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Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, in dem mir angewiesenen Zimmer meine Schulter, die durch den Rückstoß der Gewehre wund geworden war, einzureiben und mein Kopfweh zu beseitigen, das ich durch das hitzige Schießen und durch den Sturm bekommen hatte. Hernach erschien, wie vereinbart, Scroope und führte mich durch die langen, verschlungenen Gänge dieses alten Schlosses hinunter in den großen Salon.
Das war ein prachtvoller Raum, der nur bei besonderen Anlässen benutzt wurde. Wenigstens zwei- bis dreihundert Wachskerzen warfen einen sanften Schimmer über die getäfelten, bilderbehangenen Wände, über die kostbaren alten Möbel und die juwelengeschmückten Damen, die hier versammelt waren. Die Gesellschaft war zahlreich; es waren wohl gegen dreißig Personen, die sich an jenem Abend zu dem Diner, das der Nachbarschaft zur Einführung von Lord Ragnalls zukünftiger Gemahlin gegeben wurde, niedersetzten.
Fräulein Manners, die sehr glücklich und anmutig aussah, gesellte sich sofort zu uns und unterrichtete Scroope, daß »sie« soeben eingetroffen wäre; das Mädchen in der Garderobe hätte es ihr mitgeteilt.
»So, kommt sie?« antwortete Scroope gleichgültig. »Nun, solange du nur da bist, sind mir alle anderen gleichgültig.«
Dann sagte er ihr, daß er sie wunderschön fände. Er starrte sie so verzückt an, daß ich ein paar Schritte zurücktrat und mich in die Betrachtung eines Bildes vertiefte, einer Darstellung der Judith, die angestrengt damit beschäftigt schien, Holofernes den Kopf abzuhacken.
Dann wurden die Türen geöffnet, und der tadellose Wild, der so etwas wie den Zeremonienmeister repräsentierte, kündigte mit wohlerzogener, aber durchdringender Stimme »Lady Longden und das ehrenwerte Fräulein Holmes!« an. Ich starrte hin wie alle anderen, aber eine Zeitlang füllte nur ihre Ladyschaft meine Augen aus. Sie war eine korpulente und, wenigstens nach meinen Begriffen, schrecklich aussehende, in schwarze Seide gekleidete und mit großen Diamanten behängte Dame. Sie war Witwe. Ihr Haar war weiß, ihre Nase krumm, ihre dunklen Augen blitzten durchdringend, und sie schien bös erkältet. Ich hatte Zeit, das alles an ihr festzustellen. Dann kam ihre Tochter in meinen Gesichtskreis.
Sie war wahrhaftig eine liebliche Erscheinung von etwa zwei- oder dreiundzwanzig Jahren. Ihr nicht sehr großer Körper war weich und edel geformt, und ihre Bewegungen waren so anmutig wie die eines Rehes. Sie hatte überhaupt viel Ähnlichkeit mit einem Reh, besonders durch die graziösen Formen ihres Äußeren und durch ihre großen, feuchtschimmernden Augen. Sie war eine dunkle Schönheit mit reichem braunlockigen Haar, klarem Oliventeint, wunderschön geformtem Mund und sehr roten Lippen. Ihrem Äußeren nach schien sie mir mehr der italienischen oder spanischen als der angelsächsischen Rasse anzugehören, und ich glaube auch, daß sie von ihres Vaters Seite her wirklich etwas südliches Blut in den Adern hatte. Sie trug ein rosafarbenes Kleid, und ihre einzigen Schmuckstücke bestanden in einer Perlenkette und einer einzelnen roten Kamelie.
Nur einen einzigen Makel, wenn es überhaupt als Makel zu bezeichnen war, konnte ich an ihrer vollkommenen Schönheit entdecken: und das war ein seltsames weißes Mal auf ihrer Brust, genau in der Form des zunehmenden Mondes.
