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Im Jahre 1893 wurde vor dem Schwurgericht zu Y., einer kleinen ostpreußischen Stadt, ein Mordprozeß verhandelt, der allgemeines Interesse, bei Juristen, Geschworenen und Medizinern große Aufmerksamkeit erregt und bei manchen Beteiligten einen Eindruck erweckt hatte, der heute noch nicht entschwunden ist. Das letztere nicht sowohl wegen der Person der Angeklagten, die ein und dreiviertel Jahr in Untersuchungshaft gehalten wurde, als vielmehr wegen der Lehren, die aus diesem Strafverfahren für alle Beteiligten gezogen werden konnten.
Der Fall erscheint daher auch heute nicht ohne ein allgemeines Interesse für Juristen, Polizeiorgane und Mediziner.
Auguste M., in einer östlichen Provinz Preußens im Jahre 1859 geboren, katholisch, heiratete im Jahre 1885 den zwei Jahre älteren Arbeiter N. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor, von denen vier im zarten Alter starben. Martini 1892 wechselten die Eheleute N. ihren Wohnsitz, siedelten mit ihrem 6jährigen Kinde nach dem Orte X. ihres Heimatskreises über und bezogen bei den Eigenkätners-Eheleuten P. eine Stube. Der Arbeiter N. stand ebenso wie seine Frau in gutem Rufe. Beide waren ordentliche solide Leute, die sich schlecht und recht nährten und nicht vorbestraft waren.
Am 23. März 1893 kam die Ehefrau P. zum Gendarm und zeigte ihm an, sie sei von der Frau N. beim Schiedsmann verklagt, weil sie (die P.) geäußert habe, die Frau N. sei schwanger gewesen, es sei aber nichts zutage gekommen, sie müsse es daher weggeschafft haben. Das letztere sei auch nach ihrer Überzeugung wirklich der Fall. Denn im Dezember 1892 sei die N. hochschwanger gewesen, jetzt sei sie wieder schlank, von einem Kinde wisse kein Mensch etwas. Der Gendarm nahm Ermittelungen vor und befragte zunächst die Eheleute P., die folgendes angaben: Als die Eheleute N. im September 1892 bei ihnen gemietet hätten, habe der Ehemann N. aus die Frage, wieviel Kinder er habe, geantwortet: »Eins am Leben und eins auf dem Wege«. Die Frau N., die in der ersten Zeit viel mit ihnen verkehrt habe, sei auch sehr stark gewesen, man habe ihr die Schwangerschaft ansehen können. P. habe noch einen Scherz gemacht, und zu der kleinen Tochter N. gesagt: »Wenn Euch der Storch was bringt, dann wirst du tüchtig wiegen müssen«. Die Frau N. habe auch selbst erzählt, sie sei schwanger, es komme zum Januar an. Sie habe späterhin geäußert, erst habe es sich sehr stark bewegt, jetzt sei es aber, als wenn es tot sei, sie wisse daher nicht recht, was mit ihr sei. Auch habe sich die Blutung wieder eingestellt. Darauf habe die Ehefrau P. gesagt: »Das ist nicht richtig mit dir, du mußt zur Hebamme gehen, wie lange dauert es denn wohl noch?« und zur Antwort erhalten: »Noch vier Wochen!« Sie sei aber doch nicht zur Hebamme gegangen, weil sie sich geschämt habe, und habe geklagt, wo sie nur einen Tropfen Milch her bekommen solle, sie könne das Kleine nicht nähren, weil sie keine Nahrung habe. Im Laufe des Winters habe sich dann die Ehefrau P. gewundert, daß, obwohl die N. hochschwanger sei, noch immer nichts ankomme. Sie habe ihrem Erstaunen auch andern gegenüber Ausdruck verliehen und Verdacht geäußert. Als dies die N. einmal erfahren habe, sei sie erregt zu ihnen gekommen und habe behauptet, sie sei überhaupt nicht schwanger gewesen, sie werde die Frau P. verklagen. Der Ehemann P. habe ihr daraus ins Gesicht gesagt: »Was, Sie wollen nicht schwanger gewesen sein? Da hört sich doch die Geschichte auf!«, worauf die N. hartnäckig die Schwangerschaft in Abrede gestellt habe.
