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Das Buch der Herberge
»An seinem Meere möchte ich sitzen und das Auge sein, das so ein Meer erfassen kann, ich möchte Andacht in mir haben zu einer Messe der Elenden, ich möchte das Abendrot austrinken, das er über einen Mantel gießt, und hinter dem Schicksal stehen. Ich möchte den Sodomitern einen Kranz flechten. – Oder wenn ich wenigstens als Narr im Schnee stehen und meinen Namen in das weiße Feld hineinkritzeln dürfte, rot und tief mit meinem Blut. Aber seine Gebärden sollen es nicht auf meine Zunge legen. Ich will mich unter die Armen drängen und meine Träume vor ihnen ausbreiten. Die Rosen, die im Dunkel aufblühen, werde ich finden und trage sie durch die Herbergen. – Ich will mit meinen Worten vor ihm tanzen, voll meiner eigenen Trunkenheit will ich ihm einen Becher hinreichen und allen ein Fest geben, wenn ich mich belehrt habe unter den Krüppeln und Narren und zwischen den Einsamkeiten gegangen bin. – Ich will mit meiner Stimme vor ihm lachen – oder sollen die Erzähler sich kasteien, wenn sie den vierfachen Weg des Sterbens gehen? Gibt es eine Weisheit ohne den Rausch der Weisheit, gibt es eine Offenbarung ohne die Trunkenheit des Wortes? Sollen die Gedanken hintereinander herkriechen wie Raupen?
Wenn erst die Felsen meine Augen nicht mehr quälen und das Gepräge der Gegend in sanfte Linien sich aufgelöst hat – wenn ich an den Gärten meines Landes vorbeigehe, kann ich wieder ein Wanderer sein.«
Er maß die riesigen Fresken des Gebirges, die der Mond in die tiefen Tinten der Nacht hineingezeichnet hatte. Er ging so langsam abwärts als zählte er geizig seine Schritte. Der matte Glanz der starrgewordenen Ungeheuer bäumte sich vor ihm, und die Winde holten eisige Nebel des Tales und warfen sie in sein heißes Gesicht.
Die Stimme eines kleinen Tieres erschreckte ihn, er hielt an, und sein Herz klopfte wie vor einem Ereignis.
139 Die Nebel zu seinen Füßen verdichteten sich, und er fühlte, wie das Kraut nach ihm griff, während seine Gedanken das letzte Stück des Hanges vor ihm hinabeilten. Eine Eule erschien über seinem Kopf, ein Flug, streng, lautlos und bedächtig, als hätte sie die List ihres Raubzugs auf den Flügeln zu tragen.
Sein farbenfreudiges Herz sehnte sich nach dem Grün des Tages und einem Rot der Liebe, zweifach in den Morgen und in den Abend gegossen. –
Wieder die Stimme eines Tieres. Fremdartige Rufe. Abermals eines Vogels schwebender Flügelschlag ihm zu Häupten. Aber klagender die Stimme und bewußter, von oben her sprechend, wie von tiefem Lebensüberdruß erfüllt. In abgegrenzten Worten erfüllte ein klagender Gesang den Himmel.
Wer bist du? Who are-you? Who-who-who-who are-you? – Aus dem Schlaf vertriebene Laute. – Laß uns gehen. – Willy, Willy, come go, – laß uns gehen. – Und dann ein fanatisches Gelächter derselben Stimme. – Der Ruf, erst nahe, dann sich in das Dunkel hinaus erweiternd, hatte zuletzt etwas ganz Fernes, Fortlockendes – an die demütige Stimme einer gefallenen Frau Erinnerndes.
Abrahams Füße kämpften immer hartnäckiger mit dem grauen Laub, während er die Laute der fremden Vögel prüfte. – Ein starker Bach, der das Tal zerschnitt, staute sich zu einem kleinen Teich, der an einer Seite von einer hohen Mauer begrenzt wurde, und starke Bäume schütteten eine wilde Masse von Ästen über die Zinne dieser Mauer. In den Teich gesunkene Bäume ragten über die Wasserfläche und belebten sie mit schwarzen, verwirrten Linien.
Abraham Abt fürchtete die Leichen der Bäume und hielt sich mit seinen Augen an den Himmel. Sie sollten eine Antwort suchen auf alle die Fragen, die ihn überrascht hatten. Sein Gesicht weitete sich im Glanz der Gestirne, und alles Hilflose in ihm wurde ein Gebet an das Unbekannte über ihm.
Who are-you? Wer bist Du? klagten die großen Prachtschwalben, die der Marquis züchtete. In den Künsten ihres Fluges 140 lebte die Idee unzähliger Liebesbewerbungen. Abraham Abt fühlte das Zittern ihrer Flügel.
»Wenn ich nicht an seinem Garten vorüberginge, würde nicht alles so tief, so erfüllt sein von mir und ich erfüllt sein von Allem. – Er hat einen Garten, den Garten, den man sucht und findet wie ihn selbst.«
Abrahams Gesicht zuckte in den Himmel hinauf wie überschüttet von einem plötzlichen Licht. »Laß uns gehen.« –
Er hatte die Grenze des Tages weit hinausgeschoben und suchte eine Lampe in dem Tal, das mit Nebeln erfüllt war.
Abraham Abt hatte seine Gedanken durch reiche Gebiete geführt, zwischen prunkhaften Gewächsen ging seine Sehnsucht, und seine Augen wurden beredt in der Dunkelheit. Ein brennender Durst nach Worten überkam ihn. Seine kleinen Erlebnisse umdrängten ihn. Aber er wollte die Bäume nicht wecken, die im Nebel schliefen. Doch je mehr sich seine Seele in trunkener Lust aufbäumte, desto steiniger fühlte er die Straße werden, und der widerspenstige Leib quälte den Wanderer mit der Sorge um ein Lager.
Und er empfand eine Lust, an dem Tische der Bettler zu sitzen, als er in eine Herberge eintrat, ein kleines schmutziges Haus, in dem jedes Gesicht, jeder Gegenstand über den reinen Mantel des Ankömmlings in Staunen zu geraten schien.