Der tiefe Eindruck, den ihr Gesicht auf mich machte, rührte aber nicht von seiner physischen, sondern von seiner psychischen Beschaffenheit her. Es war strahlend, intelligent und augenblicklich glücklich. Aber es war noch mehr, es war mystisch. Ihre Mutter sagte etwas zu ihr, wahrscheinlich über ihre Kleidung, und da verschwand ihr Lächeln für einen Moment, und wie von innen heraus erschien ein Schatten von angeborener Mystik auf ihrem Antlitz. In der nächsten Sekunde war er wieder weg, und sie lachte; aber ich, der ich zu beobachten gewöhnt bin, hatte es bemerkt.
Lord Ragnall, in seinem Abendanzuge mehr denn je einem prachtvollen van Dyck ähnlich, begrüßte seine Verlobte und ihre Mutter mit einer höflichen Verbeugung. Da hörte ich eine süße und durchschauernde Stimme dicht neben mir fragen:
»Welcher ist es? Oh! Du brauchst nicht zu antworten, Lieber. Ich erkenne ihn nach der Beschreibung.«
»Ja,« antwortete Lord Ragnall, »du hast ganz recht, dieser ist's. Ich werde dich ihm sofort vorstellen. Aber, Liebste, wer soll dich zu Tische führen? Ich komme nicht in Frage – du weißt, deine Mutter –, und da heute abend keine Würdenträger hier sind, so kannst du selbst wählen. Möchtest du den alten Doktor Jeffreys, den Geistlichen?«
»Nein,« antwortete sie mit großer Bestimmtheit, »ich kenne ihn; er hat mich schon einmal geführt. Ich wünsche Herrn Allan Quatermain als Tischherrn. Er ist interessant, und ich möchte ihn über Afrika erzählen hören.«
»Ausgezeichnet,« antwortete er, »er ist auch interessanter als alle anderen zusammengenommen. Aber, Luna, warum denkst und sprichst du immerfort von Afrika? Man könnte sich vorstellen, daß du dort leben wolltest.«
»Das könnte auch eines Tages der Fall sein«, antwortete sie träumerisch. »Wer weiß, wo ich schon einmal gelebt habe oder ich noch einmal leben werde!« Und wiederum sah ich jenen mystischen Ausdruck auf ihrem Gesichte.
Ich hörte nichts weiter von dieser Unterhaltung, die übrigens wahrscheinlich für keinen, dessen Ohren nicht ein Leben lang durch das Hineinlauschen in die große Stille der Natur geschärft worden waren, überhaupt zu verstehen gewesen wäre. Um die Wahrheit zu sagen, ich zog mich in der Hoffnung, den freundlichen Absichten von Fräulein Holmes zu entgehen, in den Hintergrund des großen Raumes zurück. Ich hasse es, mich an einen Platz gestellt zu sehen, an den ich nicht gehöre, und ich fühlte, daß es unschicklich wäre, wenn unter all diesen einheimischen Größen und bei einer Gelegenheit wie dieser gerade ich erwählt werden würde, die zukünftige Braut zu Tisch zu führen. Aber es war zwecklos. Denn im gleichen Moment stöberte mich Lord Ragnall, begleitet von der jungen Dame, auf.
»Darf ich Sie Fräulein Holmes vorstellen, Quatermain?« sagte er. »Es liegt ihr daran, von Ihnen zu Tisch geführt zu werden, wenn Sie die Güte haben wollen. Sie interessiert sich sehr für – für – –«
»Afrika«, suggerierte ich.
»Für Herrn Quatermain, der, wie mir gesagt wird, einer der größten Jäger in Afrika ist«, korrigierte sie mich mit einem blendenden Lächeln.
Ich verbeugte mich, denn ich wußte nicht, was ich erwidern sollte. Lord Ragnall lachte, verschwand und ließ uns allein. Das Essen wurde angesagt. Dann durchquerten wir als Führer einer langen und prächtigen Polonaise die große Halle und gelangten in den Bankettsaal, einen herrlichen Raum mit einer Art Kirchendach, der noch in den Zeiten der Plantagenets gebaut sein sollte. Herr Wild, der augenscheinlich nach ihrer zukünftigen Ladyschaft Ausguck gehalten hatte, geleitete uns zu unseren Plätzen. Wir saßen links von Lord Ragnall, der oben an der breiten Tafel mit Lady Longden zur Rechten präsidierte. Dann sprach Dr. Jeffreys, ein muffiger, alter, kirchlicher Herr, das Tischgebet – in jenen Tagen war das Tischgebet bei solchen Festen noch üblich –, indem er den Himmel bat, uns für das Mahl, das wir einnehmen wollten, dankbar zu machen.