Als der Gendarm die Frau N. abhörte, leugnete sie geboren zu haben, gab aber zu, es sei ein Klumpen Blut von ihr gegangen. Dabei blieb sie den Tag über. Der Gendarm gab dem Ehemanne P. den Auftrag, die N. während der Nacht im Auge zu behalten. Abends spät kam P. zum Gendarm und meldete, die N. habe jetzt gestanden, ein Kind geboren zu haben. Der Gendarm begab sich daraus wieder in die P.sche Wohnung, und die N. gestand ihm jetzt, sie habe am 15. Dezember 1892 ein Kind männlichen Geschlechts gleich nach der Geburt mit reiflicher Überlegung getötet.
In der nunmehr erstatteten Anzeige des Gendarms wird über die Einzelheiten dieses Geständnisses berichtet:
»Die N. hat, wie sie selbst sagt, das Kind, nachdem sie es sich besehen hatte, in den Wassereimer und zwar mit dem Kopf nach unten ins Wasser gesteckt, so daß es ertrinken mußte. Das Kind hat geschrieen, als sie es sich besehen hat, und dann noch ungefähr zehn Minuten im Eimer gezappelt. Nachdem das Kind im Eimer ertrunken war, hat sie dieses in einen Topf gesteckt und in der Stube unter dem Bett bis vor ungefähr 14 Tagen aufbewahrt. Nachdem hat sie die Leiche genommen und in der Nähe des Dorfgrabens hinter der Scheune des Wirts A. vergraben. Auf dieser von der Angeschuldigten bezeichneten Stelle ist jedoch eine Kindsleiche nicht zu finden, und ist anzunehmen, daß diese von Hunden herausgescharrt und verschleppt worden ist. Der Eigenkätner R. von hier hat gesehen, wie der Hund des Besitzers B. von hier eines Morgens von der bezeichneten Stelle gekommen ist und etwas im Maule hatte, was er jedoch in der Geschwindigkeit nicht erkannt haben will. Der Ehemann der Angeschuldigten bestreitet entschieden von der Schwangerschaft seiner Frau etwas gewußt zu haben, ebenso will er von der letzten Geburt nichts wissen.«
Die N. wurde festgenommen, dem Amte überliefert und dem Amtsrichter in L. vorgeführt. Als sie, eine magere Person von Mittelgröße mit blassem, schmalen Gesicht, vor dem Richter erschien, hielt sie ihr Geständnis in weitem Umfang aufrecht und erklärte:
»Ich räume ein, am 15. Dezember 1892 meinen an demselben Tage von mir geborenen Sohn ertränkt zu haben, jedoch habe ich die Tat nicht mit Überlegung ausgeführt. Etwa im halben April 1892 blieb bei mir die Regel aus, woraus ich schloß, daß ich von meinem Ehemann schwanger geworden war. Am 15. Dezember 1892, etwa nachmittags 2 Uhr, gebar ich in Abwesenheit meines Mannes ganz allein in unserer Ehewohnung ein Kind männlichen Geschlechts; auch die Nachgeburt kam mit. Das Kind war lebend, denn es schrie einmal. Unmittelbar nachdem ich das Kind geboren hatte, kam mir der Gedanke, mich desselben zu entledigen, da ich für dasselbe als Mutter keine Nahrung hatte und mein Mann zu wenig verdiente, – denn er bekam als Arbeiter nur Essen für sich und 30 Pfennige pro Tag, während ich selbst nicht auf Arbeit ging, sondern mit meinem sechsjährigen Kinde in der Wirtschaft zurückblieb. Ich habe bis jetzt im ganzen fünf Kinder gehabt, von denen nur das zweite lebt. Ich steckte das eben geborene Kind in einen Tränkeimer, in welchen ich eine Schöpfe voll reines Wasser goß. Mit dem Gesicht legte ich das Kind ins Wasser, damit es ertrinken mußte. Ich ließ das Kind etwa zehn Minuten im Wasser, steckte seinen Leichnam in einen hohen Milchtopf und versteckte beides unter unserm Ehebett. Als ich merkte, daß die Leiche zu stinken anfing, entfernte ich dieselbe aus dem bisherigen Versteck und vergrub sie hinter der Scheune des Wirts A. in der Nähe des Dorfgrabens. Das Gesicht des Leichnams war nicht mehr kenntlich, die Hautfarbe war blauschwarz. Die Vergrabung erfolgte vor etwa vierzehn Tagen am Nachmittag etwa um halb zwei oder halb drei Uhr. Seitdem habe ich mich um den Leichnam nicht mehr gekümmert und weiß auch nicht, wo er sich befindet.