Das Grau in Grau verwahrloster Köpfe, junger und alter, bewegte sich wie ein Feld abgestorbener Halme, vom Winde aufgestört. Ihre Augen, früher mit den Lidern bedeckt, oder wie in einem Schmerz grabend, rissen sich auf und begegneten für einen Augenblick dem Gesicht des Eindringlings. Eine Frage hatten sie Alle, diese eine, die immer wiederkehrt bei ihnen und wie eine Flamme aufzuckt und verknistert in einem widerspenstigen Laut. Wer bist Du? bist du nur wir selbst oder bist du der Andere. Bringst du uns Brot oder willst du mitessen? Und die Antwort: Wir haben nichts, das Schicksal hat uns Alles versteckt, jetzt suchen wir und ärgern uns, weil wir nichts finden.
141 Abraham Abt verstand nichts von solchen Fragen. Er war zu reich und wollte sich ausschütten. Das warme Herz des Narren zappelte ungeduldig in ihm. Und er legte seine Hände flach auf den Tisch mit der Geste des Gebers und lächelte.
»Seid nicht traurig,« sagten seine Augen. »Wir sind ein trefflich Rudel Menschen, wir sind wie eine Menge gefangener Vögel, die so wunderschön zwitschern können. Wenn es uns den Sommer verregnet hat, sitzen wir unter dem Dach und lästern auf den lieben Gott.«
Und er ging mit seinem Lächeln zwischen ihren schlimmen Träumen.
»Ich habe so viele Worte, warum rede ich nicht?« dachte er und hob die Lippen.
»Da bin ich doch, Euer Narr. Ich will Euch erzählen. Eine Narrengeschichte aus meiner frühen Zeit. Warum hockt Ihr so und grämt Euch? Oben sind Sterne und die Bäume sind so hoch und reichen fast bis an unsere Sterne. Und das Wasser ist so weit ausgebreitet und die Sonntage sind so voll süßer Märchen. Wißt Ihr denn, daß alle Traurigkeit nur ein Gedicht ist? Wir müssen klug werden und Alles erzählen, was uns weh tut, damit es ein Gedicht werden kann.«
Das Gewirr der Köpfe antwortete mit einem Nicken, das Verachtung sein sollte. Aber Abrahams Herz war so voll seiner Jugendtage, und das Leben in ihm wuchs wie die Wasser, die den Frühling erlösen.
»Ich weiß eine Geschichte, hört mich an. Ich weiß, Ihr seid klein und krank, aber Ihr wollt lernen, Eure Kleinheit und Eure Krankheit besitzen. Endlich sind wir bei den Träumen von unserer Kraft angekommen. Ich grüße Euch, weil ich besser leiden kann als Ihr. Ich bin so geschwätzig wie meine Sterne. Und Ihr mit Eurer Geduld kommt mir entgegen. Hört, von einem Schwimmer berichte ich Euch.
* * *
Wir hörten, wie die Vögel miteinander sprachen, die grauen und die buntgefiederten, indeß wir in unserer Grube hockten 142 und über den Bau berieten. Unseren Händen, klein und rund, wollte der Ufersand nicht immer gehorchen und floß zwischen den Fingern hindurch. Aber doch haben wir sie gebaut, unsere Burg. Stolz lächelten wir und gaben uns Namen mit Herr und Frau. »Das ist das Meer« sagten wir und sahen einander verständnisinnig an, weil es doch uns gehörte. Wir meinten den See, der sich vor uns breitete. Und die Vögel wurden nicht müde in ihren Abendgesprächen, ihre Stimmen begegneten sich in den dunklen Laubgassen, über dem First von Großvaters Hause saßen sie geduckt und ließen sich von der Sonne Märchen erzählen.
Nur Karlchen, den wollten wir nicht mitbauen lassen. Der saß weit oben am Rand der Böschung und sah uns zu. Unsere Burg sollte doch das schönste Haus am Meere werden, mit Muscheln und farbigen Steinen verziert, ein Haus für vornehme Leute. Karlchen aber war häßlich und stotterte. Wir haßten Karlchen, weil – weil er häßlich war und stotterte.
So verging der Sommer und der Herbst, und es kamen die Winternächte. Das Eis nagte an den Seeufern und fraß und sägte wie ein weißes Tier, bis es in die tiefsten Gänge unserer Burg gelangt war. Da stürzten sie zusammen, und alle die bunten Steine und Muscheln rollten übereinander. Das war das Schicksal unserer Burg, die doch bis in den Frühling hinein dauern sollte.
Die Raben kamen mit ihren Rätseln, und die Finken in ihren Hochzeitsröckchen boten uns einen frommen Gruß. Aber wir fühlten und hörten nichts als unser Leid um die mächtige Burg. Tag für Tag wanderten wir an den See und sannen und rieten, wer wohl unser Erbfeind sei, wer wohl unser Werk zu Schanden geschlagen. Hätten wir doch das Eis ertappt auf seinem Frevel; aber das Eis, das lebt oft nur einen Tag, die Sonne läßt es nicht über die Bäume wachsen. Es war längst fort, als wir kamen, und erst heute haben wir von seiner Tat erfahren. »Karlchen! Karlchen! Der Häßliche, der Stotterer, der hat's getan!« schrie plötzlich einer von uns, und wir hoben unsere Augen nach der Böschung. Da stand er auch richtig wieder auf 143 seinem Platz. Und wir sahen nicht, wie sein Blick traurig war, wir sahen nur sein rotbraunes Haar, das uns ärgerte. Wir liefen und stürmten und schlugen auf ihn los. Er ging nicht fort, er hat sich auch nicht gewehrt und er fluchte auch nicht. Seine großen blauen Augen wunderten sich und starrten fragend in unsere Seelen hinab, bis sie ganz mit Tränen gefüllt waren. Da ließen wir ihn los und gingen nach Hause. Auf dem Wege aber sprachen wir über seine Schwächlichkeit und Feigheit und fragten einander, wie das wohl sein müsse, wenn man stottert und häßlich ist. »Es tut weh und man muß daran sterben,« erklärte uns Hans, der Ältere, und wir glaubten es Alle.
