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XIV.
Kriminologische und sexologische Studien

von Medizinalrat Prof. Dr.  P. Näcke in Hubertusburg.

I.
Zum Kapitel der Transvestiten nebst Bemerkungen zur weiblicher Homosexualität.

Der Name »Transvestiten« stammt bekanntlich von M.  Hirschfeld, der in seinem ausgezeichneten Buche M.  Hirschfeld: die Transvestiten. Berlin, 1910. Pulvermacher. uns hierüber zuerst erschöpfenden Aufschluß gab, obgleich die Sache als solche vorher ja schon bekannt war. Hirschfeld versteht darunter die Verkleidungssucht normaler oder pathologischer Individuen, wobei die Motive wie auch die sexuelle Triebrichtung verschiedene sein können. Wie ich dies schon s. Z. in einer Besprechung von Hirschfelds Buche sagte, halte ich den Ausdruck: Transvestismus, Transvestiten, für keinen glücklichen und den Namen: Verkleidungssucht, Verkleidungssüchtiger, für besser und klarer, vor allem für deutsch. Es handelt sich nämlich in der Tat um eine wahre Sucht, sich zu verkleiden, und zwar meist das Kleid des anderen Geschlechtes anzulegen, doch nicht ausschließlich, da manche Männer und Frauen eine phantastische Kleidung ihres eigenen Geschlechts erwählen. So ging z. B. der englische Maler Lukas, dem s. Z. die Flora aus Wachs im Kaiser Friedrich-Museum in Berlin zugeschrieben wurde, in seinem Atelier stets als Hamlet gekleidet Ich erinnere auch daran, daß z. B. Richard Wagner stets nur als »Meister« in Barett, Samtrock, Kniehosen und Schnallenschuhen auftrat, was in Bayreuth sehr komisch ausgesehen haben soll..

Die Fälle sind immerhin ziemlich selten. Vielleicht kommen sie aber nur seltener dem Arzte zu Gesicht. Hirschfeld hat in seinem Buche 17 Fälle mitgeteilt, also noch immer wenig genug, doch kennt man ziemlich viele Beispiele aus der Geschichte, Kunst und Literatur. Ich selbst hatte noch keinen solchen Fall gesehen, bis auf einen später zu erwähnenden, und war daher Hirschfeld sehr dankbar, als er mir und mehreren Kollegen am 19. Oktober 1911 in seiner Wohnung etwa ½ Dutzend Transvestiten vorstellte, von denen zwei in sehr eleganter Damentoilette erschienen. In einem Lokale sah ich dann noch zwei weitere Fälle. Da nun an diese Vorstellung, welche Hirschfeld durch eine kurze Orientierung über den Gegenstand einleitete Zugleich hatte er weit über hundert Photographien und Bilder aller Art von Transvestiten auf Tischen ausgelegt, welche er, z. T. vermehrt, in einem Atlas 1912 mit dem Titel: Der erotische Verkleidungstrieb, Berlin, Pulvermacher, herausgab., sich eine lebhafte Diskussion seitens mehrerer anwesenden Sexologen (Dr. Burchard, Dr. Merzbach) anschloß, woran ich mich gleichfalls beteiligte und die Transvestiten selbst, die der besseren Gesellschaft angehörten, ihre Ansichten über verschiedene Punkte kundgaben, ich selbst endlich mir bei ihnen über Verschiedenes Klarheit zu verschaffen suchte, so glaube ich, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, gleichsam als Ergänzung zu Hirschfelds Buche, hier darüber kurz zu referieren. Die Sache hat zwar nur einen relativ geringen forensischen, aber einen hohen psychologischen Wert und verdient darum auch das Interesse des Juristen.

Zunächst handelt es sich darum: sind die Transvestiten homo- oder heterosexuell? Von den Anwesenden waren sämtlich bis auf einen einzigen heterosexuell, zwei andere in einem Lokale homosexuell. Beide geschlechtliche Triebrichtungen kommen also vor, und es fragt sich nur, welche überwiegt. Das Material ist zu gering, um hierüber sicher zu entscheiden, doch möchte ich aus dem Umstande, daß von den Transvestiten der Geschichte, Kunst und Literatur die meisten homosexuell zu sein scheinen, entnehmen, daß die Heterosexualität wahrscheinlich seltener vertreten ist. Es ist auch psychologisch viel näher liegend, daß ein Homosexueller gern sich als Weib verkleidet Übrigens belieben einige Homosexuelle nicht direkt in Weibertracht aufzutreten, als vielmehr in einem phantastischen, wallenden Gewande, das an die römische Toga etwas erinnert. Das sah ich vor Jahren bei einem aristokratischen Urninge., weil er sich als solches fühlt und vice versa das Weib als Mann, als daß ein Heterosexueller es tut. Wir können also zunächst eine homosexuelle (inkl. bisexuelle), heterosexuelle und asexuelle Form unterscheiden. Die Letztere scheint nämlich wirklich vorzukommen. Ein als Weib verkleideter Mann X. erzählte mir, daß er nie je eine Neigung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht empfunden, folglich auch nie sexuell verkehrt habe. Dementsprechend hatte er nie irgendwie sexuell geträumt.

Das führt mich zu den sexuellen Träumen, auf die ich als feinstes Reagens bez. der Sexualpsyche wiederholt aufmerksam gemacht habe Näcke: Der Traum als feinstes Reagens für die Art des sexuellen Empfindens. Allgem. Zeitschr. für Psychiatrie 1905 – Über Kontrastträume und speziell über sexuelle Kontrastträume. Dieses Archiv Bd. 28, 1907. – Beiträge zu den sexuellen Träumen. Ibidem, Bd. 29 (1908). – Die Diagnose der Homosexualität. Neurolog. Zentralbl. Nr. 8. 1908. – Echte, angeborene Homosexualität und Pseudohomosexualität. Deutsche medizin. Wochenschr. 1909, Nr. 34. – Homosexualität und Sachverständiger. Reichs-Medizinal-Anzeiger, Nr. 2, 1910. – Die diagnostische und prognostische Brauchbarkeit der sexuellen Träume. Aerztl. Sachverständigen-Zeitung, Nr. 2, 1911.. Alle haben heterosexuell geträumt; den Homosexuellen habe ich darnach nicht speziell befragt. Nun war es mir sehr interessant, zu erfahren, daß ein anwesender Akademiker Y., ein außerordentlich gebildeter und sich gut beobachtender Mann, erzählte, er habe schon als Kind immer davon geträumt, wie seine Mutter ihn in Mädchenkleidung steckte, was ihn beseligte. Bei den anderen spielten in den sexuellen Träumen wahrscheinlich die weiblichen Kleider eine große Rolle, doch habe ich das nicht speziell erkundet. Die Homosexuellen träumen natürlich nur homosexuell; ob dabei auch die weibliche Kleidung mitspielt, weiß ich nicht, glaube es aber wohl.

Die Stärke des Geschlechtstriebes war eine sehr verschiedene. Bei X. fehlte er, wie gesagt, angeblich ganz, beim Akademiker Y., der seit vier Jahren eine Maitresse besitzt, war er sehr stark, bei einem Techniker war er mittelmäßig. Es sind demnach alle Grade vertreten. Die Neigung, sich zu verkleiden, scheint schon seit der Kindheit bei den meisten zu bestehen. Wir müssen dieselbe daher wohl meist als angeboren bezeichnen, mindestens die Disposition dazu, mögen dann immerhin auch später noch gewisse Gelegenheitsursachen dazu kommen. Wer z. B. Geschwister des anderen Geschlechts hat, besitzt mehr Gelegenheit, seinem Hang früh zu fröhnen oder ihn groß zu ziehen als ein Anderer.

Man kann einen permanenten, temporären oder intermittierenden Typus des Transvestismus unterscheiden. Der Erstere tritt dann ein, wenn die Verkleidung zeitlebens oder doch während des größten Teiles desselben getragen wird. So war der Wirt des einen Lokals, das wir besuchten, ein homosexuelles Weib, das seit 30 Jahren ununterbrochen männliche Kleidung trug. Das Gesicht war breit, plump, bartlos, die Haare kurz abgeschnitten. Es bestand ein starker Bierbauch, die Allüren usw. waren ganz männlich, und die Stimme hoch. Sie erzählte mir, daß sie verheiratet gewesen war, den Mann nie geliebt habe, wie überhaupt nie einen Mann, und einen Sohn besitze. Nach dem Tode ihres Mannes eröffnete sie eine Kneipe und hatte, wie sie sagte, nie mit der Polizei wegen ihrer Kleidung Konflikt gehabt, obgleich sie als Transvestitin in der ganzen Gegend bekannt war. Ihr Lokal dient früh als Kaschemme Wie ich erfuhr, gibt es nach den Mitteilungen des Berliner Polizeikommissars Weiß z. Z. in Berlin höchstens nur noch 1-2 wirkliche Verbrecherhöhlen, Kaschemmen, während es früher deren viele gab. Die Verbrecher haben nicht abgenommen, wohl aber ihre Lebensweise geändert. Manche werden sogar aristokratisch und es gibt z. B. in der Nähe Berlins eine ganze Verbrecher-Villen-Kolonie und eine solche auf einer Havelinsel, wo die großen Unternehmer und Zuhälter wohnen., am Tage als Aufenthalt für Heterosexuelle und abends für weibliche Homosexuelle. Die Preise waren ausnehmend teuer, was mit der prekären Lage eines solchen Lokals zusammenhängt, das jeden Augenblick polizeilich geschlossen werden kann. Die Wirtin machte einen sehr bescheidenen, anständigen Eindruck, trotzdem sie auf Wunsch der Anwesenden höchst obszöne Lieder und Gassenhauer vortrug. Die Kellnerin, gleichfalls homosexuell, mit kurz geschorenem Haar, machte dagegen einen ganz knabenhaften Eindruck; sie geht sehr oft als Junge angezogen und erschien in der Tat sehr bald auch als solcher, mit langen Hosen und Jackett. Ihr Wesen war gemein, im Gegensatz zur Wirtin. Sie besaß seit vier Jahren ein homosexuelles Verhältnis.

Die andern Transvestiten, die ich sah, waren meist nur temporäre, d. h. sie verkleideten sich gewöhnlich nur zu Hause, selten außerhalb. Der Techniker Z. dagegen bietet ein Beispiel eines intermittierenden Typus dar, d. h. er fühlt nur zeitweilen den Drang nach Verkleidung Hier könnte man fast von einer Art Zwangstrieb reden. Es kann nämlich ein wahrer Zwangstrieb auch bei geistig ganz Normalen vorkommen. Einen solchen Fall teilte mir Hirschfeld mit. Ein Unterbeamter in sehr verantwortungsreicher Stellung erzählte ihm, daß er seit seiner Kindheit den Trieb gehabt habe, sich als Frau zu kleiden. Manchmal trete dieser Drang fast zwangsmäßig auf. Wenn er es dann nicht tut, wird ihm Angst, Schweiß bedeckt die Stirn, das Herz pocht usw., bis er diesem Zwangstriebe Folge leistet. Er kann es natürlich nur zu Hause tun und hatte deshalb mit seiner Frau viel Streit, die sich sogar scheiden lassen wollte, weil sie ihm sagte, er sei homosexuell, bis er eines Tages ihr Hirschfelds Buch über die Transvestiten zu lesen gab, woraus sie erkannte, daß die Verkleidungssucht auch bei Heterosexuellen vorkomme. Jetzt hält sie ihn für heterosexuell – was er auch ist – und sie leben wieder glücklich zusammen. Fatal ist ihm nur, daß sein einziges Kind, ein Mädchen, jetzt 13 Jahre alt ist und er fürchtet, sich vor ihr zu kompromittieren. Er weiß noch nicht, er was machen soll. Bei Geisteskranken könnte es auch eine Zwangsidee sein, die dazu führt, oder der Wahn, ein Weib zu sein. Dann würde der Betreffende sich wohl als Weib fühlen, nicht aber das beseligende Gefühl der Transvestiten haben. Die Metamorphosis sexualis paranoica – der Wahn der Geschlechtsverwandlung – kommt nach Bleuler (Dementia praecox, 1911, Wien, p. 325) bei der Dementia praecox vor. Der männliche Geisteskranke fühlt sich dann andauernd oder zeitweise als Frau. Es mögen nach ihm noch andere Gründe als Impotenz hierfür vorliegen, vor allem kompliziert mit Homosexualität. Ich selbst habe nie einen solchen Fall bei Dementia praecox gesehen, wohl aber einen bei manisch-depressivem Irresinn. Der betr. Kranke behauptete dann in seiner hypomanischen Phase, er sei ein Weib, menstruiere, habe Eierstöcke usw. Doch konnte ich nie den Gedanken ganz los werden, daß es sich hier um bloße Fopperei handelte, da Patient gern alle anulkte und froh war, Jemandem einen Bären aufzubinden. Übrigens brachte er wiederholt die gleiche Sache vor. Wohl denkbar wäre ein solches Gefühl der Geschlechtsverwandlung nur beim echten Paranoiker durch Wahnideen und beim Hypochonder. Noch leichter, wenn zugleich Homosexualität besteht. Ob Impotenz das allein vermag, wie Bleuler meint, ist mir etwas zweifelhaft., und zwar bloß zu Hause. Er schilderte, was für Kämpfe es mit seiner Frau anfangs gegeben habe, ehe diese sich mit seiner Verkleidungssucht abfinden konnte. Für diejenigen, die sich nur zu Hause kostümieren, erscheint das Kostüm das Natürliche, während ihre gewöhnliche, männliche Tracht ihnen unbequem ist und unnatürlich vorkommt. Ganz merkwürdig hierbezüglich war der Fall X. Er ging als Weib in einem hocheleganten Kleide, mit modernstem Hute und moderner Frisur und benahm sich auf das Täuschendste wie eine Dame. Die Art, wie er auf der Chaiselongue saß, wie er Schleier, Handschuhe hielt, die Hand auf den Tisch setzte, den Kopf und die Augen bewegte, war täuschend der Frau nachgeahmt oder vielmehr nachempfunden. Wäre nicht das etwas grobe, glatte Gesicht Er war rasiert, doch schien der Bartwuchs wenig entwickelt zu sein. mit den vorstehenden Backenknochen und eine tiefe Altstimme nicht gewesen, so hätte jeder ihn zweifellos für eine Frau gehalten. Er war Damenschneider, hatte große Kundschaft, mehrere Schneidermädchen, wagte aber nie zu Hause als Weib zu gehen. Das Merkwürdigste war nun, daß er, der, wie oben schon gesagt wurde, niemals irgend eine Libido empfunden, bisher nur einige Male sich verkleidet hatte, trotzdem er vor Sehnsucht danach sich immer verzehrte. Es war erst das vierte Mal, daß er als Weib sich verkleidet hatte! Von seiner Kunst zeugte ein Kleid, das er dem zweiten anwesenden (wahrscheinlich homosexuellen) Transvestiten aus einer gewöhnlichen Portière angefertigt hatte. In dieser Verkleidung schienen ihm nun auch gewisse weibliche Eigenschaften zu eignen. So sprach er bescheiden, fast geziert und als er mit uns in das Lokal der Homosexuellen ging und die Wirtin ihre obszönen Lieder losließ, war es ihm höchst fatal, wie der Gesichtsausdruck bezeugte. Ob er ein gleiches Benehmen auch zu Hause zeigte, weiß ich nicht.

