Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Miß Annie, die Cousine meiner Frau, in Chicago, Ill., 2** North-Center Avenue wohnhaft, sandte mir heute eine Nummer der deutsch-amerikanischen Zeitung »Chicagoer Tribüne«, worin sie folgenden Artikel rot angestrichen hatte:
»Eine sonderbare Geschichte, die selbst für unsere hiesigen Verhältnisse recht ›amerikanisch‹ klingt, wird aus einem unserer Landstädtchen gemeldet, zu deren Verständnis wir folgendes vorausschicken:
Schon seit einiger Zeit erregten einige kühn und geistvoll geschriebene Feuilletons in einem unserer größten Blätter die Aufmerksamkeit aller Gebildeten. Es waren nicht so sehr Energie und Feuer, die sie vor unserer Tagesliteratur auszeichneten, als die geradezu frappante Ähnlichkeit, die sie in Stil und Auffassung mit den Artikeln des bekannten Mr. Vivacius Style besaßen, der – wie unsere Leser sich erinnern werden – vor einigen Jahren bei dem Eisenbahnzusammenstoß bei Buffalo so plötzlich ums Leben kam. Sein zermalmter Körper wurde damals als einer der letzten unter den Trümmern des Zuges gefunden. Da der Kopf fehlte, wurde seine Identität nur durch einige in der Brusttasche seines Rockes gefundene Schriftstücke, darunter ein druckfertiges Manuskript über den Rassenkampf, festgestellt.
Wir beklagten damals mit dem ganzen Amerika, ja mit der ganzen zivilisierten Welt den großen Verlust, den die Publizistik, die Wissenschaft, die Menschheit mit dem Tode Mr. Styles erlitten hatte. Aber wir führten in unserem Nekrologe schon damals aus, daß das grausame Schicksal hier eigentlich trotz seiner rauhen Hand barmherzig gewesen sei und den berühmten Autor durch ein jähes Ende vor langem körperlichen Leiden bewahrt habe: denn den Vertrauten des Mr. Style sei es nur zu sehr bekannt gewesen, wie schwer krank er schon seit langen Jahren war. Nur ein so starker Geist, wie der seine, habe so lange über die Materie zu siegen verstanden, und niemand habe seinen glänzend geschriebenen, alle Vorzüge unserer besten Klassiker zeigenden Aufsätzen angemerkt, unter welchen körperlichen Qualen sie entstanden. Wir wagten es damals (vgl. 26. Jahrgang, Nr. 245) eine Parallele mit unserm großen deutschen Dichter Friedrich Schiller zu ziehen, für den wir Deutsch-Amerikaner vielleicht mehr als seine Landsleute daheim im Vaterlande übrig haben; wir führten aus, wieviel die Welt einst bei dem Tode des großen Dichters verloren habe, wieviel von seiner Feder noch zu hoffen gewesen, und daß die Zahl seiner ungeschriebenen Werke gewiß viel größer sei, als die der hinterlassenen. Wir beklagten die Hinfälligkeit der Menschennatur, die einen solchen Feuergeist in die Fesseln eines kränklichen Körpers gebannt habe. »Pegasus im Joche!« Wir schrieben, daß gerade solche Fälle es seien, welche uns Menschen den unbescheidenen Wunsch in der Seele erwecken, die Natur meistern zu können, das heißt im Interesse der Menschheit solche begnadeten Geister von dem Schicksal ihrer zufälligen körperlichen Konstitution befreien zu können.