Wir haben Karlchen seitdem nicht mehr geschlagen, ja, nicht einmal gesehen haben wir ihn mehr. Er ist über das Wasser fortgegangen, keiner weiß wohin. Nur der alte Klaus erzählt eine Geschichte von Karlchen, der über das Wasser ging. Klaus hat eine tiefe Stimme, deshalb muß die Geschichte auch wahr sein.
Wie das Eis in der Winternacht wächst und wächst und keine Ufer hat, so wuchs es auch in Karlchens Seele, und er fror und zitterte. Mit seinen Händen griff er an die Brust und wollte sein Herz wärmen, aber die Finger wurden steif und verloren alles Leben. Da ließ er seine Tränen auf das Herz fallen, seine warmen Tränen, aber auch sie wurden Eis, helles, hartes, grausames Eis.
»So muß ich mich denn bescheiden mit dem,« sagte Karlchen »und warten bis der Frühling kommt und mich erlöst.« Lange, sehr lange wollte der Frühling nicht kommen, aber endlich hat er Karlchen doch erlöst. Es war an jenem Tage, da wir ihn schlugen.
Eben waren wir fortgegangen, da stieg er vorsichtig die Böschung hinab auf den Platz, auf dem einstmals unsere Burg gestanden hatte. In kleinen Wellen wanderte das Wasser über den Sand und hüpfte über die Blätter der Sumpfpflanzen, bis es zu Karlchens Füßen angelangt war. Er stand ganz stille und regte sich nicht, nicht seine Hände, nicht seine Füße; nur wenn die Flut bis über seine Knöchel kam, zuckte es leise in 144 ihm. Wie glatte, warme Zungen fühlte er es an seinem Fleisch entlangtasten, und er schloß die Augen. Schneller und schneller kamen die Wellen, sie drängten einander wie scherzende Kinder und manchmal hörte Karlchen ihr klares Mädchenlachen. Und die Sandkörner unter seinen Füßen lösten sich und rollten tiefer hinab, ohne daß er es wußte. Bis an die Knie reichte ihm das Wasser bereits – – – das Wasser. Da öffnete er seine Augen wieder und sah sich um. »Jetzt müßtet ihr hier stehen und mir zusehen, wie ich mich nicht fürchte« sprach Karlchen leise vor sich hin, »jetzt, wo das Wasser weit um mich herumflutet, jetzt« und er tat noch einen Schritt vorwärts. Seltsame Worte stiegen aus der Flut herauf an sein Ohr, Stimmen kamen und Stimmen gingen, und sie nahmen seine Seele mit sich. Jede Welle trug ein Stück seines Leides, und alle eilten gegen Sonnenuntergang. »Ich fürchte mich nicht, nein, ich fürchte mich nicht,« und er bückte sich vorsichtig und strich mit der Hand über den Spiegel. Wieder glitt es wie warme Zungen an seinem Körper entlang. »Ich fürchte mich nicht.«
In der Ferne lagen weiße stille Wolken über dem See, und so viel Licht floß über Allem, wie es wohl kaum in der Seligkeit drüben geben mag. »Man müßte recht, recht viel Kraft haben, dann käme man schon hinüber zu den weißen Wolken.« Er reckte sich und hob die Arme in die Luft. »Bis an den Mund kommt es ja nicht.« Und noch einen Schritt. »Ja, es trägt. Es hebt, es drängt, man muß nur die Hände rühren. Jetzt kommen die Wolken näher – es ist ja gar nicht weit.«
Und Karlchen rührte die Hände, immer schneller und schneller, und seine Augen starrten in die lichten Wolken. Das Eis in seiner Seele war geschmolzen und löste alle Kraft, die in ihm war. »Jetzt dürfen sie dich nicht mehr sehen,« dachte er, und sein Herz wurde weit und leicht und wuchs wie eine Blume hinaus in die Einsamkeit, wie eine seltene Rose weit draußen im Teich, und sie wächst von Gottes Gnaden und verblüht zu seinem Angedenken.
Und das Wasser drang doch über seinen Mund und schloß ihn 145 – und schloß seine Augen. Als der Abend kam und ihn suchte, fand er Karlchen nicht mehr. Die weißen Wolken drüben greifen tief in das Wasser und das Licht wühlt in den Wogen, ob es seinen armen Kopf nicht doch noch fände. So tief hinunter ist noch nie ein Licht gedrungen. Das ist Karlchens Geschichte, die Geschichte von seiner Kraft. Und wenn ihr sie hört, sollt ihr beten. Dann will ich euch eine kristallene Krone schmieden aus seinen Tränen.«
* * *
Manche waren ihm gefolgt, mit halbwachen Geistern mühten sie sich, an ihm emporzukommen. Viele aber schliefen einen lauten Schlaf, und ihre Köpfe drückten sich tief in gefaltete Hände, als ob eine Last sie hinabdrückte in ein leidloses Einerlei.
Abraham Abt sah über diese hinweg und suchte die Wenigen, die ihre Augen zu ihm emporgehoben hatten. Er mußte in diesem kargen Schattengewirr an den lichttriefenden Saal des Marquis zurückdenken, in dem sich die Erzähler erhoben, auf ein Wort, auf eine Berührung hin ihre Lippen öffneten und Farben auferstehen ließen, wie plötzlich erwachte Blüten.
»Wenn ich wie er sein könnte und diesen, unter denen ich erschienen bin, meine Hände auflegen dürfte. Es sind Gesichter unter ihnen, Augen, die hinter dem Leben zu stehen scheinen. Sie könnten so tot sein wie jener denkwürdige Vasall meines Zauberers, der trunken durch Veilchen wandert und seine toten Hände am Abendrot wärmt. Sie könnten mit den Toten wetteifern, aber das Leben hat sie hinuntergeschluckt, weil sie nicht genug tapfer sind im Unglauben. Wäre dieser Unglaube nicht eine schöne Religion für alle armen Schlucker? Man muß aus ihrem Elend ein Christentum des Unglaubens machen, das ihnen wieder Kraft gibt. Das Glück soll sich über sie entsetzen wie etwas Feindseliges, das sie eingefangen haben.«
Seine Augen hafteten auf einem großen, grauen, verwilderten Kopf, der eine kleine Talglampe, das einzige Licht des 146 Raumes, zu bewachen schien. Ein Zipfel seines schmutzigen Mantels lag über dem gedrückten, rothaarigen Geschöpf an seiner Seite, das wie er in das übelriechende Talglicht hineinblinzelte. Die kümmerlichen Strahlen weckten gelbbraune Flecken auf dem Gesicht des kleinen Mädchens und ließen das Vergrämte und Unglückliche des halbverhungerten Wesens zu einer schrillen Anklage werden.
