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Fünftes Kapitel

»Willy,« begann ich, als wir wieder auf der Straße waren, »was hast du am liebsten auf der Welt?«

»Bonbons,« war die bewunderungswürdig schnelle Antwort.

»Was dann?«

»Apfelsinen.«

»Was noch mehr?«

»O Feigen und Weintrauben und kleine niedliche Kätzchen und Trommeln und Bilderbücher und neue Formen zum Kuchenbacken und eine Schiebkarre.«

»Weiter nichts?«

»Ja, doch, große schwarze Hunde und einen Ziegenbock und einen Wagen, in dem er mich ziehen kann.«

»Nun, alter Junge, das sollst du morgen alles bekommen.«

»Oh–h–h–h–h,« rief Willy, »du bist wohl beinahe der liebe Gott?«

»Weshalb denn, Willy?«

»Na, weil du so viel auf einmal giebst. Kriegt denn der arme kleine Bob gar nichts?«

»Doch, alles, was er haben will. Was wünschest du dir denn Bob?«

»Ein Szotoladen-Möppelßen,« rief Bob.

»Was mehr?«

»Nißts mehr. Iß tann soviel ollen Tram niß leiden.«

Die Gedanken dieser Nacht, das herrliche Gefühl geliebt zu werden, die Demut, die einem solchen Siege entspringt, der schnelle Wechsel vom Glückseligkeitsrausch zu edlen, reinen Entschlüssen und Gelöbnissen, wer kennt dies alles nicht besser, als ich es schildern könnte? Ich brachte meine Neffen zu Bett, erzählte ihnen alle Geschichten, die sie hören wollten, und als Willy in sein Gebet einflocht: »– und behüte die gute Dame, die Onkel Heinrich lieb hat,« da unterbrach ich seine Andacht durch einen stürmischen Kuß. Die Kinder waren übrigens so ungewöhnlich lange aufgeblieben, daß sie ohne weiteres einschliefen. Im Schlafe erschienen mir ihre Gesichtchen wieder engelschön. Als ich sie, mit dem Lichte in der Hand, dankbaren Herzens ansah, fiel mir eine schmählich vernachlässigte Pflicht ein. Rasch eilte ich ins Lesezimmer und schrieb Folgendes an ihre Mutter:

 

»Hillcrest, Montag abend.

Liebe Helene! Ich hätte dir schon früher geschrieben, wenn ich ganz mit mir einig gewesen wäre, was ich dir über deine Jungens schreiben sollte. Ich gestehe offen, daß ich anfangs blind für einige ihrer Tugenden gewesen bin und dieselben für Fehler gehalten habe. Aber die Schuppen sind mir von den Augen gefallen, und ich sehe setzt klar und deutlich, daß meine Neffen Engel sind, thatsächlich Engel. Wenn ich zu übertreiben scheine, so brauchst du nur bei Fräulein Alice Mayton anzufragen. Kommt nur ja nicht nach Hause, hier geht alles, wie es gehen muß, und wenn Ihr auch kommt, so werde ich mich wahrscheinlich für den Rest des Sommers bei Euch Zu Gaste laden. Meine Ansicht in Bezug auf die Unbequemlichkeit, außerhalb der Stadt zu wohnen und täglich die Eisenbahn benutzen zu müssen, habe ich gänzlich geändert. Bitte doch Thomas, daß er für mich vorläufig in Gedanken ein hübsches Grundstück in Eurer Nachbarschaft aussucht.

Ich wiederhole es! Die Jungens sind Engel, und Fräulein Alice Mayton ist auch ein Engel. Der glücklichste Mann in der ganzen Manufakturbranche aber ist

Euer Euch liebender Bruder
Heinrich.«

 

Am nächsten Morgen suchte ich frühzeitig die Gesellschaft meiner Neffen auf. Es war absolut notwendig, daß ich gegen jemand überfloß, gegen jemand, der mir sympathisch und der unschuldig und rein war. Ich sehnte mich nach meiner Schwester, nach meiner Mutter, und mußte irgend jemand mein Herz ausschütten. Dazu eignete sich Willy vortrefflich. Er war ein ausgezeichneter Zuhörer, er war mitfühlend von Natur und rasch im Antworten.

