Rider Haggard
Die heilige Blume
Rider Haggard

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1. Kapitel

Bruder John.

Wer den Namen Allan Quatermain kennt, wird ihn wohl nicht so leicht mit Blumen zusammenbringen, und im besonderen nicht mit Orchideen. Und doch war es mir einmal bestimmt, an der Jagd nach einer Orchidee teilzunehmen, einer Jagd, die so bemerkenswerter Natur war, daß ihre Einzelheiten der Nachwelt erhalten zu bleiben verdienen.

Es war vor langer Zeit, als ich noch jünger war, und es war auf einer Jagdexpedition in der Gegend nördlich des Limpopo-Flusses, der die Grenzen von Transvaal bildet. Mein Gefährte war ein gewisser Herr Charles Scroope. Er war nach Durban gekommen, um zu jagen. Wenigstens war das der eine seiner Gründe. Der andere war eine Dame, die ich Fräulein Manners nennen will.

Die beiden waren verlobt und schienen große Neigung zueinander zu empfinden. Aber etwas war dazwischen gekommen. Auf einem Jagdball in Essex hatten sie sich wegen eines Herrn, mit dem Fräulein Manners vier Tänze hintereinander getanzt hatte, entzweit. Der Streit endete mit dem Bruch zwischen beiden Verlobten. Scroope entschloß sich, auf Elefantenjagd nach Afrika zu gehen. 6

Er ging auch wirklich nach Afrika. Schon am nächsten Tage verließ er Essex, ohne Abschied zu nehmen und ohne eine Adresse zu hinterlassen. Wie es sich lange nachher herausstellte, wäre, wenn er nur noch auf den nächsten Briefträger gewartet hätte, ein Brief gekommen, der seine Pläne wohl geändert haben würde. Doch beide waren junge Menschen von überschäumendem Temperament und eigensinnig bis zur Narrheit, wie das eben die Art von Verliebten ist . . .

So tauchte Charles Scroope eines Tages in Durban auf. Wir begegneten einander in der Bar des Royal-Hotels.

»Wenn Sie Großwild schießen wollen,« hörte ich jemand sagen, »so ist dort der Mann, der Ihnen zeigen kann, wie man das macht. Jäger Quatermain ist der beste Schütze in Afrika und einer der feinsten Kerle dazu.«

Ich saß still, rauchte meine Pfeife und tat, als hörte ich nichts. Es ist ja auch beschämend, wenn man anhören muß, wie man über den grünen Klee gelobt wird.

Dann nach einer Unterredung im Flüsterton wurde Scroope herangebracht und mir vorgestellt.

Er war ein großgewachsener junger Mann mit dunklen Augen und einem ziemlich romantischen Schimmer, der wohl mit seiner Liebesgeschichte zusammenhing. Der Gesamteindruck war jedoch so, daß mir sein Gesicht und Wesen gefielen. Als er erst ein paar Worte gesprochen hatte, wurde ich in meiner Entscheidung noch bestärkt. Sie lauteten: 7

»Wie geht es Ihnen? Wollen wir einen Schnaps miteinander trinken?«

Ich lehnte ab, da ich tagsüber niemals etwas trinke. Wir einigten uns aber auf eine kleine Flasche Bier. Als das Bier ausgetrunken war, gingen wir nach meinem kleinen Hause an der Berea, wo wir miteinander zu Mittag aßen. Charles Scroope hat dieses Haus erst wieder verlassen, als wir am nächsten Tage zu unserer Expedition aufbrachen.

Alles auf diesem Jagdausfluge ging gut, bis auf das unglückliche Ende. Wir hatten zwar nur zwei Elefanten erwischt, aber wir machten genügend Beute an anderem Wild. Wir näherten uns auf unserem Rückwege bereits Delagoa-Bay, als jener Unglücksfall eintrat.

