Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ein strahlender Junitag ging zur Rüste. Die Abendsonne hatte den über der Großstadt liegenden Schleier von Rauch, Dunst und Staub in leuchtenden Duft verwandelt und zu einem Goldnimbus der rastlosen Arbeit verklärt, von dem sich die Türme als zarte graublaue Flächen mit unscharfen Umrissen abhoben.
Die Uhr der Johanniskirche verkündete die sechste Stunde, und wenige Augenblicke später schwoll der Straßenverkehr im Buchhändlerviertel zur Hochflut an: aus all den großen und kleinen graphischen Betrieben strömten, des Feierabends heute doppelt froh, in Scharen fleißige Angestellte und Arbeiter, mischten sich untereinander, stauten sich an den Haltestellen der Straßenbahnen oder schlenderten in gemächlichem Schritt über den Grimmaischen Steinweg und den Augustusplatz der inneren Stadt zu.
Aus keinem der neueren Riesengeschäftshäuser ergoß sich ein stärkerer Menschenstrom als aus dem gewaltigen gelben Ziegelbau der Firma Wernicke und Kompanie, Verlags- und Kommissionsbuchhandlung, der sich seit etwa zehn Jahren in der Erasmus-Reich-Straße auf dem großen Areal erhob, wo ehedem das behaglich-schlichte Geschäfts- und Wohnhaus Herrn Waldemar Blumhardts, des Inhabers der Verlagsbuchhandlung Friedrich Ambrosius Blumhardt, inmitten eines schattigen und schon etwas verwilderten Gartens gestanden hatte. Das patriarchalische Heim des alten Buchhändlergeschlechtes war unter dem Zwang einer neuen, in angestrengterem Schaffen aufgehenden Zeit dem etwas nüchternen, aber mit der höchsten Zweckmäßigkeit eingerichteten Arbeitspalast gewichen, der unter seinem Dache die rein buchhändlerischen Geschäftszweige mit einer ausgedehnten Druckerei und einer im Aufblühen begriffenen Buchbinderei vereinte. Der Architekt, dem das Gebäude seine Entstehung verdankte, schien das Bedürfnis empfunden zu haben, wenigstens an einer Stelle der langen Stirnseite seinem Schönheitssinn ein Zugeständnis zu machen, und so hatte er am Portale die Sandsteinfiguren Merkurs und Minervas angebracht, die nicht nur als bildnerischer Schmuck wirken, sondern zugleich auch klassisch gebildeten Beschauern andeuten sollten, daß sich der Gott des Handels und die Göttin der Weisheit und der schönen Künste in das Patronat des Hauses teilten. Aber der Eindruck der herkulisch gebauten Steingestalten wurde ein wenig durch das unter der Figur Merkurs prangende überaus bunte Wappen der Republik Ekuador beeinträchtigt, das eigentlich keinen andern Zweck hatte, als Herrn Paul Wernicke, dem Chef von Wernicke und Kompanie, das Recht zu verleihen, seinem Namen den Titel Konsul voranzusetzen. Denn Herr Paul Wernicke strebte nach Höherem und teilte keineswegs die Auffassung Friedrichs des Großen, daß die Standesbezeichnung »Buchhändler« ein »honetter Titul« sei.
Jetzt herrschte in dem weitläufigen Gebäude eine beinahe weihevolle Stille. Die Maschinen in den Arbeitssälen des Erdgeschosses standen, die im ersten Stockwerk gelegenen Setzersäle waren verödet, und im Kommissionsgeschäft, wo den Tag über mit Ballen, Kisten und Paketen hantiert worden war, verstummte allmählich der Lärm. Nur in den Kontoren, die im zweiten Geschosse lagen, ging das Tagewerk noch weiter, und man vernahm schon auf dem Korridor das Klappern der Schreibmaschinen, das bisher vom Rattern der Schnellpressen, vom Rollen der sich auf Schienen bewegenden Lagerwägelchen und von dem singenden Geräusch der auf- und absteigenden Fahrstühle übertönt worden war. Aber auch hier wurde die Arbeit bereits lässiger betrieben, und eine der Tippdamen nach der andern schlich sich schon zum Spiegel des Waschraumes, um einen prüfenden Blick auf ihre Frisur zu werfen.
Das war die Stunde, wo heute wie an jedem Mittwoch bei der Firma Friedrich Ambrosius Blumhardt, die sich, um wenigstens der alten Stätte ihrer Wirksamkeit nahe zu sein, als Mieterin einer Reihe kleinerer Räume im zweiten Stockwerk des Wernickeschen Geschäftsgebäudes eingenistet hatte, das rechte Leben erwachte. Im Privatkontor des Chefs und unter seinem Vorsitz tagte die Redaktion der »Aurora«, der vornehmen literarisch-politischen Wochenschrift, die seit dreiundsiebzig Jahren in bescheidener Auflage und beinahe unveränderter Ausstattung aus dem Blumhardtschen Verlage in die Welt hinausging.
Für den Charakter der Firma, ihres Inhabers und ihrer Zeitschrift war die Einrichtung des Raumes kaum weniger bezeichnend, als die fünf oder sechs Menschen, die sich an den berühmten Redaktionsabenden zu einer, wenn auch ziemlich zwanglosen, so doch auf einen akademischen Ton gestimmten und manchmal geradezu an die Verhandlungen einer der zwerghaften gelehrten Gesellschaften der guten alten Zeit gemahnenden Besprechung zusammenfanden.