Wir kommen nun zur wichtigen Frage, ob diese Sucht nach Verkleidung ein sexuelles Äquivalent darstellt oder sonst mit der Sexualität zusammenhängt. Nun, das scheint gewöhnlich nicht der Fall zu sein. Der Mann, das Weib fühlen sich wohl in ihrem neuen Kleide, empfinden dasselbe als ganz natürlich, aber Sexuelles empfinden sie dabei nicht, wenigstens nicht für gewöhnlich. Offenbar haben sie gewisse innere männliche oder weibliche Eigenschaften, die auch nach äußerer Kundgebung drängen Sie scheinen z. T. sehr zur Eitelkeit zu neigen, wie die guten Frauen. So lassen sie sich z. B. gern in ihrer Verkleidung photographieren; ausgelegte Bilder eines solchen waren sogar nackt aufgenommen worden und zwar so, daß in einem Bilde der Penis unsichtbar gemacht worden war, wohl durch Nachhintenziehen, um so wahrscheinlich auch nackt äußerlich als Frau zu imponieren! Nach Hirschfeld lieben sie auch sehr weibliche Handarbeiten, weibliche Betätigungen, daher treten sie gern auch als Soubretten, Schlangenbändigerinnen usw. auf. Der eine verkleidete Transvestit, den ich sah, wünschte sehnlichst an einem Variété ein Engagement als Tänzerin zu erhalten, obgleich er keinesfalls von Beruf Tänzer war. Es scheint ferner, daß die Verkleidungssüchtigen sehr gern tanzen, weil sie dadurch in ihrer neuen Rolle sich noch wohler fühlen. Auch die Homosexuellen tun es gern, wenn sie mit dem Geliebten zusammen sind.. Dabei kann der Tag- oder Nachttraum durchaus heterosexuell sein, wie wir sahen. Interessant war, was der Akademiker Y. berichtete. Er meinte, es sei bei ihm ein gewisses masochistisches Gefühl, das ihn beselige. Die Frau sei schon durch ihre vielfach beengende Tracht an der freien Entfaltung dem Manne gegenüber gehindert und im Nachteil. Darin stecke bereits ein Gefühl der Passivität, der Erniedrigung, der Verachtung. Und das sei für ihn wohl das Hauptmotiv der Verkleidung. Dieses bewußt oder unbewußt masochistische Element dürfte aber wohl sicher nur eine große Ausnahme sein Ein entsprechendes sadistisches ist bei einer als Mann verkleideten Frau sicher noch viel seltener, da ja Sadismus bei Weibern an sich viel seltner ist, als bei Männern.. Die meisten Heterosexuellen fühlen sich in dem Kostüm wohl, weil es ihren innern natürlichen Gefühlen entspricht. Bei andern kann es ja leicht nachempfunden werden. Wir wissen z. B., daß der Schauspieler sich sehr bald in seiner Rolle, seiner Kleidung, ganz heimisch fühlt und darin schließlich aufgeht, so daß auf kurze Zeit durch Anregung der Phantasie eine Art von Pseudologia oder vielmehr Pseudophysis phantastica eintritt, die freilich nach Schluß des Stückes aufhört, während der echte Transvestite sich weiter darnach sehnt, wenn er die Kleider abgelegt hat, ablegen mußte. Der homosexuelle Verkleidungssüchtige will seinen innern Menschen dadurch noch mehr herauskehren. Fühlt er sich mehr als Weib, so wird er gern auch weibliche Kleider tragen usw. Nur der weiblich fühlende Homosexuelle wird sich als Weib verkleiden, nicht der männlich fühlende, der Aktive. Ganz merkwürdig war nun das Verhalten des Technikers Z. Derselbe behauptete, daß er, wenn verkleidet, potenter, angriffslustiger seiner Frau gegenüber sei, als sonst. Das wäre also eine direkte sexuelle Reizung und dürfte immerhin sehr selten sein. Erwähnen möchte ich noch, daß die Transvestiten immer mit der Mode gehen, also auch hier das Weib kopieren Ja, es kann sogar vorkommen, daß die Betreffenden in der Tracht ihres Geschlechts mehr auffallen, als in der andern, fremden. So wandte sich z. B. im Jahre 1907 eine Schriftstellerin K. an die Öffentlichkeit, da sie schon siebenmal von deutschen Sicherheitsbeamten arretiert wurde, weil man sie für einen verkleideten Mann hielt. Ähnlich verhielt es sich mit einem verkleideten Transvestiten, der mir vorgestellt wurde. Derselbe wollte auf der Fahrt von Petersburg nach Berlin den Abort für Männer benutzen, und man wollte ihn nicht hereinlassen, weil man ihn für ein Weib hielt, und als er sich später als Weib anzog, geschah das gleiche bez. der Benutzung des weiblichen Aborts, weil man ihn für einen verkappten Mann hielt, so daß er in arge Bedrängnis geriet..

Wie steht es nun mit dem innern Menschen? Sind diese Leute entartet oder nicht? Leider ist das Material noch zu gering, um diese wichtige Frage zu lösen, und man müßte die Betreffenden auch lange beobachten können, um darüber mit einiger Sicherheit etwas aussagen zu können. Äußerlich machen die Leute, welche ich sah, durchaus keinen entarteteten Eindruck. Der Akademiker hatte ein glattes, fast jungenhaftes Gesicht, wie man dies bei jungen Akademikern so oft sieht; die andern trugen Bart, und nur die zwei Verkleideten waren rasiert. Die als Mann verkleidete Wirtin machte mich darauf aufmerksam, daß sie unter dem Kinn sich rasieren müsse, doch findet sich das nicht selten bei virilen oder älteren Frauen. Deutlich in die Augen springende Stigmata degenerationis waren, an den unbekleideten Körperteilen wenigstens, nicht zu sehen, nur daß Z. abstehende (Henkel-)Ohren aufwies und eine etwas niedrige Stirn. Er machte einen etwas schwachsinnigen, läppischen Eindruck, während die anderen intellektuell normal zu sein schienen. Ob Zwitterbildung (falsche) leicht Anlaß zu Transvestitismus gibt, ist mir unbekannt. Ich lernte kürzlich einen echten Zwitter (d. h. mit männlichen und weiblichen Keimdrüsen) kennen, der bis zum 7. Jahre als Frau erzogen ward, dann Männerkleider trug. Er hatte sich in den Frauenkleidern nicht wohler gefühlt, als in Männertracht, war also kein Transvestit. (Siehe hierüber dieses Arch., Bd. 43, S. 340.)

Wir werden also, um es nochmals kurz zusammenzufassen, sagen können, daß die Verkleidungssucht 1. scheinbar meist angeboren scheint und schon im Kinde sich regt; 2. bei Homo- und Heterosexuellen vorkommt; 3. bei allen möglichen Stärkegraden der libido; 4. temporär, intermittierent oder permanent auftritt; 5. mit der Sexualität scheinbar meist nichts zu tun hat und 6. an sich absolut kein Stigma degenerationis darstellt, ebensowenig wie die Inversion. Sie kann bei Dummen, Gescheiten, Niedrigen und Edeln, Geistesgesunden und Geisteskranken Ich sah früher nur einen einzigen Transvestiten und das war ein Geisteskranker. Ein Bauer hatte, wahrscheinlich mit als erstes Symptom seiner Paranoia, zu Hause stundenlang die Röcke seiner Frau getragen, was zu Hause immer zu Streit Anlaß gab. Ich habe aus ihm leider nie herausbekommen können, aus welchen Motiven er sie trug. verkommen, also bei ganz-, halb- und Unzurechnungsfähigen. Sie stellt eine angeborne Perversion Scheinbar tritt sie öfter in den oberen Gesellschaftsschichten und gern bei Künstlern und Literaten auf. Doch sahen wir bei Hirschfeld das Bild eines steirischen Bauernsohnes, der von Jugend an einen Drang nach Mädchenkleidern verspürt hatte und später, als es ihm polizeilich gestattet wurde, als Frau zu gehen, heiter und zufrieden aussah, während er früher mürrische Gesichtszüge darbot. (Siehe das folgende Gutachten von Hirschfeld.), nicht Perversität dar und dürfte forensisch im ganzen wenig Bedeutung haben, am meisten noch als Erreger öffentlichen Skandals. Hirschfeld hat in seinem Buche übrigens alle die möglichen Berührungen mit dem Gericht eingehend beleuchtet. Nicht selten wird auch in der Verkleidung zum Selbstmorde geschritten, noch öfter aber entdeckt man das wahre Geschlecht erst beim Tode oder bei einer Operation. Ganz gewöhnlich sind die Berufsverkleidungen. Bisweilen besteht endlich ein Zwangstrieb, sich zu verkleiden, wie es scheint, und zwar permanent oder episodisch. Vererbung scheint nicht vorzukommen.

Ich habe einige Zeit an die Möglichkeit gedacht, daß es sich beim Transvestitismus um eine Art von Fetischmus handle, muß aber diese Idee aufgeben, da die Kleidung als sexueller Reiz, was man doch von einem pathologischen Fetisch verlangt, meist nicht wirkt. Wir wissen dagegen, daß manche Hetero- und Homosexuelle nur koitieren können, wenn der Partner ein besonderes Kostüm oder Strümpfe, Schuhe usw. von bestimmter Farbe und Form anhat. Gerade, als ich im Oktober 1911 in Berlin war, wurde ein, wie man sagt, künstlerisch wertloser Schwank gegeben: Ein Walzer von Chopin. Darin wird erzählt, wie ein Mann bloß potent war, wenn er einen bestimmten Walzer im Nebenraum hörte! Ähnliches habe ich nie gehört. Übrigens ist es immerhin möglich, daß einmal der genitale Reiz nur vom Gehörorgane ausgelöst wird. Hier dürfte dann sicher aber ein musikalisches Erlebnis bei dazu gegebener Disposition mitgewirkt haben. In der Praxis kann wirklich alles vorkommen, auch das scheinbar Unmögliche. So erzählte mir z. B. Hirschfeld, daß ein Mann ihn konsultierte und folgendes gebeichtet habe. Seine Sexualbefriedigung war nur durch folgenden Akt möglich: Er fischte auf der Straße ein Frauenzimmer auf, ging mit ihr in ein Restaurant, ließ sie Semmel usw. essen, dann ausspeien und er verschlang unter Orgasmus das Erbrochene! Also ein Masochist, beinahe ein masochistischer Koprophage! Das also ist dann sexueller Fetischismus, dort aber nicht. Während also die eigentlichen Fetischisten, Sadisten, Masochisten, Exhibitionisten sexuelle Zwecke verfolgen und auch meist als so geboren erscheinen, fehlt das sexuelle Ziel beim Transvestitismus für gewöhnlich ganz. Es ist eine eigentümliche, angeborene Abartung des Fühlens, die nach der kleidlichen Äußerung drängt und entschieden zur Stütze der bisexuellen Veranlagung des Menschen mit herangezogen werden kann. Es ist bei dem Betreffenden mehr von der innern männlichen oder weiblichen Psyche im entgegengesetzten äußeren Geschlechtshabitus vorhanden, als sonst. Es handelt sich hier also um eine Anomalie, um eine psychische Zwischenstufe, gewiß nicht um eine Krankheit.

Wir haben also auch hier wieder vom Normalen, der nicht oder nur zeitweise an Verkleidungen Vergnügen findet, bis zum Transvestiten eine Stufenreihe. Natura non facit saltum! Nur muß man diese weniger auf sexuellem, als vielmehr auf rein psychischem Gebiete suchen. Der Normale amüsiert sich gern einmal in einem weiblichen Kostüme, wird aber dabei sicher sich nie als Weib fühlen, wie der Transvestit. –

Als Beispiel, wie ein ärztliches Gutachten in foro bez. des Transvestitismus abzufassen ist, teile ich folgendes mit, von Dr.  Magnus Hirschfeld und Iwan Bloch abgefaßt. Erschienen in Hirschfeld: Geschlechts-Umwandlungen. Beiträge zur forensischen Medizin. Bd. I. 1912. Adler-Verlag.

»Herr Josef M., geboren 2. August 1863 zu R. (Bayern), jetzt Kaufmann zu M. (Bayern), hat die beiden Unterzeichneten Anfang September 1911 zur Beobachtung, Behandlung und Begutachtung aufgesucht. Seinem Wunsche gemäß erstatten wir das folgende ärztliche Gutachten, das sich stützt, 1. auf die Lebensgeschichte des pp. M., 2. auf unsere Beobachtung und Untersuchung. – 1.  Lebensgeschichte. Der jetzt 48 jährige Patient gibt an, daß seine Eltern verstorben sind. Sein Vater war dem Trunke ergeben und verließ seine Frau, als Josef 15 Jahre alt war. Seit dieser Zeit hat er nichts mehr von sich hören lassen. Er hatte oft Selbstmordgedanken geäußert. Die Mutter soll sehr nervös und schwächlich gewesen sein. Josef ist das jüngste von sechs Kindern, von denen zwei, ein Bruder und eine Schwester, verstorben sind (an Schwindsucht bzw. Wassersucht). Es leben noch drei Schwestern im Alter von 62, 57 und 54 Jahren. J. selbst hat von Kindheit an viele Krankheiten durchgemacht, u. a. auch mit 28 Jahren eine schwere Meningitis mit mehrwöchentlicher Bewußtlosigkeit. Er war ein ängstliches, leicht zum Weinen geneigtes Kind, litt viel an Alpdrücken und an Stuhlverstopfung, mit welchem Leiden er noch heute behaftet ist. Auch wurde er viel von bösen Träumen geplagt. In der Schule lernte er gut, interessierte sich am meisten für biblische Geschichte. Er spielte zwar auch mit Knaben, aber viel lieber mit Mädchen, hatte auch große Freude an Puppen, die sogar noch heute besteht, und lernte auf eigenen Wunsch Kochen und Sticken. Schon als Knabe zog er heimlich Mädchenkleider an, so oft es ihm möglich war und, wenn seine Haare lang genug waren, flocht er sie, worüber er oft verspottet wurde. Die Geschlechtsreife trat zwischen 16 und 18 Jahren ein. Die Stimme wurde tiefer und es stellte sich eine eigenartige Empfindung an den Brustwarzen ein, die heute noch vorhanden ist. Der Geschlechtstrieb war von Anfang an sehr schwach entwickelt, auch der Bartwuchs stellte sich erst mit 25 Jahren ein und ist gering geblieben. Auch die Körperbehaarung entwickelte sich fast gar nicht. Schon damals sagte man allgemein, er mache den Eindruck eines Mädchens, und als er einmal in den zwanziger Jahren Damenkleider anzog und sich darin zeigte, erkannten ihn nicht einmal seine nächsten Verwandten und Bekannten. Bis heute hat Pat. einen geschlechtlichen Verkehr nicht gehabt, da er niemals einen besonderen Drang dazu verspürte, überhaupt vor geschlechtlicher Berührung, z. B. Anfassen seiner Genitalien beim Urinieren, einen Ekel hat und vor allem ausschließlich von dem Gedanken und dem Gefühle beherrscht wird, als Frau zu leben. Er glaubt, daß er von selbst niemals zu einem Geschlechtsverkehr gelangen würde, da er gar keinen Trieb dazu spüre und viel zu schüchtern sei.

Der nackte oder halbnackte weibliche Körper übt keinerlei Reiz auf ihn aus. Jedoch war sein geschlechtliches Empfinden auch niemals auf das männliche Geschlecht gerichtet. Von Kindheit an besteht dieser leidenschaftliche Hang bei ihm, sich als Frau zu kleiden. Er hat immer wieder versucht, diesen Hang zu bekämpfen, namentlich nach den weiter unten zu erwähnenden unangenehmen Erlebnissen und Konflikten – aber es war vergeblich. Die Folge einer längeren Enthaltsamkeit von der Frauentracht war stets eine schwer geistige Depression. ›Das Leben freut ihn nimmer‹, wie er sich ausdrückt. Glücklich fühlt er sich immer nur in Damenkleidern, wo er ein ganz anderer wird und die frühere Melancholie und Befangenheit einer inneren harmonischen Stimmung weicht. Sein ganzer seelischer Zustand hängt davon ab, ob er Frauenkleider trägt oder nicht. Für die Befriedigung dieser Neigung würde er, wie er sagt, sich entmannen lassen, ja selbst ins Gefängnis gehen, wenn sie anders nicht möglich wäre. Die weibliche Kleidung bot ihm von jeher Ersatz für alles andere. – Seine Lebensgeschichte, aus der wir nun die wichtigsten und wesentlichen Einzelheiten hervorheben, bestätigt diese seine Angaben in vollem Umfang. Der Pat. ist fromm katholisch erzogen, ist sehr religiös und bekleidete sieben Jahre die Stelle eines Meßners. Er wurde eben dieser Stelle enthoben, als er einmal während des Faschings in Damenkleidern ging. Dann wurde er Trappistenfrater in Natal (Südafrika), von wo er aber nach ¾ Jahren wegen Krankheit fortging und nach Bayern zurückkehrte. Er ließ sich dann, um seine unwiderstehliche Neigung zum Anlegen von weiblichen Kleidern wenigstens in Gestalt eines Surrogats zu befriedigen, vor acht Jahren einen dunklen Mantel, eine Art Talar machen, um die ihm vor allem so widerwärtigen und lästigen männlichen Beinkleider nicht anziehen zu müssen. Darauf wurde er angeklagt, sich Priester- bzw. Ordenstracht angemaßt zu haben, aber schließlich freigesprochen. Er ließ sich dann einen farbigen Mantel anfertigen, so daß er nicht mehr mit einem Priester oder Ordensmann verwechselt werden konnte. Wenn er aber in diesem Rocke ausging, erregte er allgemeines Aufsehen und wurde öffentlich verspottet. Eine neue Anklage hatte wieder Freisprechung zur Folge. In der Urteilsbegründung wies der betreffende Richter darauf hin, daß ein Gesetzesparagraph betreffs der Art der Kleidung nicht existiere. Nur dürfe man nicht die, einen bestimmten Stand kennzeichnende Tracht, z. B. eine Uniform, anlegen. Auf dieses Urteil hin kleidete sich pp. M. ganz als Dame, weil er dies für erlaubt hielt und dann auch gehört hatte, daß in Schl., Bezirksamt M., Oberbayern, eine Dame namens R. D. ohne jede Erlaubnis als Mann gegangen sei. Es wurde ihm auch 1910 vom Bezirksamt M. bestätigt, daß die vor zwei Jahren verstorbene R. D. 30 Jahre lang in Männerkleidung gegangen sei. Als daraufhin M. Frauenkleider angelegt hatte, wurde er 1910 wieder angeklagt, in 1. und 2. Instanz verurteilt, jedoch am 24. Dezember 1910 vom Kgl. Oberlandesgericht München freigesprochen. Nachdem ihm sein unverschuldeter Zustand schon sehr viel Geld gekostet und viel Kummer und Verdruß bereitet hatte und nachdem er aus Dr. Hirschfelds Buch »Die Transvestiten« die wahre Natur seines Zustandes erfahren hatte, hat er uns gegenüber den Wunsch ausgesprochen, durch ein von uns erstattetes Gutachten auch vor der zuständigen Behörde den Beweis führen zu können, daß seiner Natur mehr die Frauenkleidung entspricht als die Männertracht und demgemäß die öffentliche Erlaubnis zu erhalten, erstere dauernd zu tragen. –