Abraham erinnerte sich an die Straßen, in denen ihm dieses Gesicht begegnet war, und sein Traum von einer unendlichen Stadt mit unzähligen Lampen stieg wieder vor ihm auf.
Er starrte in das Talglicht, um seine Erinnerungen lebendiger zu machen. Seine Augen tauchten in die arme Flamme, bis sie schmerzten und das Wasser über seine Backen lief. Er sah Christinchen, die ihm in den Straßen einer unendlichen Stadt begegnet war. Und er formte ihre Geschichte also:
* * *
Seit zwei Jahren, seit dem Tode ihrer Mutter, wohnten die beiden Schwestern Schumann in einer Mansarde der Rue Printemps. Eigentlich hießen sie verschieden und hätten sich französisch aussprechen müssen. Sie nannten sich aber nach ihrer deutschen Mutter, vielleicht weil sie sich so recht als Schwestern fühlten und ganz ebenbürtig aufgefaßt sein wollten, vielleicht nur der Bequemlichkeit halber. Was braucht auch ein Mensch, der sein Brot mit Handschuhnähen verdient und nach dem Stück bezahlt wird, nach seinen Vätern zu fragen.
Hätte man dieses Verhältnis beurteilen müssen, man würde von Vertrautheit und ungetrübter Eintracht gesprochen haben. Aber es kamen nur wenig Besucher in die kleine Stube und die übten niemals Kritik, denn sie fanden ein solches Sichduldenmüssen selbstverständlich. Es lagen ja auch keinerlei Streitobjekte vor. Zwischen den zerstreuten Lederabfällen spielte nur noch der Staub eine gewisse Rolle.
Auch das Mondlicht, das manchmal aus dem Weltenraume in 147 die stillen Abende der Dachkammer hinüberkam, verstand man hier zu gleichen Teilen zu nützen.
Man ließ es über Haar und Schultern fließen wie den Mantel einer sehr vornehmen Frau, den man im Verborgenen für ein Stündchen genießen darf. Man staunte sich gegenseitig an und sagte sich Schmeicheleien. Nur selten sprach man von der Armut.
Wer die Beiden damals ganz ungestört hätte betrachten können, dem wären viel grellere Unterschiede aufgefallen: Haarfarbe, Körperformen, alles das hätte er vielleicht übersehen und sich von diesen leuchtenden Augen über die Ahnungen und Wünsche zweier Seelen belehren lassen.
Die ältere war Berta, die dunkle, hochgewachsene. Sie mußte ihrer Mutter in die Fremde folgen noch vor der Schwelle des Lebens. Später heiratete Frau Schumann einen französischen Arbeiter, und es kam die sechs Jahre jüngere Christine zur Welt. Sie war blond, klein, träumerisch, zart. Sie genoß Vorrechte im Elternhause, soweit der Tiefstand der Wirtschaft überhaupt irgendwelche Unterschiede der Lebensführung aufkommen ließ. Christinchen durfte noch spielen, während Berta schon Püffe bekam, die Stube in Ordnung halten und für das Kleine waschen mußte. So nahm das größere Kind das kleinere aus der Hand des Schicksals wie eine kleine Notwendigkeit oder weil es ihm gefiel. Es war blond, zart, träumerisch.
Bald darauf starb der Arbeiter, als Christinchen vier Jahre alt war. Es weinte, als man den Sarg hinaustrug, weil es sich vor den vielen schwarzen Leuten fürchtete. Auch Berta versuchte zu weinen, weil es ihr so vorkam, als forderten sie die Leute dazu auf. Aber es gelang ihr nicht. Nur die Mutter kam einigermaßen über die verlegene Situation hinweg. Auch später behandelte sie diesen ihren Schmerz mit einer Art Wohlgefallen. – »O diese herrlichen Kränze, wenn ich nur wüßte, was diese herrlichen Kränze gekostet haben.« So pflegte sie die Erzählung vom Tode ihres Mannes zu schließen. Sie erzählte davon noch einige Jahre, wie von einem kurzen, seligen 148 Traum, bis ihr nächster Bräutigam sich einfand und sie endgültig heimführte.
Aber ich wollte nicht von jenen sprechen, denen immer noch ein Schlückchen über den Durst geblieben ist, wenn ich an den kleinen baufälligen Kachelofen denke, der sich so danach quälte, ein bischen Heimlichkeit unter die braunen und weißen Lederlappen zu streuen. Er mühte sich vergebens für die zwei Einsamen dort drüben. Ich starre dann unter die plumpen braunen Lappen, die so schlaff und unfertig über dem Tische liegen und sich langweilen, bis die Reihe endlich auch an sie gekommen ist. Wie schnell sich doch eine Hand aus solch einem Stückchen Haut gestaltet, wie man dabei von kleinen, weichen Frauenhänden träumen und in seinen Träumen abirren kann nach der duftenden Nacktheit . . . Dann werden all die bunten Lappen wie ihre lebendigen Schwestern, und man will glauben, daß auch sie atmen und leiden. – – –
Ich wollte erzählen, wie zwei Menschen starben, jeder nach seiner Art, und wie zwei Menschen sterben durften, jeder nach seiner Sehnsucht.
Seit vielen Monaten kam der Mond nicht mehr zu Besuch in die Mansarde. Vielleicht fürchtete er, das emsige Walten da drinnen mit seinem Strahlenspiel zu stören, vielleicht gefiel ihm Christinchen nicht mehr. In ihr Ansehen hatte sich etwas Fröstelndes geschlichen, und das schüchterne Rot ihrer Wangen war verloren gegangen. Ihr Körper hatte noch immer die Formen der Kindheit, ihren Gebärden blieb die tastende Hast schlecht entwickelter Personen. Nur die Hände bekamen etwas übermenschlich Zartes und Schönes, wenn die Arbeit ihre Wege zeichnete, und sie der Nadel folgen mußten. Es war dann, als ob sie einander jagten wie im Spiel. Ihre Linien wurden weicher, und das Gespenstische, Koboldhafte wurde zur Grazie der Feen.
