Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. IV. Buch
Karl Gutzkow

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102 11.

Es ist im Leben der Seele eine eigene Erfahrung, daß sie in den Momenten ihrer höchsten Anstrengung wunderbare Erleuchtungen erleben kann. Wie in schwindelnder Angst Lucinde vorhin das Lachen eines Theaters gehört hatte, wie ihr Inneres fiebernd hundert Vorstellungen vom Schicksal Klingsohr's durchliefen, Vorstellungen vom zerstörten Plane seiner Flucht, ihrer eigenen Gefahr, ihrem nunmehr so gewissen neuen Herabsturz von der Höhe, auf welcher sich ihr Lebensschicksal befand, ja der sofort ihr ersichtlichen Gewißheit, ein Opfer Nück's werden zu müssen, sah sie plötzlich weiter nichts vor sich, als jenen Tag, wo sie im vorigen Jahr den St.-Wolfgangsberg hinanfuhr, jene Stunde und jenen Moment, wo am Fuß der Maximinuskapelle der Knecht aus dem Weißen Roß vor ihr herging und von dem Begräbniß des alten Mevissen in St.-Wolfgang sprach –

Denn gerade als sie aus der auf den Corridor gehenden Thür hinaus gespäht hatte, fiel der Schein der von dem Knecht hochgehaltenen neu wieder angezündeten Laterne so grell auf die Züge seines Antlitzes, daß sie im Moment des Hinausschlüpfens sich sagte: Das ist ja jener Knecht, der den Sarg erbrochen hat –! Ebenso schnell wußte sie den Namen Bickert und ebenso schnell baute sie auf diese Entdeckung, deren Wahrscheinlichkeit wuchs, den Plan ihrer Rettung.

103 Mit der Verhaftung und Abführung Klingsohr's beschäftigt, schien man ihrer noch nicht wieder gedacht zu haben. Von Secunde zu Secunde, wo sie es wagen zu dürfen glaubte, machte sie einige Schritte weiter zu einer nächsten Thür, an welche sie sich wiederum andrückte. Glücklicherweise waren alle diese Zimmer ohne Bewohner. So lebendig es auch inzwischen im ganzen Profeßhause geworden, so zahlreich am entgegengesetzten andern Ende des Corridors Neugierige aus den Zellen kamen und der gewaltsamen Abführung des Paters Sebastus mit Staunen zusahen, in ihrer nächsten Umgebung blieb es still. Schon war sie bei einer Stiege angekommen, die einen Stock höher ins Dach und hinunter ins Erdgeschoß führte.

Eben zögert sie, ob sie den letztern Weg wählen solle oder nicht, eben sieht sie Klingsohr aus seinem Zimmer schreiten, barfuß, barhaupt, ohne andere Habe, als welche, in ein Bündel zusammengelegt, Kratzer hinter ihm herträgt; da scheint plötzlich die ganze Aufmerksamkeit von fünf Menschen zu gleicher Zeit nur auf die Erinnerung an sie gerichtet zu sein. Das Herausschreiten aus der Zelle Nr. 16 war nun schon ein Suchen nach ihr. Die Worte: Noch ein Bursche war da? Wo? Wann? Noch eben hier? Niemand ist doch hinausgegangen! schollen durcheinander. Das Offenstehen der zweiten Thür wurde ebenso schnell als Zeichen heimlicher Entfernung erkannt und nun war sie schon mit behenden Füßen die abwärts führende Treppe hinunter.

Die nachkommenden Schritte, das Suchen der Rufenden hörte sie, als drohte ein Welteinsturz. Herr von Enckefuß gebot mit lauter Stimme, alle Ausgänge zu besetzen. Das klang ihr wie Todesurtheil. Der Commissär fing an, rasch nacheinander alle Klinken der oben liegenden Zellen niederzudrücken. Es klang wie ein laufendes Gewehrfeuerknattern. Kratzer's Ehre war im 104 Spiel. Klingsohr hatte versichert, der Bursche wäre nicht mehr bei ihm.

Lucinde lag an die Mauer gelehnt. Ein kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Die Stiege brachte sie offenbar vollends ins Verderben, denn der Raum war unten abgeschlossen. Eine Thür, die in ein Souterrain führte, wich keiner der Anstrengungen, die sie machte, sie zu öffnen. Sie mußte zurück, mußte ihren Verfolgern in die Hände fallen. Schon hörte sie Schritte und mit Verzweiflung warf sie sich wieder auf die Vorstellung: Käme jetzt der Knecht! Wär' es wirklich jener Bickert! Könnte, müßte er dich nicht retten? Er trägt die Schlüssel! Ich höre sie klirren! Oeffneten sie vielleicht diese Thür –? So stand sie mit glühenden Augen, krampfte sich mit der einen Hand an die Lehne der Treppe und blickte von der untersten Stufe empor, um, wenn in der That der Knecht kommen sollte, mit der andern ihn festzuhalten. War er es und schaffte nicht Hülfe, so riß sie ihn mit ins Verderben.

Ja, die groben Fußtritte des Knechts waren es, die immer näher kamen. Er fluchte und tobte laut, lachte, schien seine Dienstbereitwilligkeit im allerglänzendsten Lichte zeigen zu wollen. Lucinde kämpfte vor Spannung und Furcht gegen ein Ohnmächtigwerden. Geh' nach unten! rief Kratzer . . . Hanne! Hanne! . . . Ich suche oben! Licht! Auch die Hanne antwortete mit einer lauten Lache . . . Der Commissär versicherte dazwischen, seinen Augen trauen zu dürfen, er hätte niemanden hinausgehen sehen. Glücklicherweise klang diese Stimme noch ziemlich entfernt.