Nun aber kommt, wie eingangs erwähnt, aus einem kleinen Landstädtchen am Ohio die unglaubliche Kunde, daß Mr. Vivacius Style noch lebt, daß jene famosen Artikel in der ›Sun‹ und anderen Blättern, welche die letzten aktuellen Fragen in überraschender, ganz eigenartiger, aber hochmoderner Weise beleuchten, buchstäblich von ihm herrühren. Dabei bleibt nur das eine rätselhaft, wie er und ob er bei dem Eisenbahnunglück gerettet worden ist, da doch seine Freunde seine Leiche rekognosziert haben. Seine früheren Verehrer glauben daher nicht an seine Autorschaft in bezug auf seine jetzigen Veröffentlichungen und halten die ganze Geschichte für ein schlaues Pressemanöver – um so mehr, als niemand bis jetzt den wiedererstandenen Vivacius Style gesehen oder gesprochen hat. Für die Wahrheit der Sache aber spricht unseres Erachtens trotz aller gegenseitigen Äußerungen die erschienene Artikelserie in einwandfreier, uns völlig überzeugender Weise. So schreibt nur einer von unseren lebenden Autoren – und das ist Mr. Vivacius Style! Ex ungue leonem! – Wir erörtern gar nicht erst wie andere Zeitungen die verschiedenen Möglichkeiten einer plausiblen Erklärung der mysteriösen Angelegenheit: Benutzung früherer, noch unveröffentlichter Manuskripte Styles, Nachahmung seiner Schreibweise durch einen jüngeren, begabten Journalisten etc. – wir behaupten mit aller Entschiedenheit die Echtheit der Leitartikel in der ›Sun‹. Wir wissen, daß wir mit dieser Behauptung jetzt ziemlich allein stehen; aber die Zukunft wird uns recht geben. – – So weit hatten wir gestern geschrieben. Inzwischen hat die ganze Sache eine überraschende, um nichts weniger wunderbare Aufklärung gefunden.
Mr. Vivacius Style lebt tatsächlich – oder hat bis vor wenigen Tagen noch gelebt; allerdings muß man bei dem Wort ›leben‹ insofern eine Einschränkung machen, als nicht er selbst, sein ganzes körperliches Ich, seit jenem Eisenbahnunglück weitergelebt hat, sondern nur – sein Kopf!
Doktor Magician, dessen Name vielleicht manchem unserer Leser als der eines genialen Naturforschers und Bahnbrechers, namentlich auf biologisch-chemischem Gebiete, bekannt sein wird, hat zur Beruhigung der öffentlichen Meinung und zu seiner eigenen Rechtfertigung folgendes in Nowhere-City zu Protokoll gegeben:
›Ich, Doktor Magnus Magician, war bei jenem Eisenbahnzusammenstoß zufällig in der Nähe der Unglücksstätte. Den wenigen Passagieren, die noch am Leben waren, leistete ich, so gut es ging, die erste Hilfe. Als ich schließlich auch in das Innere des fast ganz zerstörten Speisewagens drang, der nach Aussage der Überlebenden im Moment des Zusammenstoßes unbesetzt gewesen war, fand ich dicht bei dem explodierten Kohlensäureapparat einen – Kopf, kunstgerecht vom Rumpfe getrennt, wahrscheinlich durch ein von der Explosion geschleudertes Metallstück, wie vom Seziermesser des Anatomen. Dieser Kopf lag auf einem Häufchen von – Schnee wie auf einem Kissen, gebildet von der beim plötzlichen Ausströmen gefrierenden flüssigen Kohlensäure. Wunderbar ergreifend war mir, der ich in meinem Berufe so manche Sektion ausgeführt habe, der hohe Intellekt, der aus seinen Zügen sprach und die rätselhafte lebensfrische Farbe seines Antlitzes. Der Anblick ergriff mich so, daß ich mich zu ihm herniederbeugte. Dabei entdeckte ich, daß durch die gefrorene Kohlensäure eine plötzliche Stillung der Blutung eingetreten war; die Öffnungen der großen Arterien waren hermetisch durch Verschlußpfropfen von gefrorener Kohlensäure geschlossen, überhaupt die ganze Wundfläche mit einer dicken Schicht festen Eises überdeckt.