Die Weisheit des erfahrensten, ehrwürdigsten Mannes hätte mich nicht so entzücken können wie das Geschwätz dieses Kindes an jenem herrlichen Morgen. Und Bob? Nun, sein Talent alles zu wiederholen was er hörte, veranlaßte ihn, den ganzen Morgen zu murmeln: »F'äulein Mayton, dutes F'äulein Mayton.« Und wie süß klang ihr Name in diesem Kindermund trotz seiner fortwährenden Wiederholung! Willy nahm freilich häufig Veranlassung, mich an meine gestrigen Versprechungen zu erinnern und auch Bob verlangte gelegentlich das »Szotoladenmoppelßen,« doch störte mich dies weiter nicht. Die Besorgung von Willys Aufträgen nahm ziemlich drei Stunden in Anspruch und dann fehlte noch immer das Ziegenfuhrwerk. Ich besorgte endlich auch dieses, und so kam der Nachmittag heran.

Das Programm des letzteren wurde zur allseitigen Zufriedenheit festgesetzt. Ich gab dem Kutscher Michel einen Thaler, wofür er den Ziegenbock einspannen und die Kinder im Fahren unterrichten sollte. Dadurch verschaffte ich mir die Freiheit, allein ausfahren zu können, ohne diesmal von zwei kleinen brüllenden Teufeln verfolgt zu werden.

Ich war schon immer der Ansicht, daß ein Pferd von der Stimmung seines Lenkers beeinflußt wird. Meine lieben alten vierfüßigen Kriegskameraden hatten meine Wünsche auch immer verstanden, und die Pferde meines Schwagers zeigten mir an jenem Nachmittage deutlich, daß sie von meiner Stimmung angesteckt wurden. Sie trabten stolz dahin, drehten ihre schön gebogenen Hälse zierlich, und die Füße schienen die Erde kaum zu berühren. Als ich bei dem Klarksonschen Hause vorüberfuhr, fand ich fast sämtliche Damen auf der Veranda – das Gedächtnis der Damen ist in gewissen Dingen sehr gut. Alice erschien sofort, natürlich klar und ruhig wie sonst, aber strahlender denn je.

»Ja, wo haben Sie denn die Knaben gelassen?« fragte sie.

»Ich fürchtete, sie könnten Ihre Frau Mutter stören,« erwiderte ich, »und ließ sie daher zu Hause.«

»O, meine Mutter fühlt sich heute nicht ganz wohl, um spazieren zu fahren,« sagte sie, »sie hat sich ein wenig niedergelegt.«

»Dann können wir ja die Knaben unterwegs zu uns nehmen,« erwiderte ich Heuchler nach einigen Worten der Teilnahme und wurde dafür mit einem Blicke von dem angebeteten Mädchen belohnt, für dessen Entdeckung die anderen Damen gewiß ihren besten Spitzenkragen hingegeben hätten.