Nahe aber, ganz nahe sprach in dem landesüblichen, wie künstlich betonten und Lucinden nicht geläufigen Dialekt der Knecht des Profeßhauses fortwährend durcheinander. Sie verstand nur: Hier vielleicht! Da! Im Ratzenfange! Dann tappte 105 jemand die Treppe niederwärts und ringsum verbreitete sich ein Lichtschimmer. Lucinde ließ, jetzt sich ergebend, den Feind näher kommen, immer näher, sie machte sogar ein leises Geräusch, nur um ihn vollends niederwärts zu locken. Auf diese Art brachte sie ihn dicht an die verschlossene Kellerthür. Wie er jetzt triumphirend vor ihr stand, jauchzte ihr Herz auf, es war ihr kein Zweifel mehr: Es war der Leichenräuber! Derselbe halb verschmitzte, halb stumpfsinnige Ausdruck des Antlitzes! Dieselben lauernden Mienen, wie damals unter dem Nußbaum, als Bonaventura die Grabrede sprach –!

Ha, ha, ha! lachte der Ankömmling grell auf. Aber mit dem Rufe: Bickert! sprang sie dem sich zu einem Triumphgeschrei, das alle herbeilocken sollte, eben Anschickenden entgegen. Da hielt der Mensch inne. Schon der Anruf seines Namens entsetzte ihn.

Dieb! Leichenräuber! Kennt Ihr mich nicht mehr aus St.-Wolfgang? fuhr sie mit tonloser, aber energischer Stimme fort. Der Verbrecher taumelte zurück. Er erkannte die Verkleidung.

Geht hinauf! fuhr Lucinde mit unterdrückter Stimme, aber fest und bestimmt fort. Sprecht, hier wär' ich nicht! Oder ich rufe laut Euern Namen, Euer Verbrechen und ich reiß' Euch mit ins Verderben! Fort!

Der Mensch taumelte wie angedonnert zurück und stammelte helllaut hinaus ein wiederholtes: Da – ist – niemand! Da nicht – da ist niemand –! Nun hörte man die Stimme des Assessors, hinter ihm den Ruf des Commissärs: Ist denn also unten ein Ausgang?

Bewußtlos halb vor Freude, halb vor erneuter Furcht sank Lucinde an die Kellerthür und halb auf den Fußboden zurück. Sie wußte nicht mehr, wo sich halten. So lag sie einige Secunden . . .

106 Daß dann Schlüssel rasselten, hörte sie; daß eine Thür aufflog, daß sie plötzlich von tiefster Finsterniß umgeben war, daß sie die eine Hand ausstreckte, um sich zu halten und nur die Thür wieder faßte, die ebenso schnell wieder zugedrückt und geschlossen wurde – alles das war ein einziger bewußtloser Augenblick. Erst das Gefühl, der nächsten Gefahr entronnen zu sein, rief ihr die entschwundenen Lebensgeister zurück. Sie hätte aufjubeln mögen vor Freude, aber auch sich ausweinen in Thränenströmen vor dem Jammer der Seele, daß sie, von den Thorheiten ihres Herzens getrieben, sich in solche Lagen gewagt hatte.

Rings um sie her blieb alles dunkel und still. Eine dumpfe, feuchte Luft wehte sie aus der Tiefe an . . . Bei einigen Schritten, die sie, sich langsam erhebend und behutsam um sich tastend, versuchte, bemerkte sie, daß sie sich am Anfang niederwärts gehender steinerner Stufen befand. Daß sie jetzt vor dem Nächsten, was sie bedroht hatte, in ihrer Verkleidung erkannt zu werden, geborgen war, schien ihr bei Bickert's Verschmitztheit fast gewiß zu sein.

Wie aber, wenn sie nur der einen Gefahr entronnen war, um einer andern entgegenzugehen? So in diesem Dunkel und ohne Zweifel im Beginn jener unterirdischen Gänge, von denen sie so oft gehört hatte, kam sie durch eine nahe liegende Gedankenverbindung auf die Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden. Sich selbst sah sie in jenen Leichentüchern, die einst ein Räuber entweihte, den gerade ihre wühlerische und unruhige Phantasie verführt hatte, in ihnen Schätze zu suchen. Wie, wenn sie der die Entdeckung fürchtende Verbrecher aus Rache, mindestens aus Furcht nicht mehr ins Leben zurückließ? Wenn sie erfolglos an diese Thür pochen müßte? Wenn sie hier den Tod der 107 Verzweiflung sterben sollte, schon am Ende ihrer – Lebensbahn, die ihr die dunkelste Zukunft immer zu bergen schien?