Ob mein Ehemann gewußt hat, daß ich schwanger war, weiß ich nicht. Ich habe es ihm nicht mitgeteilt. Meinem Ehemanne habe ich auch nicht gesagt, daß ich ein Kind geboren und dasselbe ertränkt habe. Einen Grund für dieses Verheimlichen meiner Schwangerschaft kann ich nicht angeben, da ich mit meinem Mann immer in Frieden gelebt habe und mit einem andern Mann geschlechtlich nichts zu tun hatte. Ich habe meinem Mann auch nicht erzählt, daß ich das Kind unter dem Bett versteckt und dann hinter der Scheune vergraben hatte.
Vor der Geburt meines Kindes habe ich niemals den Vorsatz gehabt, dasselbe zu töten. Ich handelte unter dem Eindruck des plötzlichen Entschlusses, den ich nach der Geburt des Kindes faßte, ohne zu überlegen, was ich tat. Ich habe meine Tat schon tief bereut.« –
Der Amtsrichter erließ Haftbefehl, weil die N. dringend verdächtig sei, »am 15. Dezember 1892 zu X. vorsätzlich, jedoch nicht mit Überlegung ihr ehelich geborenes männliches Kind getötet zu haben, Verbrechen gegen § 212 St.G.B.«.
Die Staatsanwaltschaft erhob gegen sie Anklage wegen Mordes durch Antrag auf Voruntersuchung wegen der Anschuldigung »zu X. am 15. Dezember 1892 ihr an demselben Tage geborenes Kind vorsätzlich und mit Überlegung getötet zu haben, Verbrechen gegen § 211 St.G.B.«
Am 30. März 1893 traf der Untersuchungsrichter in X. folgende Feststellungen:
Die Angeschuldigte gab folgendes an: »Ich bekenne mich schuldig. Ich bin seit 8 Jahren mit dem Arbeiter N. verheiratet. Aus unserer Ehe sind fünf Kinder entsprossen ausschließlich des im Dezember geborenen, von mir gemordeten Kindes … Ich hatte nach meinen Geburten immer sehr wenig Nahrung und mußte meine Kinder mit Fencheltee, Gries und Kuhmilch aufziehen. Früher besaßen wir eine Kuh. Diese krepierte uns Pfingsten 1891, während wir an unserem früheren Wohnorte als Instleute waren. Wir hatten kein Geld, um uns eine andere Kuh zu kaufen. Im April 1892 blieb mir wiederum die Regel aus und merkte ich nun, daß ich schwanger war. Mit meinem Ehemann habe ich über meine Schwangerschaft gar nicht gesprochen, er hat mich auch nicht danach gefragt. Ich sprach mit ihm aus dem Grunde nicht, weil, wenn ich ihm dies in früheren Fällen mitteilte, er geäußert hatte, das kann gar nicht möglich sein. Die Zeit meiner Niederkunft verlegte ich in den Januar 1893. Etwa 14 Tage vor dem 15. Dezember 1892 faßte ich den Plan, mein Kind, falls es geboren würde, umzubringen Man beachte den hier und an einigen anderen Stellen vorhandenen Widerspruch zwischen dieser gerichtlichen Vernehmung und der früheren, S. 86.. Ich kam zu diesem Plan aus Not. Nahrung hatte ich, wie ich schon von früheren Geburten wußte, nicht; Milch zu kaufen, hatte ich kein Geld … Auf welche Weise ich das Kind vom Leben zum Tode befördern würde, darüber hatte ich nicht nachgedacht. Am 15. Dezember bekam ich vormittags Wehen und merkte, daß meine Entbindung bevorstand. Mein Mann war, wie gewöhnlich, auf Arbeit, von der er erst abends nach 9 Uhr zurückkommt. Meine Tochter spielte vor der Tür. Wie ich merkte, daß das Kind aus meinem Mutterleibe ausgestoßen werden sollte, setzte ich mich auf einen Stuhl. Eine Schere zum Durchschneiden der Nabelschnur und einen Faden zum Unterbinden legte ich mir zurecht. Als das Kind ausgestoßen war, nahm ich es in die Hand und sah, daß es ein Junge war. Es schrie und