Carl Grunert
Der Marsspion und andere Novellen
Carl Grunert

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Carl Grunert

Der Marsspion und andere Novellen

»Wenn auch Bücher nicht gut oder schlecht machen, besser oder schlechter machen sie doch!« (Jean Paul)

Ein Geleitwort

Die Kunst, Märchen zu erfinden, Märchen zu erzählen, ist uns mählich abhanden gekommen. Sie gehört, in ihrer vollkommenen Reinheit, einer jüngeren Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes an und ist trotz gelegentlicher Wiederbelebungen in alter Frische nicht zu erwecken. Es war eine kindliche Kunst, ein naives Sichtummeln auf den bunten Wiesen der Phantasie. Den Märchenschatz schufen Geschlechter, deren gesamte geistige Habe fast ausschließlich im Märchenhaften und der verwandten Gattung, der Sage, bestand. Das allein, neben ein paar religiösen Formeln und Mythen, ward den Kindern, den Enkeln vererbt. Kindhaft war dieses Menschenalter.

Aber der Geist wuchs, die Kenntnisse kamen und die Wissenschaft. Und den Erwachsenen der reifenden Geschlechter, die immer tiefer in den Apfel der Erkenntnis bissen, schwand langsam der Sinn für das allzu naive Spiel der Phantasie. Den Kindern aber, den geistig Armen und gerade darum allein Glückseligen, wurden die Märchen weiter erzählt. Sie lebten; und kaum merklich änderte der Mund der Erzähler ihren Inhalt, kaum merklich ihre Form. Spät erst wurden sie in der klassischen Form ihrer Unvergänglichkeit aufgeschrieben und gedruckt. Es war der Franzose Charles Perrault, der um die Wende des siebzehnten Jahrhunderts uraltes Kulturgut für seine Kinder unter dem Titel »Les contes de ma mère l'Oye« aufschrieb und drucken ließ. Fast alle Nationen Europas griffen nach dem köstlichen Buch, hörten Heimatsklänge aus fernen Zeiten drin ertönen und boten's in der Muttersprache den eigenen Kleinen dar. In Deutschland schufen so, sich eng an Perrault anschließend, die Gebrüder Grimm, als einen Besitz der Nation für immer, die »Hausmärchen«. An Werken der Märchenliteratur von gleicher Bedeutung gibt es für uns nur eins noch: den Schatz aus dem Orient, »1001 Nacht«.

Wohl blühte auch hier und da eine zarte Blume, geschickter Pflege bedürftig, das Kunstmärchen. Deutschlands romantische Schule ist sogar überreich daran. Aber die Feuerköpfe, die das wiedererrungene Weben in der Natur, das Mitfühlen aller ihrer Wunder oft zu stammelndem Jubel trieb, geheimnisten doch zu viel in ihre Märchen hinein; sie philosophierten in ihnen und förderten nur selten etwas wirklich Kindliches, für Kinder Genießbares zutage. So E. Th. A. Hoffmann und Brentano, Achim von Arnim und Fouqué. Nicht ganz erspart werden kann der gleiche Vorwurf auch dem Dänen Andersen, dessen eng umgrenztem Talent freilich in seinen Märchen gerade etwas Unvergeßliches gelang.

Was nach ihm produziert wurde, ist wenig. Die Märchendichtung ist, soviel wir sehen, tot oder doch im Sterben. Eine Welt ist versunken, in der Tiere und Pflanzen in der zitternden Glut der Mittagssonne, in der rosigen Frische des Morgens oder der raunenden Mitternacht zum Menschen sprachen. Versunken mit ihr die spukhafte Heimlichkeit der Winkel am Kamin oder am behaglich knisternden Ofen, der schnurrenden Spinnrocken und der Großmutter im Altenteil, die Geschichten, von Generation zu Generation hinübergerettet, sprachlos lauschenden Enkelkindern berichtete.

An des Märchens Stelle trat, von langer Hand vorbereitet, die phantastische Erzählung. Von ihm im Blut geschieden. Ward das Märchen geboren aus dem naiven Staunen vor allem Außerordentlichen, der tastenden Unbefangenheit der Phantasie, so die phantastische Erzählung aus dem ernsthaften, glühenden Ringen des Verstandes mit den Geheimnissen der Natur. Ins Erdinnere drang des Menschen Blick, in die Unendlichkeit des Weltalls spähte er mit künstlichen Gläsern, der Kräfte der Materie ward er, einer nach der anderen, habhaft, ohne doch jemals ein Ende, ein greifbares Ende, zu finden. Über den Besitz, das Erkannte hinaus, drang immer die unfaßbare, uneingeschränkte Kraft der Einbildung, die nicht hart im Raume an die Sachen stieß.

AIs die großen Entdeckungen des Mittelalters, das Pulver, der neue Erdteil und die Buchdruckerkunst unermeßliche Perspektiven eröffneten, die geistigen Schätze des Altertums in nordischer Barbarei neu auflebten, trieb auch die Literatur einen neuen Zweig. Von der Schreibstube aus wagte die Phantasie erschreckliche Fahrten in zauberische Länder, in eine seltsam und gigantisch ausgemalte Zukunft.