Eine Gefahr des Augenblicks konnte Lucinden ganz beherrschen wie jedes andere zagende Weib. Hatte sie aber Zeit, sich erst auf eine Gefahr zu rüsten, so lag ein völliges Verzweifeln nicht mehr in ihrer Natur. Auch auf lange das Schlimmste festzuhalten war nicht ihre Art, wenn auch sogleich im ersten Schrecken alle Dämonen sie anlachten, die im Benehmen der Menschen gegen uns und noch mehr in den Situationen, namentlich für die, die nicht das beste Gewissen haben, aufleben können. Sie malte sich aus, was draußen geschah. Man wird mich vergebens suchen, die Polizei entfernt sich mit Klingsohr – sie hörte zum Zeugniß dessen das Bellen der Hunde –, Kratzer wird Befehl erhalten, die Haussuchung fortzusetzen, Bickert wird meine Entdeckung fürchten und vielleicht mein Bundesgenosse werden, vielleicht auch nicht – Wieder befiel sie Furcht.

Unter der Blouse war sie glücklicherweise warm gekleidet. Kühl fühlte sie sich nur angeweht, so lange sie erhitzt blieb. Ihre Stirn trocknete sich aber allmählich, sie gewöhnte sich an die Luft, die sogar über die steinernen Stufen von unten her wärmer heraufströmte. Schon entdeckte sie, daß man etwa mit acht Stufen im Beginn eines ausgemauerten Raumes war, der auch noch einen andern Ausgang haben konnte; denn unten umhertastend fühlte sie wiederum neue Stufen. Es lag hier jene Oeffnung, die in den Hof ging. Ein scharfer Zugwind, der aus einem entgegengesetzten Winkel kam, schien auf andere Oeffnungen zu deuten. Vielleicht begannen dort die Gänge, die, wie man sagte, unterhalb beinahe der ganzen Stadt hinliefen und in jenen Palast mündeten, in welchem oft die hohen Kirchenfürsten, als sie noch souverän waren, von ihren eigenen Unterthanen belagert wurden. Jetzt waren diese Gänge theilweise verschüttet, 108 doch nicht ganz. Ein Zusammenhang sollte noch immer z. B. mit dem »steinernen Hause« des Herrn Maria statthaben, auch hie und da eine Thür sich befinden, die in Kirchen und geistliche Wohnungen führte. Alles das stand gespenstisch vor den Sinnen der ungeduldig Harrenden.

Sie stieg die Stufen wieder hinauf, welche an die von Bickert verschlossene Thür führten. Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, als sie endlich Geräusch vernahm. Es waren die Schritte eines Mannes, der sich vorsichtig näherte. Die Thür wurde aufgeschlossen. Auch ohne Licht sah ihr an die Dunkelheit inzwischen gewöhntes Auge ihren – fraglichen Retter vor sich stehen.

Eine Weile erst wie prüfend sie anstarrend, bedeutete er sie, jedes Geräusch zu vermeiden. Im Hause wäre alles im Glauben, sie müßte sich irgendwo versteckt haben. Wenn sie nicht um Mitternacht, bis wohin er wiederkehren würde, von einem näher von ihm bezeichneten Fenster an einer Strickleiter hinuntersteigen wollte, würde sie erst am folgenden Tage entfliehen können, falls vielleicht Kratzer ausginge und Frau Hanne in der Küche beschäftigt wäre. Das Hausthor wäre bis dahin heute verriegelt und der Schlüssel schon von Kratzer selbst abgezogen worden.

Ein Steigen über die Mauer war der wachsamen Hunde wegen nicht möglich. Nimmermehr! rief Lucinde. Ich muß fort! Und sogleich! – Sie erbebte bei dem Gedanken, wie sie ihr Ausbleiben im Kattendyk'schen Hause entschuldigen sollte.

Bickert, der plötzlich eine ganz andere, auffallenderweise, wie damals beim Ersteigen des St.-Wolfgangsberges, mit französischen Brocken gemischte Sprache redete, erklärte, dann wäre kein anderer Ausweg möglich, als hier durch die unterirdischen Gänge. 109 Die Schlüssel hätte er, sagte er. Wollte sie, so könnte er sie an die nächste Oeffnung führen, durch die sie vielleicht ins Freie käme . . . Mais – nun wandte er sich mit einer drohenden Geberde, ergriff ihren Arm und sah ihr mit aufgerissenen Augen ins bleiche Antlitz.

Seid ruhig! antwortete sie. Rettet mich und ich schwöre Euch Verschwiegenheit! Dann wiederholte sie, wie sehr sie Eile hätte. Schaudernd blickte sie in die Tiefe, die sie wie ein Grab angähnte.

Fürchten Sie sich nicht! wiederholte Bickert. Aber schwören sollen Sie mir unten am Muttergotteskreuzweg, daß Sie mich nicht denunciren!

Am Muttergotteskreuzweg? wiederholte Lucinde.

In einer guten halben Stunde sollen Sie ebenso naß werden, wie jetzt jeder andere draußen – schon wieder regnet es –

Lucinde bemerkte jetzt erst, daß sie bei all diesen Momenten des Schreckens, ihr völlig unbewußt, sowol den alten Regenschirm, der Veilchen gehörte und leicht eine Entdeckung hatte herbeiführen können, wie die Druckermappe krampfhaft in den Händen festgehalten hatte.

Bickert wollte wissen, wie sie zu dem Pater käme, und lachte höhnisch und zweideutig. Aber bei alledem gingen sie schon vorwärts. Er voran.

Lucinde nahm die Frage nach dem Pater nur insoweit auf, als sie sich erkundigte, was mit ihm geschehen wäre.