bewegte sich auch. Nachdem ich die Nabelschnur durchschnitten und das Ende, das in meinem Leibe zurückblieb, unterbunden hatte, steckte ich das Kind in einen Tränkeimer und zwar mit dem Kopf nach unten. In den Eimer hatte ich vorher eine Schöpfe Wasser gegossen. Das Kind bewegte sich in dem Eimer etwa zehn Minuten lang. Nunmehr steckte ich das Kind, welches tot war, in einen hohen Milchtopf wieder mit dem Kopf nach unten und stellte diesen Topf unter unser gemeinschaftliches Ehebett, ohne ihn zuzudecken. Der Erdboden war hart gefroren und konnte ich deshalb das Kind nicht begraben, wie ich beabsichtigte. Ich wollte es bis zum Auftauen des Erdbodens in meiner Stube behalten. Etwa zehn Minuten nach der Geburt des Kindes kam die Nachgeburt. Ich habe immer sehr leichte Entbindungen gehabt. Die Nachgeburt trug ich sofort hinaus und warf sie draußen hin, an den in der Nähe unseres Hauses vorbeifließenden Graben. Nach der Geburt habe ich das Bett nicht aufgesucht, bin vielmehr meinen Beschäftigungen sofort nachgegangen. Meinem Ehemann erzählte ich von der Geburt nichts, als er abends nach Hause kam, er hat auch späterhin nichts von mir davon erfahren. Gefragt hat er mich auch nicht nach meiner Entbindung.
Nach und nach entwickelte sich allerdings Geruch in unserem Zimmer durch Verwesung des Kindes. Ich suchte ihn dadurch zu beseitigen, daß ich zeitweise die Türe und den Schornstein öffnete. Allmählich wurde der Geruch der Kindesleiche zu stark und faßte ich nunmehr den Entschluß, das Kind zu verscharren. Der Erdboden war zwar noch nicht aufgetaut, jedoch konnte ich wegen des Gestanks des Kindes nicht länger warten. Ich verscharrte das Kind nun an einer Stelle an unserm Gartenzaun und zwar nicht weit von einem Stubben, der sich neben dem Zaun nach außen hin befindet. Es war mir nicht möglich, den Erdboden aufzugraben, ich konnte mit dem Spaten etwas Schmutz und Schnee entfernen. Ich legte das Kind in die aufgescharrte Stelle und bedeckte es mit dem abgehobenen Schmutz und Schnee. Ich habe mich nicht weiter um das Kind gekümmert und weiß nicht, wo die Leiche geblieben ist. Als ich das Kind verscharrte, war schon Hochwasser gewesen, jedoch noch immer etwas Eis im Graben. Später trat noch öfters Hochwasser ein und wurde auch die Stelle, wo ich das Kind vergraben hatte, mit Eis und Wasser überströmt. Das Wasser reichte später noch über den Gartenzaun hinaus bis in den Garten hinein. Es ist möglich, daß die Kindesleiche vom Hochwasser mit fortgerissen und in den Fluß getrieben ist.« –
Die Kindesleiche wurde nach wie vor nicht aufgefunden. Der Tränkeimer wurde beschlagnahmt. Als Zeugen wurden vernommen und gaben außer dem bereits Vorgetragenen noch an:
1. Der Gendarm: »Die Angeschuldigte hat mir gegenüber eingeräumt, sie sei bereits längst vor dem 15. Dezember 1892 mit der Absicht umgegangen, das erwartete Kind umzubringen. Sie hat mir noch an demselben Abend dieselbe Stelle wie heute als den Ort bezeichnet, wo die Leiche verscharrt wurde. Sie will nur zwei Spaten Erdreich ausgenommen haben. Meine Nachgrabungen – auch diejenigen des folgenden Tages an benachbarten Stellen – haben nichts zutage gefördert. Es ist richtig, daß nach der Zeit, wo die Vergrabung stattgefunden haben soll, wiederholt Hochwasser eingetreten ist und bis über den Zaun hinaus gereicht hat. Es kann sehr leicht möglich sein, daß das Hochwasser die Kindesleiche mit fortgeschwemmt hat, zumal da sie wegen des starken Frostes früher nicht tief vergraben worden sein kann. Der Graben, der nur eine geringe Tiefe besitzt, war bis auf den Grund ausgefroren.«