Sicherlich war auch, was Essen und Trinken betraf, Ursache genug, dankbar zu sein. Aber ich erinnere mich an all das nur wenig. Aber an eins erinnere ich mich genau! An Fräulein Holmes und an niemand anders als Fräulein Holmes; an die Charme ihrer Unterhaltung, an den Glanz ihrer schönen Augen, an den Duft ihres Haares, an ihr schmeichelhaftes Interesse für meine geringe Person. Um die Wahrheit zu sagen, es kam über uns wie »Feuer übers Wintergras«, wie die Zulu sagen, und als das Diner vorbei war, brannte das Gras immer noch.
Ich glaube kaum, daß das Lord Ragnall sehr angenehm war, aber glücklicherweise war Lady Longden eine überaus gesprächige Dame. Zuerst unterhielt sie ihn über ihre Erkältung, wobei die arme Seele in Intervallen nieste. Dann ging sie zu geschäftlichen Dingen über, nach dem Ausdrucke gequälter Langeweile auf ihres Gastgebers Gesicht zu schließen. Ich glaube, es handelte sich um eine Schlichtungsangelegenheit; dreimal hörte ich, wie er ihr empfahl, sich an einen Anwalt zu wenden. Zuletzt, als er schon dachte, er wäre ihr entschlüpft, ließ sie sich mit Dr. Jeffreys in eine ziemlich lebhafte Debatte über kirchliche Angelegenheiten ein, wobei sie darauf bestand, daß Seine Lordschaft den Schiedsrichter spielte.
Da Fräulein Manners und Scroope, den keine zukünftige Schwiegermutter mit Beschlag belegte, einander völlig in Anspruch nahmen, waren Fräulein Holmes und ich uns selbst überlassen.
Sie begann:
»Ich hörte, Sie haben heute Sir Junius Fortescue bei einer Schießwette geschlagen und einen Haufen Geld von ihm gewonnen, das Sie dem Hospital übergeben haben. Ich liebe das Schießen nicht, und ich liebe das Wetten nicht; es ist merkwürdig; daß Sie auch gar nicht aussehen wie ein Mensch, der wettet. Aber ich verabscheue Sir Junius Fortescue, und hierin treffen sich unsere Gefühle.«
»Ich habe niemals gesagt, daß ich ihn verabscheue.«
»Nein, aber ich bin sicher, daß es so ist. Ihr Gesicht veränderte sich, wie ich seinen Namen nannte.«
»Sie haben recht. Aber, Fräulein Holmes, Sie haben auch darin recht, als Sie sagten, ich sähe nicht aus wie ein Mensch, der wettet.« Und ich erzählte ihr die Geschichte von van Koop und den zweihundertfünfzig Pfund.
»Ah«, sagte sie, als ich fertig war. »Ich hatte schon immer das richtige Gefühl, daß er ein ganz schäbiger Kerl ist.«
Dann gratulierte ich ihr zur bevorstehenden Hochzeit. Ich sagte ihr, daß es erfreulich wäre, etwas, was sonst nur in Romanen vorkomme, einmal in Wirklichkeit zu sehen, nämlich: Schönheit bei Mann und Frau, beide vereinigt durch Liebe, hohen Rang, Reichtum, gute Freunde, Gesundheit – einen lieblichen und altertümlichen Wohnsitz in einem Lande, wo es keine Gefahren gab – wenigstens augenblicklich –, Aussicht auf eine glänzende Karriere, noch dazu eine solche, wie sie gewöhnlichen Sterblichen verschlossen bleibt, kurzum alles, was Menschen, wenn sie nicht gerade Könige sind, nur wünschen und erreichen können. Nach meinem zweiten Glas Champagner wurde ich geradezu beredt, bewegt durch den Gedanken an all das Elend, das es in der Welt gibt, und das einen so großen Kontrast zu dem Los dieses ausgezeichneten und glänzenden Paares bildete.