Eines Abends wollten wir etwas für unser Abendbrot schießen, als ich zwischen den Bäumen eine kleine Antilope erspähte. Sie verschwand hinter einem Felsen, der auf der einen Seite einer Schlucht aufragte; und zwar trottete sie langsam, nicht flüchtend ab. Wir folgten. Ich war der erste und hatte mich gerade um die Felsen herumgedrückt und wahrgenommen, daß das Wild, es war ein Buschbock, etwa zwanzig Schritt entfernt von mir verhoffte, als ich ein Rascheln in den Büschen auf der Plattform des Felsens über mir und gleichzeitig Scroope schreien hörte:

»Achtung, Allan! Er kommt herunter.«

»Wer kommt herunter?« antwortete ich in ärgerlichem Tone; denn das Geräusch hatte den Bock verjagt. 8

Dann fiel mir ein – alles in einem Momente selbstverständlich –, daß der Mann nicht ohne besonderen Grund derartig schreien würde. So lugte ich um mich. Bis auf diese Minute kann ich mich genau an alles erinnern. Da waren einige vom Wasser ausgewaschene Granitfindlinge; Farne wuchsen aus ihren Rissen. Auf einem der Farnblätter saß ein großer Käfer mit roten Flügeln und schwarzem Leib, der sich seine Fühler mit den Vorderfüßen putzte. Und darüber, gerade noch über dem oberen Rande des Felsens, war der Kopf eines außerordentlich starken Leoparden sichtbar!

In demselben Augenblick sprang der Leopard mir auf den Rücken und drückte mich platt wie einen Eierkuchen. Ich nehme an, daß er ebenfalls dabei gewesen war, den Bock zu beschleichen, und sich jetzt über unser Erscheinen vor Wut nicht zu lassen wußte. Ich schlug hin, aber glücklicherweise in eine Vertiefung mit feuchter, moosiger Erde.

»Alles ist aus!« sagte ich zu mir selbst; denn ich fühlte das Gewicht der Bestie auf meinem Rücken. Ich spürte, wie das Raubtier mich in das Moos niederpreßte, und sein heißer Atem traf meinen Nacken, als es den Rachen öffnete, um mich in den Kopf zu beißen. Dann hörte ich den Knall von Scroopes Gewehr und ein Fauchen und Knurren des Leoparden, der jedenfalls getroffen war. Dabei schien er mich aber für denjenigen zu halten, der ihn verletzt hatte, denn er packte mich an der Schulter. Ich fühlte seine Zähne auf meiner Haut dahingleiten. Glücklicherweise faßten sie nur die Lederjacke, die ich 9 auf der Jagd zu tragen pflegte. Daraufhin begann er mich zu schütteln; dann wieder ließ er mich fahren, um mich besser zu packen. Im Gedanken daran, daß Scroope nur ein leichtes einläufiges Gewehr hatte und deshalb nicht nochmals schießen konnte, wußte ich, das Ende sei gekommen.

Darauf murmelte ich irgend etwas und verlor, glaube ich, das Bewußtsein. Als mir die Sinne zurückkehrten, hatte ich einen merkwürdigen Anblick – der Leopard und Scroope rauften miteinander. Das Katzentier, auf einem Bein stehend, denn das andere war durch den Schuß gebrochen, schien mit Scroope zu boxen, während Scroope sein großes Jagdmesser mehrmals hintereinander in den Körper der Bestie stieß. Sie fiel nieder, Scroope lag zuunterst, und der Leopard riß mit der Tatze auf seinem Körper entlang. Ich erhob mich und kam nach einigen Anstrengungen aus dem wässerigen Moosbett heraus – ich erinnere mich noch heute des schmatzenden Geräuschs, das mein Aufstehen verursachte.

In der Nähe lag mein Gewehr, unbeschädigt und gespannt, wie es mir aus der Hand gefallen war. In der nächsten Sekunde hatte ich den Leoparden durch den Kopf geschossen, gerade als er dabei war, Scroope bei der Kehle zu packen.

Er fiel tot auf ihn hin. Ein Zucken, ein letztes Niedersausen der Pranken (in des armen Scroopes Bein), und alles war vorbei. Da lag er, als wenn er schliefe, und unter ihm lag Scroope.