Ich beschloß, meinen Fund mitzunehmen, um an ihm wissenschaftliche Experimente zu machen. Sorgfältig umgab ich ihn mit einer Packung von Kohlensäureschnee, hüllte ihn behutsam ein und trug ihn in mein Automobil, das in der Nähe stand. – Unterwegs dankte ich dem Zufall, der mir ein solches Versuchsobjekt in die Hand geliefert. Ich arbeitete damals gerade an der Herstellung einer Ersatzflüssigkeit für Menschenblut, die ich bei drohender akuter und chronischer Herzschwäche, bei Verblutungen, Gasvergiftungen usw. durch Transfusion in die Blutbahn des menschlichen Körpers einführen wollte. Mein durch ein biologisch-chemisches Verfahren gewonnenes Präparat ›Sanguinum‹ reagiert nach der Uhlenhuth'schen Methode genau wie Menschenblut, es mußte also imstande sein, die Funktionen des natürlichen Blutes zu erfüllen. – Zu Hause im Laboratorium angelangt, war meine erste Sorge, den Kopf sorgfältig und allmählich aufzutauen, die Wundflächen schmerzlos zu machen und ihn an den Transfusions-Apparat anzuschließen. Dann öffnete ich den Hahn des nach Art eines Pulsometers funktionierenden Instruments, um mein künstlich erzeugtes Blut in die Arterien des Versuchsobjektes einzuführen. –
Es gehört nicht in ein amtliches Protokoll, hier von dem Gefühl zu sprechen, das mich erfaßte, als ich den leblosen Kopf allmählich wieder zum Leben erwachen sah: das leise Sichröten der Wangen, das Zittern der noch geschlossenen Augenlider, den Wechsel des Mienenspiels in den langsam sich belebenden Zügen und endlich – das Aufschlagen der Augen, die vom Tode erwacht, wieder zurück ins Leben blicken! Hier paßt einmal der Ausdruck voll und ganz, daß für ein solches Gefühl die Sprache zu arm ist. – Genug – er erwachte und sah mich an. Ich sah, wie seine Lippen sich bewegten; aber das Sprechen war ihm unmöglich; es fehlte ihm ja das Organ, das seinen Kehlkopf mit der dazu nötigen Luft versorgte. Ich neigte mich zu seinem Ohr und erzählte ihm langsam alles, sein Unglück, die Auffindung seines Hauptes und sein Hierherkommen – und sein Erwachen vom Tode.
Ungläubig starrte er mich lange an; – endlich ging ein Lächeln über seine Züge, ein sonniges, glückliches, befreiendes Lächeln, das auch meine Seele von einem stillen Selbstvorwurfe erlöste. Wieder wollte er sprechen, und mir war, als ob seine Lippen immer nur zwei Worte formten: ›thank you!‹
Meine nächste Sorge war, einen Apparat zu konstruieren, der ihm das Sprechen wieder möglich machte, d. h. eine Art automatischen Blasebalgs, der durch den noch vorhandenen Luftröhrenrest Luft in seinen Kehlkopf einführte. – Tag und Nacht arbeitete ich unausgesetzt, fieberhaft – endlich kam ich damit zustande und schaltete meinen Apparat ein.