Sie hörte aufmerksam zu und antwortete:
»Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Wünsche und Gedanken. Aber kommt es Ihnen nicht vor, Herr Quatermain, als ob in solch einer Lobeshymne eine üble Vorbedeutung läge? Ich glaube, es ist so. Und Ihnen selbst kam, als Sie endigten, der Gedanke, daß trotz allem die Zukunft vor uns allen so verschleiert liegt – wie das Bild in Lord Ragnalls Arbeitszimmer hinter seinem Vorhang von roter Seide.«
»Wie konnten Sie das wissen?« fragte ich mit unterdrückter Stimme. Denn durch ein seltsames Zusammentreffen war mir, als ich meine kleine, ein wenig altmodische Rede abschloß, tatsächlich gerade dieselbe Überlegung und damit die Erinnerung an das verhängte Gemälde in den Kopf gekommen.
»Ich kann es nicht sagen, Herr Quatermain, aber ich wußte es. Sie haben an das Bild gedacht?«
»Und wenn dem so wäre?« fragte ich, eine direkte Antwort vermeidend. »Was ist dabei? Wenn es auch vor jedermann verborgen ist, man braucht doch nur an dem Vorhang zu ziehen und sieht – Sie.«
»Nehmen wir an, jemand würde eines Tages an dem Vorhang ziehen und dahinter nichts finden, Herr Quatermain?«
»Dann würde das Bild eben gestohlen worden sein, das ist alles, und man würde es suchen müssen, bis man es wiedergefunden hat, was zweifellos früher oder später der Fall sein wird.«
»Ja, früher oder später. Aber wo? Vielleicht haben Sie in Ihrem Leben auch einmal ein Bild verloren oder zwei, Herr Quatermain, und sind besser imstande, die Frage zu beantworten als ich.«
Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen; denn dieses Gespräch über verlorene Bilder erweckte in mir Erinnerungen, die mich beengten.
Dann begann sie wieder zu sprechen, tief, rasch, mit unterdrückter Leidenschaft, aber mit einer wundervollen Mimik. Sie wußte, daß vieler Blicke auf ihr ruhten, ihre Gesten und der Ausdruck ihres Gesichtes waren aber so, wie der einer jungen Dame, die über Alltagsangelegenheiten, über Bälle, Blumen oder Juwelen spricht. Sie lächelte, und gelegentlich lachte sie sogar auf. Sie spielte mit dem goldenen Salzfaß vor ihr, und als sie ein wenig von seinem Inhalt verschüttet hatte, warf sie Salz über ihre linke Schulter und tat, als fragte sie mich, ob auch ich Anhänger dieses Aberglaubens wäre.
Aber während sie so heiter schien, sprach sie von tiefen Dingen, von Dingen, von denen ich niemals gedacht hätte, daß sie sie beschäftigten. Folgendes ist die Quintessenz dessen, was sie sagte:
»Ich bin nicht wie andere Frauen. Irgend etwas zwingt mich, Ihnen das zu sagen, irgend etwas, was sehr stark und real ist. Es ist seltsam, ich habe niemals zu irgend jemandem von diesen Dingen gesprochen, zu meiner Mutter nicht und sogar zu Lord Ragnall nicht. Keiner von ihnen würde mich verstehen. Ihr Mißverstehen würde allerdings verschieden sein. Meine Mutter würde mir raten, zu einem Arzt zu gehen – und wenn Sie erst diesen Arzt kennenlernten! Er«, und sie nickte nach Lord Ragnall hin, »würde denken, daß meine Verlobung mich ein wenig unvernünftig gemacht