Die Schwierigkeit war, ihn herunterzubekommen; 10 denn das Tier war sehr schwer. Schließlich gelang es mir mit Hilfe eines dornigen Astes, den wohl ein Elefant von einem Baum abgebrochen hatte. Scroope lag still und blutbesprengt da. Zuerst wähnte ich ihn tot. Aber als ich ihm ein bißchen Wasser übers Gesicht gegossen hatte, richtete er sich auf und fragte ziemlich sinnlos:

»Was bin ich jetzt?«

»Ein Held«, antwortete ich. – Auf diese Bemerkung bin ich immer stolz gewesen. –

Dann machte ich mich an die Arbeit, ihn nach dem Lager zurückzubringen, das zum Glück nicht weit entfernt war.

Zuerst machte er noch immer unzusammenhängende Bemerkungen. Seinen rechten Arm hatte er um meinen Nacken geschlungen, während mein linker seine Hüfte umfaßt hielt. Als wir so einige hundert Meter zurückgelegt hatten, brach er plötzlich bewußtlos zusammen. Sein Gewicht war mehr, als ich tragen konnte. Ich mußte ihn verlassen, um Hilfe zu holen.

Zuguterletzt brachte ich ihn mit Unterstützung einiger Kaffern auf einer ausgespannten Decke ins Zelt und untersuchte ihn. Er war über und über zerkratzt. Bedenklicher waren jedoch ein Biß durch die Muskeln des linken Oberarms und drei tiefe Risse im rechten Schenkel, die ein Prankenschlag des Leoparden verursacht haben mußte.

Eine schreckliche Woche folgte. Scroope fiel in Delirien, schrie und krakeelte über alles Mögliche. Seine Verlobte spielte hierbei eine besondere Rolle. 11 Ich hielt ihn, soweit es mir möglich war, mit Wildfleischsuppen, denen ich ein wenig Branntwein zusetzte, bei Kräften. Aber er wurde schwächer und schwächer. Die Wunden am Oberschenkel fingen an zu eitern. Die Kaffern, die wir bei uns hatten, konnten mir wenig von Nutzen sein, und so fiel die ganze Pflege auf mich. Glücklicherweise hatte der Leopard mir selbst keinen ernsthaften Schaden zugefügt. Doch der Mangel an Ruhe zehrte an mir. Ich durfte ja kaum wagen, länger als eine halbe Stunde hintereinander zu schlafen. Schließlich war auch ich vollständig erschöpft. Da lag nun der arme Scroope in dem kleinen Zelt, wand und drehte sich und murmelte vor sich hin. Ich saß an seiner Seite, und Bedenken stiegen in mir auf, ob er überhaupt noch den nächsten Morgen erleben würde. Und wenn schon, wie lange würde ich noch imstande sein, ihn zu betreuen? . . . Ich hieß einen Kaffer, mir meinen Kaffee zu bringen, und gerade als ich die Tasse mit zitternder Hand an meine Lippen hob, kam Hilfe.

Sie kam in einer merkwürdigen Weise. Vor unserem Lager standen zwei Dornenbäume, und zwischen diesen Bäumen, von den Strahlen der untergehenden Sonne beschienen, sah ich eine seltsame Gestalt mit langsamen, fast feierlichen Schritten auf mich zukommen. Es war ein Mann von ungewissem Alter. Trotzdem der Bart und das lange Haar schneeweiß waren, sah das Gesicht verhältnismäßig jugendlich aus, und die dunklen Augen waren voll Leben und Energie. Abgetragene, zerrissene Kleidungsstücke und ein ebenfalls nicht mehr neuer 12 Ledermantel schlotterten lose um die hochgewachsene hagere Gestalt. An den Füßen trug er Stiefel von ungegerbtem Leder, auf dem Rücken einen verbeulten Blechkasten und in seiner knochigen Hand einen langen Stab aus schwarzweißem Holze, das die Eingeborenen Unzimbiti nennen. An der Spitze dieses Stabes flatterte ein Schmetterlingsnetz. Er war begleitet von einigen Kaffern mit Kisten auf den Köpfen.

Ich wußte sofort, wer der seltsame Mensch war. Wir waren einander schon einmal in Zululand begegnet, als er ruhig und wie selbstverständlich plötzlich zwischen den Reihen eines feindlichen Zuluregimentes auftauchte. Er war eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten ganz Südafrikas. Zweifellos war er ein Gentleman im wahrsten Sinne des Wortes. Doch niemand wußte etwas von seiner Lebensgeschichte. Daß er Amerikaner war, verriet zeitweise seine Sprache. Er mußte Arzt sein und, nach seiner außerordentlichen Geschicklichkeit zu urteilen, sehr viel Praxis in Medizin und Chirurgie gehabt haben.