Die Entwicklung des Romans in Deutschland beginnt eigentlich mit dieser Tendenz. Der berühmte und berüchtigte Roman »Der neue Amadis«, die Abenteurerromane und Robinsonaden (von dem Engländer Daniel Defoe, 1719, ausgehend), die »Insel Felsenburg«, berichten von neuen Ländern, unbekannten Errungenschaften ungekannter Fabelvölker, Wunderliches und Wunderbares. Ein großer Teil der halb lehrhaften, halb satirischen »Volksbücher« des sechzehnten Jahrhunderts weist verwandte Züge auf. So etwa das Buch, das die stattliche Reihe der Münchhausiaden eröffnet, der »Finkenritter«. Vor allem aber das wichtigste und tiefinnigste, die »Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler« (erste Ausgabe 1587), in dem das Volk seinen Respekt und seine grauliche Furcht vor der Macht und den Wundern der Wissenschaft zusammenfaßte.

Es ist begreiflich, daß diese Phantasie, die der Zeit vorauseilt, um von Ersehntem und Unerreichtem wunderbare Lösung zu erträumen, im Ausgang des neunzehnten, des technischen Jahrhunderts, ungemein befruchtet werden mußte. Bis dahin hatte nichts wesentlich Neues sie gereizt. Nun aber kam die Eisenbahn, die Elektrizität mit Telegraph, Telephon und Grammophon. Es kam das Zerbröckeln uralter chemischer Theorien, die gewaltige Maschinentechnik, das Unterseeboot und die neue Ära der Luftschiffahrt. Ein Niederschlag aller dieser unerhörten Errungenschaften mußte auch in der Literatur erkennbar werden, wieder kam aus Frankreich die letzte, kräftigste Anregung, wie uns von dort das Ritterepos, der Roman, die Aufklärung, der Naturalismus, Impressionismus und schließlich der Symbolismus zum großen Teil gekommen ist. Jules Verne setzte in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch seine phantastischen Romane, in denen ein fabelhaftes technisches Wissen sich mit bizarrer Phantasie und klarem Stil verband, eine Welt in Erstaunen. Ihm vorgearbeitet hatten in seinem Vaterlands Cyrano de Bergerac und Voltaire, in England J. Wilkins und F. Goodwin. Verne schuf das moderne Märchen.

Da dringt der Mensch ins Innere der Erde, zertrümmert das starre Gesetz der Schwerkraft und durcheilt die purpurnen Tiefen des Ozeans, die Luft und selbst den Weltenraum, konstruiert die merkwürdigsten Maschinen und Apparate und waltet in dieser nüchternen Welt, als sei ihm, wie dem Märchenprinzen, das Reich der Geister untertan.

Der Autor der vorliegenden Novellen ist einer der jüngsten Vertreter der phantastischen Erzählung und weist die von Jules Verne überkommene Art unverfälscht auf. Er wurde im Jahre 1865 zu Naumburg a. S. geboren, in dem Jahrzehnt also, in dem Jules Verne zu publizieren begann. In den uns freundlich von ihm selbst zusammengestellten biographischen Notizen finden sich Sätze, die seinen Werdegang klar charakterisieren. »Als ich ein zwölfjähriger Knabe war, fiel mir eines Tages Jules Vernes Erzählung: ›Zwanzigtausend Meilen unterm Meer‹ in die Hände. Noch heute ist in meiner Erinnerung der wunderbare Eindruck lebendig, den das seltsame Buch mit seiner kühnen Phantastik auf mich ausübte.

Seit jenem Tage ist mir die Vorliebe für wissenschaftliche Märchen geblieben; Naturwissenschaft und Poesie, als deren Verschmelzung mir derartige Geistesprodukte erschienen, wurden die Pole, um die meine innere Welt zu rotieren begann.« – –

Von deutschen Autoren war es Kurd Laßwitz, der auf den jungen Phantasten bestimmenden Einfluß ausübte. Grunert sagt selbst:

»In der Widmung zu meinem Buche: ›Im irdischen Jenseits‹ habe ich es dankbar aussprechen dürfen, was mir dies Werk (›Auf zwei Planeten‹) im Verein mit den übrigen Schöpfungen des Großmeisters des naturwissenschaftlichen Romans geworden ist. Es bedeutete für mich eine Wiedergeburt.« Und »so entstanden die ›Zukunftsnovellen‹, die in drei Sammlungen vorliegen: ›Im irdischen Jenseits‹, ›Menschen von morgen‹ und ›Feinde im Weltall?‹ – –«

Auch der vorliegende Band, der hier zum ersten Male erscheint, ist ein echter Grunert. Der Universalität und Kühnheit der Jules Verneschen Romane (dessen Phantasie in der Tat manches vorweg nahm, was jetzt greifbare Wirklichkeit werden will) geht hier ein deutscher Autor mit Liebe nach, der immer interessant in der Wahl des Problems, immer spannend in der Ausführung ist.

In unseren Mußestunden machen wir sie gerne mit, diese Flüge in dämmernde Möglichkeiten, da uralte Märchenträume auf der Schneide des wissenschaftlichen Gedankens groteske Tänze vollführen.

Karlernst Knatz


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