Es war hier auch heute noch nicht viel anders, als es im alten Hause gewesen war, und wenn auch der von einem urnenartigen Aufsatz gekrönte mächtige weiße Kachelofen der Dampfheizung hatte weichen müssen, so hatten sich doch die altväterischen Möbel genau in derselben Anordnung wieder zusammengefunden, in der sie von drei Generationen der Familie benutzt worden waren. Streng stilgerecht nach heutigen Begriffen war die Zusammenstellung der mit schmalen Palisandereinlagen, Bronzebeschlägen und grünen Ripsgardinen versehenen Bücherschränke aus hellem Kirschbaumholz mit dem Tisch und den steiflehnigen Stühlen aus tiefrotem Mahagoni nicht, aber alle diese Stücke vertrugen sich wie gute Nachbarn miteinander, mit dem altmodischen schmucklosen Geldschrank, dem hohen eichenen Gestell, auf dem ein vollständiges Exemplar der »Aurora« in gleichmäßigen dunkelblauen Halbfranzbänden stand, mit den einfach schwarzgerahmten Kupferstich- und Lithographiebildnissen längst dahingegangener und von der Welt auch meist schon vergessener Autoren und Geschäftsfreunde und mit den Kopien der lebensgroßen Ölporträts von Waldemar Blumhardts Vater und Großvater, Bildern, deren Originale die Privatwohnung des Firmeninhabers schmückten. Dazu prangten, als habe es noch eines deutlicheren Beweises bedurft, daß hier die Verbindung mit der patriarchalischen Vergangenheit noch nicht abgerissen war, auf dem einen der Bücherschränke eine leidlich blankgehaltene Moderateurlampe aus Messing und auf dem andern ein schwarzgewordener Deckelpokal aus papierdünnem Silber, das Ehrengeschenk des Personals an den Gründer der Firma zu irgendeinem Jubiläum.
Die beiden alten Herren, die, glattrasiert, über ihre Vatermörder und weißen Halsbinden hinweg aus den goldenen Rahmen in das behagliche Privatkontor ihres Nachfahren sahen, hätten hier außer dem Kachelofen schwerlich etwas anderes vermißt, als den Blick ins Grüne und das durch den Schatten mächtiger Bäume gedämpfte Licht. Aber ein schwacher Ersatz für den alten Garten war doch vorhanden: aus Herrn Waldemar Blumhardts Arbeitszimmer trat man auf das flache Dach eines Vorbaues hinaus, das mit Kies bestreut und zu einer Art von Altan hergerichtet war, auf dem mehrere grüngestrichene und mit Kakteen besetzte Treppengestelle standen. Diese Kakteen, deren Pflege eine der wenigen unliterarischen Liebhabereien Blumhardts war, konnten so ziemlich als das letzte Band gelten, das ihn noch mit der Natur verknüpfte. Von dem Altan, den er in einer Anwandlung von Selbstironie gern mit den hängenden Gärten der Semiramis verglich, sah man in den Hof des gewaltigen Gebäudeblocks hinunter und damit auch auf einen alten Kastanienbaum, den letzten Zeugen der ehemaligen Gartenherrlichkeit, der nur dadurch, daß er genau in der Mitte des Grundstücks gestanden hatte, dem Schicksal seiner Gefährten entgangen war.
Von den sieben Stühlen, die den Mahagonitisch umgaben, waren heute fünf besetzt. Denn außer den vier ständigen oder ordentlichen Redaktionsmitgliedern gab es noch drei außerordentliche, die sich nur dann zu den Sitzungen einfanden, wenn sie etwas auf dem Herzen hatten, dem sie in der »Aurora« Ausdruck zu verleihen wünschten. An der einen Schmalseite präsidierte Blumhardt, ein stattlicher Sechziger von straffer Haltung, dessen jugendlich frisches Antlitz mit den durchdringenden, manchmal ein wenig träumerischen Augen und dem kurzen dunkeln Schnurrbart seltsam gegen das kühn zurückgestrichene schneeweiße Haar abstach. In seiner bequemen Jacke aus braunem Samt sah er wie ein Künstler aus, und dieser Eindruck wurde durch die bald gemessenen, bald temperamentvollen Bewegungen verstärkt, mit denen er bei den Verhandlungen einen langen, sorgfältig gespitzten Bleistift gleich einem Taktstock zu schwingen pflegte.
Ihm gegenüber saß seine »rechte Hand«, der blonde junge Literat Theodor Schröter, der, aus dem Buchhandel hervorgegangen, durch ein paar gut stilisierte Aufsätze Blumhardts Aufmerksamkeit erregt hatte und von ihm als eine Art redaktioneller Heimarbeiter angestellt worden war. Das Gehalt, das er für seine Dienste bezog, war mäßig, aber er war froh, ein sicheres Einkommen zu haben, das ihm die Fortsetzung seiner Privatstudien erlaubte, und er betrachtete den Redaktionstisch der »Aurora« wohl auch nur als das Sprungbrett zu einer besser bezahlten und selbständigeren Stellung.
An der dem Fenster zugewandten Seite des Tisches hatten sich die beiden »Hauptsäulen« der Wochenschrift niedergelassen: Oberstudienrat Sintrop, der Historiker, ein heiter-behaglicher Kahlkopf mit grauer Bartkrause, spitzer Forschernase und goldener Brille, und Professor Korte, der Germanist, dem das etwas wirre Haar und der lang herabhängende struppichte Schnurrbart das Aussehen eines Kosakenhetmans gaben. Von den Stühlen der »Außerordentlichen« war heute nur der des Pfarrers Mertens besetzt, der als Landgeistlicher in Thüringen wirkte, unter dem Pseudonym »Max Frei« höchst geistreiche kunst- und musikgeschichtliche Artikel und satirische Bilder aus dem Kulturleben der Gegenwart schrieb und gewöhnlich den Mittwoch dazu benutzte, mit dem Besuch der Hauptprobe zum Gewandhauskonzert die Teilnahme an der Redaktionssitzung zu verbinden. Er war eine hagere Erscheinung mit scharfen Zügen, schalkhaften Äuglein und kurzen Bartkoteletten, ein Mann, dem man den liberalen Theologen auf den ersten Blick ansah.