Die Eingeborenen und viele Weiße hielten ihn für ein bißchen geistesgestört. Die afrikanischen Eingeborenen sehen in einem Irren einen Heiligen. Er hieß unter ihnen Dogitah, augenscheinlich eine Abänderung des Wortes »Doktor«, während die Weißen ihn unter den Namen Bruder John, Onkel Jonathan oder der heilige Johannes kannten.

Ich kann die Erleichterung, die ich empfand, als ich ihn auftauchen sah, nicht beschreiben; ein Engel vom Himmel konnte mir nicht willkommener sein. 13

»Wie geht es Ihnen, Bruder John?« sagte ich und reichte ihm eine Tasse Kaffee.

»Seien Sie mir gegrüßt, Bruder Allan«, antwortete er in einer Ausdrucksweise, die er bevorzugte und die ich für so etwas wie antiken Stil hielt.

»Auf Wanzenjagd?« forschte ich.

Er nickte: »Ja, und auf der Jagd nach Blumen und Schmetterlingen.«

»Wo zuletzt?« fragte ich.

»Auf jenen Hügeln dort, ungefähr zwanzig Meilen von hier. Gestern abend gegen acht Uhr brach ich auf und lief die ganze Nacht hindurch.«

»Warum?« fragte ich und sah auf.

»Weil es mir schien, als wenn mich jemand gerufen hätte. Und das waren Sie, Allan.«

»Also haben Sie von meinem Hiersein und dem Unglücksfall gehört?«

»Nein, nichts habe ich gehört. Wollte eigentlich heute morgen auf die Küste losgehen. Gerade als ich gestern abend zu Bett ging, acht Uhr fünf Minuten genau, kam Ihre Botschaft, und ich brach auf. Das ist alles.«

»Meine Botschaft –?« begann ich, brach ab, sah nach meiner Uhr und verglich sie mit der seinen. Beide zeigten merkwürdigerweise, bis auf einen Unterschied von nur zwei Minuten, dieselbe Zeit.

»Das ist seltsam«, sagte ich langsam. »Acht Uhr fünf Minuten gestern abend habe ich wirklich eine Botschaft um Hilfe weggeschickt; denn ich glaubte, mein Kamerad dort im Zelt«, und ich zeigte mit dem Daumen in die Richtung, »läge im Sterben. Nur, 14 die Botschaft war weder an Sie noch an einen anderen Menschen gerichtet. Verstehen Sie?«

»Vollkommen. Die Botschaft wurde befördert. Das ist alles. Befördert und, wie ich glaube, eingeschrieben.«

Ich sah Bruder John an, und Bruder John sah mich an. Aber bei dieser Gelegenheit sprachen wir nicht mehr hiervon. Es war zu eigenartig. Immer vorausgesetzt, daß er nicht log. Aber bis jetzt hatte niemand eine Lüge von diesem Menschen gehört. Und da gibt es noch Leute, die nicht an die Kraft eines Gebetes glauben. –

»Was ist es?« erkundigte er sich.

»Von einem Leoparden gebissen. Wunden wollen nicht heilen und dazu Fieber. Ich glaube nicht, daß er's noch lange macht.«

»Was wissen Sie davon? Lassen Sie mich ihn ansehen.«

Nun, er sah ihn an und wirkte Wunder. Jener Blechkasten auf seinem Rücken war voll Arzneien und chirurgischer Instrumente. Diese kochte er zunächst einmal gründlich ab. Sodann gab er dem armen Charly vorerst eine Dosis irgendeines Schlafpulvers, das nach seinen Angaben von den Kaffern stammte. Dann öffnete und reinigte er die Wunden am Schenkel und gab ihm ein Getränk, das einen ungeheuren Schweißausbruch zur Folge hatte und das Fieber sofort und für immer vertrieb.

Das Ergebnis der Kur war, daß der Patient bereits zwei Tage später im Feldbett saß und brüllend eine handfeste Mahlzeit verlangte. Eine Woche später 15 konnten wir daran gehen, ihn nach der Küste zu transportieren.