2.  Status praesens. Die Unterzeichneten haben den pp. M. mehrere Wochen beobachtet, eingehend seinen körperliehen und seelischen Zustand untersucht und das Folgende festgestellt. Der Pat. ist 1,66 m groß, von schlanker Gestalt, die Schulterhöhe beträgt 43,5 cm, die Beckenbreite 39 cm; der Habitus ist im allgemeinen männlich. Die Muskeln sind schwach entwickelt, die Brust zeigt weibliche Rundung, Hände und Füße sind klein, so daß Pat. Damenschuhe und Damenhandschuhe trägt. Farbe der Haut dunkelgelblich. Das Haupthaar war lang, weich und blond, ist aber zum großen Teile infolge der Meningitis ausgefallen, der Rest ergraut. Er trägt jetzt eine in der Mitte geteilte Haarperücke. Der Körper ist fast gar nicht behaart, auch der Bartwuchs an Kinn und Oberlippe ist sehr gering. Die Genitalien sind männlich, jedoch wenig entwickelt, die Hoden leicht atrophisch. Der Gang ist mehr weiblich wie männlich, die Schritte sind klein und leicht, auch das Körpergewicht von 63 kg ist verhältnismäsig gering. M. macht in Männerkleidung einen scheuen, nervösen, sehr wenig männlichen Eindruck, errötet leicht, spricht mit allerdings männlicher, aber leiser Stimme. Sobald er Frauenkleidung angezogen hat, ist sein Verhalten völlig verändert. Er scheint erst dadurch sein natürliches Wesen gewonnen zu haben, macht als Frau einen viel harmonischeren und ausgeglicheneren Eindruck, während er in Männertracht befangen, geniert und verängstigt ist. Auch haben wir ihn wiederholt auf die Straße begleitet und uns überzeugt, daß er keinerlei Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt. Durch sein ganzes Leben hat er außerdem bestätigt, daß seine ganze Geschlechtlichkeit gewissermaßen sich auf diese Neigung zur Frauentracht konzentriert und beschränkt. Seine Enthaltsamkeit macht beinahe den Eindruck der Asexualität. Es ist deshalb nicht zu befürchten, daß er seine Frauenkleidung jemals dazu benutzen wird, um Unrechtes zu tun. Auf der andern Seite erscheint es im Interesse seines Gesundheitszustandes dringend geboten, ihm die Frauentracht, in der er weder auffällt, noch objektives Ärgernis erregt, zu belassen. Sowohl aus Deutschland als auch aus dem Auslande liegen bereits eine ganze Reihe von Präzedenzfällen vor, in denen man, wenn besondere Umstände es erforderten, Personen gestattet hat, die Tracht des andern Geschlechts zu tragen. Im Falle M. würde ein Verbot dieser Tracht eine außerordentliche Härte sein, die sehr leicht den Selbstmord eines Menschen zur Folge haben würde, der in jeder Beziehung, vor allem auch in moralischer Hinsicht, ein ehrenhafter, harmloser Mensch ist, der still für sich dahin lebt, ohne jemandem etwas zu leide zu tun.

Dr.  Magnus Hirschfeld und Dr.  Iwan Bloch.

Durch Beschluß des Berliner Polizeipräsidiums ward dem Kaufmann Josef M. am 27. September 1911 die Erlaubnis zum Tragen von Frauenkleidern gegeben, und zwar auf das durch den Rechtsanwalt M.s eingereichte Gutachten der obigen Ärzte hin.

Epikrise. Wir haben vor uns also einen geradezu klassischen Fall von Transvestitismus, der 18. (mit den 17 von Hirschfeld), der ausführlich untersucht werden konnte und nun in der Literatur niedergelegt ist. Die Zahl ist, wie man sieht, noch eine geringe, und noch weiteres Material ist daher anzusammeln, bevor wir über das sonderbare Spiel der Natur ins klare kommen. Die groben Umrisse können wir aber doch bereits erkennen und sind sie schon oben von mir dargelegt worden. Wie in allen solchen echten Fällen, zeigt sich die Neigung des Mannes, in Frauentracht einherzugehen, schon sehr früh und zwar unwiderstehlich, was allein schon für das Eingeborene dieser merkwürdigen Perversion spricht. Der M. ist ein schwer belasteter Mensch, der viele Krankheiten durchmachen mußte, namentlich eine böse Gehirnhautentzündung, sich spät und schwach entwickelte, in seinem körperlichen Verhalten mehr weibliche Züge an sich trug, schwach entwickelte Geschlechtsteile aufwies und eine so schwache Libido besaß, daß er noch nie koitierte. Er ist aber Heterosexueller. Da er nie irgend einen Trieb zum geschlechtlichen Verkehr zeigte, gehört er zu unserer gewiß seltenen Gruppe von Asexuellen, einem Ausdruck, den auch das Gutachten einmal gebraucht. Das Zurückbleiben des Körpers – der Geist scheint völlig normal gewesen zu sein – ist offenbar durch seine Belastung, namentlich Trunksucht des Vaters, und seine Krankheiten bedingt. Es ist aber mehr als fraglich, ob dies auch der Grund des abnormen Fühlens war. Offenbar ist Letzteres nur ein Akzidens, und wir müssen uns hüten, den M. allein schon deshalb für entartet zu halten. Der Trieb war bei ihm so mächtig – man wäre fast versucht, hier von einem Zwangstrieb zu reden – daß der häufige Versuch, der Verkleidungssucht nicht nachzugeben, ihn tief deprimierte. Also lag hier eine wahre Abstinenzerscheinung vor, wie bisweilen bei der gewöhnlichen sexuellen Abstinenz. Es ist durchaus möglich, daß sie hier zum Selbstmord führen könnte. Die Gutachter sprechen konstant vom »Patienten« M., was ich nicht recht verstehe, da M. z. Z. sicher, bis vielleicht auf eine gewisse Nervosität, die sich aus seiner Belastung, seiner Gehirnhautentzündung usw. und seinem Lebensroman genugsam erklärt, nicht krank war. Sein abnormes Fühlen wird sich nicht irgendwie behandeln oder einschränken lassen. Natürlich kann auch jeder Transvestit, wie jeder Hetero- oder Homosexuelle usw. krank sein, entartet usw. braucht er aber nicht zu sein.

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Nachträge bei der Korrektur.

Die Geschichte lehrt uns (siehe bei Hirschfeld, Bloch, Moll usw.), daß es stets viele Transvestiten gegeben hat, doch ist leider über ihre Vita sexualis nichts oder nur wenig bekannt geworden. Die meisten dürften Heterosexuelle gewesen sein. Ein sehr prägnantes Beispiel war die virile Schwester Kleists, Ulrike, die sehr viel in Männerkleidern einherging; sie war aber wohl heterosexuell, was bei der Rosa Bonhuer mehr als zweifelhaft ist. Ob ähnliches aus dem Altertum vorliegt, weiß ich nicht – außer bei den Amazonen –, doch fiel es damals sicher nur wenig auf, da der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Kleidung kein großer war. Sehr merkwürdig waren gewisse Hochzeitssitten der Dorer (Sparta), wo noch Anklänge an den Brautraub bestanden. Nach der Einholung erhielt die Braut im Hause einer älteren Verwandten Manneskleider und in Argos sogar einen falschen Bart. Ein ähnlicher Trachtenwechsel soll sich auch anderwärts finden und selbst bei der Entbindung; wahrscheinlich sollten durch die Verkleidung die feindlichen Dämonen getäuscht werden. – Sehr interessant sind die Bemerkungen über die Psyche bei Verkleidungstrieb, die Numa Praetorius über das Buch Hirschfelds im 3. Jahrgange der Vierteljahrsberichte des wissenschaftl.-humanitären Komitees (1912, p. 230ss.) macht. Mit Recht sagt er (p. 240), daß der Verkleidungstrieb kein Äquivalent der Abarten des Geschlechtstriebes darstelle, er sei also nicht auf gleiche Stufe mit den anderen sexuellen Anomalien zu stellen, also sei er keine eigentliche sexuelle Anomalie, da er keine geschlechtliche Befriedigung gewähre. Und das gilt sicher für die meisten Fälle. Der Kern des Triebs sei vielmehr »Umwandlung der geschlechtlichen Wollust in ein allgemeines Wohlgefühl; der Trieb ist Trieb nach Weibsein bzw. Mannsein, nach der Frauen- bzw. Mannesrolle, Trieb: aus dem Vorhandensein eines physischen geschlechtlichen Merkmals heraus dieses innere Fühlen zu verwirklichen.«

Zum Schlusse möchte ich noch einige Bemerkungen über weibliche Homosexuelle anfügen. Früher habe ich nur männliche zu sehen bekommen. Näcke. Ein Besuch bei den Homosexuellen Berlins. Archiv f. Kriminalanthrop. usw. Bd. 15, p. 244.  Bruno Meyer (dies Archiv, Bd. 40, 250 ff.) vertritt z. T. ganz falsche Ideen bez. der Homosexualität, die schon längst von ersten Kennern abgetan sind. Leider hängt ihnen auch Prof. Groß, z. T. wenigstens, noch an. Es ist auch viel schwerer, weibliche zu sehen. – Zurzeit (d. h. also Okt. 1911) existieren, wie mir Hirschfeld sagte, in Berlin genau 41 homosexuelle Lokale, die der Polizei wohl bekannt sind, aber nicht geschlossen werden, um darüber immer eine gewisse Kontrolle zu haben. Dagegen ist es nach den Eulenburg- Prozessen verboten, homosexuelle Bälle abzuhalten. Die Lokale werden gewöhnlich von den Urningen nur Dienstag, Sonnabend und Sonntag besucht, besonders sind die zwei letzten Tage beliebt. Meist werden sie um 11 Uhr geschlossen und nur die ganz feinen, die sich dann als »geschlossene Gesellschaft« bezeichnen müssen, haben die Berechtigung, das Lokal länger offen zu halten. Lokale für Urninden gibt es natürlich viel weniger, als für Urninge. Cafés werden vorgezogen. Früher traf man die Urninden Berlins nur in Cafés und zwar Nachmittags an; nie in Kneipen.

Ich hatte nun Gelegenheit, zwei Typen von solchen Lokalen kennen zu lernen, ein gewöhnliches und ein feines. Das Erstere ward zuerst besucht. Im Hintergrunde eines schmalen, langgestreckten Zimmers saßen ca. ½ Dutzend Mädchen und Frauen, die äußerlich durch nichts von andern sich unterschieden, auch nicht in Frisur und Kleidung. Alle tranken Bier und rauchten Zigaretten. Sie verhielten sich still und benahmen sich durchaus anständig. Dagegen schien einigermaßen der Umstand zu sprechen, daß sie die Zotenlieder der als Mann (siehe oben) verkleideten Wirtin ruhig über sich ergehen ließen, doch mochten sie dies schon oft gehört haben und mußten es ruhig hinnehmen. Sie sahen nicht so aus, als ob sie solche Lieder gern hörten. Selbst die Wirtin benahm sich im Gespräche bescheiden, während die Kellnerin (auch eine Transvestitin) ein ziemlich freches Aussehen hatte.

Von der Wirtin habe ich schon erzählt. Es saßen da aber noch zwei junge Mädchen, die jedoch nicht zusammengehörten, wie sie sagten. Die eine war eine Australierin; sie wollte gar nicht glauben, daß dort und in England die Homosexualität sicher mindestens so häufig sei als in Deutschland, nur noch viel versteckter, da alles Sexuelle zu berühren dort überhaupt streng verpönt ist und eine krasse Prüderie herrscht, welcher ungeachtet alle Perversitäten sicher noch mehr grassieren als auf dem Festlande und dazu in brutaleren Formen. Ein anderes junges Mädchen machte einen etwas unruhigen Eindruck. Es lief öfter zum Klavier, wo die Kellnerin die Wirtin beim Gesang begleitete. Wie die Wirtin sagte, verfolgt sie jene auf Schritt und Tritt und möchte sie gern für sich haben, wogegen die andere sich vorläufig aber sträubt, zumal sie ein Verhältnis mit einer anderen seit vier Jahren hat. Die Wirtin glaubte aber doch, daß schließlich die Liebesbedürftige ihr Ziel erreichen werde. Weiter saßen da zwei würdige Matronen, die ältere in goldener Brille, in den 50ern, die andere kleiner, etwas jünger erscheinend. Sie leben seit 25 Jahren zusammen, sind also »verheiratet«, und die ältere, größere spielt die Rolle des Mannes. Im allgemeinen findet man wahrscheinlich solche länger dauernde Verhältnisse bei Frauen häufiger als bei Männern, was damit zusammenhängt, daß die Frau treuer ist und weniger polygam veranlagt als der Mann.

Nun ging es in das feine Lokal, an einer Hauptverkehrsstraße. Das breite Außenfenster war tageshell erleuchtet und an der Tür hing ein Schild: »Geschlossene Gesellschaft«. In einem Vorraum war die Kleiderablage. Man trat sodann in einen festlich erleuchteten, höchst eleganten und ganz in Weiß gehaltenen, langen, schmalen Saal, dessen hintere Hälfte erhöht war. Vorn war ein langes Büffet. Eine Reihe runder Tische mit Stühlen waren da, Männer und Frauen – beide Teile homosexuell, denn andere dürfen das Lokal nicht betreten! – saßen gruppenweis zusammen. Es ward hier sogar Champagner getrunken. Es war schon nach 11 Uhr, die Hauptmasse sollte aber erst nach 12 Uhr kommen. Auch hier ging alles ruhig und anständig zu. Gesungen ward nicht, nur von Damen einigemale getanzt und zwar der in Berlin z. Z. so beliebte »Schiebertanz«, der wahrscheinlich aber bald polizeilich verboten werden dürfte, da er nicht nur unschön, sondern auch entschieden obszön ist.

Die Wirtin, eine schöne, elegante Erscheinung in prachtvoller Toilette und großem Plüschhut, noch jung, hält mit ihrer reichen Freundin, mit der sie seit 10 Jahren »verheiratet« ist, das Restaurant Ihr Vorgänger als Wirt war ein Urning gewesen, der bald entdeckte, daß seine Frau eine Urninde war, und er ließ sich scheiden. Die Frau hatte Freundinnen und den früheren Kellner, einen Italiener, beibehalten, der noch jetzt in dem Lokale fungiert. Auf die Frage, ob er homosexuell sei, antwortete er »nein, doch kann ich es noch werden«. Das ist natürlich ausgeschlossen, wenn nicht etwa eine »tardive« Homosexualität (siehe Näcke: Über tardive Homosexualität, Sexual-Probleme, Sept. 1911) sich noch zeigt, was sehr selten ist. Durch Verführung, Beispiel usw. wird niemand ein Urning. und verdient durch Nebengeschäfte viel Geld. Sie stammt aus guter Familie, ist sehr gebildet und fühlte sich seit den frühesten Jahren homosexuell. Dasselbe sagte mir auch eine hübsche, 32jährige Zahnärztin. Sie war schon zweimal verlobt gewesen, im letzten Augenblicke aber dem Bräutigam entlaufen. Männer geliebt hatte sie nie, nur Frauen. Auch sie hatte ihr konstantes Verhältnis. Mit 17 Jahren bekam sie zuerst die Regel und seitdem hat sie diese nur einmal im Jahre. Wie die Ärzte festgestellt haben sollen, wäre der eine Eierstock atrophisch. Sie ist eine sehr beschäftigte Zahnärztin und machte ebensowenig wie die anderen einen entarteten Eindruck. Sie glaubt, daß auch in ihrer Verwandtschaft Homosexualität vorkomme. Mit den übrigen Anwesenden habe ich nicht gesprochen.