Mit feierlichem Ernst, als wäre es Sonntag und es ginge in die Kirche, fuhren wir ab. Geflissentlich machten wir uns auf jede geschmackvolle Wohnung, auf jeden schönen Garten, an dem wir vorbeikamen, aufmerksam und unterhielten uns lebhaft und gewandt über die Toiletten, Wagen und Pferde anderer Spazierfahrer, die uns begegneten. Als wir aber das Ende des Ortes erreichten und ich in das Glücksthal einbog, einen herrlichen Weg, der den zahlreichen Windungen eines langen, schön bewaldeten Thales folgte, das nicht eine einzige gerade Linie aufwies, da wandte ich mich um und blickte dem geliebten Wesen ins Gesicht. Ihre Augen suchten die meinigen, und obschon ich in ihnen eine Glückseligkeit bemerkte, die ich niemals zuvor in ihnen gesehen hatte, füllten sie sich mit Thränen, und das liebe, gute Mädchen legte sein Köpfchen auf meine Schulter. Was wir während der langen Fahrt sprachen, würde den Leser nicht interessieren. Ich weiß aus Erfahrung, daß man alle Liebesgespräche in Novellen doch nicht liest, wie reizend das Pärchen auch sein mag. Soweit ich mich entsinne, enthielt unsere Unterhaltung auch nichts Ungewöhnliches. Ich will hier nur hervorheben, daß, wenn ich am Abend vorher glücklich gewesen war, mein Glück jetzt erst die rechte Weihe erhielt. Mit der Liebe und dem Vertrauen eines einfachen Mädchens beglückt zu werden, welches soeben erst aus den Kinderschuhen getreten ist, das ist schon eine größere Ehre und größerer Ruhm, als eines Königs Hof oder ein Schlachtfeld gewähren kann; eine noch größere Ehre ist es jedoch, wenn ein Mann von einem Mädchen von seltenem Geist, Takt und Kenntnis der Gesellschaft und der Welt geliebt wird, und wenn ein solches Mädchen sein Herz von allen Hoffnungen und Befürchtungen freimacht und ohne Zögern sein Schicksal in die Hände dieses Mannes legt. Mädchen wie Alice Mayton geben sich nicht so rückhaltlos hin, wenn ihr Vertrauen nicht neben der Zuneigung auch auf klarer Überzeugung beruht. Das Bewußtsein von all dem verwandelte mich an jenem Nachmittag in den Menschen, der zu werden ich immer gehofft hatte.

Aber die Stunden entflohen schnell, und widerstrebend ließ ich die Pferde kehrt machen. Wir hatten fast das ganze »Glücksthal« hinter uns und näherten uns wieder Wohnhäusern.

»Jetzt müssen wir aber wieder vernünftig sein,« sagte Alice.

»Gewiß,« erwiderte ich, »nun ade, ihr glücklichen Thorheiten.« Ich beugte mich herab und legte sanft meine Arme um ihren Nacken; sie erhob ihr liebes Gesichtchen, aus dem Freude und Vertrauen jede Spur von Zurückhaltung verscheucht hatten. Meine Lippen suchten die ihrigen – als wir plötzlich einen geisterhaften, mißtönenden Schrei vernahmen, welcher sich in zwei Töne auflöste, von denen der eine sich ins Unendliche ausdehnte. Die Pferde machten einen Satz und Alice – Dank sei dem Schreckschuß! – klammerte sich ganz fest an mich. Die Töne schienen sich uns zu nähern und wurden von einem rasselnden Geräusch begleitet, das anscheinend von einem hölzernen Gegenstande herrührte. Als wir eine Krümmung des Weges erreichten, sah ich plötzlich meinen jüngsten Neffen aus unbekannten Regionen kommen, eine geheimnisvolle Linie durch die Luft beschreiben, dann sanft von einer Erhöhung auf den Weg herabrollen und schließlich in dem Graben verschwinden. Um die Ecke stürmten gleichzeitig erst die Ziege, dann der umgekehrte Wagen und zuletzt Willy, der krampfhaft das Hinterende des Wagens festhielt und ein fürchterliches Gebrüll ausstieß. Der Anprall des Wagens an einen Stein nötigte Willy endlich den Wagen loszulassen, während die Ziege, nachdem ihr die Sachlage klar geworden war, gemächlich abzog und in einem Wege verschwand, der zum Hause ihres früheren Besitzers führte.

»Willy,« fuhr ich ihn an, »laß das Geschrei und komm her. Wo ist Michel?«

»Er – hu – hu – ging weg – und – hu – hu – da nahm ich die Peitsche bloß mal und haute die Ziege ein bischen und da lief sie fort.«

»Olle dumme Tiege,« wimmerte Bob.