»Glauben Sie mir nun, daß jene Botschaft von Ihnen Bruder Scroope das Leben gerettet hat?« fragte der alte John, als wir mit dem Patienten aufbrachen.

Ich gab keine Antwort. Der Vollständigkeit halber muß ich hinzufügen, daß er, wie ich von seinen Kaffern erfuhr, tatsächlich an jenem Abend bereits Anweisung gegeben hatte, am nächsten Morgen nach der Küste zu ziehen. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang jedoch befahl er plötzlich, alles einzupacken und ihm zu folgen. Und dann war er mit fast übermenschlicher Zähigkeit fast zweiundzwanzig Stunden lang mit großen Schritten vor ihnen hermarschiert.

Ich muß es dem einzelnen Leser überlassen, eine Erklärung für dieses Vorkommen zu suchen. Vielleicht findet er sie in den Begriffen Gedankenübertragung, Instinkt, Inspiration oder sonst etwas . . .

Während der acht Tage unseres Zusammenseins im Lager, auf dem Marsche nach Delagoa-Bay und der Seereise von dort nach Durban kamen Bruder John und ich einander recht nahe. Niemals sprach er über seine Vergangenheit und auch niemals über die eigentlichen Gründe seiner Wanderungen. Desto mehr aber über wissenschaftliche und ethnologische Fragen.

Unter anderen Dingen zeigte er mir viele Stücke seiner Sammlungen, die er auf seiner gegenwärtigen Reise zusammengebracht hatte; Insekten und 16 prächtige Schmetterlinge, sauber aufgespießt und in Kästen verwahrt, auch eine Anzahl zwischen Löschpapierblättern getrocknete Blumen und unter ihnen einige Orchideen. Als er sah, daß diese mir besonders gefielen, fragte er mich, ob ich Lust hätte, die wundervollste Orchidee der ganzen Welt zu sehen. Ich sagte selbstverständlich ja, worauf er aus einer Kiste ein flaches Paket holte, ungefähr sechzig Zentimeter im Quadrat groß. Er entfernte die Umhüllung aus farbigen Grasmatten. Ein Blechkasten folgte, in dem wieder Matten und einige Zeitungsblätter als Schutz lagen. Und schließlich kamen, von Löschblättern reichlich umhüllt, eine Blüte und ein Blatt zum Vorschein. Beim Anblick dieses Blütenwunders riß ich Mund und Augen auf.

Sogar noch in diesem getrockneten Zustand war es ein wunderbares Produkt der Natur. Es maß wohl vierundzwanzig Zoll von der Spitze des einen Flügels oder Blütenblattes bis zur Spitze des anderen und zwanzig vom oberen Rande der hinteren Scheide bis zum Boden des Staubbeutels; die Maße der hinteren Scheide selbst habe ich vergessen; aber sie war sicherlich einen Fuß im Quadrat groß. Die Farbe der Blüte war ein glänzendes Gold. Die hintere Scheide leuchtete schneeweiß und war mit schwarzen Streifen durchsetzt. Im Zentrum des Staubbeutels befand sich ein einzelner schwarzer Fleck, geformt wie der Kopf eines großen Affen. Da waren die überhängenden Brauen, die tiefliegenden Augen, das mürrische Maul, die massiven Kinnbacken –, kurz alles, was dazu gehört. 17

»Was ist das?« fragte ich fassungslos vor Erstaunen.

»Sir,« sagte Bruder John – in der Erregung gebrauchte er manchmal diese förmliche Anrede –, »es ist das wundervollste Exemplar eines Cypripedium, das auf der ganzen Welt existiert. Ich habe es entdeckt. Eine gesunde Wurzel dieser Pflanze würde zwanzigtausend Pfund wert sein.«

»Das ist besser als eine Goldmine«, sagte ich. »Ja, und haben Sie eine Wurzel?«

Bruder John schüttelte traurig den Kopf.