Das Experiment gelang besser, als ich gehofft. Zwar fehlte seiner Stimme die Klangfülle, da ja die Resonanz des Tones im Brustkorbe fehlte, auch die Regulierung des Atems machte ihm anfangs noch Schwierigkeiten; aber er konnte doch sprechen und sich mir verständlich machen. Und nun erst erfuhr ich aus seinem eigenen Munde, welchen ›illustren Kopf‹ ich beherbergte: Mr. Vivacius Style hatte ich gerettet, wenigstens, wie er selber launig bemerkte, den Teil seines Ichs, der an seinem Leibe im Leben allein etwas getaugt. – Und nun änderte sich mit einem Schlage mein Verhältnis zu meinem Versuchsobjekt: schon längst war ich ein begeisterter Verehrer des mir bisher persönlich unbekannten Vorkämpfers für edleres Menschentum, für Würde und Freiheit der Gesinnung, für Schaffung geistiger Werte, für den wahren Adel unseres Geschlechts gewesen. Durch meine Fachgenossen hatte ich mit Bedauern erfahren, daß gerade die Tage dieses seltenen, hochbegabten Menschen gezählt seien, daß er unter der Bürde eines kränklichen, schon von Haus aus schwächlichen Körpers leide. Von dieser Stunde an betrachtete ich es als meine edelste Lebensaufgabe, diesen begnadeten Intellekt der Menschheit zu erhalten und zu pflegen – mit allen Mitteln, welche mir die Wissenschaft und meine ärztliche Erfahrung an die Hand gaben; mußte ich doch in der wunderbaren Verkettung aller Umstände seiner Errettung mehr als bloße Zufälligkeiten erblicken! – –
Um ihm die journalistische Tätigkeit, nach der er sich sehnte, zu ermöglichen, schaffte ich einen Phonographen an, in den er seine Artikel sprach; später ersetzte ich diesen durch ein Poulsensches Telegraphophon, um ihm ungestört auch die Aufnahme längerer Abhandlungen zu ermöglichen. Gern habe ich mich der kleinen Mühe unterzogen, seine gesprochenen Aufsätze mit der Schreibmaschine in gewöhnliche Schrift zu übertragen. – So haben wir diese vergangene Zeit her zusammengearbeitet; ganz zuletzt bestand er darauf, um mich von der Arbeit des Niederschreibens zu entbinden, auf seine Kosten eine der neuerfundenen Sprechschreibmaschinen zu erwerben. Seit diesem Zeitpunkte hat er seine Manuskripte ganz allein druckfertig hergestellt.
Auf seinen Wunsch sollte ich keiner lebenden Seele unser beiderseitiges Geheimnis seiner ›körperlosen‹ Existenz verraten; selbst seinem langjährigen Freunde und Verleger, dem Herausgeber der ›Sun‹, gegenüber sollte ich schweigen, habe ihn aber dennoch heimlich ins Vertrauen gezogen, wie er mir jetzt, in Anbetracht der Sachlage, wohl gern bestätigen wird. – Nur einmal wurde es meinem armen Freunde schwer, sein Geheimnis zu bewahren – an jenem Tage, als er erfuhr, daß Miß Evelyn H. . . . ., seine begeisterte Freundin und Verehrerin, infolge seines schrecklichen, jähen Endes schwer erkrankt sei. In jener Stunde dichtete er das Sonett: ›Der Tote an die Lebende‹, das damals die Runde durch viele unserer großen Zeitungen machte, und dessen Schluß-Terzinen (in deutscher Übersetzung) lauteten:
›Zwar bin ich fern – doch nicht im Reich der Geister;
Zwar nicht mehr Mensch, doch sterblich noch, wie einst;
Zwar körperlos – doch meiner Sinne Meister.