Die Herren waren dabei, das neue Heft der Zeitschrift zusammenzustellen, und jeder von ihnen hatte die von ihm gelesenen Korrekturfahnen einer Anzahl von Beiträgen vor sich liegen.
»›Platos Bedeutung für die Gegenwart‹ und ›Lichtenbergs Skeptizismus‹ können wir unmöglich in dasselbe Heft stecken; das wäre zuviel Philosophie auf einmal,« bemerkte Blumhardt. »Ich denke, wir stellen Plato zurück. Mit dem Artikel bin ich ohnehin nicht recht einverstanden. Sie wissen, meine Herren, daß ich Wilamowitzens Auffassung, die sich in dem Beitrage breit macht, nicht teile. Plato war nun einmal kein Durchschnittsschulmeister, sondern eine außerordentliche Erscheinung, die sich nur mit Goethe vergleichen läßt. Wer die Harmonie nicht empfindet, die trotz den tiefsten inneren Gegensätzen zwischen Geist und Seele das Wesen dieses Mannes beherrscht, kann ihm als universalem Denker nie gerecht werden. Ich muß Vogelsang noch einmal schreiben; er mag ja ruhig Wilamowitz zitieren, aber er soll klar andeuten, daß wir auf einem anderen Standpunkte stehen.«
»Dann bliebe es also bei Lichtenberg,« sagte Korte. »Ich habe das Manuskript zurechtgemacht und gehörig darin herumgearbeitet. Der Stil war ein wenig holpricht, und Lichtenbergs Verhältnis zum Spinozismus schien mir nicht scharf genug beleuchtet zu sein. Ich glaube aber, wie sich der Beitrag jetzt ausnimmt, können wir mit ihm Ehre einlegen.«
»Das heißt, ein bißchen Papierdeutsch war doch noch stehengeblieben, lieber Gevatter,« erwiderte Blumhardt mit sarkastischem Lächeln. »Ich habe letzte Nacht bis zwei Uhr darüber gesessen. Sieh dir gefälligst mal meinen Fahnenabzug an! Ja, ja, ich merke es immer wieder: wenn euch Kerle der Inhalt eines Manuskriptes interessiert, lest ihr über die hanebüchensten Sprachschnitzer hinweg. Das geht nicht; wir müssen unbedingt auf Stilreinheit sehen. Keine Phrasen! Keinen Schwulst! Der Artikel über Hans von Marées, den wir das letztemal als Lückenbüßer eingestellt hatten, war ganz ungenügend durchgeackert. Der wird uns mindestens ein Dutzend guter alter Abonnenten kosten.«
»Was nehmen wir diesmal an die erste Stelle, ›Das Reichs-Kaligesetz‹ oder den schönen Aufsatz über Bismarck und England?« fragte Sintrop, der immer darauf hielt, daß das Politische, dem der Herausgeber gern aus dem Wege ging, in der »Aurora« nicht zu kurz kam.
»Das Kaligesetz ist eine verflucht trockene Materie, da wäre mir ›Bismarck und England‹ schon lieber«, meinte Blumhardt.
»Trocken oder nicht, das spielt hier keine Rolle; die Sache ist von der allergrößten Bedeutung. Je eher wir mit dem Beitrag herauskommen, desto besser ist's.«
Blumhardt seufzte. »Na, dann in Gottesnamen! Aber daß mir das Heft nicht zu schwer wird! Haben wir denn etwas Leichtes zur Auflockerung?«
»Vielleicht ›Robert Schumann als Achtundvierziger‹?« schlug Korte vor.
»Ist auch noch zu schwer. Viel zu politisch! Wir brauchen etwas wirklich Feuilletonistisches, aber etwas Brillantes, das auch die Frauen mit Nutzen und Vergnügen lesen können.«
»Dann käme wohl der feine Metzlersche Aufsatz über Gustav Falke in Frage,« sagte Schröter. »Oder die ›Andalusischen Reisebilder‹ von Hildebrand.«
»Ja, die ›Andalusischen Reisebilder‹ sind das Richtige, darin steckt Sonne und Farbe,« rief Blumhardt in heller Begeisterung. »Ich habe die Arbeit nun schon zum drittenmal gelesen und war immer aufs neue davon entzückt. Bleiben wir also dabei! Der Artikel ist zudem ziemlich lang und erspart uns nebenbei auch einen volkswirtschaftlichen. Dann hätten wir also – bitte, meine Herren, notieren Sie sich einmal die Reihenfolge! – ›Reichs-Kaligesetz‹, ›Lichtenbergs Skeptizismus‹, ›Andalusische Reisebilder‹, Romanfortsetzung. Das wären allerdings nur vier Sachen. Entschieden zu wenig! Vor dem Quartalswechsel dürfen die Hefte nicht zu mager aussehen.«
»Vorab fehlt das Historische,« warf Sintrop ein. »Wollen wir nicht ›Die Grundlagen des Papsttums‹ an zweiter Stelle bringen?«
»Das ginge. Das Ding ist aber, soweit ich mich erinnere, ziemlich kurz.«
»Dann wäre ich dafür, daß wir vor dem Roman noch ›Zeitungskultur und Reporterpsyche‹ einschöben,« sagte Korte. »Die Tagespresse wird zwar spucken –«
»Macht gar nichts!« entschied Blumhardt, der sich jederzeit zu Heraklits Ansicht bekannte, daß der Kampf der Vater der Dinge sei. »Laß sie ruhig spucken, Gevatter! Die gute Presse haben wir schließlich doch auf unserer Seite. Der Aufsatz stellt ja nur die berechtigte Forderung auf, daß auch der Reporter ein Sprachkünstler sein und auf all die klischierten Wendungen verzichten solle, die sich das Publikum längst zum Ekel gelesen hat. Nun hätten wir also sechserlei. Ein reiches Heft, das muß ich sagen! Mehr können unsere Abonnenten wirklich nicht verlangen. Ich hätte ja gern unserm Freund Mertens den Gefallen getan und seine Arbeit über die Entwicklung der Oper mit eingestellt, aber das geht beim besten Willen nicht. Er muß sich noch ein Weilchen gedulden.«