»Wie kommen Sie denn zu der Blume?«

»Werde ich Ihnen sagen, Allan. Vor ungefähr einem Jahre sammelte ich in dem Landstrich hinter Kilwa und fand dort wirklich prachtvolle Sachen. Zuletzt, ungefähr dreihundert Meilen im Innern, kam ich zu einem größeren Stamm, der noch niemals von einem Weißen besucht worden war. Es waren die Mazitu, ein blühendes und kriegerisches Volk, Bastarde von Zulublut.«

»Von denen habe ich gehört«, fiel ich ein. »Sie brachen nach dem Norden durch vor ungefähr zweihundert Jahren, noch vor den Tagen von Senzangakona.«

»Ich konnte mich mit ihnen verständigen; denn sie sprachen, wie alle die Stämme in jener Gegend, noch immer ein etwas korrumpiertes Zulu. Zuerst wollten sie mich totschlagen; doch dann ließen sie mich laufen, weil sie mich wohl für verrückt hielten. Die meisten übrigens halten mich dafür, Allan, wogegen ich der Meinung bin, daß ich ganz normal bin und sehr viele andere verrückt sind.« 18

»Durchaus nicht die allgemeine Meinung«, warf ich rasch ein, da ich über Bruder Johns geistige Gesundheit nicht zu diskutieren wünschte. »Doch erzählen Sie mir mehr von den Mazitu.«

»Späterhin entdeckten sie, daß ich gewisse Fähigkeiten als Arzt hatte, und ihr König kam zu mir, um sich eine große Beule behandeln zu lassen. Ich riskierte die Operation und heilte ihn. Es war eine bedenkliche Angelegenheit. Wenn er daran gestorben wäre, hätte ich ebenfalls sterben müssen, trotzdem mir das nicht besonders viel ausgemacht hätte«, und er seufzte. »Selbstverständlich wurde ich von jener Stunde an als ein großer Zauberer betrachtet. Auch machte Bausi – so hieß der König – Blutsbrüderschaft mit mir, wobei ein wenig von meinem Blut in seine Adern und einige Tropfen des seinigen in meine Adern übertragen wurden. Ich hoffe nur, daß er mich nicht mit seinen Beulen angesteckt hat. So wurde ich Bausi, und Bausi wurde ich. Ich war also genau so König der Mazitu wie er und werde das mein ganzes Leben lang bleiben.«

»Das könnte einmal nützlich sein«, sagte ich nachdenklich. »Aber fahren Sie fort.«

»Ich hörte, daß das Mazituland im Westen von großen Sümpfen begrenzt werde. Jenseits dieser Sümpfe befände sich ein See; und dann sollte man in ein großes und sehr fruchtbares Land gelangen. Den Berichten nach lag eine Insel mit einem Berg in der Mitte. Dieses Land heißt Pongo, und so heißen auch seine Bewohner.«

»Ist das nicht auch die Bezeichnung der 19 Eingeborenen für den Gorilla?« fragte ich. »Wenigstens hat mir jemand, der an der Westküste gewesen war, einmal etwas Ähnliches erzählt!«

»So? Das wäre eine sehr eigenartige Sache. Diese Pongo werden nämlich für große Zauberer gehalten. Und der Gott, den sie anbeten, soll ein Gorilla sein, was ja, wenn Sie recht haben, für ihren Namen spräche. Eigentlich«, fuhr er fort, »haben sie zwei Götter; der andere ist jene Blume, die Sie hier sehen. Ob nun die Blume mit dem Affenkopf der erste Gott war und die Verehrung des Tieres selber nach sich zog oder umgekehrt, weiß ich nicht. Ich kenne eben nur das wenige, was mir die Mazitu und ein Mann erzählten, der sich selbst Häuptling der Pongo nannte.«

»Und was war das?«

»Nach dem Gerede der Mazitu sind die Pongo wilde, bösartige Teufel, die in Kanus durch geheime Kanäle im Schilf in ihr Uferland einbrechen und Kinder und Frauen stehlen, die dann ihren Göttern geopfert würden. Auch von der wundervollen Blume erzählten sie mir. Diese wächst in der Nähe des Urwaldes, in welchem der Affengott lebt, und wird ebenfalls göttlich verehrt.«

