliederung der Seelen, die ganz der neueren Zeit angehört. Die »Hero«, tragische Idylle, steht ohnegleichen. Der »Traum ein Leben« ist das Zauberstück der Wiener Volksbühne, unerhört veredelt und vergeistigt, aber auch diese wunderbare Stilform, der der örtliche Genius zuzulächeln scheint, hat er nie wieder aufgenommen. »Weh dem, der lügt« – denn ich kann hier nicht alle seine Gedichte der Zeit nach aufzählen – ist das Seltenste vom Seltenen: reizendes idyllisches Gemälde ferner Vorzeit und zugleich hohes Lustspiel, von jener Gattung, welche die im Kunsturteil behutsamen und genauen Franzosen als »comique sérieux« bezeichnen; wovon dieses Stück neben der »Minna von Barnhelm« die beiden unvergänglichen Beispiele, allein für die ganze Gattung stehend, Ausbeute von anderthalb Jahrhunderten; der »Zerbrochene Krug« gehört nicht ganz auf die gleiche Linie. In den drei letzten Stücken aber ist auch in diesem Betracht wieder das Höchste erreicht, die ganze Kunstkraft eines langen Lebens geläutert und zusammengenommen: im »Bruderzwist« ist zum einzigen Mal – denn Schillers Tragödien sind, den »Wallenstein« ausgenommen, und auch den nur zur Hälfte ausgenommen, nicht historische Stücke im Sinn, den wir damit verbinden – unter besondersten Bedingungen das fast Unglaubliche gelungen: den historischen Gehalt einer vergangenen, im wesentlichen aber noch fortwirkenden Epoche ganz zu geben, und ihn in Gestalten zu geben.
Nur einem Österreicher vielleicht, und allein für das siebzehnte Jahrhundert, zwischen dem und uns noch geheime Fäden liefen bis auf den gestrigen Tag, konnte dies gelingen. In der »Jüdin von Toledo« dann ist ganz Neues erreicht: die Anekdote, das private Schicksal, das Novellenhafte, mit einer unvergleichlichen Beseelung und Gestaltung giltig hingestellt als Tragödie, der nichts Privates und Zufälliges anhaftet. In der »Libussa« endlich ist das Märchen mit nachdenklichem Sinn geformt, und mit Politischem so gut wie mit Allgemeinem, Ewigen verknüpft. Beide diese wunderbar angebahnten Pfade ist niemand nachgegangen.
In diesen Formungen liegen hohe dichterische Ideen, denen nachzudenken man reif sein muß. Solche Ideen zu haben ist die Sache des Starken; und hierin, in der Kraft, stelle ich ihn neben Lessing, der ein großer Gestalter war, wie in der einzelnen Rede so im Aufbau des Ganzen, und neben Kleist, derer beider Figuren noch heute lebendig auf uns einreden, unkränkbar durch die Zeit. Große Kraft war ihm selber innewohnend und allem, was er hinterlassen hat, eine Kraft strenger, in sich geschlossener Art, von solcher Art, wie uns ahnet, daß sie im menschlichen Gemüt die Trägerin des echten Glaubens und des echten Vollbringens ist. Solcher Beschaffenheit auch ist sein Ruhm, wie ja beim gleichen Wesen alles sich gleicht. Er war früh gewonnen und von ihm nicht hochgeschätzt. Dafür haucht, was jetzt davon da ist, das Aroma einer unverweslichen Kraft aus, unfühlbar freilich denen im ewigen Vorhof – aber wen es treibt, tiefer in Vergangen-Gegenwärtiges, das ist in das eigentliche Leben der Nation einzudringen, der ist diesen Krafthauch einzuatmen gezwungen und das Heiligtum der Nation ist von ihm erfüllt; denn es gibt ein solches, und da es nicht aus Steinen erbaut ist, so ist es unzerstörbar und jeder Kränkung entrückt. Grillparzers Ruhm ist seine Kraft; seine Kraft ist sein Ruhm, beide sind da, Glauben erzwingend und Leben spendend, nicht an jedem Kreuzweg, aber überall dort, wo wir ihrer bedürfen. Er ist von den wenigen, die in uns aufstehen, wenn wir uns zu einem höheren Begriff unseres Selbst erheben.