»Jetzt macht aber, daß ihr sofort nach Hause kommt und sagt Marie, sie soll euch gleich waschen und umziehen.«

»Aber Heinrich,« bat da Alice, »sie sind eben in großer Gefahr gewesen und jetzt willst du sie so wegschicken! Kommt nur zu Tante Alice, komm, lieber Willy, und auch du, kleiner Bob; du sagtest ja, Heinrich, wir könnten die Kinder vielleicht unterwegs aufgreifen. So – so, nur still, meine Jüngelchen, laß mich den alten Schmutz abwischen; so – nun bekommt der Mund ein Küßchen, und dann thuts nicht mehr weh.«

»Alice,« protestierte ich, »laß doch die schmutzigen Bengels nicht so auf dir herumklettern.«

»Ruhig, mein Herr,« sagte sie mit schelmischer Würde, »wem verdanke ich denn meinen Liebsten, wenn ich fragen darf?«

So fuhren wir nun bei Klarksons vor mit der Miene von Leuten, welche sich für ein unschuldiges Kinderpaar aufgeopfert hatten, und ich fuhr davon, so schnell wie es ging, damit diese enfants terribles die Illusion nicht zerstören konnten. Bald trafen wir Michel, der ganz außer Atem uns entgegen gelaufen kam.

»Ach, die Teufelsracker,« rief er, als er uns erkannte, »Gott sei Dank, daß sie da sind. Nichts für ungut, Herr Burton, ich danke dem Himmel, daß sich die Jungens nicht Hals und Beine gebrochen haben.« Und wenn König Pharao mit seinem Elefantenwagen ankäme, ich glaube, die Jungens würden auch damit fertig werden. Diese Teufelskerls!

Sämtliche Elefanten nebst Wagen hätten aber an diesem glücklichen Abend den seligen Frieden meines Herzens nicht stören können. Auch meine Neffen schienen von einem feinen Gefühl für das Rechte und Schickliche erfüllt zu sein. Vielleicht rührte das von dem Zusammensein mit meiner Zauberin her, vielleicht war es auch die natürliche Folge einer großen Abspannung. Thatsache war es jedenfalls, daß an diesem Abend zwei sehr schmutzige Anzüge zwei Knaben einhüllten, die mir eine Vorstellung davon gaben, wie die Bewohner des Paradieses an Gestalt und Wesen beschaffen sein mögen. Sie aßen sogar ihre Suppe, ohne eine jener Unarten auszuführen, von denen sie sonst eine so große Auswahl hatten. Sie schleppten keine Brocken ihrer Butterbrote weg, schmierten keine Butter an das Klavier oder die Visitenkartenschale. Als sie ein Lied von mir verlangten, sang ich: »Du, du liegst mir am Herzen,« und sie hörten schweigend und ehrfurchtsvoll zu. Als sie zu Bett gingen, begleitete ich sie auf ausdrücklichen Wunsch; sie hatten aber keine Lust, die üblichen Folterkunststückchen und Quälereien vorzunehmen. Als Willy im Bett lag, faltete er seine Hände und betete:

»Lieber Gott, segne Papa und Mama und Bob und Onkel Heinrich und alle Menschen, und segne vielmals die liebe, gute Dame, die mich tröstete, nachdem die Ziege so schlecht zu mir war, und gieb, daß sie mich immer so schön tröstet.«

Und Bob krümmte und wand sich, atmete tief, warf den Kopf zurück und betete:

»Lieber Dott, laß die olle böse Tiege das niß wieder thun, un laß Bob niß wieder in den Tinnstein fallen un laß Ontel Heini un dute Dame Mayton wieder da sein, wenn iß ein Wehwehßen hab'.«

Dann wurden die Gutenachtwünsche ausgetauscht, und ich verließ die kleinen Lieblinge und hielt mit meinen eigenen Gedanken Zwiesprache, so friedlich, so beseligt, als gäbe es in der Welt keine Manufakturfirmen, keine zweifelhaften Kunden, keine Geschäfts-Konkurrenz, keine Politik, keine Börse, keine Zollvereine, keine zweifelhaften Banken, keine politischen Skandale, keine persönlichen Sünden, noch sonst etwas, was eine kurze Ferienzeit hindern könnte, ein ganzes, volles Lebenlang zu währen.

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