»Versuchten Sie auf die Insel zu kommen?« fragte ich. –

»Ja, Allan. Das heißt, ich ging bis an den Rand der Schilfmassen, die das Ufer des Sees bedeckten. Hier hielt ich mich eine Zeitlang auf, um Schmetterlinge und Pflanzen zu sammeln. Eines Nachts, als ich allein dort lagerte – keiner meiner Leute wollte 20 dem Pongolande nach Sonnenuntergang nahe sein –, wachte ich mit einem Gefühl auf, als wenn jemand in meiner Nähe wäre. Ich kroch aus meinem Zelt heraus, und beim Lichte des Mondes sah ich einen Mann, der sich auf einen Speer stützte. Der Speer war länger als der Mann, obgleich jener auch fast zwei Meter hoch und von entsprechender Breite war. Er trug einen langen weißen Mantel, der von seinen Schultern bis fast zum Boden herabreichte. Auf dem Kopfe hatte er eine enganschließende Kappe mit Ohrlappen, ebenfalls weiß; in seinen Ohren glänzten Ringe von Kupfer oder Gold und an seinen Handgelenken Armbänder von demselben Metall. Seine Haut war von außerordentlich tiefem Schwarz, aber seine Gesichtszüge durchaus nicht negerhaft. Sie waren ausdrucksvoll und fast schön geschnitten, die Nase sehr scharf und die Lippen ganz dünn, etwa wie der arabische Typus. Seine linke Hand war verbunden, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck großer Besorgnis. Er schien etwa fünfzig Jahre alt zu sein. So still stand er da im Mondenschein, daß ich zu glauben begann, er wäre ein Spuk.

Eine lange Weile starrten wir einander an. Dann begann er zu sprechen. Er besaß eine tiefe, volltönende Stimme.

›Bist du nicht Dogitah, ein Meister der Heilkunst?‹

›Ja,‹ antwortete ich, ›aber wer bist du, daß du wagst, mich in meinem Schlafe zu stören?‹

›Herr, ich bin Kalubi, der Häuptling der Pongo, ein großer Mann in meinem eigenen Lande.‹

›Also was willst du?‹ 21

›Dogitah, ich habe mich verletzt; ich möchte, daß du mich heilst.‹ Dabei sah er auf seine verbundene Hand.

›Lege jenen Speer nieder und öffne dein Gewand, daß ich sehen kann, ob du ein Messer bei dir hast.‹

Er gehorchte, warf den Speer von sich und schlug den Mantel auseinander.

›Nun nimm den Verband ab.‹

Er tat es; ich riß ein Zündholz an. Dieses schien ihn in einen gewaltigen Schrecken zu versetzen. Beim Schein des Zündholzes sah ich mir die Hand an. Das erste Glied des zweiten Fingers fehlte. Nach dem Aussehen des Stumpfes schloß ich, daß das Glied abgebissen worden war.

›Wer hat das getan?‹ fragte ich.

›Affe‹, antwortete er. ›Giftiger Affe. Schneide mir den Finger ab, Dogitah. Sonst muß ich morgen sterben.‹

›Warum bittest du nicht die Ärzte deines Stammes darum? Du bist doch der Kalubi, der Häuptling der Pongo.‹

›Nein, nein‹, erwiderte er und schüttelte den Kopf. ›Die können das nicht tun; es ist gegen das Gesetz. Und ich, ich kann es auch nicht tun; wenn das Fleisch schwarz ist, muß die Hand ab, und wenn das Fleisch am Ellbogen schwarz ist, muß auch der Arm ab.‹

Ich setzte mich auf meinen Feldstuhl nieder und überlegte. Ich mußte ohnehin warten, bis die Sonne aufging, denn bei diesem Licht konnte ich nicht operieren. 22

›Habe Gnade, weißer Herr‹, bettelte der Kalubi, der glaubte, daß ich seine Bitte abschlagen würde. ›Laß mich nicht sterben. Ich fürchte mich vor dem Tode. Das Leben ist schlimm, aber der Tod ist noch schlimmer.‹

›Sei still‹, sagte ich; denn ich sah, daß er sich in ein Fieber hineinreden würde, wenn er so fortfuhr. Und das konnte die Operation gefährlich machen. Ich zündete mein Feuer an und kochte die Instrumente. – Als alles fertig war, ging die Sonne auf.