Sie haben ihn – au collet genommen, sagte Bickert, sie haben ihn in den Wagen gesetzt, monsieur le commissaire daneben, und so um die Stadt herum! Ich denke, sie fahren ihn in sein Kloster zurück, von wo er gekommen. Pst! . . . unterbrach er sich selbst, blieb stehen und horchte auf, als wenn sie gestört werden könnten –

110 Lucinde hielt sich fest am feuchten Mauerwerk.

Ich will Ihnen lieber etwas zu soupiren bringen, sagte er nach einer Weile, und auch einen alten Mantel – Sie werden Angst kriegen vor – vor – und bleiben die Nacht lieber hier –

Wovor Angst? Nimmermehr! hielt ihn Lucinde zurück. Ich fürchte nichts!

Bickert untersuchte seine Schlüssel und tastete vorwärts. Mit einem Streichhölzchen machte er Licht und zündete eine kleine Laterne an, die er aus der Tasche zog. Rings sah man, wie in einem Bergschacht, nur feuchte Wände; doch konnte man bequem und aufrecht stehen. Inzwischen ging Bickert wieder voran. Lucinde folgte klopfenden Herzens . . .

Plötzlich hielt er inne und sagte mit furchtbarer Drohung: Mais –! Wissen Sie, daß Sie ganz allein mein Verderben gewesen sind –?

Lucinde wich entsetzt zurück.

Sie haben mir's in den Kopf gesetzt – o mon Dieu! Ich war auf einem so raisonnablen Wege – Fast die Zähne knirschend stand er mit geballter Faust vor ihr –

Lucinde blieb starr und sprachlos. Ein Gefühl der Erlösung sprach sich erst in einem laut ihr entschlüpfenden Ah! aus, als Bickert im Gehen fortfuhr: Und das Beste ist, der Pfaffe aus St.-Wolfgang ist hier, und ich komme neulich in seinen confessional und sag' ihm alles! Ich selbst! Sapristi!

Lucinde hörte nur, ohne zu verstehen.

Aber ich erhielt mon fait! Ich hatte in Frankreich zwanzig Jahre Galeere! Warum blieb' ich nicht raisonnable!

Lucinde blieb hinter dem entsetzlichen Menschen zurück. Sie überlegte, ob sie folgen konnte –

Courage! courage! rief er. En avant! Das erste mal 111 hatt' ich auch noch keine courage! Die Ratz meinen's besser, als sie aussehen! Stoßen Sie sich nicht! Warten Sie! Das Licht brennt méchant!

Lucinde war ohne Athem. In kurzen fiebernden Schlägen klopfte ihr Herz. Sie sah, wie Bickert die Gläser seiner Diebslaterne heller putzte. Und der Mauerspalt wurde immer enger und enger.

Ihrem Pater, au prisonnier, hab' ich auch einmal hier den Weg gezeigt – Wenn der jetzt wüßte, daß Sie – Figurez vous! Ich beichte dem Pfarrer und habe versprochen, alles, was ich damals auf dem Kirchhof aus dem halben Geripp herausgewickelt – ihm zu schicken! Qu'avez vous?

Ein Schrei des Schauders entfuhr – aus doppeltem Anlaß – Lucinden.

Bickert blieb stehen.

War's eine? lachte er. Er meinte eine Ratte. Schon hörte man ein Huschen und hastiges Dahinspringen.

Worauf tritt man denn hier ewig? fragte Lucinde, wieder über eine andere Erfahrung erbebend.

Der Führer beleuchtete den Boden.

Das war gut! sagte er. Da liegen sie! Tous crevés!... Nehmen Sie nur nichts mit von dem biscuit, das hier auf dem Boden liegt! Die dicken Kerle, messieurs les rats, haben gedacht: Das legen wir noch zurück für ein andermal! Die Ratz sind hier immer fett – weil es todte Katzen und Hunde genug gibt hier –

Lucinden war es, als athmete sie Gift und Pesthauch aus der Luft. Jetzt blieben ihre Vorstellungen haften bei dem Gedanken an die »Frau Hauptmännin«, an Hammaker, an das Schaffot, an Nück's grauenvolle Rede – Die Wanderung durch einen kaum drei Fuß breiten und sechs Fuß hohen Gang glich in jeder 112 Beziehung dem Besuch eines Bergwerks. Die Wände oben und zur Seite waren gemauert, aber zugleich so feucht, daß sie bewachsen waren von Schimmel und Schnecken. Unten war der Boden festgetretene Erde, aber schlüpfrig zum Ausgleiten. An Stellen, wo die Decke eingestürzt war, mußte man über die Trümmer hinweg und zugleich seinen Kopf neigen. Die Luft war giftig und schwül, sodaß sich die Wanderer wohl durften Muth einflößen lassen durch die zuweilen von Mauersteinen hervorgebrachte Form des Kreuzes, vor welchem auch Bickert regelmäßig sich verbeugte . . . Wenn wir nur erst an die großen Keller kommen, rief er, so haben wir bessere Luft –! Dabei lärmte und polterte er fort und fort und huschte vor sich hin. Diese Vorsicht galt den Ratten, die auf die Art vor ihnen hergejagt wurden. Die Ueberzeugung, der Verbrecher vertraute ihrer Verschwiegenheit und hätte nichts Uebles im Sinn, gab Lucinden Muth und schon nahm sie ihr Erlebniß von seiner abenteuerlichen Seite. Ihr jedesmaliges Aufschreien, so oft sie auf ein Opfer des kürzlich gestreuten Giftes trat, wurde beiden schon zur Unterhaltung.