Man sieht jedenfalls, daß es sich hier bei den Urninden um eine ganz eigene Welt handelt. Aber auch unter ihnen – wir wissen nicht, ob sie an Zahl gleich oder geringer sind als die Männer – gibt es alle Grade der Libido, der Intelligenz, der Zurechnungsfähigkeit und der Herzensgüte. Man darf sie also, ebensowenig wie die Urninge, alle über einen Kamm scheren wollen. Auch hier gibt es viele Pseudohomosexuelle, namentlich unter den Dirnen, bei denen bekanntlich die Tribadie sehr häufig vorkommt. Doch handelt es sich hier gewöhnlich nur um rein onanistische, pseudohomosexuelle Handlungen, nicht um echtes homosexuelles Fühlen. Echte Urninden wird es hier kaum mehr geben, als sonst. Daß sie zu homosexuellen Handlungen neigen, versteht man, wenn man sieht, daß sie sehr bald den natürlichen Verkehr mit den Männern zum Überdruß bekommen und ihr Liebesbedürfnis entweder bei einem Zuhälter befriedigen oder aber mit anderen Bordellmädchen onanieren, also zu Pseudo-Tribaden werden. Man glaubt, daß die weibliche Homosexualität, wie auch die männliche, in den oberen Gesellschaftsschichten häufiger zu finden ist als in den unteren, doch bestreiten das Hirschfeld und Andere. Ich sprach darüber einmal mit einem praktischen Landarzt, der eine sehr große Praxis hatte und einen weiten Blick besaß. Er konnte sich nur eine einzigen Falles besinnen, daß ein Mann homosexuell war, nie eine Frau. Das gibt doch zu denken! Eine sehr talentierte Schriftstellerin, eine Homosexuelle, die gerade der Homosexualität auf dem Lande nachgegangen war, behauptete mir gegenüber, daß sie früher ganz bestimmt dort ebensoviel Urninden angetroffen habe, wie in der Stadt.

II.
Die Grenzen der sexuellen Aufklärung.

Es ist merkwürdig, wie seit einigen Jahren das Interesse für Geschlechtsvorgänge im Publikum um sich gegriffen hat. Das hängt sicher nicht bloß mit den gewaltigen wissenschaftlichen Forschungen auf diesem Gebiete zusammen, sondern nicht zum wenigsten mit der regen Propaganda, die viele populäre Schriftsteller dafür machen, unterstützt gewiß noch teilweis durch Verleger, die dadurch neue Gewinne einzuheimsen hoffen und das, wie die Tatsache ergibt, mit Recht.

Es fragt sich nun, wieviel an diesen Bestrebungen berechtigt ist, wieviel nicht. Trotzdem durch das Christentum das Sinnliche im Menschen immer mehr geknebelt ward, der Katholizismus hier weiter mithalf und das Zölibat als das Höchste hingestellt wurde, hatte sich das Volk im ganzen doch wenig darum gekümmert, wie die muntere Vermehrung der Volkszahl deutlich bewies. Aber auch in den gebildeten Schichten bereitete sich allmählich eine Auflehnung gegen das Verachten des Sexuellen vor, bis durch neuere Forschungen die Reaktion immer lebhafter wurde. Man erkannte immer mehr die volle Berechtigung auch des Sexuellen, als etwas uns von Gott Eingepflanzten an und suchte dasselbe mündlich und schriftlich darzulegen. Immer mehr sah man ein, wie tief dasselbe in unser ganzes Leben, unsere ganze Kultur eingreift, wie Kunst, Literatur, Wissenschaft, Religion davon mächtige Einflüsse und Einschläge erhalten, ja, wie auch sogar unser eigenes Ich, unser Charakter davon durchtränkt ist und eine tiefe Wurzel von dorther bezieht. So ward das Verächtliche, ja Ekelhafte, was die mißverstehende Religion und Dogmatik über alles Sexuelle ausbreitete, immer mehr weggezogen und einer objektiveren Würdigung die Bahn gebrochen. Namentlich haben hierzu die Sexologen viel beigetragen, indem sie das Ubiquitäre der sexuellen Regungen und Abirrungen aufwiesen. Freud zeigte sehr plausibel, wie ein Teil des Sexuellen – den er sicher weit überschätzt – sublimiert wird, d. h. zu geistigem Schaffen irgend einer Art oder zu gewissen Eigenschaften umgewandelt wird. Freilich läßt sich dies in concreto nie strikte beweisen!

Besonders sind es 3 Themen, die in neuerer Zeit wissenschaftlich und populär ein besonderes allgemeineres Interesse verdienen: die sexuelle Aufklärung der Jugend, die sexuelle Abstinenz und die Lehre von den sexuellen Perversionen und Perversitäten. Dies erklärt sich nicht nur daraus, daß für das große Publikum diese Dinge mehr oder weniger neu sind, sondern auch daraus, daß der Laie sogar instinktiv fühlt, was für große praktische Folgen eine richtige Aufklärung in diesen Dingen haben müsse.

Am ersten tauchte die Frage der sexuellen Aufklärung der Jugend auf und sie bewegte sich seit Jahrzehnten besonders in der Richtung, die Jugend vor den Gefahren der Onanie zu warnen, welche freilich ungebührlich aufgebauscht wurden. Unzählig waren die hierher gehörigen populären Schriften seit ihrem Urahnen, dem berüchtigten Buche Retaus über »Selbstbewahrung«. Trotzdem wird man wohl nicht behaupten wollen, daß die Selbstbefleckung abgenommen hätte. Viele Gemüter wurden aber durch die gemalten Schreckbilder ängstlich, suggerierten sich allerlei Nervenleiden und wurden gewiß oft genug der Nervosität und bei bestehender Anlage wohl auch einmal der Psychose zugeführt, wobei in letzterem Falle aber nicht die Onanie als Ursache zu gelten hat – wir kennen jetzt kein onanistisches Irresein! – sondern die durch jene ungeschickten Bücher angeregte Angst, Sorgen und so fort. Erst später trat noch eine ganz andere Gefahr als die der Onanie auf, vor der man die Jugend bewahren wollte: die Geschlechtskrankheiten. Man erkannte mehr und mehr die furchtbaren Folgen derselben an. Die Gynäkologen wiesen dem Tripper einen hohen Prozentsatz bei Entstehung der Frauenkrankheiten und der Sterilität an, die Nervenärzte erkannten namentlich die Syphylis als direkte oder indirekte Ursache verschiedener Nervenleiden, und durch die Irrenärzte ward ihr Zusammenhang mit der Paralyse festgestellt sowie als wahrscheinliche Ursache bei 10 Proz. und noch mehr der Idioten und Imbezillen. Dieser neuen Tatsachen nahm sich natürlich die populäre Literatur an, übertrieb die Schäden, erzeugte so manche Syphylophoben und verängstigte viele Gemüter unnötigerweise.

An eine geordnete Belehrung der Jugend dachte man aber erst in neuester Zeit, und die verschiedensten Vorschläge traten hierfür auf, sogar an praktischen Versuchen, wenigstens die Abiturienten höherer Schulen zu belehren, hat es nicht gefehlt. Noch aber ist keine Einigung darüber erzielt, wann diese Aufklärung zuerst erfolgen soll, durch wen und auf welche Weise. Man glaubt aber doch im allgemeinen, daß eine solche eintreten soll, sobald passende Gelegenheit sich dazu darbietet, d. h. wenn die Kinder anfangen nach dem warum? zu fragen. Zu Hause dürfte es am besten geschehen durch die Eltern und zwar in passender, dem kindlichen Verständnis adäquater Weise. In der Schule kann der naturwissenschaftliche Unterricht, besonders die Befruchtungsvorgänge bei den Pflanzen, als geeigneter Ausgangspunkt dafür gelten. Jedenfalls ist es besser, die Belehrung geschieht in zarter Weise seitens der Eltern und Lehrer, statt in der rohen Art durch die Mitschüler, was der gewöhnliche Weg des Wissens ist. Schon früh muß der Vater, noch mehr aber der Lehrer zunächst auf die Gefahren der Onanie hinweisen, ohne aber zu übertreiben oder einen ertappten kleinen Sünder als einen schweren Verbrecher zu brandmarken. Die abgehenden Schüler in den größeren Städten sind schon in den mittleren Klassen der höheren Schulen auf die Gefahren des geschlechtlichen außerehelichen Verkehrs hinzuweisen. Es ist lächerlich hier erst bis zum Abgange der Primaner warten zu wollen, wenn schon die meisten Tertianer in sexualibus theoretisch zu Hause sind, manche sogar in praxi, noch mehr aber gilt dies von den Primanern und Sekundanern Auf dem Gymnasium der Großstadt, das ich besuchte, waren schon in Sekunda Jungen mit Tripper, und dabei war unsere Klasse durchaus eine gute und solide!. Man warte also nicht erst, bis die Geschlechtskrankheiten bereits Verheerungen angerichtet haben! Bei den Mädchen muß die Mutter beim Herannahen der Pubertät den Eintritt der Menstruation mit ihren Folgen ihrer Tochter voraussagen, sie vor Onanie warnen und auch vor intimem Verkehr mit dem anderen Geschlecht wegen einer möglichen Schwangerschaft oder Ansteckung. Sie kann das viel besser und natürlicher tun als die Lehrerin, und das Gleiche gilt vom Vater beim Sohne, wenn – beide nicht nur die nötige Bildung haben, sondern vor allem das erforderliche Zartgefühl und Lehrtalent besitzen, woran es leider so oft hapert. Der Mutter muß auch obliegen, ihre Tochter vor der Hochzeit in die Geheimnisse der Ehe einzuführen, wenn es nicht schon vorher geschah. Mit 18 oder 20 Jahren könnte man recht gut auch den jungen Leuten eins von den vielen guten Aufklärungsschriften über sexuelle Dinge in die Hand geben.

Mit diesen wenigen Andeutungen will ich mich hier begnügen, da die Sache, wie schon gesagt, noch nicht ganz spruchreif ist, und ich hier vor allem von einer anderen sexuellen Aufklärung reden möchte. Die eben geschilderte betraf die normalen physiologischen Vorgänge. Dazu gehört auch, bis zu einem gewissen Grade, die so wichtige Anleitung zur sexuellen Abstinenz bis zur Verheiratung, namentlich wegen der drohenden Ansteckungsgefahren und ihrer furchtbaren Folgen. Ich habe auch dies Kapitel wiederholt behandelt Zuletzt in der Deutschen Medizin. Wochenschrift 1911, Nr. 43., will aber hier gar nicht darauf eingehen, zumal die Meinungen darüber gleichfalls noch sehr hin und herschwanken.

Ich habe hier vielmehr eine weitere Aufklärung im Sinne und zwar die bezüglich der sexuellen Perversionen und Perversitäten, die gewöhnlich bei der sexuellen Belehrung der Jugend nicht berührt wird, was in diesem Alter meist auch wenig nötig erscheint. Was mich speziell veranlaßt, hier darüber zu schreiben, ist folgender Brief, den ich mit dem Poststempel Nürnberg vom 19. November 1911 von einem Anonymus erhielt. Er lautet folgendermaßen:

Hochverehrter Herr Professor!

Verzeihen Sie, hochverehrter Herr Professor, daß ich mir erlaube, Sie auf ein Thema aufmerksam zu machen, das aktuell und wichtig genug wäre, von hochgeschätzter Seite besprochen zu werden. Es sind das die Gefahren der Aufklärung auf homosexuellem Gebiete.

Von einem Regierungsvertreter wurde einmal dem Vertreter der Gegner des berüchtigten § geraten: »Klären Sie das Volk auf, daß es die Beseitigung dieses § versteht.« In diesem Sinne wurde in bester Absicht nun gearbeitet. Der Erfolg?

In einem Städtchen meiner Heimat lebt seit acht Jahren ein Oberst in Pension, ein Edelmann in jeder Beziehung, hochgeachtet und beliebt. Er lebt fast einsam, nur der Jagd, zwei Schwestern versehen den Haushalt ... Ich war entsetzt, als ich gelegentlich kurzen Aufenthaltes dort aus hämischem Philistermund auf der Bierbank hören mußte: ... Unser Oberst? Ist mir kein Rätsel mehr. Denkt nur an Eulenburg, Moltke x. x. Wie lang ist's her, hat sich Hauptmann Sommer in Ingolstadt, dann Hofkavalier Baron Beckedorf beim Fürsten Taxis erschossen? Und der Oberst? Noch so jung und schon a. D. Wer weiß? Der hat auch noch kein Frauenzimmer angeschaut!« ...

Das nur ein Beispiel von vielen gewiß ähnlich gelagerten Fällen. Vielleicht könnten Sie, hochverehrter Herr Professor, Worte finden, dahin, daß diese Seelenrätsel zur Debatte kommen in wissenschaftlich gebildeten interessierten Kreisen, nicht aber weiter in Vorträgen, Massenbroschüren usw. vor der unverständigen Masse zur Enträtselung aufgerollt werden, wodurch sehr häufig nur Stoff zu Verleumdungen und Verdächtigungen geschaffen wird.

In aufrichtiger Verehrung!

Ich kann dem Briefschreiber nur Recht geben. Schon lange, bereits im Altertum, kannte man allerlei Perversionen und Perversitäten sexueller Art Unter Perversionen verstehe ich die sexuellen Abirrungen resp. Variationen auf angeborener Basis, wo also das Endogene alles oder das meiste ist; unter Perversitäten dagegen die erworbenen gleichen Abirrungen, wobei Verführung, Nachahmung, Reizhunger usw. die Hauptrolle oder den einzigen Grund abgeben.. Aber sie wurden mehr als verabscheuungswerte Kuriositäten betrachtet, die nur selten vorkommen und kaum wirkliches Interesse beanspruchen. Da war es v.  Krafft-Ebing, der zuerst in seiner Psychopathia sexualis diese disjecta membra zusammenlas, sie lichtvoll in Rubriken einteilte, ihre relative Häufigkeit nachwies und schon das Bestehen eines endogenen Faktors für viele wenigstens annahm. Auf seinen Schultern erstanden dann viele Sexologen, die noch tiefer eindrangen, Detailfragen zu lösen suchten oder neue Probleme aufstellten, vor allem aber immer mehr das Endogene betonten, namentlich in der echten Homosexualität, sodann aber auch die Keime all dieser sexuellen Abirrungen bereits im Normalen nachwiesen, sie also meist als Hypertrophien allgemein angeborener Anlagen bezeichnen konnten. So ward der Exhibitionismus, Fetischismus, Sadismus, Masochismus studiert, am meisten jedoch die Homosexualität, da diese offenbar am verbreitetsten erschien, die schwersten sozialen Folgen nach sich zog und schon früh die Gesetzgeber gegen sich aufbrachte. Den von jeher bestehenden Kapiteln: Unzucht, Sachbeschädigung, Diebstahl usw. wurden nun eigene Urnings-Paragraphen hinzugefügt, die noch jetzt leider in den meisten Ländern bestehen, so z. B. bei uns. Ich habe aber hier nicht näher darauf einzugehen, besonders da ich speziell in diesem Archive und anderen Orten oft genug die Homosexualität eingehend untersucht habe.

Ich sagte schon, daß alle diese Abnormitäten im großen Publikum nur wenig Interesse erweckten und sogar meist unbekannt waren. Da kam die eindringliche und vielfältige Forscherarbeit, die nicht nur das Psychologische zu erforschen hatte – denn die Sexualpsyche gehört zur allgemeinen Psyche und ist durch viele Fäden mit ihr verbunden –, sondern auch die Richter in foro zu beleuchten suchte, da leider die Sexualverbrechen aller Art sich immer mehr häuften. Die Presse sorgte nun zunächst dafür, daß die Details aus den Gerichtssälen in das große Publikum getragen wurden, bis in das kleinste Provinzblättchen hinein. Noch mehr taten es jedoch berufene, vor allem aber unberufene Skribenten, die den Markt mit populären Darstellungen über das sexuelle Gebiet überschwemmten, und die Verleger sorgten weiter für anziehende, verlockende bunte Umschläge, die mehr auf den Lüsternen als den Lernbegierigen berechnet waren. Was Wunder, daß diese kleinen, billigen Hefte rasend abgingen und nun heute jeder Besenbinder über Sadismus oder Urningtum sein Parere abgeben zu können glaubt. Man muß nur selbst gesehen haben, wie z. B. in Berlin zur Zeit der Eulenburgprozesse auf den Straßen die Extrablätter oder Broschüren, welche diese behandelten, abgingen. So ward zunächst das Großstadtproletariat, aber auch mehr oder weniger die Provinz mit unverstandenem Zeuge gefüttert und geradezu vergiftet. Endlich wurden auch wissenschaftliche, noch mehr aber populäre Vorträge über diese Materie gehalten.