Ein Wunder – leb' ich, neu vom Tod geboren –
Und ob du um den jäh' Entriss'nen weinst,
Was du geliebt, das hast du nicht verloren!‹ –
Verse, die erst durch meinen jetzigen Bericht völlig verständlich werden. – Aber sonst arbeitete er, als ob nichts geschehen wäre; seine journalistische Gewandtheit, seine schlagende Dialektik, sein reiches Wissen und Können – und last not least – seine Menschenliebe zeigten sich in unveränderter Weise in jeder Zeile. – Um ihn und mich das Ungewöhnliche und Traurig-Furchtbare seiner Erscheinung vergessen zu lassen, das lebendige Menschenhaupt auf der arbeitenden Maschine, hatte ich ihm eine Kleidung zurechtgemacht, die wie ein bequemes Hausgewand bis zum Halse herauf geschlossen war und alles verhüllte. – Gerade um diese Zeit begann der Kampf um die sogenannte ›Colored Bill‹ im Lande, die von Mr. Retrorsy eingebracht wurde, laut welcher den Farbigen aller Rassen nicht mehr die bisherigen Rechte im Gebiet der Vereinigten Staaten zustehen sollten – und gerade Mr. Vivacius Styles Artikel in der ›Sun‹ waren es, welche durch ihren flammenden Protest gegen diese Bill die große Bewegung unter unsern Mitbürgern entfacht haben, in der wir noch stehen, eine Bewegung, welche sich schließlich in der Presse zu einem journalistischen Duell zwischen Mr. Style und Mr. Retrorsy zugespitzt hat. Es ist hier nicht der Ort, auf die Kampfweise Mr. Retrorsys hinzuweisen, die das ganze Arsenal persönlicher und politischer Verdächtigungen gegen Mr. Style aufgefahren hat; – Mr. Vivacius Style hat trotz aller Verdächtigungen mit seiner Idee vor dem Forum der öffentlichen Meinung den Sieg davongetragen. Das war eine seiner letzten Freuden. Denn er selbst gefiel mir, dem Arzte, seit einiger Zeit gar nicht recht; seine sonstige Lebensfreudigkeit und sein goldener Humor nahmen ab. Besorgt prüfte ich meine Apparate, untersuchte ich seinen Zustand. Es war – wie ich erkennen mußte – ein rein seelisches Leiden, und ich glaubte auch mit Sicherheit den ursächlichen Zusammenhang seiner Melancholie mit der Krankheit Miß Evelyn H. . . . .s gefunden zu haben. Dazu kam, daß ich gern noch einen Vertrauten für unser Geheimnis gewonnen hätte, der mit liebevoller Sorgfalt für sein Wohlergehen, das hieß also in diesem Falle: für die peinlich-gewissenhafte Bedienung der Apparate Sorge trug, wenn ich einmal irgendwie verhindert sein sollte. Beispielsweise muß das ›Sanguinum‹ alle vierundzwanzig Stunden frisch bereitet werden u. a. Das alles brachte mich zu dem Entschluß, jene Freundin Mr. Vivacius Styles, von der ich durch vertrauliche Erkundigungen erfahren, daß auch ihre Krankheit nur noch seelischer Natur sei, aufzusuchen – natürlich ohne Mr. Styles Vorwissen. Ich mußte mich zu diesem Zwecke auf einen halben Tag von ihm entfernen, glaubte mich aber für diese kurze Abwesenheit auf meinen langjährigen Diener Phin verlassen zu können. – An dem Tage meiner Abreise kontrollierte ich noch einmal sorgfältig den Gang der Apparate; dann nahm ich kurzen Abschied von Mr. Style, mit dem Versprechen, in ein paar Stunden wieder bei ihm zu sein. – – Ich habe ihn nicht mehr lebend wiedergesehen.