Über dies schwache, gebückte Geschöpf hob sich die schlanke Gestalt der Schwester mit dem stummen Schmerz zweier glühender Augen. Manchmal hatte sich der müde Blick der Kleinen zu ihnen hinauf verirrt wie von einer furchtsamen 149 Ahnung geleitet, und dann schien es, als ob die zwei da wieder plaudern sollten über den Mond oder irgend einen guten Stern. Aber es wollte keiner gelingen. So entfernten sich ihre Seelen von Tag zu Tag. Immer länger wurden die Pausen, und das Schweigen wuchs wie ein Frost in der Mitternacht, ein grausames Rätsel, das niemand lösen wollte.
Lautlos schleichen die Fäden durch ungezählte Wunden. Nur die Schere knirschte dazwischen, und in einem Schächtelchen rauschten die flimmernden Blättchen und Metallperlen, mit denen die vornehmsten Stücke bedacht werden mußten. Heute zum Beispiel – sie waren für eine Gräfin, Vertrauenssache, eine Appellation an den Ehrgeiz, für noch weniger Geld zwei gräfliche Hände schmücken zu dürfen. Da lagen sie, die langen weißen Hüllen, fast lebten sie in ihrer schneeigen Reinheit, und die silbernen Arabesken haschten nach den Blicken der kleinen Christine.
»Hast Du sie schon fertig, Berta?«
»Nein, noch eine Reihe. Es geht so langsam, und ich bin schon sehr müde – aber warum fragst Du?«
Immer langsamer schlichen die Fäden, immer zögernder ordneten sich die Metallperlen aneinander. Aber die Augen der Kleinen drüben wurden immer heißer, immer gieriger suchten sie die Hände der Schwester.
»Du, Berta – ich – möchte sie gern haben. – Ich möchte sie mir – noch einmal anpassen.«
Zwischen den Abfällen kommt es geschlichen, das Gespenst, das eiskalte Gespenst, das Schweigen. Es wühlt unter ihnen. Die Perlen rauschen leise auf, und das Öfchen stöhnt. Und all die kleinen Geräusche ordnen sich zu Takten, und aus dem Schweigen wird ein atemloses Auf und Ab.
»Also anpassen möchtest Du Dir sie?«
»Ja, ich möchte – ja, bitte, bitte.«
Über die schlanken Arme der großen Berta rollte sich das schöne, weiche Leder. Halb traurig, halb ängstlich sah Christine auf. Das Öfchen schnurrte jetzt wie ein Katerchen so gemütlich und heimlich, weil es sah, wie die Berta plötzlich 150 so lächeln konnte. Die Reste einer kleinen Mahlzeit brodelten da.
Christine schlich sich furchtsam heran, um das Schüsselchen zu holen.
»Du kannst heute Alles allein essen, Trine!«
»Ja, weil Du die Schönen hast,« dachte Christinchen, aber sie fürchtete sich davor, wieder von »den weißen« zu reden. »Ach, ich bin so müde!« Nur das brachte sie hervor und lehnte sich zurück.
»Bist Du sehr müde?«
»Ja, so müde, so müde. – Ich möchte nur einmal wie eine Gräfin angezogen gehen oder – ich möchte einen großen Modesalon haben – und dann so einschlafen – schlafen.« – – –
Der Mond ist heute wieder zu Gaste. Wie Christinchen hübsch ist, wenn es die Augen schließt. Was es für schöne Hände hat, so schöne Hände, und Perlen glitzern darauf. Die Glocken rufen in den Winterabend hinaus und erzählen von Christinchen. An seinem Bett aber sitzt die schlanke Berta und streicht ihm das rotblonde Haar, weil sie ja seine Schwester ist. Sie glättet die Falten der weißen Handschuhe so sorgsam, daß sie wie Marmor werden, eben und feierlich. Da glaubt das Christinchen, es sei eine Gräfin geworden – und weiße Tauben fliegen durch den Schnee. – – –
So schlief Christinchen, tief und um eine große Seligkeit reicher. Berta aber trat an das kleine Fenster. Die Mansarde lag hoch, man konnte weit schauen, bis hinüber zur Sacre-Cœur. Da brannten Millionen streitender Lichter und schrieen nach Krieg und Liebe. Spaliere glühender Kavaliere waren die Lampen. Da konnte man seine Augen reisen lassen, weit – weit reisen. Und die schlanke Berta schüttelte ihr schwarzes Haar und fragte den Mond, ob sie denn wirklich so schön sei. Der Mond nickte und war zufrieden. Da wurde die Berta eine Braut, sie wurde die Braut all der winkenden Lichter, und der Mond war zufrieden.
»Jetzt will ich mir einen Grafen suchen. Wenn ich Dich doch mitnehmen könnte, Du Armes, Blondes, aber Du bist so klein 151 und häßlich. Paris – Paris – da muß man schön sein und schlank gewachsen, wenn man dort hinunter sterben geht.«
Dann nahm sie ihr Tuch und trat an das kleine Öfchen. Sie wußte genau, wie man damit fertig wird. Neulich stand es unter den Tagesneuigkeiten – eine ganze Familie war durch das giftige Gas umgekommen. Sie schraubte ein wenig und wartete. Eine kleine, durchsichtige Wolke kräuselte sich. Das war dieser beißende Rauch – so wars in der Patrie geschildert.
Die Lippen der Kleinen bewegten sich, vielleicht, weil der Mond so heiß auf ihnen lag; die flache, ärmliche Brust hob sich langsam auf und nieder. Das Öfchen knurrte, so unheimlich knurrte es.
Dann ging leise die Türe.