hat, oder daß ich religiöser bin, als ich meinem Alter nach eigentlich sein sollte, und daß ich wohl zuviel über – nun, über das Ende aller Dinge nachgedacht habe. Von Kind an wußte ich, daß ich ein Mysterium inmitten vieler anderer Mysterien bin. Es kam in einer Nacht ganz plötzlich über mich. Ich war damals ungefähr neun Jahre alt. Mir war es, als könnte ich die Vergangenheit und die Zukunft sehen, trotzdem ich beide nicht begreifen konnte. Solch eine lange Vergangenheit und solch eine endlose Zukunft! Ich weiß nicht, was ich dabei sah und manchmal noch sehe. Es kommt wie das Zucken eines Blitzes und ist blitzschnell wieder fort. Mein Verstand kann es nicht festhalten. Es ist zu gewaltig für meinen Geist. Ebensogut könnten Sie versuchen, Doktor Jeffreys da in dieses Weinglas zu stopfen. Nur zwei Tatsachen bleiben mir ins Herz geschrieben. Die erste ist, das mir Unheil droht, seltsames und ungewöhnliches Unheil; und die zweite ist, daß fortwährend, in jedem Augenblick, ich oder ein Teil von mir irgend etwas mit Afrika zu tun hat, einem Erdteil, von dem ich außer ein paar Tatsachen aus sehr langweiligen Büchern nichts weiß. Und nebenbei – dies ist meine neueste Erkenntnis –, daß ich sehr viel zu tun habe mit Ihnen. Das ist's, warum ich mich so für Afrika und für Sie interessiere. Erzählen Sie mir jetzt von Afrika und von sich selbst.« Sie brach kurz ab und setzte mit lauterer Stimme hinzu: »Sie haben dort Ihr ganzes Leben verbracht, nicht wahr, Herr Quatermain?«
»Ich glaube fast, Ihre Mutter hat recht – mit dem Doktor, meine ich«, gab ich zur Antwort.
»Das sagen Sie, aber das glauben Sie nicht. Oh, Sie sind sehr durchsichtig, Herr Quatermain – wenigstens für mich.«
Also begann ich, flüchtig genug – denn die Situation erschien mir unbehaglich, in gewissem Sinne sogar gefährlich –, das erste beste, was mir über Afrika einfiel, zu erzählen – nämlich die Legende von der »Heiligen Blume«, die von einem mächtigen Affen bewacht wird. Ein weißer Mann, der den Namen Bruder John führte und allgemein ein bißchen für verrückt gehalten wurde, hatte mir davon erzählt. Ich sagte ihr auch, daß irgendeine Tatsache dahinter stecken müsse, denn ich hatte ein Exemplar der Blume mitgebracht.
»Oh, zeigen Sie sie mir«, bat sie.
Leider konnte ich das nicht, da die Blume in einem Tresor in London verwahrt würde. Ich versprach ihr jedoch ein Aquarell, deren ich mehrere hatte malen lassen. Dann fragte sie mich, ob mich augenblicklich irgendwelche anderen afrikanischen Probleme beschäftigten. »Sogar verschiedene«, entgegnete ich ihr. So hatte ich zum Beispiel durch Bruder John und einige andere Leute von der Existenz eines gewissen Stammes in Zentral-Ostafrika – Arabern oder Halbarabern – gehört, die, wie behauptet wurde, ein Kind anbeteten, das immer ein Kind bliebe. – Ich hielt dies Kind für einen Zwerg; aber da ich mich seit jeher für die unendlich mannigfaltigen Kultgebräuche der Eingeborenen interessierte, hätte ich sehr gern den wahren Kern dieser Angelegenheit eruiert.