Der Gang erweiterte sich und zeigte an einigen Stellen runde, stark vergitterte Oeffnungen. Eine derselben war so groß, daß man in einen Keller sehen konnte, in welchen Bickert hineinleuchtete. Da, sagte er, da möcht' ich manchmal die Eisenstangen ein wenig poliren – er meinte feilen – Sehen Sie die großen Fässer! Die gehören Monsieur Moppes. Ich glaube, sie werden aufgespart für die Gerechten beim Jüngsten Gericht –!

Lucinde kannte Herrn Moppes junior, seinen Humor, seine vortreffliche Stimme. Noch gestern hatte im Kattendyk'schen Hause sein Genius geleuchtet – Welch ein Unterschied der Situation! Gestern sie mit ihm im Salon und heute – sein Name 113 ihr hier gesprochen unter der Erde! Auch des Stephan Lengenich gedachte sie. Sie folgte mit beklommenem Athem.

Jetzt kamen die Stellen, welche schon lange zur theilweisen Verschüttung dieser Gänge Veranlassung gegeben hatten. Sie kreuzten sich auf eine gefährliche Weise mit den Kanälen der Stadt. Es war schon vorgekommen, daß diese oberhalb sich hinwegziehenden Rinnen durchbrachen und die tiefer liegenden Gänge überfluteten. An diesen Stellen befanden sich Stützgerüste und doch rieselte es unaufhaltsam von oben herab, ja Bickert sagte, daß man hier bei großen Regenwettern bis ans Knie in Wassern stünde, von denen man weder wisse, wo sie herkamen, noch wohin sie abflössen. Eine Wanderung unter den Stützbalken hinweg konnte den Beherztesten erbeben machen. Man mußte sich hindurchzwängen mit Gefahr, eine der Palissaden einzureißen. Dabei waren die Moppes'schen Keller noch immer nicht zu Ende.

Eine Ermuthigung lag im Anblick einer kleinen uralten Gottesmutter, die in der That an einer Stelle, wo sich der Gang in zwei Theile spaltete, in einer Mauernische stand. Bickert beleuchtete sie mit der Laterne. Er schien nicht die Empfindung Stephan Lengenich's zu haben, der in diesem alten Steinbild eine Aehnlichkeit mit Lucinden gefunden hatte. Und doch hatte in einem Punkte der alte Geisterseher Recht. In dieser schauerlichen Einsamkeit war der Anblick des wohlerhaltenen alten Steinbildes wenigstens so, als wenn man ihm hätte Leben zuerkennen müssen. Die Augen, der Mund, die Stirn unter dem weit über sie hinfallenden Schleier hatten eine gewisse Aehnlichkeit mit Lucinden. Auf dem Arm der kleinen Figur schien das Kind wie lebendig. Lucinde fühlte selbst, wie mächtig der Eindruck war, der einen Räuber bestimmen konnte, die Mütze hier abzuziehen, die Laterne auf den Sims der Nische zu stellen und den steinernen 114 Saum des Kleides der hier in dunkeln Grabesgrüften wie mit Bewußtsein wachenden Gruppe zu küssen. Dann bekreuzte er sich und ließ Lucinden näher treten. Wenn ich damals auf dem cimetière in St.-Wolfgang, sagte er, im Sarge hier diese gefunden hätte, wäre ich schon früher zur Erkenntniß gekommen. Es ist mein Fluch. daß ich Bickert heiße, eigentlich Picard, Mademoiselle! Das ist die alte Chochemfamilie, die ihre Vettern am Galgen hat paradiren sehen, la bonne famille de Damian Hessel und manchem andern da oben am Hundsrück! Sie haben alle den Schwur gemacht, nie Blut zu lecken, und doch sind sie durch die Luft und mit dem großen französischen Balbiermesser aus der Welt gegangen. Ah! Ah –! Nun treiben sich die Enkel und Nachkommen umher, haben sich umgetauft, wie schon mein Vater selig, der mit fünfundzwanzig Jahren travaux davonkam und mich heilig machen wollte wie einen Kanonikus. Aber es liegt im Blut und erst die da – sehen Sie, jetzt wird sie sprechen! – die da sagt mir hier unten immer, wo mich die alte Jeanette Sterz unterbrachte – eine connaissance von meinem Vater selig – Picard! Picard! sagt sie, dein Großvater war zwar ein Jude, aber in deiner Großmutter Dina Jakob und Rebekka, ihrer Schwester, war Stolz; beide haben auch darum, aus Eifersucht und Rache, selbst ihre Männer an den Galgen gebracht. Vom Großvater und vom Großonkel hast du's, daß du noch immer den Hahn nicht kannst krähen hören, ohne an Brecheisen und Rennbaum zu denken! Aber nimm dich zusammen, Picard! Komm zu mir, so wird es gehen und du wirst noch Rathsherr werden in Gröningen, wo all deine Ahnen wohnten –!