»Ich hab' es gar nicht so eilig damit,« erklärte der Pfarrer lächelnd, »fürchte aber, daß Sie den Artikel immer wieder zurückschieben. Ich weiß auch ganz genau, woran das liegt. Wenn man jedoch über die Geschichte der Oper schreibt, kann man Richard Wagner unmöglich totschweigen.«
»Verlange ich auch gar nicht, bester Freund! Es kommt nur darauf an, wie man sich zu einer solchen Erscheinung stellt. Sie dürfen der ›Aurora‹ nur nicht zumuten, daß sie sich für Wagner ins Zeug legt. Wir haben ihn von Anfang an abgelehnt, und daran darf konsequenterweise nichts geändert werden.«
»Hör' mal, Gevatter, da bist du doch auf einem falschen Wege,« sagte Korte mit großer Entschiedenheit. »Du kannst Wagner ebensowenig aus der Welt schaffen wie Nietzsche, den Monismus und die moderne biologische Wissenschaft. Wozu der Kampf gegen Windmühlen? Wir haben uns durch unsern übertriebenen Konservativismus schon eine ganze Reihe guter Mitarbeiter entfremdet. Ideen lassen sich in ihrem Siegeszuge durch Stillschweigen oder Proteste nicht aufhalten und am allerwenigsten durch geringschätzige Bemerkungen. Ich fürchte, die Kulturentwicklung wird weitergehen, ohne sich viel um die Opposition der ›Aurora‹ zu kümmern, und ich kann immer nur wieder sagen: machen wir dem Geiste der Neuzeit Zugeständnisse! Sehen wir den einmal gegebenen Dingen beherzt ins Gesicht und suchen wir uns mit ihnen abzufinden! Mit jedem Neuerer durch dick und dünn zu gehen brauchen wir deshalb noch lange nicht. Aber wenn wir so weiterwirtschaften wie bisher, geraten wir unfehlbar auf ein totes Gleis. Das ist meine Meinung. Dixi et salvavi animam meam.«
Sintrop schmunzelte vielsagend, Mertens nickte zustimmend, Blumhardt lächelte nachsichtig-überlegen. »Freund Korte hat wieder einmal seinen revolutionären Tag,« meinte er. »Er kommt trotz seinen fünfundfünfzig Jahren aus dem Sturm und Drang nicht heraus. Na, ich hoffe, einmal wird er sich doch die Hörner ablaufen. Gewiß, in mancher Beziehung hast du gar nicht so unrecht, Gevatter, aber wir können doch nicht von heute auf morgen einen andern Kurs einschlagen. Ich bin immer für langsame Übergänge gewesen. Wer die ›Aurora‹ hält, bekundet doch, daß er mit unsern Anschauungen einverstanden ist. Wollen wir also sämtliche Abonnenten vor den Kopf stoßen, indem wir mit den andern Journalen in die große Trompete blasen? Kommen wir also auf unsre Tagesordnung zurück! Das Heft wäre soweit fertig; sprechen wir jetzt über die Manuskripte! Was haben Sie uns mitgebracht, Herr Oberstudienrat?«
Sintrop entnahm seiner Mappe ein umfangreiches Blätterpaket. »Die Redlichsche Arbeit über Turkestan. Scheint mir ganz vorzüglich zu sein.«
»Das sagte Professor Rasch, dem ich sie zuerst vorgelegt hatte, auch,« bemerkte Blumhardt mit Genugtuung. »Der Verfasser ist uns vom Auswärtigen Amt empfohlen. Er kennt Land und Leute aus jahrelanger eigener Anschauung. Wird also akzeptiert?«
»Unter allen Umständen.«
»Das wird Redlich freuen. Er hat schon ein paarmal angefragt, was aus seiner Sendung geworden wäre. Was sich solche Leute nur denken! Als ob man sich in drei oder vier Wochen über Annahme oder Ablehnung eines solchen Wälzers entscheiden könnte! Haben Sie sonst noch etwas?«
»Mit der ›Bedeutung der Alpenpässe für den Handel des Mittelalters‹ bin ich noch nicht ganz fertiggeworden,« berichtete Sintrop. »Scheint aber ebenfalls sehr brauchbar zu sein.«
»Um so besser! Da haben wir gleich einen guten Beitrag für die Reisezeit. Nun, und du, Gevatter Korte? Was bringst du uns Schönes?«
»Nicht allzuviel. Zunächst Grünbergs Studie über die Shakespearesche Bühne. Ginge zur Not, sagt aber kaum etwas Neues. Ist auch nicht gerade besonders gut geschrieben. Ich habe deshalb am Manuskript auch noch nichts korrigiert.«
»Dann zurück damit! Was nicht ganz prima ist, halten wir uns vom Halse. Du hast wohl notiert, was wir dem Manne schreiben können?«
»Natürlich, mein Gutachten liegt bei. Außerdem ist Herr Schröter wohl so freundlich, die Bemerkung einzuflechten, daß die ›Aurora‹ den Gegenstand bereits vor nicht zu langer Zeit einmal behandelt hätte und deshalb vorläufig nicht darauf zurückkommen wolle.«
»Was hast du sonst noch, Gevatter?«
»Das Novellchen von Heidenreich.«
»Heidenreich? Darauf kann ich mich gar nicht mehr besinnen. Wie lautet doch der Titel?«
»›Der Goldschmied vom Ponte Vecchio‹.«
»Richtig! Das ist die Renaissancegeschichte. Aber die mußt du lange unter den Händen gehabt haben! Donnerwetter, das ist doch mindestens ein Vierteljahr her, daß ich das Ding gelesen habe.«