Mr. Retrorsy hat bekanntlich immer die Echtheit jener Artikel in der ›Sun‹ bestritten. Wenn es seinen immer wieder erhobenen Zweifeln auch nicht gelungen ist, Mr. 5tyle und mich aus unserer Reserve hervorzulocken, so wird er doch anderseits weder Mittel noch Wege gescheut haben, hinter unser Geheimnis zu kommen. Wahrscheinlich hat der allmächtige Dollar auch hier sein Werk verrichtet. Irgend ein Detektivbureau wird mich als den Vermittler der Artikel ihm ausfindig gemacht haben; genug: es steht nach meinen Ermittelungen fest, daß er sich wochenlang in Nowhere-City aufgehalten und schließlich meinen Diener mit einer großen Summe bestochen hat, ihm von einer längeren Abwesenheit meinerseits sofort Nachricht zu geben. – In den Stunden meiner Abreise ist er dann in mein Haus eingedrungen und hat die durch ein Kunstschloß verwahrte Tür meines Laboratoriums erbrochen. –
Was weiter geschehen ist, hat mir kein lebender Mund verraten, sondern – der Phonograph, der von mir für alle Fälle beim Weggange zur Aufnahme in Tätigkeit gesetzt wurde. Nach diesem phonographischen Bericht hat Mr. Retrorsy beim Anblick des in seiner Verhüllung völlig menschlich und natürlich erscheinenden Gegners ausgerufen:
›Goddam – der Kerl lebt wahrhaftig noch!‹ – worauf Mr. Style ruhig geantwortet hat:
›Ja, Mr. Retrorsy – und ich hoffe Ihnen das noch besser mit meiner Feder als mit meinem Anblick zu beweisen!‹
»Wollen Sie mir nicht wenigstens im Interesse Ihrer vielen Freunde und – Gegner erzählen, wie sie eigentlich lebendig aus jenem Eisenbahnzug Ihr wertes Ich gerettet haben, Mr. Style? Da eine große Zahl von Personen, darunter Ihre treuesten Anhänger, sie damals als veritable Leiche agnosziert haben, wäre eine Aufklärung dieses Widerspruchs aus dem Munde Ihres politischen Gegners immerhin von Bedeutung – auch – Goddam! – für Ihre neuesten Schützlinge, die verdammten Farbig –‹
In diesen Augenblicke hat, nach der Angabe des Phonographen, der automatische Regulator des Transfusions-Apparats eingesetzt; das eigentümlich schnarrende Geräusch hat natürlich die Aufmerksamkeit Mr. Retrorsys erregt und damit seinen – Verdacht. Mitten im Wort hat er sich unterbrochen, um dann in höhnischem Tone fortzufahren:
›Was – was ist das? – Woher kam das? Haben Sie etwa ein Uhrwerk im Leibe, Mr. Style? – Ist Ihre jetzige Existenz doch nur ein verdeckter Humbug? – Goddam – das wäre! Lassen sie doch sehen!‹ – –
Wahrscheinlich ist Mr. Retrorsy dann näher herangetreten und hat die Verkleidung Mr. Styles untersucht. Machtlos und wehrlos ist der Ärmste allen Angriffen seines Gegners ausgesetzt gewesen.
›Also – das ist Ihr Geheimnis, Mr. Style! – Sie sind gar kein ordentlicher Mensch mehr, sondern nur noch ein verkappter Mechanismus! Und Sie wagen es, sich noch immer in den Kampf der Meinungen zu mischen! Sie wagen es, mir allerlei Machinationen vorzuwerfen – und sind selbst nur noch eine Maschine, die dieser schlaue Medizinmann mit seiner verdammten Kunst wieder notdürftig zusammengeflickt hat! – Sie sollen mich nicht länger angreifen mit Ihren hirnverbrannten Artikeln – Goddam – Lassen Sie doch mich Sie einmal genauer untersuchen – es soll mir doch gelingen, Sie samt Ihrem Mechanismus fernerhin unschädlich zu machen! Haha! Hier ist ja ein Stück Glasrohr eingesetzt in Ihren Automatenleib – das wird sich doch zerbrechen lassen.‹ –
Der Phonograph verzeichnet hier ein heftiges Geräusch, das Zerschmettern des Glasrohrs, wahrscheinlich durch einen Schlag mit dem Spazierstock – und ein zischendes Sprudeln, das Ausströmen des Sanguinums, des künstlichen Blutes.