2. Der Eigenkätner P.: »… Nachdem mir der Ehemann der Angeschuldigten im September 1892, als er bei mir die Stube zu Martini einmietete, gesagt hatte, er habe ein Kind am Leben und eins auf dem Wege, habe ich mit ihm über die Schwangerschaft seiner Ehefrau nicht mehr gesprochen … Mir ist im Laufe des Winters nicht aufgefallen, daß die Angeschuldigte plötzlich schlanker geworden ist. Ich habe sie aber auch später fast nie zu Gesicht gekriegt, da sie sich immer in ihrer Stube hielt und nicht sehen ließ. Ich habe im Hause keinen Gestank verspürt, wohl aber meine Ehefrau. Sie sprach öfters ihre Verwunderung darüber aus, daß die N. noch immer nichts bekomme … Am Weihnachtsheiligen-Abend schlachtete der Ehemann der Angeschuldigten einen Hund. Meine Ehefrau äußerte später zu mir, der Gestank im Hause rühre möglicherweise von dem Hundeleder her, welches N. im Zimmer aufbewahre. Nun fand ich vor etwa vier Wochen das Hundeleder in der Scheune und äußerte zu meiner Frau, der Gestank könne also doch nicht vom Hundeleder herrühren. Möglich ist es aber doch, daß N. den Hund geschlachtet hat, um den Gestank der Kindesleiche zu verdecken … Als ich vom Gendarm den Auftrag erhalten hatte, die Angeschuldigte über Nacht zu bewachen, redete ich ihr gut zu und forderte sie auf, zu gestehen, da sie ja doch schon zugegeben habe, es wäre ihr im April bereits die Regel ausgeblieben. Sie müsse also doch ein ausgetragenes Kind geboren haben; es könne aber doch möglich sein, daß das Kind verrottet gewesen sei. Da sagte sie zu mir: »Ja, das Kind ist verrottet gewesen und in Stücken abgegangen«. Auf meine Frage, wo sie es denn gelassen habe, entgegnete sie, sie habe es in der Nähe des Grabens verscharrt … Sie machte dann dem Gendarm in meiner Gegenwart die nähere Angabe über den Hergang, gab insbesondere zu, das Kind habe gelebt und geschrieen …«
3. Ehefrau P.: »… Bis etwa Ende Dezember bin ich mit der Angeschuldigten gut Freund gewesen. Sie kam oft in meine Stube hinein. Von Ende Dezember an hielt sie sich zurück und blieb in ihrer Stube. Wenn ich äußerte, sie solle spinnen kommen, ließ sie mir durch ihre Tochter sagen, sie habe keine Zeit. Vor Weihnachten sprach ich öfter mit ihr über ihre Schwangerschaft, auch am 1. Dezember, wie ich dies bestimmt weiß. Sie äußerte an diesem Tage, daß sie ihre Niederkunft Ende Januar erwarte und klagte, sie wisse nicht, woher sie die Milch hernehmen solle … Am heiligen Abend schlachtete der Ehemann der Angeschuldigten einen Hund. Zwischen Weihnachten und Neujahr war ich einmal in der Stube der Angeschuldigten und verspürte dort einen starken Gestank. Infolgedessen ging ich schnell wieder hinaus. Ich äußerte zu meiner Tochter, das rühre wahrscheinlich von dem geschlachteten Hunde her. Seitdem war ich nicht mehr in der N.schen Stube. Ich habe noch öfters die Wahrnehmung gemacht, daß, wenn ich vom Hausflur auf den Boden ging und die Stubentür der Angeschuldigten gerade offen stand, aus der Stube ein großer Gestank auf den Hausflur hinausdrang. Ich habe meinem Mann gesagt, wir hätten doch schon verschiedene Einwohner gehabt, es hätte aber doch noch bei keinem so gestunken wie bei N.s …«