»Bewahre! Ich habe das Manuskript allerhöchstens sechs Wochen zu Hause gehabt,« verteidigte sich Korte, dem Blumhardt immer wieder vorwarf, daß er die zur Prüfung mitgenommenen Beiträge gern ein wenig ablagern ließe, bevor er daran ginge. »Ich muß allerdings gestehen, daß mich anfangs die furchtbare Klaue abgeschreckt hat. Als ich mich jedoch ein wenig hineingelesen hatte, kam ich nicht wieder davon los.«
»Das ist immer ein gutes Zeichen. Mir hat die Geschichte auch gefallen. Dann sind wir uns also darüber einig, daß sie genommen wird?«
»Ich bin jedenfalls dafür. Viel zu verbessern war nicht daran.«
»Na, hör' mal, Gevatter, dann will ich sie doch lieber vorher selbst einmal noch lesen. Ich kenne dich, Spiegelberg. Du gehörst zu den Leuten, die sich durch den Inhalt bestechen lassen und darüber die Form vergessen.«
Korte lächelte ein wenig säuerlich. »Meinetwegen lies das Ding selbst noch einmal. Du wirst mir schon recht geben, wenn ich behaupte, daß es glatt und sauber geschrieben ist. Was ist denn eigentlich aus dem Roman geworden, den ich dir vor etwa drei Wochen zurückgab? Ich meine den ›König Laurin‹ von Kurt Arnold Schlick.«
Blumhardt legte den Bleistift aus der Hand, lehnte sich weit zurück und schaute eine Weile sinnend zur Decke empor, ehe er antwortete. »Ja, der ›König Laurin‹! Der geht mir Tag und Nacht im Kopf herum. Mir hat der Roman sofort gefallen. Wenn auch ein paar schwache Stellen darin sind: alles in allem scheint mir die Arbeit ein Meisterwerk. Wenn ich nur wüßte, wer dieser Schlick ist! Im Kürschner steht er nicht, er muß also wohl ein homo novus sein. Kennt ihn vielleicht einer von Ihnen, meine Herren?«
Schröter behauptete, den Namen im Feuilleton des Tageblatts gelesen zu haben, konnte sich jedoch der näheren Umstände nicht mehr entsinnen. Die andern mußten bekennen, daß Kurt Arnold Schlick für sie eine unbekannte Größe sei.
»Aber du willst den Roman doch nehmen?« fragte Korte. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, ich druckte ihn sofort.«
»Ja – fest entschlossen bin ich doch noch nicht. Das Buch ist ja brillant, aber es ist so ganz anders, als alles, was ich bisher herausgebracht habe. Das ist ja eben die Tragik von uns Verlegern, daß wir für das Neue keinen Maßstab haben. Was gut war, wissen wir ganz genau, was gut sein wird, wissen wir nicht.«
» Eritis sicut deus, scientes bonum et malum, zitierte Sintrop mit unverkennbarem Behagen.
»Mephisto hat nur zu recht,« fuhr Blumhardt fort, »und es wäre eine Lust, Verleger zu sein, wenn man in die Zukunft sehen könnte. Aber wir haben leider außer unserm recht unzuverlässigen dunkeln Instinkt kein anderes Hilfsmittel zur Beurteilung eines Buches als unsere sogenannte kaufmännische Erfahrung, und die weist uns nur in die Vergangenheit. Sieht ein Werk anders aus als eins, mit dem wir einmal Erfolg gehabt haben, so stehen wir wie der Ochse vorm neuen Scheunentor.«
»Ich würde es mit dem ›König Laurin‹ getrost wagen«, bemerkte Korte.
»Kannst du leicht sagen, Gevatter. Aus deiner Tasche geht's ja nicht. Und wenn ich auf der Auflage sitzen bleibe, reibst du dir die Hände und denkst, Gott sei Dank, daß ich als Schulmeister auf sicherere Einnahmen rechnen darf als Gevatter Blumhardt mit seiner Bücherlotterie. Nein, alter Junge, so etwas will reiflich überlegt sein.«
»Haben Sie sich schon mit dem Autor in Verbindung gesetzt?« fragte Mertens.
»Noch nicht. Ich bin, wie gesagt, noch zu keinem Entschlusse gekommen. Manchmal sage ich mir: du mußt das Buch unter allen Umständen verlegen, und wenn du auch ein paar tausend Mark dabei zusetzt, denn es wäre Sünde, wenn du der Welt eine solche Arbeit vorenthalten wolltest, und dann sagt mir wieder eine innere Stimme: laß die Finger davon, Waldemar; dein individueller Geschmack würde dich unfehlbar wieder hineinreiten. Was soll man da nun tun? Ich habe das Manuskript Hilde gegeben, und sie hat mir versprochen, es zur heutigen Redaktionssitzung wieder herzubringen und uns ihre Meinung darüber zu sagen. Sie ist ja für mich eine Vertreterin des unbefangenen Publikums.«
Daß Blumhardt seine Tochter zum »unbefangenen Publikum« zählte, war auch einer der großen Irrtümer, von denen ihn seine Berater nicht abzubringen vermochten. Wenn man als einziges Kind in einem Hause aufgewachsen ist, worin schon seit drei Generationen über nichts anderes als über Literatur und Kunst gesprochen wurde, wenn man überdies einen Vater hat, der jederzeit seinen ästhetischen Überzeugungen mit der an Unfehlbarkeit grenzenden Selbstverständlichkeit eines Propheten Ausdruck zu verleihen pflegte, dann ist man in solchen Dingen niemals unbefangen gewesen, sondern hat sich unbewußt durch Anschauungen beeinflussen lassen, von denen man sich nicht so leicht frei macht, und über deren Berechtigung man nur dann nachzudenken geneigt ist, wenn man durch irgendeine Schicksalsfügung unter den Bann eines anders gerichteten stärkeren Geistes gerät. In diese Lage war jedoch Hilde Blumhardt bis jetzt noch nicht gekommen.