Mr. Vivacius Style hat gefühlt und gewußt, daß es rasch mit ihm zu Ende gehe; er hat ausgerufen:
›Sie haben gehandelt, wie es Ihrem Charakter entspricht – wie ein feiger Schuft! Ich fühle, daß ich verbluten muß – O, Mr. Magician, mein lieber Freund, mit soviel Schlechtigkeit kämpft ein ehrlicher Mann vergebens! – Elender Retrorsy, so triumphiere denn! Mich hast du vernichtet, aber meine Idee nicht – und sie wird mich an dir rächen.‹ – –
– – Zur festgesetzten Zeit kehrte ich in mein Heim zurück. Ich kam mit frohem Herzen: Miß Evelyn H. . . . . fühlte sich kräftig genug, schon morgen bei mir einzutreffen, um sich mit mir in die Pflege des lieben Geretteten zu teilen. Erstaunt darüber, daß Phin mich nicht an der Hauspforte empfing, blieb ich einen Moment im Flur stehen und rief. Es erfolgte keine Antwort – wohl aber vernahm ich in diesem Augenblicke ein dumpfes Geräusch, das von einem heftigen Geknatter, wie von einer starken elektrischen Entladung, begleitet war.
Nichts Gutes ahnend, eilte ich in atemloser Hast die Treppe zum Laboratorium hinauf und stürzte hinein. –
Mein erster Blick flog auf Mr. Vivacius Style. – Bleich, wie ein edles Marmorbild, lag sein gesenktes Haupt, ein wenig zur Seite geneigt, auf dem Kissen, das ich ihm zur Stütze beim Schlummern angebracht. Ich sah mit blutendem Herzen, daß ich zu spät kam!
Ein weiterer Blick auf den von seiner Hülle halb entblößten Apparat ließ mich auch das Zerstörungswerk als die Ursache der plötzlichen Katastrophe erkennen.
Und nun fand ich auch den Täter! Er lag, in die Hochspannungsleitung meines Laboratoriums eingeklemmt, zu einem einzigen Krampf zusammengezogen, in einer Ecke unter dem Transformator . . .
Aus Abbildungen, die ich besaß, erkannte ich ihn als Mr. Retrorsy, den erbittertsten Feind meines verlorenen Freundes. Aber erst, nachdem ich mich mit trauriger, unumstößlicher Gewißheit überzeugt hatte, daß alle meine ärztliche Kunst und Wissenschaft diesmal bei Mr. Vivacius Style zu spät kam, erst dann – ich schäme mich nicht, es zu gestehen! – habe ich mich um Mr. Retrorsy bemüht. Ich stellte den Strom ab, löste seine zusammengekrampften Glieder von der Leitung und machte Wiederbelebungsversuche. Als diese fruchtlos blieben, führte ich ihm durch Transfusion Sanguinum zu, das künstliche Blut, das er meinem schändlich hingeopferten Freunde durch seine ruchlose Tat entzogen hatte. – Er erwachte endlich wieder und kehrte ins Leben zurück. Er erkannte mich und wollte sprechen, aber seine Zunge lag ihm wie Blei im verzerrten Munde. Er versuchte zu schreiben, aber seine Hände waren gelähmt und kalt und starr wie Stein!
Aber auch ohne sein Geständnis konnte ich mir das Geschehene vollends erklären: wahrscheinlich hatte er mich kurz nach seiner vollendeten schmählichen Tat kommen hören und sich zur Flucht gewandt. Dabei war er gestolpert und hatte sich festhalten wollen, aber das Metallgestänge, das er in der Hast ergriffen, war das Kabel meiner Hochspannungsleitung – und der Schlag von 50 000 Volt hat ihn getroffen. –
Der Phonograph gab mir den Zusammenhang des Ganzen. Der Elende hat seinen Zweck erreicht, Mr. Vivacius Style ist nicht mehr! – Aber die gute Sache hat ihren treuen Kämpfer selbst gerächt, schneller, als er wohl selbst gedacht: Mr. Retrorsy ist gelähmt an Zunge und Händen für immer . . .‹«
Bis hierher hatte ich den Artikel in der »Chicagoer Tribüne« gelesen.
Kopfschüttelnd schlug ich die Zeitung um –, die Nummer war vom ersten April cr . . .