»Weil Sie gerade von Arabern sprechen,« unterbrach sie mich, »will ich Ihnen eine kuriose Geschichte erzählen. Einst, ich war noch ein kleines Mädchen von acht oder neun Jahren – es war kurz vor jener Erweckung, von der ich Ihnen sprach –, spielte ich unter Obhut meiner Gouvernante im Kensington-Garten, denn wir wohnten damals in London. Sie unterhielt sich mit einem jungen Mann, ihrem Vetter, wie sie sagte, ich sollte mit meinem Reifen spielen und sie in Ruhe lassen. Ich trieb den Reifen übers Gras auf eine Gruppe von Ulmen zu. Da traten hinter einem der Bäume zwei große Männer hervor, mit weißen Gewändern und Turbanen bekleidet, die mir vorkamen wie die biblischen Gestalten in einem meiner Bilderbücher. Der eine war ein ältlicher Mann mit blitzenden schwarzen Augen, krummer Nase und langem grauen Bart. Der andere war viel jünger, aber an ihn erinnere ich mich nicht so gut. Beide waren sie von brauner Hautfarbe, sonst aber sahen sie aus wie Weiße, nichts Negerhaftes war an ihnen. Mein Reifen traf den älteren Mann, ich stand still und wußte nicht, was ich sagen sollte. Er verbeugte sich höflich und hob ihn auf, aber er machte keine Anstalten, ihn mir zurückzugeben. Sie sprachen lebhaft gestikulierend miteinander, und einer von ihnen deutete auf das mondförmige Mal, das Sie hier an meinem Halse sehen; denn es war heiß und ich trug ein tiefausgeschnittenes Kleidchen. Übrigens hat mich mein Vater dieses Males wegen ›Luna‹ genannt. Der Ältere der beiden fragte mich in gebrochenem Englisch:
»Wie ist dein Name, hübsche Kleine?«
Ich sagte ›Luna Holmes‹. Da nahm er eine Büchse von wohlriechendem Holze aus seinem Gewand, öffnete sie, strich ein wenig von einer Art Süßgummi heraus, der aussah, als wäre er gefroren, und gab ihn mir. Ich war eine große Freundin von Süßigkeiten, und steckte das vermeintliche Konfekt in den Mund. Dann rollte er den Reifen in die Schatten der Bäume und sagte: »Lauf, fange ihn, kleines Mädchen!« Ich lief ihm nach, und ein sonderbarer Geschmack veranlaßte mich, jene Süßigkeit fallen zu lassen. Dann wurde alles trübe um mich, und das nächste, woran ich mich erinnere, war, daß ich in den Armen des jüngeren Orientalen lag. Die Gouvernante und ihr ›Vetter‹, ein handfester Bursche, standen uns gegenüber.
»Kleines Mädchen werden krank«, sagte der ältere Araber. »Wir suchen Polizist.«
»Sie lassen das Kind los!« sagte der ›Vetter‹, und ballte die Fäuste. Dann verließen mich wieder die Sinne, und als ich zu mir kam, waren die zwei weißgekleideten Männer verschwunden. Auf dem Heimwege schalt mich die Gouvernante, weil ich von Fremden Süßigkeiten angenommen hatte. Ich bat sie, meinen Eltern nichts zu sagen, womit sie im eigenen Interesse einverstanden war. So kommt es, daß Sie, Herr Quatermain, der erste sind, dem ich diesen Vorfall erzähle.«
»Sie glauben, das Zeug war vergiftet?« fragte ich.
Sie nickte: »Jedenfalls steckt etwas sehr Seltsames dahinter. Ein oder zwei Nächte nach jenem Ereignis trat das ein, was ich vorhin meine Erweckung nannte, und ich begann mich in meinen Gedanken mit Afrika zu beschäftigen.«
»Haben Sie diese Leute jemals wiedergesehen, Fräulein Holmes?«
»Nein, niemals.«
In diesem Momente hörte ich Lady Longden mit Betonung sagen:
»Meine liebe Luna, es tut mir leid, dich in deiner fesselnden Unterhaltung zu stören. Aber wir alle warten auf dich.«
So war es auch, denn jetzt sah ich mit Schrecken, daß außer uns schon alle aufgestanden waren.
Fräulein Holmes erhob sich eiligst.
Lord Ragnall, mich Einsamen wohl bedauernd, setzte sich zu mir und begann ein Gespräch über Großwildjagd in Afrika. Hierbei erkundigte er sich auch nach meiner ständigen Adresse dort unten. Ich sagte ihm: »Durban«, und fragte meinerseits nach dem Grunde seines Interesses.
»Weil Fräulein Holmes ganz versessen auf Afrika ist und ich darauf gefaßt bin, eines schönen Tages dorthin geschleppt zu werden«, versetzte er unwillig.
Seine Ahnung sollte in Erfüllung gehen ...