»Gute Nacht, Christinchen.«
* * *
Abraham Abt hatte geendigt wie er begonnen, in einem Rausch der Erinnerungen, über denen er sich dieses Gedicht des Mitleids aufgebaut hatte neben seinen Erkenntnissen vom Recht der Verzweiflung. Und während er so in seinem Eifer der Erzähler vor sich hin sprach, in das Licht der Armen hinein, hatte er es garnicht wahrgenommen, daß eine Flasche von Mann zu Mann wanderte und eine Hand hinter seinen Rücken geschlichen war, um ihre Nachbarin zu suchen – daß man ihn vermied, ihn mit seinem Harnisch des Mitleids. Und auch die zurückkehrenden Hände schlichen wie Diebe über die Bank, als Abraham Abts Stimme erlosch unter so vielen Gefühlen.
Aber da begann er nochmals von ihrem Elend zu erzählen, ungehört wollte er wieder in ihr Licht hineinsprechen. Von Jemand, der zu arm ist auch für die Ärmsten, und von dem Wege, der durch die Finsternisse in die Erlösung führt.
»Ich kenne einen Gott, ein armes, abgezehrtes Wesen, dessen Leichnam man des Nachts begraben hat. Ein magerer Jesus ist der Gott der Bettler. Laßt ihn an seinem Kreuz hängen und wundert Euch nicht über die Fliegen, die auf ihm sitzen.
152 Ihr werdet einen anderen Gott finden; es ist Zeit, daß ihr an Eurem mageren Jesus vorbeigeht. Es ist Zeit, daß Ihr seinen Platz in der Dreieinigkeit verleugnet.
Glaubt an den Unglauben.
Ich will Euch etwas von Euch selbst erzählen.« – – –
Und er starrte wieder in die Lampe, die die Bettler beleuchtete. Aber sein Hirn wollte nicht folgen, weil er so viele Menschen sah, die alle auf ihn warteten.
Nur einen Einzigen mußte er immer und immer wieder von den Andern und ihrer Verwirrung trennen, diesen alten Verwahrlosten, der das häßliche Kind mit seinem Mantel beschützte. Abraham Abt erkannte jetzt, wie der ganze Charakter dieses Mannes in der Zahnbildung bestimmt war. Jeder Zahn stand vereinzelt und war in der Form von seinem Nachbar unterschieden, betonte sich durch Widerspenstigkeit des Wachstums. Jeder Zahn ärgerte sich gleichsam über sein Dasein. Der ganze Mensch war sein Gebiß. Er faßte nach dem Gott seines Lebens wie ein schnappender Hund, den jemand an dem überflüssigen Fortsatz seines Leibes quält. Sie fassen nach dem Schwanz seiner Sterblichkeit.
»Man muß ihn den mageren Göttern entführen, daß er wieder ein ehrlicher Hund werde. Man muß ihm erzählen von dem Paradies des Unglaubens und seine Hundenatur zweifeln machen.«
Abrahams Herz fürchtete sich vor den Gedanken, die ihn bedrängten, und er sehnte die Worte herbei, deren eines besser trösten kann als die Summe der Gedanken. Er sah ein Kreuz, an das der magere Gott der Bettler geschlagen war, und seine Seele suchte nach dem Fluch des Glaubens; das Licht der Armen stand vor ihm und er sehnte sich nach einer Erzählung für dieses Licht.
»Ich sitze nicht umsonst unter Euch, darum will ich Euch von Euch erzählen.«
* * *
Die dienstbaren Mönche klapperten durch den frostigen Klostergang, gleichgültig gebeugt über die dampfenden Töpfe der 153 Bettlermahlzeit. Der Wind warf ihnen bläuliche Lichtfetzen unter die geblähten Kutten und sprang feindselig in ihre verdrießlichen Gesichter. Ein arg beleibter Bruder, der letzte in der Kette, der die Bettler auf den Tod haßte, hatte eben eine fette Suppenwelle über seinen Handrücken springen lassen und fluchte über das Pack, das sich sattfressen will an der Heiligkeit. Durch das schwarze Eisengitter am Eingang drängten sich zerwühlte Grauköpfe und warfen das »Gelobt sei Jesus Christ« wie eine heisere Münze vor sich hin auf die Fliesen. Blechern und abgerissen hallte es wieder in den Gängen und Nischen und verschlang das dumpfe Amen der Mönche.
Die Bettler stellten ihre Näpfe zurecht, die Deckel der Töpfe wurden gehoben, und der weiße Dampf trat wie eine lebende Wand zwischen Heilige und Unheilige. Lange noch qualmte er vor dem Klostertor und verhüllte es vor der schmatzenden Gier der Tafelnden. Rasch entfernten sich die unwirschen Gastgeber, und das Klappern ihrer Pantinen verscholl hinter der Dunstwand, nachdem es noch einen Augenblick lang mit dem Geräusch der schöpfenden Löffel gekämpft hatte.
Hansgirg, der verjagte Altenteiler, Bertel das Weib, Schuligel und der kahle Cyprian eroberten eine Ecke für sich und aßen mit größerer Andacht als die Andern, von denen sich der und jener nach einer vergessenen Fleischfaser abmühte oder gar ein bitteres Wort als Würze in die weiße, hoffnungslose Suppe fallen ließ. Die Vier saßen stumm bei der schönen Gottesgabe und befleckten sich nicht mit schnödem Undank. Besonders der Cyprian tat es allen voran in Religion und Gehorsam, und sein ergebenes Lächeln spiegelte sich in der Brühe.
»Das ist das letzte Haar vom Bonifazius« gröhlte ein junger, verwahrloster Geselle aus der anderen Gruppe und hielt etwas Längliches, Dunkles empor.
»Das ist ein heiliges Haar« und er prustete und blies, Bonifazius, den kahlköpfigen Abt nachäffend, die Backen auf, bis seine Augen ganz klein wurden und fast in den Höhlen verschwanden.
154 Unwillkürlich strich der Cyprian über seinen Scheitel, als müßte er mit dieser Gebärde für alle Kahlköpfe eintreten. Eine verlegene Wärme stieg in seinen formlosen, verschrumpften Kopf, und er räusperte sich wie einer, der sich zum Worte gemeldet hat.
»Daß Dich der liebe Gott nicht strafen tut, Du, Du,« zitterte seine gebrechliche Stimme dem pietätlosen Witzbold entgegen.