4. Eigenkätner R.: »Ich bin Miteigentümer des Hauses, in dem die Angeschuldigte wohnt. Eines Tages – etwa 14 Tage, bevor der Gendarm nach der Kindesleiche suchte, – saß ich morgens an meinem Fenster, das nach der Dorfstraße geht und vor dem ein Stall liegt. Da sah ich in der Nähe des Stalles einen mir bekannten Hund mit einem Stück Fleisch im Munde. Woher er kam, habe ich nicht gesehen. Er lief sehr bald nach der Dorfstraße hin. Ich äußerte zu meiner Frau, der Hund hat ein besseres Frühstück als wir. Von welcher Beschaffenheit das Fleisch war, habe ich nicht bemerkt.« –
5. Der Ehemann der Angeschuldigten: »Im Herbst 1892 hörte ich von andern Leuten, daß meine Ehefrau schwanger sein sollte. Ich sagte zu ihr, wie das denn käme, ich spüre doch noch nichts. (Wir liegen beide in einem Bette.) Meine Frau entgegnete mir, sie wisse nicht, was mit ihr wäre, sie wäre viel zu dumm dazu. Vor Weihnachten machte ich die Wahrnehmung, daß sich bei meiner Ehefrau wieder Blutungen eingestellt hatten; ich habe sie über den Grund dieser Blutungen niemals befragt. Von der Geburt des Kindes weiß ich nichts, meine Frau ist nie bettlägerig gewesen, ich habe auch niemals in unserer Stube einen besonders starken Geruch verspürt. Ich muß allerdings bemerken, daß ich überhaupt schlecht riechen kann …«
Schon am folgenden Tage konnte die Voruntersuchung geschlossen werden. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen die Arbeitersfrau Auguste N. wegen Mordes ihres ehelich geborenen Sohnes (§ 211 St.G.B.). Das Hauptverfahren wurde vor dem Schwurgericht antragsgemäß wegen Mordes eröffnet und am 27. Juni 1893 fand die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht in Y. statt.
Wohl noch nie ist für eine Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht wegen Mordes ein so geringer Apparat aufgeboten wie in dieser Sache. Vier Zeugen waren geladen, – der Gendarm, die Eheleute P. und der Ehemann der Angeklagten, – vor dem Vorsitzenden lag ein dünnes Aktenheft und als einziges Überführungsstück war der Tränkeimer zur Stelle.
Die aus der Haft vorgeführte Angeklagte wiederholt ihre vor dem Untersuchungsrichter gemachten Angaben. Sie machte auch in der Hauptverhandlung, wie Augenzeugen noch heute versichern, einen durchaus glaubwürdigen Eindruck. Die Zeugen bekundeten eidlich dasselbe wie in dem Vorverfahren. Der Ehemann der Angeklagten, der unbeeidigt blieb, gab jedoch noch an, er habe, als er bei den Eigenkätnersleuten P. im September 1892 gemietet habe, nicht gesagt: »Ich habe ein Kind am Leben und eins ist unterwegs,« – er habe vielmehr möglicherweise nur gesagt, es könnte vielleicht eins unterwegs sein.
Der Verteidiger beantragte nicht etwa Verneinung der Schuldfrage, sondern nur Verneinung der Überlegung und Bejahung der Frage nach mildernden Umständen.
Die Geschworenen sprachen dem Antrage der Staatsanwaltschaft gemäß die Angeklagte N. schuldig, im Dezember 1892 zu X. vorsätzlich einen Menschen, nämlich ihr damals geborenes Kind getötet und die Tötung mit Überlegung ausgeführt zu haben.
Die Arbeitersfrau Auguste N. wurde darauf wegen Mordes mit dem Tode bestraft.
Am 29. Juni legte die Angeklagte, am 3. Juli ihr Verteidiger Revision ein, die bestimmte Rügen nicht enthielt und am 14. August 1893 verworfen wurde. Das Todesurteil war rechtskräftig.