Lucinde hatte einen Augenblick der Ruhe nöthig. Sie lehnte sich an das Marienbild und hörte schaudernd den Worten des Räubers zu. Auch ihr sprach das Bild. Das Wunder 115 belebter Statuen und augenbewegender Bilder beruht, wenn auch nicht immer, doch meistentheils auf der Einbildungskraft und dem Zauber aller Kunst. Wem würde nicht ein lange betrachtetes Bild zuletzt mit dem Auge geblinkt haben! Welcher gemalte oder plastisch richtig geformte Mund würde nicht leise zucken, den man beobachtet im Zusammenhang mit allem übrigen, was an einem Bilde oder an einer Statue dem Leben abgelauscht wurde? Einem Künstler sprach die Sixtinische Madonna: Komm in mein Himmelreich! Er hatte die Worte deutlich gehört, der berühmte Kupferstecher, der die majestätische Himmelskönigin mit dem Grabstichel Linie um Linie wiedergeben wollte. Der Wahnsinn umnachtete sein Gemüth für immer; der Glaube ist eine Umnachtung für den Augenblick.

Die schauerliche Einsamkeit hier unter der Erde, die edle Gesichtsform des Bildes, die Beleuchtung der wenigen Lichtstrahlen der Laterne, die Stimmung und Prädisposition des Gemüths, alles kam zusammen, daß auch Lucinde bei diesem Bilde, auf Verlangen des grauenvollen Menschen, feierlich betheuerte, nie den Zufluchtsort, den hier ein Verbrecher im alten Profeßhause gefunden, zu verrathen. Noch mehr. Bickert hob an der Madonna einen Stein auf, zog ein schmuziges Bündel hervor und sagte: Ich mag nicht mehr an die Galeere! Ich wollte hier im Lande Pferdehandel treiben! Mais – ich kam auch da wieder auf falsche Fährte. So wurd' ich Knecht im Weißen Roß. Niemand kannte mich. Ich simulirte einen ganz andern Menschen. Es ging – mais! Da müssen Sie kommen, Mademoiselle, Sie – n'ayez peur! Siebenundvierzig bin ich jetzt, Mademoiselle. Ich ginge lieber – nach Amerika, wenn ich das Geld dazu hätte! Verdienen konnt' ich's, aber der Weg kam – un peu trop etroitement da vorüber, wo neulich Monsieur Hammaker gehabt hat un très mauvais accident –

116 Kannten Sie – auch den? hauchte Lucinde, aufs neue erbebend.

Monsieur Hammaker sah mir gleich den alten Picard an – wie ich – il y a quatre mois – hierher bin geflohen und ich saß ihm vis à vis im Trankgäßchen und mir schmeckte nicht der Heurige. Den Posten hier verschafft' er mir durch die ihm bekannte Madame Jeanette Sterz, eine alte Freundin meines Vaters. Er verlangte blos als don gratuit von mir – eine kleine affaire – den rothen Hahn auf ein Schloß – à peu près zwanzig Meilen von hier –

Westerhof? rief Lucinde entsetzt.

Comment –? fiel Bickert überrascht ein und hielt das Bündel, als wollt' er es Lucinden übergeben, die, schon vor Abscheu nur vor seinem Aussehen, die Hand zurückzog.

Sapristi, wie wissen Sie –! Ich kenne einen, der alle Tage auf mich wartet! Tausend Thaler, und dann nach Amerika! sagte Monsieur Hammaker, und auch zusammen wollten wir gehen. Aber er hatte noch nicht genug. – le petit maître, er wollte Extrapost. Die hat er bekommen! Als ich ihm die Nacht begegnete, wo er in die Sieben Berge machen wollte mit einem sehr hübschen, schweren Koffer, sagt' er mir: Adieu Picard! Folgen Sie mir bald! Machen Sie nur ein compliment – an – an –

Den Oberprocurator Nück –?

Diacre! Woher wissen Sie –? Mademoiselle! Ich aber ging nicht. Ich dachte, er mich wird zum Hause hinauswerfen, wenn ich um die tausend Thaler komm' – für Reisegeld! Mais – Neulich, da zog ich an der Klingel – in der – Marcebillenstraße, ich hatte das Leben hier satt – nein, nein, denken Sie nur nicht – Aber es stand wieder einmal quarante sept mit mir! Hier das Leben unter den Ratten, die schlechte Kost, die Furcht! Ich dachte, 117 Du verdienst dir dein Reisegeld, gehst erst in den Dom und sagst's en confession – Ich bin versucht, wollt' ich sagen, ein groß Feuer anzulegen und ein Papier – so war le mot d'ordredans uns bibliothèque – und ich thät' es gern; wer kann hier leben! Unter den Ratten! Hunde füttern! Hanne Sterz um den Bart gehen! Einen Bart hat sie, Mademoiselle! . . . Da knie' ich im confessional und fange an zu sprechen und sage meine Sünden und ich sehe auf und –

Ihr erblickt den Domherrn von Asselyn!

Einen Geist, der mir spricht: Was enthielt damals der Sarg –?

Gestanden Sie es ihm?

Da! Nehmen Sie, Mademoiselle!

Nun griff Lucinde in heftigster Bewegung nach dem Bündel. So abschreckend feucht das Tuch auch war, sie empfand keinen Widerwillen mehr –

Plaudern werden Sie nicht! widerholte Bickert und beleuchtete unheimlich die Gestalt und äußere Erscheinung der Verkleideten. Und eine wiederum ballend erhobene Faust deutete die Möglichkeit seiner Rache an. Dann aber sagte er: Gut! Geben Sie das –

An den Domherrn von Asselyn –

Im Capitelhause –

Und was enthält es?