Bei dieser bedauerlichen Sachlage ist es nun höchste Zeit die warnende Stimme zu erheben, will man nicht dereinst die Rolle des Predigers in der Wüste spielen. Die große, auf das spezielle Gebiet der sexuellen Perversionen und Perversitäten gerichtete Forscherarbeit war absolut nötig, und sie stellt nur den Anfang weiterer Untersuchungen dar. Habe doch ich mit anderen sogar die Notwendigkeit der Errichtung eines eigenen Lehrstuhles für Sexologie an Universitäten, mit obligatem Unterricht und Bestimmung der Sexologie als Examenfach, mehr als einmal warm befürwortet. Besonders der praktische Arzt wird, wenn er näher zusieht, sehr bald einsehen, was für eine große und oft unheilvolle Rolle die abgeirrte, überstarke oder frühzeitige Sexualität spielt. Bis jetzt stand er diesen Dingen ziemlich ratlos gegenüber, weil er so gut wie nichts davon wußte. Das muß anders werden! Aber auch der Jurist soll schon auf der Universität sich um diese Dinge kümmern, um sie bei Sexualverbrechen richtig zu beurteilen, was er bisher nicht tun konnte. Er muß sich hierbei von persönlichen Zu- oder Abneigungen, dogmatischen Sätzen usw. nicht beirren lassen, sondern soll diese Dinge biologisch kennen und begreifen lernen. Dann erst wird er gerecht urteilen und auch hier das »Menschliche, Allzumenschliche« begreifen. Aber endlich muß jeder Gebildete von diesen sexuellen Abirrungen das Nötigste wissen, weil ihm dann erst vieles aus Kunst, Literatur und Wissenschaft klar wird und er dadurch auf die große Rolle des Sexuellen überhaupt in allen diesen Gebieten, vor allem aber in der Ethik, Psychologie, Pädagogik, hingewiesen wird. Dann auch wird er anders und gerechter speziell über die Homosexuellen denken. Der Lehrer insbesondere wird frühzeitig dadurch sein Auge für allerlei Anzeichen abnormen sexuellen Gebahrens schärfen und bei Zeiten hier eingreifen können. Noch mehr aber gebildete und belehrte Eltern.

Aber weiter als in gebildete Kreise soll man die Kenntnis dieser Dinge nicht bringen! Das große Volk, die Ungebildeten brauchen davon nichts Näheres zu wissen. Es würde ihnen, da sie davon doch nur wenig verstehen würden, wenig nützen, sogar nur schaden und bei ihnen die Autorität der Gebildeten noch mehr als jetzt schon untergraben. Die Lehrer in der Schule würden schon ein wachsames Auge auf die Volksschüler haben, sie auch später in der Fortbildungsschule durch passende Aufklärung vor etwaiger Verführung zu bewahren wissen. Das genügt völlig. Eine systematische Belehrung des Volkes in diesen Dingen halte ich, im Gegensatz zu der über physiologisch-sexuelle Vorgänge, für unnötig und sogar gefährlich. Wie gefährlich eine unangebrachte Belehrung ist, sehen wir jetzt an der immer wieder auftauchenden Propaganda für den Neu-Malthusianismus. Menschen, die durchaus nicht die Tragweite ihrer Worte zu berechnen imstande sind, bringen hier das thörichtste Zeug vor, wie kürzlich der Kongreß der Malthusianer in Dresden im Oktober 1911 bewies. Ich selbst war früher Anhänger dieser Richtung, da sicher die Qualität der Menschen besser ist als die Quantität, und bekanntlich bei großer Kinderzahl, ungenügenden Ernährungsverhältnissen, schlechter Erziehung usw. ein großer Teil durch Tod, Verbrechen, Irrsinn usw. zugrunde geht. Das Schwierige liegt nur darin, zu entscheiden, wie viele Kinder gut gezogen werden können, und von wem, da es bei Talentierten und Genialen sogar erwünscht sein könnte, möglichst viele Nachkommen zu haben. Grund für die meisten, der Zeugung einen Hemmschuh anzulegen, wird stets die Bequemlichkeit sein, und wozu dies führt, das sehen wir an Frankreich, das nicht einmal genug Leute für sein Heer finden kann, noch weniger für die Kolonien und so zum Großstaat zweiten Ranges herabsinken wird. Ich halte daher jetzt den Malthusianismus für schädlich, und nur unter bestimmten Umständen sollte der Arzt ihn den Leuten anraten. Das Volk, das leider schon jetzt von selbst darauf kommt, darf damit nicht vertraut werden. Der Verstand ist noch nicht reif genug, um gewisse Tatsachen richtig begreifen und würdigen zu können, das soll ihren Leitern überlassen werden. Auch der Arzt kann hier gelegentlich mit einspringen, und so dürfte das Wohl des kleinen Mannes gut bewahrt werden und Fehlen aus Unkenntnis des Gesetzes schwerlich vorkommen. Vor allem aber sollte die Presse in ihren Berichten über solche sexuelle Vorgänge zurückhaltender sein, gewisse Prozesse dürften nicht öffentlich verhandelt, die populären Darstellungen seltener und vor allem die Schauergeschichten und Hintertreppenromane, die sich mit sexuellen Aberrationen befassen, unterdrückt werden. Wenn die Wahrheit auch nur eine unteilbare ist, so muß man sie, wie der Arzt die Medizin, in praxi doch dosieren, d. h. nicht jedem in voller Stärke verabreichen. Die volle Helligkeit verträgt eben nicht jedes Auge.

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III.
Über Privatrache (Volksjustiz) beim Ehebruch, speziell die ραφανίδωσις.

Eine ethnographisch-psychologische Studie.

Jedes Verbrechen wurde bekanntlich zunächst vom Einzelnen, Geschädigten persönlich gerächt, bis mit festerer Fügung des Staates die Staatsgewalt selbst die Strafe in die Hand nahm. Trotzdem wurde noch lange in einzelnen Fällen die Privatrache gestattet und auch heute noch werden oft genug auf diese Weise kleine Verbrechen oder Vergehen gesühnt, wenn auch contra legem. Es ist dies ja auch begreiflich. Unmöglich kann man wegen jeder Kleinigkeit den Staat um Hilfe anrufen, und so wird die Privatrache gewissermaßen stillschweigend geduldet. Es besteht demnach neben der Staatsjustiz im Verborgenen mehr oder weniger noch eine Volksjustiz. Besonders die Prügelstrafe spielt hier eine große Rolle und vereinfacht sehr den Geschäftsgang. Schärfere Strafen, namentlich aber Tötung, sollen natürlich stets der Privatrache entzogen sein und kommen in der Tat in zivilisierten Gegenden nur selten vor, außer bei dem leider noch immer blühenden Duell. Am schärfsten zu verurteilen ist aber die Lynchjustiz, also ausgeführt durch die erregte Volksmasse, die in blinder Leidenschaft weit über das Maß des Erlaubten hinausgeht und Recht und Unrecht nie genau prüft.

Vielleicht mit am längsten hat die Selbsthilfe bestanden – und besteht teilweis noch jetzt – beim Ehebruch. Das begreift sich leicht, da ja die Ehe eine fast so alte Institution ist wie das Eigentumsrecht. Das erste Motiv der Bestrafung lag sicher in der Verletzung des Eigentums, da ursprünglich die Frau nur als res, als Eigentum galt. So kommt es auch, daß bisweilen der Ehebrecher wie ein Dieb bestraft ward und wird, z. B. durch Abschneiden von Nase und Ohren. Mit der Veredelung der Ehe kam aber als zweites Motiv der Vertrauensbruch hinzu, wie Westermarck mit Recht anführt, indem die schuldige Treue seitens des Verführers verletzt wird, und so besonders ein Vergehen gegen den Ehemann der treulosen Frau zustande kommt. Als drittes Motiv sei die Eifersucht erwähnt, die vielleicht noch vor dem zweiten Motiv auftrat, und vor allem gern eine Affekthandlung auslöst, so namentlich die leicht entstehende Tötung, zumal wenn der Ehebrecher in flagranti ertappt wurde. Dies Moment spielt gewiß auch noch heute eine Hauptrolle, wobei sich zugleich mit höherer Kultur noch das Gefühl der erlittenen Schmach verbindet. Dies betrifft aber immer nur die persönliche Seite des Ehebruchs. Fast noch wichtiger erscheint die soziale Seite desselben, die freilich bei der Privatrache nicht oder nur leise mit anklingt. Der Ehebruch erzeugt nämlich ein Gefühl der Unsicherheit bez. der rechtlichen Kinder und deshalb mußte der Staat vor allem hier eingreifen, da ja eine intakte Familienführung einen Grundpfeiler der Familie und somit auch des Staates bildet.

Es mußte also allmählich der Ehebruch immer schärfer geahndet werden und zwar nicht nur durch das Gesetz, sondern auch in der Privatrache. Die Art und die Höhen der Strafen geben uns daher bis zu einem gewissen Grade einen Maßstab für die Hochhaltung der Ehe, indirekt auch des Weibes, obgleich hier fast immer und überall auch die Herren- und die doppelte Geschlechtsmoral galten, d. h. bei den Männern wurde die Tat meist milder beurteilt, als bei der Frau. Hatte doch das starke Geschlecht überall die Gesetze gemacht und sich natürlich in Vorteil gegenüber den armen Frauen zu setzen gesucht. Alles, was zuungunsten der Letzteren vorgebracht wurde und wird, so z. B. bez. des Ehebruchs die daraus resultierenden Unsicherheiten betreffs der Abstammung der leiblichen Nachkommen, sind in letzter Instanz doch nur Scheingründe! Also auch das, was Schopenhauer (die Welt als Wille und Vorstellung) vorbringt. Nach ihm ist die eheliche Treue des Mannes künstlich, der Ehebruch des Weibes der Folgen halber und auch »subjektiv, wegen der Naturwidrigkeiten viel unverzeihlicher, als der des Mannes«.

Da Hunger und Liebe die stärksten Triebe im Menschen darstellen, der erstere der Selbsterhaltung, der zweite der Fortpflanzung dient, so sind die daraus entstehenden Delikte: Diebstahl (zunächst von Nahrungsmitteln, dann im weiteren Sinne) und sexuelle Delikte (darunter Verführung und Ehebruch) sicher die häufigsten, und doch kommt nur ein verschwindend geringer Teil derselben zur Kognition der Behörden. Das allein spricht schon dafür, wie viel mehr Fälle davon noch jetzt durch die Privatrache gesühnt werden, als durch die staatlichen Maßnahmen; das meiste allerdings bleibt wohl überhaupt unentdeckt.

Im folgenden wollen wir nun kursorisch die gesetzliche und die eigenmächtige Behandlung des Ehebruchs bei verschiedenen Völkern beleuchten und daraus einige Lehren zu ziehen suchen. Wir fangen hierbei am besten wohl bei den Alten an, bei den Griechen und Römern.

1.

Professor Josef Kohler in Berlin schrieb mir am 1. Februar 1912: »Ich darf Ihnen vielleicht mitteilen, daß es allgemein griechisches Recht war, daß der Ehebrecher, wenn nicht getötet, doch schon mißhandelt und verstümmelt werden durfte, wie das schon aus dem gortynischen Gesetz hervorgeht, doch war ein Lösungsrecht gegeben und die Unbill trat erst ein, wenn der Täter nicht innerhalb einer bestimmten Zeit von seinen Verwandten ausgekauft wurde.«

Herrmann weiß in seinem Lehrbuche der Griech. Rechtsaltertümer (Freiburg und Tübingen 1884, 3. Aufl.) nichts hierher gehöriges zu berichten, wohl aber in seinem Lehrbuch der Griechischen Privataltertümer (Freiburg und Tübingen 1882, 3. Aufl.). Der Ehebruch ward bei den Griechen zunächst nur als Störung des Hausfriedens angesehen, die den Beleidigten zu unmittelbarer Rache ermächtigte. Auch die Entehrung einer Jungfrau war nur ein Eingriff in fremde Rechte, der durch nachfolgende Heirat völlig ausgeglichen ward. Der Kaufpreis konnte zurückverlangt werden, wenn die Frau im Ehebruche betroffen ward. Sonst bestand die Rache in Geldbuße (μοιχάγρια) oder in körperlicher Strafe (παρατιλμός, ῥαφανίδωσις).

Noch ausführlicher belehrt uns aber besonders Beauchet in seinem hochinteressanten Werke: Histoire du droit privé de la République Athénienne, Bd. I, Paris 1897, wo wir auch die Grundlagen der griechischen Ehe am besten kennen lernen. Der Ehemann durfte nicht mit Dirnen (courtisanes) oder Knaben verkehren, der Ehefrau stand sonst die δίκη κακώσεως, die Anklage auf κάκωσις (Schlechtigkeit, schlechte Führung) zu, doch meinen die Einen, daß dies nicht jeder beliebig verheirateten Frau zukäme, sondern nur der γυνὴ ἐπίκληρος (= Erbtochter) (p. 229). Beauchet glaubt dies auch, und zwar anknüpfend an Suidas und Demosthenes. Die ἐπίκληροι waren Frauen, die den Vater verloren, keine Brüder mehr hatten und unter spezieller Vormundschaft eines Archonten standen (p. 230). Der einfache Ehebruch war für den Mann nach dem attischen Rechte ohne Folgen. Nur der Ehebruch der Frau wurde durch das Straf- und Zivilrecht bestraft. Der Ehebruch des Mannes war höchstens eine »faute morale«. Der Ehebruch der Frau bringt dagegen fremdes Blut in die Familie, Kinder, die unwürdig sind, den Familiengöttern heilige Opfer zu bringen, oder, wenn es doch geschieht, ist es ein sacrilegium. Schon das Gesetz Manus unterscheidet so. Ehebruch heißt im attischen Rechte μοιχεία, bezeichnet aber auch jeden illegitimen Verkehr mit einem Mädchen oder einer Wittwe. Auch wird φϑορά (Verderben) = μοιχεία gebraucht. Der Ehebrecher heißt μοιχός, die Ehebrecherin μοιχευομένη (pag. 233). Die Frau und ihr Verführer werden ziemlich streng bestraft. Ehebruch kann die Ehe lösen, die Frau wird verstoßen (234). Nach einem Gesetze Drakons konnte der Ehebrecher, in flagranti ertappt bei einer Verheirateten oder einer Konkubine, straflos durch den Ehemann oder die Konkubine getötet werden, doch nur eben in jenem Falle (p. 235). Wenn dagegen der Ehebruch im Bordell geschah oder mit einer Dirne, oder wenn eine Falle gestellt war, so wurde der Tod nicht gestattet, auch nicht, wenn beide Teile zum Heimatsaltare flohen. Man glaubt endlich, daß μοιχεία einem Fremden gegenüber nicht galt (236). Wo der Ehebrecher nicht getötet werden durfte, konnte man ihn aber zur Schmach mißhandeln, und zwar 1. durch παρατιλμός und 2. ῥαφανίδωσις. Die Alten, besonders die Komiker spielen oft darauf an. Man behauptet sogar, man hätte dem Ehebrecher die Augen ausstechen oder ihn mit dem Glüheisen brennen können, doch ist das nicht sicher (p. 237). Der geschädigte Ehemann kann aber auch ganz auf Rache verzichten und nur eine Geldbuße verlangen. Er konnte den Ehebrecher auch einsperren, bis zur Kautionsstellung. Der Letztere konnte die Sache eventuell anfechten (p. 238). Wurde der Ehebrecher nicht in flagranti ertappt, so konnte man gegen ihn eine γραφή μοιχείας anstrengen; in flagranti wurde wahrscheinlich der Tod ausgesprochen (p. 239). Ob die Frau selbst bestraft wurde, ist nicht sicher, doch mußte sie verstoßen werden, wurde ἄτιμος, durfte auch keine Schmucksachen tragen. Einzelne Gesetze entzogen ihr auch die Mitgift (p. 242). Der Ehemann war wahrscheinlich stets der κύριος der Frau, aber nicht ohne weiteres ihr Vormund; wo sie bevormundet ist (das bes. bei der ἐπίσκληρος, Näcke) so bleibt der Vormund der κύριος.