»Wo das Mädel nur bleibt!« sagte der Vater mit einem Blick auf die zierliche Empireuhr, die in ihrem weißen Marmorgehäuse auf einer Konsole zwischen Fenster und Altantür leise tickte, »sie wollte doch um sechs schon hier sein. Sie ist heute freilich ein bißchen aus der Kontenance geraten, denn sie bekam mit der Frühpost die Nachricht, daß sich für die kleine Landschaft, die sie im Kunstverein ausgestellt hat, ein Käufer gefunden habe.«
»Das ist ja sehr erfreulich, bemerkte Pfarrer Mertens, der schon vor Jahren, als Hildens mit Entschiedenheit ausgesprochene Absicht, sich der Kunst zu widmen, bei den Eltern auf Widerstand gestoßen war, nachdrücklich auf ihr Talent für die Malerei hingewiesen und es durchgesetzt hatte, daß sie bei einem Professor der Akademie Stunden nehmen durfte. »Das ist also wohl das erste Bild, das sie verkauft?«
»Das erste. Ein glänzendes Geschäft ist es gerade nicht. Zweihundert Mark bekommt sie dafür. Aber es ist doch ein Anfang, und die Hauptsache dabei scheint mir, daß sie durch den Erfolg ermutigt wird.«
»Weiß sie, wer der Käufer ist?« fragte Sintrop.
»Sie hat keine Ahnung. Aber ich denke, man wird es beim Kunstverein erfahren können.«
»Sie muß auf jeden Fall einmal anfragen. Es ist für einen Künstler immer von Wert, seinen Mäzen zu kennen,« meinte Korte. »Ich bin nur gespannt, was Hilde zu dem Roman sagen wird. Ich fürchte fast, sie wird nicht so ganz einverstanden damit sein. Es ist doch eine kräftigere Kost, als sie gewöhnt ist.«
»Abwarten, Gevatter, abwarten!« sagte Blumhardt, dessen Vaterstolz durch den Bildverkauf nicht wenig gesteigert worden war. »Über die Wildermuth ist das Mädel hinaus; das müßtest du doch auch schon gemerkt haben. Aber ich schlage vor, wir machen jetzt eine kleine Pause; sehr viel ist ohnehin nicht mehr zu erledigen. Die Herren müssen sich auch unbedingt einmal den Phyllocactus crenatus ansehen, der gerade in voller Blüte steht.« Er erhob sich, nahm die Gießkanne, die, mit abgestandenem Wasser gefüllt, während des Sommers jederzeit zur Hand sein mußte, und trat, von den Freunden gefolgt, auf den Altan hinaus.
Der »hängende Garten der Semiramis« lag jetzt im Schatten, aber die Sonnenglut, die der Kiesbelag während des Tages eingesogen hatte, wirkte noch nach, und die stille warme Luft war mit dem feinen Jasmin- und Vanilleduft der mannigfachen Kakteenblüten gesättigt. Steif und ohne Grazie standen die bizarren Kinder einer fremden Flora in langen Reihen auf ihren Treppengestellen, die einen wie aus Blech geschnitten, die andern gleich borstenbesetzten Polstern, kandelaberartigen Gebilden oder stachlichten Seetieren. Viele von ihnen prangten im rasch vergänglichen Schmuck ihrer wunderbaren Blüten, in die die Laune der Natur bei diesen Pflanzen für kurze Stunden oder Tage die Schönheit zusammendrängt, die sie keinem ihrer Geschöpfe versagt, und vom reinsten Milchweiß, von der zartesten Elfenbeinfarbe bis zum schärfsten Schwefelgelb, zum leuchtendsten Orange, zum brennendsten Scharlach und zum sattesten Purpur fehlte kaum eine Abstufung. Daß Blumhardt trotzdem heute nur für den Phyllocactus crenatus ein Auge hatte, mußte man ihm schon verzeihen; war es doch seit Jahren das erstemal, daß ihm die Pflanze die auf sie verwandte Sorgfalt mit Blüten lohnte.
Sieh mal, Gevatter, die Kastanie hat schon einzelne gelbe Blätter,« sagte Professor Korte, der am Geländer lehnte und in den Hof hinuntersah, ganz unvermittelt. »Jetzt, im Juni, schon gelbe Blätter!«
Blumhardt stellte die Gießkanne beiseite und unterwarf den Baum einer eingehenden Betrachtung. »Sonderbar! So früh hat er noch nie welkes Laub gehabt,« sagte er. »Daß er im Juli einzelne Blätter verliert, ist nichts Ungewöhnliches, daran ist die Großstadtluft schuld. Aber im Juni – das ist doch gar zu zeitig. Da wird wohl Bölte vergessen haben, ihn zu bewässern. Na, den alten Freund werde ich mir einmal vornehmen, wenn er nachher die Korrekturen abholt. Es würde mich schmählich ärgern, wenn der Baum anfinge, zu kränkeln. Den hat mein Großvater an dem Tage gepflanzt, wo er das Geschäft aufmachte.« Und da wie immer, wenn das Gespräch auf die Geschichte der Familie und der Firma kam, eine Fülle von Erinnerungen auf ihn einströmte, so begann er von den Vertrauten des Hauses zu erzählen, die einst als anspruchslose Gäste seiner Eltern und Großeltern im Schatten der Kastanie gerastet hatten. Da war Ottilie von Goethe eines Tages ganz unerwartet am Kaffeetisch erschienen und hatte mit ebenso tiefem Verständnis von ihrem großen Schwiegervater gesprochen wie mit anmutiger Leichtfertigkeit über den Weimarer Hof geplaudert; da hatten Mahlmann, Rochlitz und Heinrich Laube mit jugendlichem Ungestüm die literarischen Zeitfragen erörtert, Tieck mit viel Sarkasmus seine Dresdner Theatererfahrungen zum besten gegeben, Roßmäßler aus dem noch feuchten Manuskript seiner »Vier Jahreszeiten« vorgelesen, Gustav Freytag den Plan zu seinen »Bildern aus der deutschen Vergangenheit« entwickelt, Friedrich Gerstäcker mit überwältigend komischer Mimik seine brasilianischen und abessinischen Reiseabenteuer erzählt. Da hatten in lauen Sommernächten beim Schein eines Windlichtes Marschner und Robert Schumann, Lortzing und Mendelssohn, Moritz Hauptmann und Ferdinand David ihre musiktheoretischen Ansichten verfochten, und Pius Alexander Wolff, Amalie Haizinger und Wilhelmine Schröder-Devrient die Glanzstellen aus ihren Rollen rezitiert. Ach, wenn Waldemar Blumhardt auf diese Zeiten zu reden kam, dann fand er so leicht kein Ende!