Zwei Tage später, am 16. August 1893, noch bevor die Akten an die Staatsanwaltschaft des Landgerichts zurückgelangt waren, beantragte der Verteidiger der Verurteilten die Wiederausnahme des Verfahrens zu ihren Gunsten. Zur Begründung machte er geltend, sie habe sich bei Begehung der Tat in einem Zustande der Geistesstörung befunden, durch den ihre freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Sie sei schon früher geistesschwach gewesen, habe schon vor vielen Jahren Zeichen von Geistesstörung gegeben und sei in ihrem elterlichen Hause und im Heimatdorfe für einfältig angesehen worden. Zum Beweise wurden Zeugen namhaft gemacht; auch wurde auf polizeilich beglaubigte Bescheinigungen Bezug genommen, wonach die R. bei früheren Dienstherren (vor 14 und 16 Jahren) Zeichen von Geistesschwäche gezeigt, zuweilen nicht recht gewußt hat, was sie tat und deshalb als untauglich aus Dienststellen entlassen worden sei. Die Staatsanwaltschaft beantragte, den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens als unzulässig zu verwerfen. Der Umstand, daß die N. als Kind und vor einer langen Reihe von Jahren Zeichen einer gewissen Geistesschwäche gezeigt habe, gebe keinen ausreichenden Anhaltspunkt für die Annahme, daß sie sich zur Zeit der Begehung der Tat in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden habe, durch den ihre freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Im Laufe des Verfahrens hätten sich aber keinerlei Anzeichen von geistiger Störung bemerkbar gemacht.
Die Strafkammer beschloß aber am 28. August 1893, in Erwägung, daß der Antrag auf Wiederaufnahme in der vorgeschriebenen Form angebracht sei und eine neue Tatsache enthalte, welche allein die Freisprechung der N. zu begründen geeignet erscheine, auch die dafür angeführten Beweismittel nicht für ungeeignet zu erachten, jedenfalls aber einer Ergänzung durch Einholung sachverständiger Gutachten fähig seien, den Antrag an sich für zulässig zu befinden und die angetretenen Beweise zu erheben. Zugleich wurde der Aufschub der Strafvollstreckung angeordnet.
Der Prozeß gegen die Auguste N. trat nunmehr in ein weit über Jahresfrist dauerndes Stadium des Wiederaufnahmeverfahrens, das sowohl durch die Schwierigkeit und Weitschichtigkeit der Beweiserhebungen als durch seine Ergebnisse bemerkenswert ist.
Die vom beauftragten Richter eidlich vernommenen Zeugen sagten im wesentlichen aus:
1. Der Amtsvorsteher des Heimatsortes der N.: Er habe die Familie der Verurteilten von jeher gekannt und eine Schwester derselben seit langem in Diensten. Alle Familienmitglieder seien ordentliche ehrliche und brave Leute. Nur die Auguste habe sich dadurch ausgezeichnet, daß sie anders gewesen sei als die übrigen Familienmitglieder. Sie habe – wie Zeuge mehrfach zu beobachten Gelegenheit gehabt – ein eigentümliches verschämtes Betragen gehabt und sei bei direkter Anrede zusammengefahren, ohne eine richtige Antwort zu geben. Sie sei dann später in Dienststellen fast niemals behalten worden, weil sie nicht recht im Kopfe gewesen sei.
2. Besitzer A.: Die Auguste sei bei ihm im Dienst gewesen, vor etwa 13-14 Jahren. Sie sei ihm wegen ihres eigentümlichen Benehmens aufgefallen. Während sie zu manchen Zeiten ganz tüchtig gearbeitet und sich ordentlich benommen habe, sei sie zeitweilig überaus schlaff bei der Arbeit gewesen. Sie sei bei der Arbeit im Stehen eingeschlafen. Einmal habe er sie selbst beim Harken auf dem Felde stehend mit geschlossenen Augen angetroffen, so daß sie zu schlafen schien. Erst auf Anruf habe sie die Arbeit wieder aufgenommen. Ähnliche Situationen habe auch seine Ehefrau erlebt. Während ihrer Dienstzeit sei die Auguste großjährig geworden. Nach Ablauf des zweiten Dienstjahres habe er sie wegen ihrer Schlaffheit bei der Arbeit als unbrauchbar entlassen.