Nach Iwan Bloch Die sexuelle Frage im Altertum und ihre Bedeutung für die Gegenwart. »Die neue Generation«, 1912, ½ H. wurde die griechische Ehe als notwendiges Übel betrachtet. Ehen aus Liebe waren selten. Besser schon war die römische Ehe, da die römischen Matronen mehr geehrt waren. Eine merkwürdige Folge der strengen Auffassung des Ehebruchs und der Bestrafung der Ehebrecher bei Griechen und Römern war nach Bloch die Begünstigung der Prostitution, die schon seit Solon planmäßig betrieben ward, um die Ehen zu schützen. Es bestand also Freiheit des Verkehrs mit den Dirnen, die meist Sklavinnen waren, dazu erzogen und verkauft oder von ihren Besitzern so ausgenutzt. Sie waren, ebenso bei den Römern, eingeschrieben und sittenpolizeilich überwacht (von den Ädilen). Die solonischen Huren gehörten dem Staatsfiskus an und brachten ihm Einkünfte. Dieser außereheliche Verkehr ward also sogar empfohlen und begünstigt, und Bloch glaubt, daß im Altertume die Hurerei vielmehr florierte als heute, schon allein, weil es viel mehr Sklaven als Freie gab. Daß der Ehebruch in Griechenland an der Tagesordnung war, bezeugt unter anderen, wie Moll Moll: Handbuch der Sexualwissenschaften. Leipzig 1912, p. 580. richtig erwähnt, die griechische Mythologie – ein vorzüglicher Niederschlag der geltenden Ethik –, die von Ehebruch und Knabenliebe förmlich wimmelt. Nach Westermarck Westermarck. Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe, Leipzig, 1907. (p. 364) galt bei den Römern als Ehebruch nur der Verkehr mit einer fremden Ehefrau, nicht aber mit einem fremden Mädchen. Plutarch verurteilt (p. 365) den treulosen Gatten, auch Aristoteles verlangt, aber nur aus Klugheitsrücksichten, vom Mann Treue. Bemerkenswert ist, daß Plautus im »Mercator« meint, es sei ungerecht, daß der Gatte Treue fordert, ohne selber treu zu sein. Er ist also wohl der einzige antike Schriftsteller, der die doppelte Geschlechtsmoral verdammt! Das Christentum verurteilte dann beiderseits den Ehebruch, und das war ein großer Fortschritt. Nach den römischen Juristen ( Westermarck, p. 366) war der Ehebruch nur strafbar beim Weibe, weil die Gefahr der Unterschiebung eines Kindes vorlag und die Versuchung zur Untreue sowie die Leichtigkeit dazu beim Mann viel größer wäre. Hammurabi (im 2. Jahrt. vor Chr. König der 1. Dynastie Babyloniens) bestrafte in seinem Gesetzbuche den Ehebruch und sonstige die Ehe gefährdende Vergehen schwer, in der Regel mit Todesstrafe. Ulmer: Hammurabi, sein Land und seine Zeit. Der Alte Orient. 9. Jahrg. 1. H. 1907.

Wir sehen also daraus, daß im Altertum überall Garantien gegen den Ehebruch bestanden, wenn auch in verschiedener Ausgestaltung. Die Strafen waren meist schwer und vom Staate verhängt, doch gewiß nur bei Anklage, und diese scheint doch recht selten gewesen zu sein, da in der Literatur darüber nur spärliche Notizen vorhanden sind. Die griechischen Papyri aus der ptolemäisch-römisch-byzantischen Zeit enthalten darüber scheinbar auch nur Weniges San Niccolò: Strafrechtliches aus den griechischen Papyri. Dies Archiv, Bd. 46, p. 118 ff.. Es ward eben meist nicht an die große Glocke gehangen, geduldet oder Selbsthilfe geübt, wozu das Gesetz ja bei Ertappung in flagranti meist sogar die Erlaubnis gab.

Bez. der griechischen Ehe ist gewiß noch manches dunkel. Am besten kennt man noch die Bestimmungen bei den Athenern in der Blütezeit. Wie es vorher, nachher war, wie in den einzelnen Staaten, das weiß man wohl kaum. Jedenfalls gab es da Verschiedenheiten, namentlich, ob es sich um einfachen oder doppelten Ehebruch handelte, ob es nur Freie betraf, Sklavinnen, Metöken, Heloten usw. Doch kennen wir nicht die Unterschiede. Auch war es jedenfalls nicht gleich, ob die eine Partei reich, vornehm war, Protektion genoß oder nicht. Jedenfalls konnte nicht nur der ledige Mann sich sexuell ausleben, sondern auch der verheiratete – kaum das Mädchen – aber sie mußten die Ehen respektieren und sich vor dem Ertapptwerden hüten. Sonst schadete es ihnen nur selten, wohl aber der Frau, die scheinbar jedoch mit dem Leben stets davon kam, während der Mann eventuell getötet oder stark mißhandelt werden konnte. Wenn der Ehebruch (bei Ertappung) staatlich streng geahndet wurde, so geschah es weniger aus ethischen als aus rein privatrechtlich praktischen oder sakralen Gründen. Die Frau galt ja in der Hauptsache noch als res und als Sinnesobjekt. Der Begriff der reinen, lauteren Liebe zwischen den Geschlechtern entwickelte sich erst allmählich bei den Griechen Aus früher Zeit haben wir aber schon z. B. die Gestalten von Andromache und Penelope..

Wir erwähnten nun schon oben, daß eine mehrfach angezogene Strafe für den ertappten Ehebrecher die ῥαφανίδωσις, die »Verrettichung«, die Eintreibung eines Rettichs in den After, darstellte. Jeder klassisch Gebildete wird sich dieser abscheulichen Prozedur aus der Lektüre des Aristophanes erinnern. Herr Professor Dr.  Roscher in Dresden Brief vom 27. Januar 1912., der berühmte Philolog, hatte die Güte, mir die zwei hierher gehörigen Stellen nebst Übersetzung und Erklärung nach den Scholiasten herauszuschreiben. » Aristoph. Plut. 168: ὁ δ άλούς γε εοιχὸς διὰ δέ που παρατίλλεται = Ein anderer, der im Ehebruch ertappt ist, wird gerupft, d. h., dem werden die Haare an der Scham, den Achseln usw. ausgerissen. Der alte Scholiast bemerkt dazu: ὅταν ὁ μοιχὸς μὴ ἔχῃ ἀργύριον διὰ σέ, ὦ Πλοῦτε, παρατίλλεται. παρατίλλουσι γὰρ ἵνα λάβωσι χρυσὸν καὶ ἀπολυϑῶσιν ... τὰς τρίχας τοῦ πρωκτοῦ τίλλεται αὕτη γὰρ ὥριστο δίκη τοῖς μοιχοῖς πένησιν, αποραφανιδώσις καὶ παρατιλλμοί, οἱ γὰρ π λούσιοι χρήματα παρέχοντες ἀπελύοντο ... (ὁ μοιχός) διὰ τὸ μὴ ἔ χειν ἀργύριον τὰς ὑπογαστρίους παρατίλλεται τρίχας, καὶ τέφραν ξέουσαν περιπάσσεται. D. h. der vermögende Ehebrecher mußte sich mit Geld loskaufen, dem Unvermögenden wurden die Haare am πρωκτός ausgerissen und auch mit heißer Asche bestreut, auch erlitt er die ἀποραφανίδωσις. – Aristoph. Nub. 1083 (vorher war von einem Ehebruche die Rede, bei dem der Betreffende ertappt, und sich mit der Berufung auf Zeus' Ehebruch entschuldigt): τί δ, ἢν ῥαφανιδώϑῇ πιϑόμενός σοι τέφρᾳ τε τιλϑᾑ; ἔξει τίνα γνώμην λέγειν, τὸ μὴ εὐρύπρωκτος εἶναι d. h. wie aber, wenn dein Schüler gerettigt wird und ihm mit heißer Asche die Haare ausgerupft werden? Mit welchen Gründen will er dann beweisen, daß er keinεὐρύπρωκτος, d. h. einer sei, dessen Hinterer durch das Eintreiben eines Rettichs weit geworden ist? Der alte Scholiast sagt dazu: Οὓτω γὰρ τοὺς | ἁλόντας μοιχοὺς ᾔκιζοντο ῥαφανίδας λαμβάνοντες ἔβαλλον εἰς τοὺς πρωκτοὺς τούτων καὶ παρατὶλλοντες αυτοὺς ϑεσμὴν τέφραν ἔπέπασσον βασάνους ἱκανοὺς έργαζόμενοι. Hesych. (antikes Lexikon): ῥαφανιδωϑῆναι. τοὺς μοιχὺς ταῖς εκφανίσιν ἤλαυνον κατὰ τὴς ἕδρας ... Fast genau dieselben Worte gebraucht auch Suidas ( Näcke)..

In einem Nachtrage (vom 30. I. 1912) teilt mir Roscher noch mit: »Aus den Ihnen ... übersandten Zeugnissen geht deutlich hervor, daß der Staat den Ehebrecher nicht bestraft Dies galt aber nicht stets, wie wir früher sahen. Nur der in flagranti Ertappte ward der Privatrache überlassen ( Näcke)., sondern der Selbstrache des Beleidigten überließ, der ihn sogar ungestraft töten durfte (vgl. Xenoph. Hier. 3,3 und Plat. Gesetze p. 874). Auch schwere körperliche Züchtigung, wohin auch die ῥαφανίδωσις zu rechnen ist, war gestattet. Oft mochte sich der Ertappte durch die Geldbuße an den Beleidigten von einem schlimmen Schicksale loskaufen, und so wird eine solche in der Tat bei Lysias (de caede Erat. 25) angeboten und (in Neaer. 65) angenommen. (Becker, Charikles III 2 325). Vgl. auch die Ihnen übersandten Zeugnisse aus den Scholien zu Aristophanes ...«

Höchst interessant erscheinen mir aber besonders die Ausführungen von Professor Dr.  Petermann in Dresden (Brief vom 13. Februar 1912) zu unserem Gegenstande, Ausführungen, die der 75jährige Gelehrte bei seinem phänomenalen Gedächtnisse und Wissen – er ist das größte Gedächtnis-Genie, das ich bisher kennen lernte – aus dem Stegreife niederschrieb. Sie lauten folgendermaßen: »Natürlich war es kein Justizakt, die Raphanidosis, wie etwa das öffentliche Bespringen der Ehebrecherin durch einen Esel in Campanien, das bei Apulejus eine Rolle spielt und bei den Pornographen bis auf die Neuzeit nachklingt, sondern ein privater Racheakt nach dem jus talionis, welches zunächst zur Pädication des erwischten Ehebrechers führte, die aber mehr bei den Römern eine Rolle spielt, während die Griechen die symbolische Ausführung in Form der Raphanidosis bevorzugen. So wird von Martial ein leichtsinniger junger Mensch gewarnt, der mit der Frau eines Tribunus militaris ein ehebrecherisches Verhältnis unterhielt und im schlimmsten Falle, wenn erwischt, auf das »supplicium puerile« gefaßt war: »Castra vere!« Non licet hoc! – »Ist etwa erlaubt, was du tust?« Auch Horaz warnt vor dem Ehebruche mit seinen gefährlichen Folgen. Der Eine breche auf der Flucht den Hals. Hunc perminxeerunt calones (Die Stallknechte). Das permingere bedeutet wörtlich: »bepissen«, kann aber ebenso wie »meiere« auch in obszönem Sinne verstanden werden. Die Ausführung durch die Knechte erhöhte natürlich die Schande und ermöglichte eine ausgiebigere Ausführung. – (So wird bei Aretino eine Buhldirne durch die Aussicht auf ein lohnendes Abenteuer auf einen herrschaftlichen Landsitz gelockt, dort aber von der gesamten männlichen Dienerschaft mißbraucht, endlich aber auf den splittrigen Stumpf eines Feigenbaumes gesetzt und darauf hin- und hergezerrt, bis man sie mit ganz zerkratztem Hintern ihren Esel besteigen läßt.) Bei der Pädikation durch den betrogenen Ehemann hatte dieser zur Entschädigung doch noch selbst eine Lustempfindung. Bei der Ersetzung durch den Rettich erscheint der Geschlechtsakt lediglich als Qual für den Schuldigen, und das Vergnügen für den Geschädigten besteht bloß in dem Bewußtsein, seinem Gegner solche zuzufügen. Der Akt selbst zerfällt in zwei Abschnitte, den vorbereitenden (τέφρᾳ τε τιλϑῇ, er wurde mit Asche gerupft). Die Enthaarung des Gesäßes war das Kennzeichen erlittener Pädikation, die eigentlich auf Knaben gemünzt, bei Erwachsenen verlangte, daß sie solchen möglichst ähnlich gemacht waren, also namentlich durch sorgfältige Enthaarung (podice laeves), während der richtige Mann in seinen Bart und seinen schwarzbehaarten Hintern seinen Stolz setzte, weshalb auch Herakles als μελάμπυγος verehrt wird. Bei uns gilt bekanntlich im Volksmunde das Gleiche als Auszeichnung des Adels. Der dieser Manneszierde beraubte konnte sich natürlich längere Zeit nicht im Gymnasium sehen lassen. Das Einreiben mit Asche diente als Vorbereitung zum zweiten Teile, um das Eintreiben des Rettichs möglichst schwer und schmerzhaft zu machen. Sonst wird bekanntlich zur Erleichterung der Pädikation Fett oder Speichel angewendet. Den Rettich konnte man natürlich von viel größerem Durchmesser nehmen als das männliche Glied, und die Anwendung eines Phallus kommt auch sonst vor. So bei der Pferdekur (Petronius c. 138, I) Noch in meiner Jugend bekamen etwas schlappe Pferde von den Roßtäuschern Pfeffer in den Hintern geschüttet, damit sie durch wildes Aufbäumen überschüssige Kraft vortäuschten. ( Petermann.), die Oenothea zur Wiederherstellung seiner Manneskraft mit dem Encolp vornimmt. Hierbei kommt als inneres Reizmittel Pfeffer auf dem eingeölten Instrument zur Anwendung. Bei der Raphanidosis wirkte in gleicher Weise, aber nur zum Zwecke der Schmerzerregung, der ätzende Saft des Rettichs. Während früher ein »Gerettichter« moralisch ruiniert war, hatte dieses Vorkommnis bei Aristophanes gar nichts mehr zu bedeuten; ἦν εὐρύπρωκτος, so fragt der λόγος ἄδικος: τὶ πείσεται κακόν. Man konnte die höchsten Ehrenstellen einnehmen, auch wenn man dieses Vorkommnis in seiner Vergangenheit hatte. Ja, er weist im Theater mit dem Finger umher auf die große Mehrzahl der Zuschauer, überall εὐρύπρωκτοι, so daß der λόγος δίκαιος, der Vertreter des rechtschaffenen Prinzips, sich geschlagen gibt und im Publikum Zuflucht sucht Wie mir Prof.  Ilberg am 16. Mai 1912 schreibt, hat an dieser Stelle Aristophanes aber sicher nur die Päderasten im Sinne, nicht die Gerettichten.. Das paedicari als Strafe spielt bekanntlich auch beim Schutze der Obstgärten eine Rolle, deren Wächter in unzähligen Priapeis die diebische Jugend auf die Gefahr aufmerksam macht, die sie bei ihm in anbetracht der ungeheuren Größe seines Penis laufen (quot pondo tibi mentula est cacanda). Charakteristisch ist jedenfalls, daß, während sonst Jungen allüberall und zu allen Zeiten auf die Hinterbacken gezüchtigt werden, hier der After und Damm zur Züchtigung ausersehen werden. Die Krone der Verruchtheit in dieser Beziehung gebührt aber den Mördern des englischen Königs Eduard II (1327). Während dieser nach seiner Absetzung im Schlosse Berkley gefangen gehalten wurde, erscholl eines Nachts schreckliches Geschrei aus dem Schlafgemach des Königs. Als man in dieses eindrang, fand man ihn tot mit verzerrtem Gesicht aber ohne äußere Spur von Verletzung. Es hieß, er sei durch Einstoßen eines glühenden Eisens in den Mastdarm getötet worden. Während es sich hier um historische Vorkommnisse handelt, sind die Wütereien der Sadisten gegen den After, bzw. bei den Frauen die Vagina, meist Ausgeburten einer tollen Phantasie. Die Juliette des Marquis de Sade wimmelt davon. Tatsache ist dagegen eine ältere Missetat aus der Zeit des Regenten. Ein vornehmer Päderastenklub befriedigte erst seine Lust in der gewohnten perversen Weise an einer Prostituierten, band sie dann an Armen und Beinen auf ein Bett fest, schob ihr einen Raketenstab in die Vagina Wie mir Prof.  Petermann mündlich noch mitteilte, wurde aus dem Egerlande (die Picher aus Asch) im Mittelalter erzählt, daß eine Frau ihrer Nebenbuhlerin, einer Ehebrecherin, glühendes Metall in die Vulva goß. ( Näcke.) und zündete diesen an. Die Entrüstung, die diese Scheußlichkeit erweckte, war so groß, daß selbst der Regent seine Kameraden nicht vor einer strengen Ahndung schützen konnte.