Eine Schrift – kein Geld – nur eine Schrift – in Latein – tant je crois –! Damit ging er weiter.

Und die Reise nach Amerika? Schloß Westerhof! Das Papier? rief sie hinter ihm her.

Der Knecht hörte nicht die verhallenden Worte und ging voraus.

Lucinde folgte athemlos. Sie hatte das kleine Bündel in 118 ihre Mappe gezwängt und sich dabei aufgehalten. Mit dem Schirme tastete sie, um dem Schimmer der Laterne zu folgen. Noch einige hundert Schritte in dem links sich erstreckenden engern Gange ging es so fort.

Dann standen sie an einer kleinen, mit verrosteten Eisenklammern beschlagenen Thür. Bickert gab Lucinden die Laterne und zog sein Schlüsselbund. Leise steckte er einen mit wunderlichem Zierrath versehenen alten Schlüssel in das noch wohlerhaltene Schloß. Mit knarrendem Tone ging noch ein Riegel zurück und die Thür öffnete sich. Halten Sie sich an mich! sagte der Führer und stieg einige sich rings windende steinerne Stufen in die Höhe, während die Laterne zurückblieb. Bald kam eine zweite Thür. Bickert horchte. Er wollte lauschen, ob niemand in der Nähe war.

Wo kommen wir hinaus? fragte Lucinde, von den Anstrengungen erschöpft.

Statt zu antworten schärfte Bickert sein Ohr nur noch vorsichtiger.

Jetzt war es Lucinden, als hörte sie einen geistlichen Gesang. Es war wie ein Strom klingender Luft, der auf sie niederwallte. Die Töne schwollen und erhoben sich. Wie aus erquickenden Quellen ringssprühender Wasserstaub, so rieselte sie es an. Nach so langer dumpfer Stille wurde ihr der Ton fast zum Licht, das Licht zur Welle, Geistiges sie wie leiblich Berührendes. Sie konnte sich nicht mehr aufrecht erhalten.

Les chanteurs! Es ist die Domschule! flüsterte Bickert und öffnete. Es strömte wie Lobgesang des Lebens auf sie ein. Hier jetzt den Corridor hinauf, dann – à travers la maison! Bickert drängte Lucinden vorwärts.

Nach einem noch einmal, weniger drohend, als bereits 119 vollkommen hoffnungssicher gesprochenen: Mais Mademoiselle –! stand sie plötzlich allein. Bickert war verschwunden.

Ein schmaler Gang zwischen zwei hohen Mauern führte Lucinden in einen größern, mit Quadersteinen gepflasterten Hof und aus diesem über einige Stufen in ein alterthümliches Haus. Auch hier war auf der großen Diele alles wie von Musik erfüllt. Links von ihr sangen die Chorschüler Uebungen. Ein altes Klavier schlug die Accorde an.

Eine Weile lauschte sie. »Deposuit potentes de sede et exaltabit humiles!« Dazwischen sprach ein Priester Erläuterungen. Die Stimme war ihr fremd. Aber die Worte erklangen immer in der Tonart des Gesanges, kein Dur folgte auf Moll, kein Allegro auf ein Andante, selbst die Belehrungen über die zu machenden Pausen, die gegeben wurden, waren der Aushall des verklungenen Tones. Alles, alles wurde ihr zur Harmonie.

Gern hätte sie glauben mögen, es verwandelten sich ihr die beiden Arme in riesige Flügel. die sie hätte ausbreiten mögen, um die wieder errungene Freiheit zu erproben. Aber nur wie eine verscheuchte Fledermaus huschte sie durch die Flur und an die Hausthür. Diese war unverschlossen. Sie war im Freien, im Regen mit ihrem Bündel, aus welchem sie ein zerknittertes starkes Papier herausfühlte. Mußtest du diese Schrecken erleben, um das zu erlangen, was du vielleicht brauchst, um morgen mit – ihm zu sprechen, vielleicht zum letzten mal –! Dies führt dich bei ihm ein, auch wenn er dir die Beichte abschlägt!

Sie hätte sogleich zu Bonaventura fliegen mögen. Fast hatte sie ihre Knabentracht vergessen. Sie breitete den Schirm aus und schoß mit letzter Anstrengung auf einen Fiaker zu. In die Rumpelgasse! rief sie. Zu Nathan Seligmann!

Die Adresse war bekannt. Eine Viertelstunde darauf war sie bei Veilchen Igelsheimer, die um sie auf den Tod gezittert 120 hatte. Ihre Begleitung an das Profeßhaus hatte Lucinde abgeschlagen. Erst jetzt erfuhr Veilchen zu ihrem Entsetzen, daß alles gescheitert war und daß Lucinde nur mit Lebensgefahr ihre eigene Freiheit gerettet hatte. Zu Aufklärungen für das »trotz Spinoza verzweifelnde« Mädchen, Aufklärungen, die Lucinde auch ohnehin schwerlich gegeben haben würde, blieb keine Zeit. Sie gab ihre Kleider zurück, nahm die ihrigen, entleerte die Mappe, die sie Veilchen ließ, riß das schmuzige Tuch Bickert's auseinander und wollte eben die Einlage, einige in amtlichem Briefformat beschriebene Bogen Papier, einstecken.

Da erblickt Veilchen die Aufschrift und ruft: Gott im Himmel –!