»Du – Du – sollst – sollst – nur mal erst – alt werden Du – und – und – Du hast vielleicht gar keine Resiligion und keine fromme Seele hast Du auch nicht, Du.«
Der Junge und seine Gesellschaft brachen in ein Gelächter aus, das dem Cyprian die Worte zurück in die Kehle schlug. Er bebte am ganzen Leibe und seine Augen bekamen einen feuchtfiebrigen Glanz.
Das Weib, die Bertel, und der Schuligel starrten verängstigt zu ihm hinüber, wie er seine dürre Hand um den hölzernen Schöpflöffel krallte.
»Der Teufel, der Teufel, der was keine Resiligion hat.« Und er hob den Löffel drohend in die Höhe, sodaß ihm der Rest der weißen Suppe über den Ärmel tropfte. »Und der seinen lieben Gott nicht verteidigen tut, den sollen die Hunde fressen, Du, Du. Und ich hab ihm immerzu geholfen und siebzig Jahre immerzu geholfen, Du, Du, Du kannst uns überhaupt nicht beschimpfen, Du,« schloß er keuchend.
»Und manchmal, da hilfst Du auch dem Bonifazius, hilfst Du immerzu und immerzu, hihihilfst Du dem Bonifazius« höhnte der Verwahrloste herüber, als Cyprian aufstand und mit seinem Löffel auf ihn losgehen wollte. Aber die Bertel und der Schuligel drängten ihn auf den Heimweg.
So trabten denn die vier wieder ihre Straße zurück nach dem kleinen Hause, das sie gemeinsam bewohnten, während ihnen das Geheul der Andern folgte.
»Hast Dich brav gehalten, Cyprian, hättest ihm auch eins geschlagen, wenn der nicht gekuscht hätte,« unterbrach der Hansgirg das Schweigen auf dem Heimweg. »Aber Du, das mit 155 dem Bonifazius, das will mir nicht recht eingehen. Er hat doch das Haar vom Bonifazius beleidigt. Der Bonifazius ist doch ein Abt und kein lieber Gott. Oder meinst Du, daß das Alles auf eins herauskommt?«
Der Cyprian kraulte sich verlegen seinen Kahlkopf, als er bemerkte, welch einen großen Sprung er in seinem religiösen Eifer gemacht hatte. Er hatte da einen Irrtum in diese Seelen gepflanzt, als deren Hirte und Berater er sich bisher hatte bekennen dürfen, er, der schreib- und wortkundige Cyprian. Also war es nun an der Zeit, ein gelehrtes Wort einzuflechten. Darauf warteten sie jetzt auch, die Drei da. Und der Schuligel legte bereits einen Zeigefinger an seine nachdenkliche Nase. Immer fester preßte der Schuligel den Zeigefinger an den Nasenflügel, und dem Cyprian wurde es eng um die Seele, weil er's nicht finden konnte, das vertrackte Wort. Sonst war es ja immer ganz leicht gegangen, ein bischen Atemholen, und da wars.
Wieder setzte er an und würgte. Wie eine Faust saß es ihm an der Kehle und schnürte, bis die arme Seele wie ein gefangener Vogel zappelte und sich die Flügel zerbrach an den Stäben des Käfigs. Solch einen häßlichen Irrtum in der Welt lassen müssen und bloß, weil einem ein bischen Wärme aufgestiegen ist. – Aber der verdammte Unterschied zwischen Gott und dem Bonifazius wollte sich nicht und nicht in einen Satz bringen lassen.
Immer fester schnürte die Teufelsfaust und ließ kein Sterbenswörtlein heraus. »Ja, ja – ja« schlurrte es endlich in der Tiefe der Kehle – und dann sollte ein langer Satz kommen, aber es kam keiner.
Den drei Andern sprang dieses Ja wie ein weißes Tier in das schwüle Dunkel vor ihren Augen. Der Schuligel ließ den Finger von der Nase gleiten, und die Bertel machte einen runden Mund.
»Wann das ein Frommer sagt,« begann der Hansgirg nach einer Pause gequälten Schweigens, »wann das ein Frommer sagt, ist es leicht möglich, daß ein Bonifazius ein Gott und ein 156 Gott ein Bonifazius ist. Ich hab' ja immer schon nachspikeliert über den Iieben Gott, wie der allemal ein anderes Gesicht macht und einen verschiedenen Leib hat, einmal ein' fetten und einmal ein' mageren. Und Du Cyprian, jetzt weiß ich's auch. Das ist wie auf den Bildern verschieden. Wir ganz Armen, wir Suppenlöffler, wir haben den magern lieben Gott, und Ihr, was Ihr einmal oder zweimal die Woche eine Spansau in Euren Topf steckt, Ihr habt den Bonifazius.«
Dem Cyprian fuhr es wie eine Nadel durch die Lunge, und er schnappte wie ein ans Land geworfener Fisch. Er wagte es nicht einmal, hilfesuchend zur Bertel hinüberzusehen. Sie war doch immer die Stärkere gewesen in so profanen Angelegenheiten und dann – wer hätte es denn gekocht – alle Sonnabend Abend kochte sie es, das liebe Gericht. In dem bauchigen braunen Topfe, da saß es immer kunstvoll gewürzt von ihrer Hand, das Geheimnis, und wartete. – Wenn doch die Bertel reden würde.
Aber auch die Bertel schwieg betroffen. Und wie von einem grauen Strudel erfaßt, wirbelten alle Gedanken des armen Cyprian in den bewußten Topf hinunter; unter die Rüben mit Schweinebauch zog es ihn hinab, als müsse er ersticken in dem brühenden Geheimnis zur Strafe Gottes. – – –
In dem kleinen Höfchen der Armenhäusler lag noch ein breiter Streifen Abendsonne, als Cyprian in sich zusammengesunken von seiner Tagesfahrt heimkehrte. Unter seine Lippen hatte sich eine tiefe Furche eingegraben, und sein kleiner Schädel schien noch runzeliger und gelber geworden zu sein. – Bertel hatte noch einen Weg, wie immer am Sonnabend Abend.
Er schwankte die Treppe hinauf, kein Mensch hörte ihn, wie er nach der Klinke tastete und dabei mit einer Hand ausglitt. – Die waren alle noch auf der Fahrt. Endlich fiel das Schloß.