In einem Nachtrage (14. Februar 1912) schreibt noch Prof.  Petermann folgendes: »Charakteristisch für die römische Auffassung der Paedicatio als Strafe oder Rachemittel ist folgendes Catull'sches Epigramm (Nr. 16):

Paedicabo ego vos et irrumabo. Aureli pathice et cinaede Furi, Qui me ex versiculis meis putatis, quod sint molliculi, parum pudicum;

Nam castum esse decet pium poetam ipsum; versiculos nihil necesse est.

Spaßhaft ist es freilich, daß er, um seine sittliche Reinheit zu erhärten, ihnen eine sittliche Schandtat in Aussicht stellt (die freilich nach römischer Auffassung nur für den leidenden Teil eine Schande war) und daß er sie mit einem Akte zu strafen droht, der für sie ein Ziel der Sehnsucht war! Daß in der Sprache unserer Knaben »Rettiche« mit A...prügel gleichbedeutend ist, möchte ich nicht mit der Raphanidosis in Verbindung setzen, selbst nicht durch Vermittelung eines gelehrten Philologen, während den Jungen nur das Resultat, nicht der Zusammenhang klar geworden wäre, sondern lediglich mit dem brennenden Schmerze, den die Züchtigung auf dem betroffenen Körperteile, der Rettich auf der Zunge, zurückläßt« Auch jetzt noch gilt wohl in der Schule der Ausdruck »Rettich« = Prügel oder Verweis, als etwas Scharfes, Beißendes. Bei Schmoller (bayrisches Wörterbuch, Stuttgart und Tübingen 1817 usw.) findet sich in Bd. II, p. 170 unter: Rätich (Rádi) angegeben, daß es hochdeutsch Rettich (raphanus) heiße. Im Oberbayrischen heiße: seine Rettiche kriegen = Verweis bekommen. Ratich hänge offenbar mit radix zusammen ( Näcke)..

Prof. Dr.  Ilberg, in Wurzen, der beste Kenner der griechischen Ärzte, schreibt mir am 7. Februar 1912 unter anderem folgendes: »... offenbar handelt es sich bei der ῥαφανίδωσις um ein rohes volkstümliches Verfahren, einen Akt der Selbsthilfe, von dem kein Gesetz weiß. Nach solonischem Gesetz war der Ehebrecher, in flagranti ertappt, völlig dem betrogenen Ehemann in die Hand gegeben; er konnte ihn an Leib und Leben bestrafen oder wie er sonst wollte. Da mag es denn auch, unter Assistenz von Sklaven, zum Lynchungsakt des ῥαφανιδοῦν gelegentlich gekommen sein. Wer nach Belegen sucht, wird gewiß bei Griechen und Römern manche finden. Mir schwebt ein Gedicht des Catull vor (15) mit der Drohung an einen lüsternen Rivalen am Schluß:

A tum te miserum malique fati!
Quem attractis pedibus patente porta
Percurrent raphanique mugilesque! mugiles waren eine uns unbekannte Art von Seefischen ( Näcke).

Auch der vorletzte Vers der zweiten Satire des Horaz ist von manchen auf jene Strafe bezogen worden Es heißt dort: »ne nummi pereant aut puga ant denique fama.«
puga = πυγή = Steiß könnte in der Tat die ῥαφανιδωσις bedeuten, allerdings auch bloß paedicatio ( Näcke).
Bei Juvenal (10, 317) finden sich gleichfalls die mugiles erwähnt:
»... verberibus quosdam moechos
et mugilis intrat«
und bei Horaz Sat.
II 7, 46 ss. liest man:
»te conjux aliena capit, meretricula Davum
peccat uter nostrum cruce dignius?
Also stand auch Kreuzigung als Strafe fest, die gewöhnliche Sklavenstrafe.. Eine Erwähnung z. B. auch bei Alkiphron 3, 62: ὁ μοιχὸς δὲ ἀπολεῖται ῥαφάνοις τὴν ἕδραν βεβυσμένος (auch hier übrigens der Plural!) Zeit: III. Jahrh. p. Chr., der Autor archaisiert aber. Bei den Ärzten wird die Sache m. W. nicht erwähnt, Verletzungen, Neubildungen, Geschwüre freilich an den betr. Stellen sehr oft. Die Ätiologie kann natürlich sehr verschieden sein ...«

Der Geograph und Ethnologe, Prof. O.  Stoll in Zürich, teilte mir unter anderem folgendes am 5. Februar 1912 mit: »... Das griechische ῥαφανιδοῦν »rettigen« war neben dem Ausreißen der Schamhaare (παρατιλμός) eine schimpfliche Strafe, die der Ehemann dem Ehebrecher zu applizieren das Recht hatte, die aber wohl eher der Volksjustiz als dem geschriebenen Recht entsprach. Falls die Schuldigen in flagranti ertappt wurden, d. h. in ipso coitu, so hatte der Ehemann das gesetzliche Recht, seinen Rivalen zu töten, ohne wegen Mordes belangt zu werden, falls der verpönte Coitus nicht etwa in einem Bordell stattfand oder die Frau anerkanntermaßen gewerbsmäßige Unzucht trieb. Viel schärfer ausgesprochen war die kriminelle privatrechtliche Behandlung der Ehebrecherin. Dies hängt damit zusammen, daß der Ehebruch der Frau als ein viel schwereres Verbrechen angesehen wurde als der des Mannes und zwar deswegen, weil durch den Ehebruch der Frau Gefahr bestand, daß ein illegitimes Kind in den Familienverband eingeschmuggelt und der religiösen und rechtlichen Vorteile teilhaftig wurde, die nur legitimen Kindern zustanden. ῥαφανίς ist wohl sicher der »Rettig«, d. h. eine der zahlreichen Kulturvarietäten von Raphanus sativus L., als deren Urheimat das gemäßigte Westasien gilt, die aber schon frühzeitig, jedenfalls schon vor dem historischen Altertum, auch auf europäischen Boden gelangt waren Im Athenaeus, Dindorf vol. II, Lipsiae 1827, lese ich auf p. 48, daß es nach Theophrastus 5 Arten von ῤαφανιδες gab; die süßeste war die böotische (γλυκοτάτην δ'εῖναι τὴν Βοιωτίαν καὶ τῷ σχήματι στρογγύλην. ἁπλῶς δέ, φησίνὠν εστι λεῖα τὰ φὐλλα, γλυκώταται εισιν). Jedenfalls wurde zur ῥαφανίδωσις aber nur die schärfste, beißendste Art gewählt und ein großes Exemplar genommen. Möglichenfalls wurde der Rettich noch geschält, zur größeren Schmerzbereitung. Rettiche waren übrigens schon ein Frühstücksgericht. Unsere Möhren wurden kaum zum Rettichen gebraucht. Man kannte sie aber auch als Daucus sativus, bei Dioscorides (III, 52) heißt er Dauca sylvestris (quem alii cerascomen, Romani carotam aut pastinacam rusticam vocant. Griech. σταφυλῖνος ἄγριος, καῦκος. Agricus spricht von der carota ( Näcke).. Eigentliche ethnographische Parallelen zum ῥαφανιδοῦν fallen mir momentan nicht ein, wenn man nicht etwa das Zerquetschen der Hoden des Verführers seitens des beleidigten Ehemannes bei den Abessiniern dahin rechnen will. Eine Anzahl von Beispielen finden Sie in Westermarcks Geschichte der menschlichen Ehe (1893) S. 118 ff. Auch in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft ist, soviel ich bei flüchtiger Durchsicht sehe, manches enthalten, was allerdings nicht direkt als Parallele zum ῥαφανίζεσϑαι aufgefaßt werden kann. Allgemein herrscht die Tendenz vor, den Ehebruch der Frau härter zu bestrafen, als den des Mannes. Dies erklärt sich zum Teil aus der tieferen Stellung der Frau bei der Mehrzahl der Völker, zum Teil aber auch noch daraus, daß beim Ehebruch der Frau die Gefahr einer Fälschung der Blutsverwandtschaft gegeben ist ...«

Ich führe endlich noch folgende Stellen aus einem Buche des berühmten Folkloristen Dr.  Höfler in Tölz vom 5. Februar 1912 an. »... ῥαφανιδόω  (ῥαφανίζεσϑαι) als entehrende Strafe ... war vielleicht ein entehrendes Symbol des coitus praeternaturalis ...« Dann erwähnt Schreiber noch verschiedene Strafen bei Ehebruch in verschiedenen Völkern, die ich später erwähnen werde. Weiter schreibt er: »Superfoetatio galt früher als Folge eines Ehebruchs (conjugium supranaturale). Das Adulterium naturae = Mißgeburt (durch Einfluß der Geister im Alptraum), Monstrum ... (? sagenhaft?) Entmannen des Mannes mit dem Dengelhammer (sogenanntes Dengeln). Ich habe etwas derartiges einmal als Volksglaube vom Hörensagen in Erfahrung gebracht (Oberbayern). Dengelhammel – ein mit dem Steinmesser (= tengil) kastrierter Hammel (germanische Kastration). »Der sollte gedengelt werden« = sollte kastriert werden, sagt man vom Ehebrecher in Oberbayern ... Bei Schmeller (bayerisches Wörterbuch, Stuttgart, Tübingen, 1827 ss.) finde ich unter: »Dengeln« angegeben = castrare jumenta (Bd. I, 57). ( Näcke.).

Überschauen wir nun das Gesagte, so können wir bezüglich der ῥαφανίδωσις wohl folgendes aussagen:

1) In keinem niedergeschriebenen Gesetze der Alten, weder bei Drakon, noch Lykurg, Solon usw. finden wir diese Strafe festgelegt.

2) Sie ist somit nur der Privatrache zuzuweisen, und wie jede leibliche Züchtigung und Mißhandlung überhaupt war sie erlaubt, aber nur, wenn der Ehebrecher in flagranti ertappt wurde und arm war, d. h. sich nicht loskaufen konnte.

3) Sie ward bloß an Männern ausgeführt, wahrscheinlich nie an Frauen und verlangte wohl stets die Mithilfe von andern.

4) Sie galt als schimpflich Daher auch das Schimpfwort: ῥαφαφανιδωμένος  (Handwörterbuch der griech. Sprache von Passow, Leipzig 1857). und sollte jedenfalls symbolisch die Paedicatio darstellen, die als Erduldung für einen Freien ja auch als entehrend galt, wenigstens zu gewissen Zeiten Im »Erbförster«, dem besten Stücke O.  Ludwigs, wird der Sohn des alten Erbförsters im Walde von den Waldhütern des neuen Försters auf Befehl des Letzteren angehalten, ihm die Hosen abgezogen und etwas Schimpfliches an ihm vorgenommen, was aber nicht näher gesagt wird. Nach 24 Stunden erscheint der Sohn tief beschämt vor dem alten Vater, der außer sich ist über das Bubenstück. Während die meisten hier einfache Prügel verstehen, habe ich und andere bei dem niederträchtigen Charakter des neuen Försters an die Möglichkeit einer Erduldung der Pädikation gedacht. Kastration ist wohl ziemlich sicher auszuschließen, da der Sohn dann nicht schon so kurz nach der Operation beim Vater erscheinen könnte..

5) Ob die ῥαφανιδωσις auch außerhalb des athenischen Gebiets stattfand, ist fraglich, Professor Ilberg glaubt es aber doch.

6) Ebenso wenig ist bekannt, ob die Strafe nur an Freien, oder auch Sklaven und Metöken ausgeübt wurde.

7) Da bloß Komiker – und den Scholiasten nach anscheinend nur bei Aristophanes erwähnt – und einige Redner der Unsitte gedenken, wir aber wissen, daß bei ihnen nicht alles ohne weiteres wahr zu sein braucht, so könnte man sich fragen, ob überhaupt wirklich die Strafe so vollführt wurde Weder Celsus, noch Caelius Aurelianus (Dioskorides) sprechen von den ῥαφανιδοσις. Es gibt auch keine bildlichen Darstellungen hierüber, wie z. B. über die Knabenliebe, die ja namentlich in der späteren griechischen Zeit meist eine wahre Päderastie, Paedicatio war; anders in der klassischen.. Doch wird auch bei den Römern – allerdings wieder nur bei Dichtern – der Sache gedacht, daß man damit wohl als mit einer Wirklichkeit rechnen muß.

8) Scheinbar bestand diese Strafe auch bei den Römern, freilich nur auf das Zeugnis der Dichter hin. Hier werden sogar Fische dazu gebraucht.

9) Von den gewiß oft furchtbaren Folgen der Operation wird uns nichts, auch anscheinend nichts bei den griechischen Ärzten, berichtet. Außer den großen Schmerzen schon beim παρατιλμος Es wurden aber nicht nur, wie man es allgemein glaubt, bloß die Scham-, sondern auch die Achselhaare ausgerupft. Schon das ist ein Beweis dafür, daß die Griechen die pubes sich im allgemeinen nicht ausrupften, wie es im Orient, wenigstens bei den Frauen, Mode war und ist. Daß die antiken Venus- und Frauengestalten ohne pubes dargestellt wurden (in der Steinbildung), geschah wohl eher aus ästhetischen Gründen oder um die Personen jünger erscheinen zu lassen, trotzdem kam auch hier Ausrupfen vor. Das bezieht sich gewiß auch auf die Jünglinge, die ohne pubes dargestellt werden, im Gegensatze zu gereiften Männern ( Herakles). Der bekannte Archäolog, Prof. Studniczka in Leipzig, sandte mir folgende hochinteressante Zeilen am 10. April 1912. »Sehr geehrter Herr Medizinalrat, soweit ich ohne besondere Untersuchung sagen kann, verschiebt sich das Bild des Vorkommens der Schamhaare in der antiken Kunst, das Sie sich gemacht haben, nur wenig durch Betrachtung der attischen Vasen aus der Zeit beiderseits von 500 v. Chr., also vom Ende der archaischen Periode, wo sich überhaupt starke realistische Tendenzen zeigen. So malt z. B. der bedeutende Vasenmaler Euphronios nackte Hetären mit Schamhaar (Furtwängler und Reichhold, Gr. Vasenmalerei I. Taf. 63) und Makron gibt, auf dem von ihm bemalten Topf des Hieron, dasselbe Detail sogar durch das Gewand hindurch sichtbar, und zwar bei Helena, die nach der Einnahme Trojas den Menelaos durch ihre Schönheit bezwingt (Furtwängler II Taf. 85). Das ist um so wichtiger, als schon diese Periode das Wegsengen der Schamhaare durch ein Lämpchen kennt, ganz wie es Aristophanes, Ekkles. 12, erwähnt. Diese Prozedur stellt eine hübsche Schale der Zeit bald nach 500 dar, wie soeben Hauser in den Jahresberichten des österr. archäol. Instituts 1909, S. 85 ff. nachgewiesen hat (mit Abbild.). Auf wenig späteren Vasen finden Sie Männer und Silene, bei denen sogar Bauch- und Brusthaar wiedergegeben ist (Silene des Malers Taris, F. R. I. Taf. 48, Herren aus der Gesellschaft auf der Vase des Brygos, ebendort, Taf. 50). Und das kommt gelegentlich auch noch im 4. Jahrh. vor, z. B. bei einem alten Staatsrat des Dareios auf der Perservase in Neapel (F. R. II. Taf. 88). Aber selbst in jener alten Zeit herrscht schon mäßigste Behaarung, ja wird das Schamhaar mitunter ganz weggelassen, sogar bei Silenen, wo an Epilation nicht zu denken ist (z. B. F. R. I. Taf. 43, 44), während gerade bei diesen Vasen die Plastik in der Angabe der Behaarung mit am weitesten geht (Marsyas des Myron im Lateran, und der bekannte geschundene, in mehreren Exemplaren). Es ist die Tendenz auf Unterdrückung des Unwesentlichen und unbestimmt Geformten, was hier wirkt, und nicht die Sitte. Daß der Orient in der Enthaarung des weiblichen Körpers besonders weit gegangen wäre, möchte ich nicht glauben. Denn die wenigen Frauen mit deutlich angegebenen Schamhaaren in der Plastik, die mir einfallen, sind babylonisch-assyrisch-phönikisch, z. B. Jahrb. des deutsch. archäologischen Instituts 1897, S. 202 und Perrot und Chipser, Hist. de l'art dans l'antiq. II, S. 508 ...«, noch mehr beim Einstreuen der heißen Asche, am meisten aber durch die rohe Eintreibung des scharf beißenden, vielleicht gar geschälten Rettigs, mußten nur zu leicht schwere Zerreißungen des Dickdarmendes erfolgen, langes Siechtum und nicht selten Blutvergiftung und Tod.