Und das war gut, wenigstens heute, wo er mit einiger Ungeduld auf seine Tochter und das von ihr geprüfte Romanmanuskript wartete. Daß sie sich so sträflich lange verspätete, hatte seine triftigen Gründe. Sie war, als sie kurz nach sechs das Geschäftsgebäude betreten hatte, mit Hans Hennig, dem jungen Prokuristen der Firma Wernicke und Kompanie, zusammengetroffen, und beide standen nun, in ein Schwätzchen vertieft, auf dem ersten Treppenabsatz und merkten nicht, daß eine Minute nach der andern im Meer der Ewigkeit versank.
Hennig, ein gutgewachsener blonder Naturbursche mit einem frischen Gesicht und allzeit fröhlichen Augen, und die schlanke, dunkelhaarige Hilde kannten einander beinahe schon ein Jahrzehnt, und der nun Zweiunddreißigjährige verkehrte mit dem um acht Jahre jüngeren Mädchen noch immer in dem harmlosen Neckton, der dem ein bißchen altklugen Backfisch von ehedem gegenüber ganz angebracht gewesen war. Da er wußte, daß sie gelegentlich Manuskripte für die »Aurora« prüfte, spielte er, wenn sie, was übrigens nicht allzu häufig geschah, im Treppenhaus oder auf dem Korridor des zweiten Geschosses zusammenstießen, auf ihre »redaktionelle Tätigkeit« an und übte dabei gewöhnlich die freimütigste Kritik an den letzten Heften der »Aurora«, die er ziemlich regelmäßig las. Auch heute bewegte sich die Unterhaltung der beiden jungen Menschen wieder in dem gewohnten Gleis, und Hilde, die begreiflicherweise in besonders glücklicher Stimmung war, parierte Hennigs kleine Ausfälle gegen den ihm allzu konservativ erscheinenden Geist der väterlichen Wochenschrift mit großer Schlagfertigkeit, obgleich sie diesmal wirklich Anlaß zu haben glaubte, ihm so halb und halb recht geben zu müssen. Der Roman, der sich seit dem Januar in einer langen Reihe von Fortsetzungen durch die »Aurora« zog, kam ihr, seit sie Schlicks »König Laurin« gelesen hatte, in der Tat ein wenig abgestanden vor. Aber sie hätte dies um keinen Preis zugeben mögen, wenigstens ihm gegenüber nicht, der sie durch sein Verhalten zwang, jederzeit eine Verteidigungsstellung einzunehmen.
Plötzlich fiel ihr ein, daß der Vater und seine Mitarbeiter auf sie warteten. Sie verabschiedete sich rasch und eilte die Treppe hinauf.
Hennig war stehengeblieben und sah ihr lächelnd nach. »Eine Frage noch, Fräulein Hilde!« rief er.
»Nun?«
»Haben Sie einen Verwandten, der Maler ist?«
»Merkwürdig! Der Name Blumhardt ist doch ziemlich ungewöhnlich.«
»Wie kommen Sie auf diese Frage?«
»Ja, wissen Sie, ich bin gestern leichtsinnig gewesen und habe mir im Kunstverein ein Bildchen von einem Hermann oder Heinrich Blumhardt gekauft, eine kleine feine Landschaft, die mir gleich auf den ersten Blick in die Nase stach, und die mir, je öfter ich sie ansah, desto mehr gefiel.«
Hilde hatte Mühe, ihre Fassung zu bewahren. »Sie wollen sich wohl eine Galerie zulegen?« fragte sie leichthin.
»Ach nein, dazu fehlen mir leider die Mittel. So glänzend bezahlen Wernicke und Kompanie ihre Angestellten nicht. Aber ich bin ein passionierter Wanderer und bilde mir ein, Verständnis für landschaftliche Schönheiten zu haben. Und da das Bild die Erinnerung an einen besonders schönen Frühlingstag in mir wachrief, habe ich einmal einen beherzten Griff in meinen Beutel getan.«
»Und Sie haben sich nicht einmal den Namen des Künstlers genau gemerkt?«
»Wie konnte ich? Das Bild ist nur ›H. Blumhardt‹ gezeichnet.«
Einen Augenblick dachte sie daran, sich ihm als die Schöpferin der kleinen Landschaft zu erkennen zu geben. Sie unterließ es jedoch, teils aus einer keuschen Scheu vor dem Eingeständnis ihrer Urheberschaft, teils, weil sie sich durch seine Mitteilung ein wenig enttäuscht fühlte. Daß er das Bild gekauft hatte, war ja recht hübsch, aber im Grunde ihres Herzens wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn ihr Erstling in die Hände eines wirklichen Kunstkenners geraten wäre. Daß der Wernickesche Prokurist das Landschaftchen als Mittel zur Auffrischung einer vielleicht ganz unkünstlerischen Reiseerinnerung zu benutzen gedachte, erschien ihr keineswegs sehr schmeichelhaft. Und so sagte sie denn im gleichgültigsten Tone, der ihr zur Verfügung stand: »Nun ja, die Hauptsache ist, daß Ihnen das Bild gefällt. Auf den Namen des Malers kommt es wirklich nicht an.« Damit war sie auf der nächsten Treppenwendung verschwunden.