Was ist? fragte Lucinde, halb schon im Gehen – Herr Nathan war noch nicht wieder daheim.

Das ist – das ist ja – die Handschrift – Veilchen öffnete die Bogen, die Lucinde jedoch zu gleicher Zeit schon wieder zurücknahm, nur um sie rasch zu bergen, weil sie Eile hatte. Nur einen Blick, Fräulein –!

Was haben Sie? fragte Lucinde drängend und auf dem Sprunge.

Schon gab Veilchen die Bogen zurück, wie mit einem Schauder – Ein Siegel, das neben dem Namen des Mannes stand, welcher die Bogen unterschrieben hatte, schien ihr die Besinnung zu geben. Lucinde sah ein Kirchensiegel – das Bild des Gekreuzigten – Sie forschte nicht länger, blieb ihr doch die volle Muße eigener Untersuchung und die Gelegenheit der Wiederkehr. Sie hatte nicht Zeit, sich die Ursache ihres Schreckens von dem ihr wie bewußtlos nachblickenden Veilchen erklären zu lassen.

Eine Stunde später saß sie – feingekleidet, still und sittsam – zum Thee bei der Commerzienräthin, die vor Ungeduld nach ihr »fast vergangen war«. Denn seltsamerweise blieb die Commerzienräthin heute ganz allein. Aus Furcht vor Piter ließen 121 sich selbst die Hausfreunde nicht sehen. Das Haus war vor seinem beginnenden Strafgericht in Belagerungszustand erklärt. Johanna hatte von ihrem in aller Frühe abgereisten Verlobten schon per Expressen einen Brief voll Vorwürfe über die Frau Oberstin, die sich übrigens gestern noch vor dem plötzlichen Tumult empfohlen hatte. Dann war die Frau Oberprocurator angefahren gekommen und hatte die Kunde gebracht, daß morgen Abend der Domherr von Asselyn nach Witoborn reise und eine Demonstration der Huldigung stattfinden würde mit Blumen, Gedichten, ja persönlicher Anwesenheit seiner Verehrer. Ob die Mutter auch ginge? Was man dazu anzöge? Endlich hörte man Piter sich lärmend in den Hinterzimmern ankündigen. Alles zitterte. Zum Glück hörte man zu gleicher Zeit den Besuch des Oberprocurators von der andern Seite. Lucinde hatte keine Antwort auf dem Kapitelhause vorgefunden. Sie erhob sich, schützte Kopfweh vor, schoß an Nück vorüber und flüchtete sich auf ihr Zimmer.

Hier ergriff sie einen Bogen Papier, eine Feder und schrieb die Worte:

»Hochwürdigster Domherr! Ich beschwöre Sie! Wenn Sie nicht einen Seelenmord begehen wollen, so bitt' ich um Antwort – wegen meiner Generalbeichte!

Lucinde.«

Sie couvertirte, klingelte und schickte einen Diener mit diesen Zeilen ins Capitelhaus an den Domherrn von Asselyn – wie schon heute in der Frühe. Schlug ihr Bonaventura den Empfang ihres Besuches ab, so hatte sie ein letztes Mittel: den Auftrag Bickert's. Nach allem, was sie von Benno über den Eindruck wußte, den damals die im Sarge des alten Mevissen gefundenen Dinge auf Bonaventura gemacht hatten, durfte sie annehmen, daß 122 dieser sie dann unmöglich zurückweisen würde, wenn sie an ihn ein drittes Schreiben richtete mit der Bitte, ihm wenigstens noch die Dinge, die ihr Bickert, der Knecht aus dem Weißen Roß, gegeben, persönlich einhändigen zu dürfen.

Nun klopfte es. Nück meldete sich draußen.

Ich bin krank! sagte sie an der Thür, rasch verriegelnd – Sie bebte vor dem Manne, bei dem für Bickert – tausend Thaler harrten und der ihr selbst –

Sie wissen – –? sprach Nück schon dringender.

Nichts! Nichts!

Der Pater ist gefangen –

Darauf schwieg sie –

Man führt ihn in sein Kloster zurück –

Doch! Doch in sein Kloster sprach sie bebend. aber nur für sich.

Darf ich –?

Ich bitte dringend – Ich bin krank!

Sie schrieben doch nichts dem Pater?

Sie schwieg –

Wenn man Ihren Brief mit Beschlag belegt hätte! Oder wie verständigten Sie sich mit ihm?

Sie athmete auf, aus Nücks Forschen zu entnehmen, wie kein Verdacht vorlag, daß sie selbst zu Sebastus gegangen.

Bestellen Sie die Pferde ab! Sonst nichts! Gute Nacht! sagte sie, sich ermuthigend, und brach kurz ab.

Nück's murmelnde Stimme hörte sie nicht mehr – auch sein Fortgehen verhallte –

Dann holte sie das verwitterte, nicht zu alte Schreiben, einen langen Brief in lateinischer Sprache, unterzeichnet – »Leo Perl«.

123 Nun verstand sie den Schrecken der Jüdin –!

Sie las und las – übersetzte und – stockte endlich – Um den Brief völlig zu verstehen, mußte sie nach dem Wörterbuche greifen, das ihr Benno gekauft hatte – Darüber schlug es elf – Der Inhalt war, das merkte sie wohl, von einer allen Glauben übersteigenden Wichtigkeit.


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