10)  Ethnologische Parallelen zum ῥαφανιδοσις lassen sich anderwärts nicht beibringen. Wohl aber kann man damit indirekt in Verbindung bringen die erzwungene Pädikation bei Frauen (siehe später), das Bespringen durch einen Esel, ferner das Kastrieren durch Zerquetschen der Hoden, Eingießen heißen Metalls in die Vagina usw. Das alles als Ausfluß der Privatrache. Daneben gibt es freilich noch andere Prozeduren, die wir sogleich betrachten wollen.

2.

Bei den Naturvölkern läßt sich Privat- von Staatsrache meist nicht scharf trennen, da ein geschriebenes Gesetz fehlt. Wir können im allgemeinen wohl nur sagen, daß die Privatrache gewöhnlich nicht öffentlich geschah, wie die von der Tradition, der allgemeinen Sitte geforderten oder vom Häuptling diktierten und von einem Beamten vollführten Strafen. Das vorauszuschicken, scheint für das Folgende nicht überflüssig.

Nach Westermarck Westermarck: The history of Marriage. London, Macmillan 1891. (p. 124) spielt wahrscheinlich auch bei den Wilden der Eigentumsbegriff beim Ehebruch eine große Rolle. Der Verführer konnte froh sein, wenn er den Wert der Braut oder sonst nur Geldstrafe zu zahlen brauchte, oder wenn er Prügel oder den Kopf geschoren bekam, die Ohren abgeschnitten, ein Auge zerstört, die Beine mit Speeren durchbohrt oder wenn Gleiches, der Ehebruch, an seiner eigenen Frau geschieht. Meist wird er getötet. Bei den Waganda wird Ehebruch noch strenger geahndet als Mord, und in Teilen von Neu-Guinea soll der Tod außer bei adulterium fast unbekannt sein. Nach Reade (l. c. p. 122) leidet bei Wilden häufiger der Verführer, als das Opfer, meist jedoch wird das treulose Weib mißhandelt, oft getötet oder verstümmelt, z. B. ihr die Nase abgebissen oder abgeschnitten (dies auch im alten Ägypten). Im Jahre 1120 dekretierte das Konzil zu Neaopolis in Palästina, daß der Ehebrecher kastriert wird und die Nase ihm abgeschnitten. In den »Uplandslag«, einem alten schwedischen Provinzialgesetze, wird die Ehebrecherin mit Geld bestraft; wenn sie keines hatte, wurden ihr Haare, Ohren und Nase abgeschnitten. Manche Indianer (z. B. die Creaks), schneiden ihr die Ohren ab, viele Völker rasieren ihr Haupt. Tief eingewurzelt ist bei den Wilden (p. 130) der Glaube, daß das Weib dem Manne angehöre, oft aber wird sie nur als Objekt betrachtet, der Ehebrecher als Dieb, und deshalb werden ihm bei einigen Völkern Afrikas die Hände abgehauen.

Mehr noch über den Ehebruch finden wir in einem anderen Werke Westermarcks, in: Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, Leipzig 1907, und zwar im besonderen Bd. II, p. 359 ss. Die Motive der Bestrafung werden dort ungefähr so dargestellt, wie wir sie am Anfang unserer Studie gaben. Sehr merkwürdig ist es, daß manche Völker (p. 360) den Ehebruch nicht bestrafen, so bei einigen Indianern, Mongolen, Buschmännern; doch das sind große Ausnahmen. Die Irokesen bestrafen nur die schuldige Frau. Im allgemeinen muß man den Wert der Frau ersetzen oder Geldbuße zahlen, oder man erhält Peitschenhiebe, oder büßt ein Auge oder Ohr ein oder die Beine werden mit Speeren durchstochen. Viel häufiger wird der Ehebrecher getötet, besonders wenn in flagranti ertappt. In Albanien muß sogar der Gatte den Verführer töten. Bei den Juden ward er hingerichtet, ebenso bei den christlichen Gesetzgebern (Konstantin d. Gr. und Theodosius). Auch geschah es im Mittelalter, so in Schottland; später verfolgte man ihn überhaupt nicht mehr, wie denn in England noch jetzt Ehebruch als ein bloß kirchliches Vergehen nicht mehr bestraft wird. Die Bestrafung richtete sich bei den Völkern oft genug nach dem Gange des Verführers, oder dem des Gatten oder beider, oder der Ehebrecherin. Der Ehebrecher wird bei den Monbuttus hingerichtet, wenn die Schuldige von königlichem Hause ist, sonst muß er eine Geldbuße bezahlen. Bei den Bakongo (p. 361) schwankt die Strafe zwischen einer geringen Geldbuße bis zur Todesstrafe. Bei den Chinesen wird der Sklave mehr bestraft als der Freie. In Indien ist die Strafe verschieden nach Rang. Manche Völker bestrafen den Ehebrecher wie einen Dieb durch Abhauen einer Hand oder beider. Erst später vereinigen sich bezüglich der Ehefrau Eifersucht, Besitzstolz und Ehrgefühl. Die Strenge der früheren europäischen Ehebruchsgesetze (p. 362) beruht auf Abscheu gegen regellosen Beischlaf. Manche Wilde bestrafen nur den Verführer als Dieb und Entehrer, nicht die Frau. Meist jedoch jagen sie die Frau fort, schlagen, mißhandeln sie. Nicht selten wird sie sogar getötet, eventuell mit ihrem Galan, oder sie kann nicht mehr heiraten. Meist wird vom Gatten (p. 363) die eheliche Treue nicht für eine so strenge Pflicht gehalten, wie bei der Frau. Bei den Igorroten (Luzon) müssen beide Schuldige die Hütten und die Familie auf ewig verlassen. Bei manchen Völkern soll es keinen Ehebruch geben. In Sparta war er ganz außerordentlich selten. In China (p. 364) wird die Ehebrecherin oft in kleine Stücke zerschnitten. Die alten Arier sahen in der Untreue des Mannes kein Unrecht, bestraften hingegen die Frau sehr streng. Bei den alten Germanen war Untreue dem Manne erlaubt. Wie lax bei Griechen und Römern die Ehetreue von den Männern gehalten wurde, sahen wir schon früher. Auf Samoa und Neu-Guinea ( Westermarck l. c., I, 162) wird nur Mord und Ehebruch mit dem Tode bestraft, bei den Bataks bloß Raub und Mord. Die Kongoneger erkannten auf Todesstrafe angeblich nur bei Vergiftung und Ehebruch. Bei den nordamerikanischen Wajandoten (p. 265) wurde der Ehebrecherin das erste Mal das Haar abgeschnitten, das nächste Mal verlor sie das linke Ohr.

Nach dem Gesetze Kanuts (I, p. 432) sollen dem Ehebrecher Nase und Ohren abgeschnitten werden. Der australische Ehemann (p. 517) darf in der Regel sein schuldiges Weib nicht töten, dazu muß er manchmal die Einwilligung des Stammes haben. Im 13. Jahrhundert durfte in England schon hie und da der betrogene Ehemann das Paar nicht in flagranti töten, auch nicht einen Teil desselben, wohl aber den Ehebrecher entmannen (p. 248).

Nach Buschan In Moll: Handbuch der Sexualwissenschaften, Leipzig, 1912, p. 234.) (p. 4) wird bei einigen westafrikanischen Stämmen, welche die Jungfernschaft hochhalten, dem Mädchen, das sich vergangen hat, eine zerquetschte Capsicumschote in die Scheide gesteckt, was sehr schmerzhaft ist und nicht selten Entzündung und selbst Verödung der Scheide herbeiführt. Bei manchen Völkern muß der Verführer zahlen oder wird durchgeprügelt, auch getötet. Bei vielen Völkern (l. c. p. 238) besteht dagegen volle Freiheit des Geschlechtsverkehrs bei unverheirateten Mädchen und Jünglingen, doch muß die verheiratete Frau die eheliche Treue streng bewahren, nicht aus ethischen Gründen, sondern wegen Eingriffs in Besitzrechte. Liebrecht Liebrecht: Zur Volkskunde. Heilbronn 1879. bringt auch manches hierhergehörige Interessante. In Rom (p. 84) war es ehedem Sitte, jede Ehebrecherin in ein Bordell zu stecken und ihr dort zur Schande mit Pauken und anderen Instrumenten eine Katzenmusik zu bringen. Theodosius schaffte dies erst ab. Sokrates (Hist. Ekkles. 5,18) erzählt, daß sie gezwungen wurde, in einer kleinen Zelle sich jedem preiszugeben, und dabei erscholl zu ihrer Schande ein Glöckchen. In Lancashire mußte die Ehebrecherin (p. 387) früher Esel reiten, oder sie ward auf 2 Stangen (riding stang) oder auf Schultern in Prozession getragen und das Volk machte dabei allerlei Musik. Nach Weinhold (p. 429) mußte nach Stadtrechten des mittelalterlichen Nordens die Ehebrecherin den Ehebrecher am sündigen Glied durch die Straßen ziehen. Ähnlich nach altschwedischem Rechte. Liebrecht glaubt auch, daß ursprünglich die Ehebrecherin gezwungen ward, den Mitschuldigen zu kastrieren. Bei Olaus Magnus (p. 513) kommt für die Ehebrecherin auch Steintragen (ebenso bei Ducange) vor oder sie ward öffentlich angekettet. Auch in den Hinterbacken konnte sie mit einem Nagel gestochen werden. Höfler (brieflich, l. c.) ergänzt diese Angaben Liebrechts durch andere Notizen. Die Germanen verjagten darnach die schuldige Ehefrau (Tacitus IX, Leges Visigoth. XXXIV, 3, Bonifacius Epist. 29). Bei den Türken geschah dasselbe. Die Mohammedaner peitschten sie aus oder steinigten sie In Konstantinopel wurde die Ehebrecherin oder der Galan in einen Sack gesteckt und in das Meer versenkt ( Näcke).. Das Steintragen erscheint als Rudiment der Steinigung. Hierher gehört noch das Haberfeldtreiben (Oberbayern) und das Häckselstreuen zwischen den Wohnungen der Schuldigen (Oberbayern).

Endlich bemächtigte sich sogar der Aberglaube des Ehebruchs, wie uns Wuttke belehrt Wuttke. Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. Berlin 1900.. Darnach darf man (§ 828) nicht in die Fußspur eines Ehebrechers treten, sonst bricht man ein Bein (Oldenburg). Wenn eine Kuh schlägt (§ 694), so borgt man sich einen Stock von einem Ehebrecher und schlägt sie damit, so legt sie den Fehler ab (Oberpfalz). Untreue Weiber (§ 757) gehen nach ihrem Tode um, und wenn ein Mann auf ehebrecherischen Wegen bei ihnen vorbeikommt, muß er mit ihnen tanzen, bis er tot niedersinkt (Schweiz).

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Aus dem Dargestellten ersehen wir, daß die Bestrafung des Ehebruchs eng mit der Idee der Heiligkeit der Ehe, resp. des bloßen Besitzes zusammenhängt, und wieviele verschiedene Faktoren hier bei der Strafhöhe maßgebend sind. Dies spricht sich auch darin aus, daß bald nur der Ehebrecher, bald nur die Ehebrecherin, oder beide, aber in verschiedenem Maße bestraft wurden. Während jedoch der Staat immer mehr und mehr sich das Recht zusprach, die Strafen selbst zu verhängen und die Selbsthilfe auszuschließen, wurde gerade mit dem Ehebruch eine Ausnahme gemacht, meist aber nur dann, wenn das Paar in flagranti ertappt ward. Woher diese Ungleichheit anderen Delikten gegenüber? Wohl hauptsächlich aus der richtigen Erwägung, daß gerade hier der Affekt, besonders aber die Eifersucht, in späterer Zeit das verletzte Ehrgefühl, zu einer solchen Höhe ansteigt, daß die Handlung fast reflektorisch erfolgt und daher angedrohte Strafen hier nur selten hemmend wirken dürften. Es ist also eine Konzession an das schwache Fleisch. Die christliche Kirche erlaubte es sogar vielfach, und auch heute noch wird der Teil, welcher den Schuldigen oder die Schuldige tötete, oft nur mild bestraft, in Frankreich sogar öfter ganz freigesprochen. Bei uns tritt die Selbsthilfe durch Tötung des ertappten Ehebrechers ein, eventuell im Duell, vorwiegend in den höheren Ständen, weil hier namentlich das Ehrgefühl oft geradezu krankhaft gesteigert erscheint. Die niederen Volksschichten sind dem Ehebruche gegenüber bekanntlich viel toleranter; Selbsthilfe ist seltener und gelinde, Prügel genügen oft schon. Hier sind eben die Affekte der Eifersucht und des verletzten Ehrgefühls meist geringer entwickelt, wie überhaupt die höheren Gefühle.

Bei den Alten muß Ähnliches angenommen werden. Vor allem ward die Ehe viel laxer behandelt, wenigstens von Seiten des Eheherrn, des κύριος. Daher suchte man vom Ehebrecher nur eine Geldsumme zu erlangen. Konnte er sie nicht leisten, so ward er vom Geschädigten mit Erlaubnis des Staates gemißhandelt. Hier und in vielen anderen Fällen sehen wir nun fast ein wirkliches jus talionis ausgeübt (ähnlich wie beim Dieb), d. h. der Verbrecher wird an dem Gliede bestraft, das gesündigt hat, also am Geschlechtsteile oder in dessen Umgebung. Der Ehebrecher konnte aber höchstens nur pädiziert werden, was bei den Alten, wenigstens in der Blütezeit für schmachvoll galt, während das aktive Pädizieren durchaus nicht ohne weiteres entehrte. Der Ehebrecher konnte, wie wir ferner sahen, im Mittelalter gewaltsam von Mensch oder gar Tier koitiert werden. Die bloße Schande durch passiv erduldete Pädikation genügt aber den Alten nicht. Die Operation mußte deshalb auch schmerzhaft sein, daher die rohe ῥαφανίδοσις. Einige ähnliche Prozeduren bei Frauen (an der Vagina) aus anderen Zeiten haben wir schon kennen gelernt. Das Entmannen, das von verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten bei dem Ehebrecher mitunter vorgenommen wurde, scheinen die Alten nicht angewandt zu haben, offenbar als eine zu grausame, zu harte Strafe. Warum aber, so wird man vielleicht mit Recht fragen, ist diese ῥαφανίδοσις scheinbar bloß auf den Kreis der Griechen und Römer beschränkt gewesen? Das wissen wir nicht, und es wäre deshalb ziemlich überflüssig, hier Hypothesen aufzustellen. Vielleicht geschah es aber, weil die Päderastie bei ihnen so weit verbreitet war und auch als Strafe diente. Weist ja doch Aristophanes auf die vielen ευρύπρωκτοί unter den Zuschauern des Theaters, welche ja hier nur Kynaeden bezeichneten.

Jedenfalls waren im Altertum, wie auch später und jetzt noch Anzeigen wegen Ehebruchs sehr selten und das aus mannigfachen Gründen. Man wollte die Schande nicht an die große Glocke hängen, der Prozeß war gewiß auch damals langwierig und kostspielig, und so behalf man sich und behilft sich auch jetzt noch lieber selbst, wenn auch gewiß nur selten noch in einer so barbarischen Weise, wie es z. B. die ῥαφανίδοσις darstellt. Meist, außer, wie gesagt, in den oberen Ständen, genügen Prügel, und ganz abgeschwächt erscheint die Strafe beim Haberfeldtreiben und Häckselstreuen in Oberbayern, Akte, die allerdings ganz den Charakter einer Lynchjustiz, aber einer sehr milden, an sich tragen. Auch bei der Ehebrecherin läßt sich solche Abschwächung der Strafe nachweisen (Steine tragen, auf dem Esel reiten usw.)


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