Also, Allan, ich führte die Operation aus, löste den Finger an der Stelle, wo er aus der Hand trat, ab und fand auch wirklich später in dem abgeschnittenen Gliede, daß etwas Wahres an der Geschichte mit dem Gifte war. Dieser Kalubi war ein beherzter Bursche. Er saß wie ein Felsen und winselte nicht einmal. Als er sah, daß das Fleisch gesund war, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Nachdem alles vorüber war, wurde ihm ein bißchen schwach; ich gab ihm ein wenig mit Wasser vermischten Branntwein. Dieser half bald.

›Dogitah,‹ sagte er, während ich die Hand verband, ›solange ich lebe, bin ich dein Sklave. Doch tu mir noch einen weiteren Dienst. In meinem Lande ist ein schreckliches wildes Tier, das auch meinen Finger abgebissen hat; es ist ein Teufel. Komm in mein Land und töte das wilde Tier mit deiner Zauberwaffe. Komm doch! Denn ich habe schreckliche Angst.‹ Und das war ihm auch anzusehen.

›Nein‹, antwortete ich. ›Ich vergieße kein Blut. Aber wenn du dieses Tier fürchtest, warum 23 vergiftest du es nicht? Ihr schwarzen Leute habt doch so viele Gifte.‹

›Es ist völlig zwecklos,‹ antwortete er fast wimmernd, ›das Vieh kennt die Gifte; einige nimmt es, und die tun ihm nichts. Andere rührt es nicht an. Und außerdem kann ihm kein schwarzer Mann schaden. Es ist weiß, und seit alters her ist bekannt, daß es nur sterben kann durch die Hand eines Mannes, der auch weiß ist.‹

›Ein recht merkwürdiges Vieh‹, sagte ich in zweifelndem Tone. Aber gerade im selben Augenblick hörte ich die Stimmen meiner Leute. Der Kalubi hörte sie auch und sprang auf.

›Ich muß fort‹, sagte er. ›Niemand darf mich hier sehen. Welche Belohnung willst du?‹

›Ich nehme keine Bezahlung für meine Medizin‹, erwiderte ich. ›Doch warte. In eurem Lande wächst eine wundervolle Blume, nicht wahr? Eine Blume mit Flügeln und einem dicken Kopfe unten. Ich möchte diese Blume haben.‹

›Wer hat dir von der Blume gesagt?‹ fragte er. ›Die Blume ist heilig. Doch, weißer Herr, für dich soll es gewagt werden. Komm zurück und bringe jemand mit dir, der das Ungeheuer töten kann. Dann will ich dich reich machen. Komm zurück, und rufe durch das Schilf nach Kalubi. Kalubi wird hören und kommen.‹

Dann rannte er nach seinem Speer, raffte ihn vom Boden auf und verschwand zwischen den Binsen. Das war das letzte, was ich von ihm sah und wohl auch für immer gesehen habe.« 24

»Aber, Bruder John, Sie haben doch die Blume?«

»Ja, Allan; als ich eines Morgens, etwa eine Woche später, aus dem Zelte trat, stand sie da, in ein flaschenförmiges, enges Gefäß gesteckt, das mit Wasser gefüllt war. Selbstverständlich hatte ich gemeint, er sollte mir die ganze Pflanze mit Wurzeln und allem Drum-und-Dran schicken. Aber er hatte mich dahin verstanden, daß ich eine Blüte haben wollte. Oder vielleicht wagte er auch nicht, eine ganze Pflanze auszureißen. Doch ist es besser als nichts.«

»Warum sind Sie nicht selbst in jenes Land gegangen und haben sie sich geholt?«

»Aus mehreren Gründen, Allan. Die Mazitu schwören darauf, daß jeder, der die Blume nur anschaut, sterben muß. Als sie sahen, daß ich die Blüte hatte, haben sie mich auch gezwungen, fortzugehen. Ich hielt es für besser, zu warten, bis ich einmal Kameraden fände, die mit mir nach Pongoland gingen. Offen gestanden, Allan, ich denke, daß Sie die Sorte Mensch sein würden, sich einmal dieses merkwürdige Untier anzuschauen, das den Leuten die Finger abbeißt und sie zu Tode ängstigt.«

Er lächelte und strich seinen langen weißen Bart. 25

 


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