Als Hilde in das Privatkontor trat, hatten die Herren ihre Plätze am Redaktionstisch gerade wiedereingenommen. Man beglückwünschte sie zu ihrem künstlerischen Erfolg, und Pfarrer Mertens, der sich in seiner Protektorrolle gefiel, hielt eine kleine Rede, worin er das junge Mädchen ermahnte, nun nicht etwa in seinem Eifer nachzulassen, sondern nach immer höherer Vervollkommnung zu streben.
»Und der ›König Laurin‹? Hat er dir gefallen?« fragte Blumhardt, dem man die Ungeduld anmerkte, mit der er dem Urteil der Tochter entgegensah.
»Der Roman scheint mir das Beste zu sein, was ich je gelesen habe,« erwiderte sie, während sie das Manuskript auswickelte und dem Vater hinschob. »Er hat mich von der ersten bis zur letzten Seite geradezu hingerissen. Und geschrieben ist er glänzend.«
»Nun weiß ich, was ich zu tun habe,« erklärte der Vater überglücklich. »Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme. Morgen setze ich mich hin und schreibe an Schlick. Das muß ein Bombengeschäft werden. Gebt einmal acht, Leute: an diese Stunde werden wir noch oft denken! Heute beginnt eine neue Ära des Hauses Friedrich Ambrosius Blumhardt.«
»Na du, auf den äußern Erfolg des Buches setze ich nun doch keine so übermäßig großen Hoffnungen,« bemerkte Korte, der angesichts des Blumhardtschen Optimismus das Bedürfnis empfand, sich beizeiten den Rücken zu decken. »Es ist ja ohne Frage ein ungewöhnlich gutes Buch, aber daß es etwas für das große Publikum wäre, möchte ich doch bezweifeln. Dazu ist es zu fein und zu tief. Von hohen Auflagen wird dabei niemals die Rede sein können.«
»Alte Unke!« knurrte Blumhardt. »Jetzt, wo es Ernst wird, willst du wohl kneifen? Und dabei hast du mir doch selbst zugeredet, ich solle den ›Laurin‹ drucken!«
»Gewiß! Weil ich's für ein Verdienst um die Literatur halte, einen solchen Autor einzuführen.«
»Ach was! Von Verdiensten um die Literatur kann ich nicht leben. Darauf pfeife ich. Ich brauche Bücher, die mir Geld einbringen. Ich bin der opferfreudige Idealist gar nicht, für den ihr mich haltet. Und wenn ich diese Arbeit hier drucke, so tu ich's nur, weil ich davon überzeugt bin, daß das Buch gehen wird, weil ich den festen Glauben hege, daß alles Gute schließlich doch die ihm gebührende Anerkennung findet.«
In der Freude seines Herzens, nun aus dem wochenlangen Schwanken erlöst und zu einem entscheidenden Entschlusse gelangt zu sein, führte er die Redaktionssitzung heute schneller zu Ende, als es sonst seine Gepflogenheit war. Hilde wurde mit Dank entlassen, und ein Druck auf die elektrische Klingel rief den alten Markthelfer Bölte herbei, das in manchem Jahrzehnt bewährte Faktotum des Hauses, dem die Pflicht oblag, an den Mittwochabenden die Korrekturabzüge der Beiträge für das nächste Heft in die Markertsche Buchdruckerei zu bringen, wo man der »Aurora« wegen Überstunden machen mußte.
»Sagen Sie mal, Bölte, was ist denn mit unserer Kastanie los? Die kriegt ja schon gelbe Blätter – mitten im Juni?« wandte sich der Prinzipal an den Alten.
»Das ist mir auch schon aufgefallen, Herr Blumhardt,« erwiderte Bölte mit einem sorgenvollen Blick über die verbogene Stahlbrille, deren Nasenstütze mit grauer Strumpfwolle dick umwickelt war. »Und fix geht das mit den Blättern. Heute grün, morgen gelb!«
»Na ja, da werden Sie wohl vergessen haben, den Baum mit Wasser zu versorgen?«
»Nu nee, Herr Blumhardt! Vergessen – das giebt's bei Bölten nicht. Die Kastanie kriegt, mit Respekt zu sagen, jeden Tag ihre drei Eimer. Wenn ich mich nicht drum bekümmere – ein andrer tut's ja nicht. Was wissen die bei Wernickes davon, wie einem so'n bißchen Grünzeug ans Herz wachsen kann! Die sind doch schuld daran, daß der Baum kaput geht.«
»Wernickes? Wieso?«
»Nu, das ist doch klar wie Kloßbrühe! Wenn einer um Sie so 'nen hohen Mauerkasten herumbaute, dann würden Sie wohl auch gelbe Blätter kriegen, Herr Blumhardt.«
»Schon gut, Bölte. Sorgen Sie nur dafür, daß der Baum so lange, wie eben möglich, am Leben bleibt. Und bestellen Sie in der Druckerei, daß wir den Umbruch zum neuen Heft unbedingt am Freitag haben müßten. Das letztemal hat ihn Markert erst am Sonnabend geschickt.«
»Erst am Sonnabend? So'n Luderchen! Da hört sich doch alles auf! Wie sollen wir denn da am Dienstag schon fertige Exemplare haben? Na, Herr Blumhardt, verlassen Sie sich drauf: diesmal will ich schon, mit Respekt zu sagen, ein bißchen Dampf dahinter machen.«
Bölte ging mit dem Korrekturpaket ab, und nachdem Blumhardt Manuskripte und Briefschaften in den Geldschrank verschlossen hatte, brachen sämtliche Redaktionsmitglieder auf, um an dem berühmten Stammtisch der »Aurorafalter« im »Thüringer Hof« die übliche feuchte Nachsitzung abzuhalten.