Aus dem Spalt kam der Geruch des lieben Gerichtes wie ein Strahl feierlichen Lichtes durch die Türe einer Sakristei. Und er krampfte die Finger ineinander wie zu einem Fluch oder Gebet. Lange stand er so da, ringend mit neuen 157 Erkenntnissen. Die Lippen verzerrten sich und der häßliche kleine Kopf auf dem kurzen Hals wippte und balanzierte. Ein bitterer Geschmack trat auf seine Lippen, und er strich mit seiner Zunge darüber, wie um das Bittere wegzuwischen.
Auf dem Herd brüstete sich der tönerne Topf, als berge er unermeßliche Seligkeiten hinter seiner bauchigen Wandung.
»Sollte es vielleicht doch so sein wie auf den Bildern, und der Girgel Recht haben? Ja, es ist ein zu armes Leben mit diesem einzigen Feiertag, auf dem die Neidhämmel sitzen wie Fliegen auf einem Geschwür.« Und er sah hinauf zu dem Öldruck, der über dem Bette der Bertel hing, ein Christus mit abgezehrtem bluttriefenden Leib, wie ihn nur ganz elende, hinfällige Menschen sich vorstellen wollen, mager und armselig, die Augen schwarz unterlaufen und auf das Brett mit der erloschenen Lampe gefesselt.
»Mein armer, magerer Jesus! Ja, Girgel, ja, die einen haben den Jesus und die andern den Bonifazius, der die Bettelsuppen kocht. Und wenn einer einen mageren Jesus hat, so nützt es ihn nichts, daß er einen Topf mit Geheimnissen in seine Stube schleppt.«
Jetzt hätte der Cyprian noch viele gelehrte Reden gefunden. Aber es war keine Zeit mehr zu Gelehrtheiten. Gleich mußte die Bertel von ihrem Gang zurück sein. Und deshalb nahm er den bauchigen Topf vom Herde und stellte ihn unter den armen Jesus. Freundlich stieg der Duft an dem nackten Leib des Gottes entlang.
»Iß, mein Jesus, iß!« lächelten die Lippen des Cyprian.
Aber der mit seinen blutigen Augen verstand nichts von den lieben Gerichten. Er hatte immer denselben tiefen Blick in etwas ganz Sonderbares, Unendliches hinunter.
Dann suchte der Cyprian seinen und der Bertel Rosenkranz und knüpfte sich eine Schlinge. Er erhängte sich an einem Nagel, das Gesicht dem Bilde zugekehrt.
* * *
Seine Seele fror, als er die letzten Sätze fast tonlos vor sich hin sprach. Das kleine Talglicht auf dem Tisch der Bettler zuckte mit seiner letzten Kraft und warf einen zitternden Schein auf den roten Kopf des kleinen Mädchens. Abrahams Augen klammerten sich an diesen hartnäckigen Fleck. Es war, als ob dieser Kopf ein Recht an das letzte Licht geltend machen wollte. So inmitten einer dunklen Masse schlafender Geschöpfe und Gegenstände belebte sich das lose, auf den Tisch breit hingegossene Haar wie ein vielarmiges Tier. Abraham empfand eine Art Grauen und suchte einen andern Platz. Der üble Geruch der verknisternden Flamme folgte ihm in die Finsternis. Im Hintergrund des Gemaches hatte er eine Bank als Nachtlager ausersehen. Die Augen von den Händen verdeckt, wartete er auf den Schlaf.
Die Lampe zuckte zum letzten Mal. Er hörte es zwischen den kreischenden und gurgelnden Tönen der schlafenden Landstreicher. Einen Augenblick lang wollte sich eine Angst auf seine Seele legen; wie von hundert Bettlerhänden aufgehetzt, sprang etwas ihn an. Aber er siegte über dieses Gesicht mit der Kraft der gesunden Wallfahrer, die ein Obdach gefunden haben. Aufmerksam folgte er den Lauten dieser fremden Nacht und mit jedem Stöhnen fühlte er einen fahlen, grinsenden Kopf sich erheben. Er trieb seine Gedanken von den häßlichen Köpfen fort, die ihn mit ihrem Dasein marterten.
»Ich will diese Köpfe nicht, ich will meine liebsten Blumen und meinen Himmel mit so vielen Sternen. Und mein Lächeln will ich, das mir alle meine Wege vorangegangen ist.«
Er sah einen großen Felsen vor sich emporwachsen, der sich weit in das Meer hinausbeugte, und hoch über dem Felsen wogten die Heere der Zugvögel. Sie schrien ängstlich in ihren Wintersorgen. – – – Und er sah seinen Abend heraufziehen. Er hörte sie so deutlich schreien, die Zugvögel, von Liebe und Erwartung schrien sie und flogen landeinwärts über die Erikawälder hin.
»Wo ist dieses Lächeln, das vor mir war und mit mir und in mir und über mir? O wie sie erschreckt aufflattern, die Zugvögel! 159 Sie kreischten, als es zu ihnen kam. Aber doch ist es ihnen gefolgt ein großes Stück des Weges, und dann ist es vielleicht ins Meer gefallen und erloschen in der Zeit. – Was für ein abgrundtiefes Lachen war dieser Tag, von dem ich ausging. Alle Schluchten und alles Meer ist kaum so tief.«
Und er quälte sich im Halbschlaf, eine heitere Grimasse zu finden. Er suchte nach dem Liebsten, das noch wach war in ihm. –
»Ich sehe kleine Eilande voll Blumenduft und Vogelgesang, ein Wald von Myrthen wartet auf mich und unzählige Hochzeiten. Seltsame Pflanzen finde ich, deren Namen mich verwirren, wie ihre Düfte. O ihr Inseln voll seltsamer Felder, o dieses Umherirren inmitten schattenloser Fruchtbarkeit. – Komm auf uns herab, du verwegener Traum und laß dich an den Tagen vorübertragen, die uns mit Erkenntnissen quälen.
Meine Füße sind wund geworden von vielem Gehen. Ich habe mir meine Füße verletzt! – – – Wie gibt es viele Hochzeiten im Endlosen – o Myrthenbäume, o Hochzeiten!« 160