3. Der Gemeindevorsteher: Vor 14-15 Jahren sei die Auguste bei ihm in Dienst getreten. Sie habe sich jedoch derart unbrauchbar und eigentümlich benommen, daß er sie nach 2-3 Wochen habe wieder entlassen müssen. Sie habe, wenn ihr etwas befohlen worden sei, stillgestanden, starr vor sich hingesehen und keinerlei Zeichen des Verständnisses für den erteilten Auftrag zu erkennen gegeben. Wenn sie so vor sich hinstarrend still gestanden habe, habe es geschienen, als ob sie stehend schliefe. Seine Frau habe sie dann ins Bett geschickt, da sie krank sein müsse. Im Bett habe sie dann laut gesungen, manchmal auch geweint. Einmal habe sie morgens im Bette liegend laut »Heil dir im Siegerkranz« gesungen, so daß es durchs ganze Haus zu hören gewesen sei. Aus dem unvernünftigen und ganz außergewöhnlichen Betragen der Auguste habe er den Eindruck gewonnen, sie sei nicht recht zurechnungsfähig.
4. Arbeiter B.: Er habe im Jahre 1892 einige Monate im selben Hause gewohnt wie die Eheleute N. Bei der Ehefrau N. sei ihm aufgefallen, daß sie so ganz verschieden gesprochen habe, manchmal nach kurzer Zeit das Gegenteil von dem, was sie vorher gesagt hatte.
5. Ehefrau des Vorzeugen B.: Es sei ihr damals aufgefallen, daß die N. häufig mit sich allein sprach. Sie habe so leise vor sich hingesprochen, daß man sie nicht verstanden habe. Auf ihr Reden sei nicht viel zu geben gewesen, da sie häufig das Gegenteil von dem gesagt habe, was sie kurz vorher geäußert hatte.
6. Kaufmannsfrau C.: Die N. sei vor etwa 10 Jahren in ihre Dienste getreten. Nach wenigen Tagen sei sie in eine tiefe Ohnmacht gefallen. Sie habe übrigens diesen Ohnmachtsanfall mit einer damals bestehenden Schwangerschaft der N. in Beziehung gebracht. Sie habe die N. nicht für besonders gesund gehalten. Da diese sich überdies bei der Arbeit nicht besonders gut angestellt habe, sei sie bald von ihr entlassen worden. Sie habe sie für »halbdammlich« gehalten.
7. Der Bruder der Verurteilten: Er habe selbst nichts Auffallendes im Betragen seiner Schwester bemerkt, sei allerdings sehr wenig zu Hause gewesen. Er habe nur gehört, daß ihre Dienstherrschaften über sie geklagt hätten. Für unzurechnungsfähig habe er sie nie gehalten.
8. Die Schwägerin der Verurteilten sagt aus wie der Vorzeuge.
Eine wichtige Feststellung konnte aus den Vormundschaftsakten, die früher über die Auguste N. geführt worden waren, getroffen werden. Als die Verurteilte im Jahre 1881 vor dem Vormundschaftsrichter erschien, um ihrem Vormund Entlastung zu erteilen, gewann der Richter ausweislich des aufgenommenen Protokolls die Überzeugung, daß die Auguste N. nicht dispositionsfähig sei, in welcher Annahme er, wie es im Protokoll heißt, durch die Angaben der miterschienenen Mutter der Auguste bestärkt wurde. Die letztere wurde daher damals über die Entlastung nicht vernommen, vielmehr ein Pfleger bestellt.
Auf Grund dieses Ergebnisses der Beweisaufnahme legte die Strafkammer die Akten dem zuständigen Kreisphysikus vor mit der Anfrage, ob gemäß § 81 St.P.O. der Antrag auf Beobachtung in einer Irrenanstalt gestellt werde. Der Kreisphysikus stellte – ohne nähere Begründung und ohne die N. untersucht zu haben – diesen Antrag, der Verteidiger trat ihm bei. Es sei schon hier bemerkt, daß die N. mittlerweile (es war Oktober 1893 geworden), hochgradig schwanger war. Die Staatsanwaltschaft widersprach dem Antrag, da nicht dargetan sei, daß die Verurteilte gegenwärtig geisteskrank sei. Es seien weder Zweifel über ihre gegenwärtige Zurechnungsfähigkeit angeregt noch erörtert, warum etwaige Zweifel darüber nur durch Beobachtung in einer Irrenanstalt gelöst werden könnten. Sei sie aber jetzt gesund, so könne sie nicht einer Irrenanstalt zur Beobachtung überwiesen werden. Die Staatsanwaltschaft beantragte vielmehr, den Kreisphysikus mit der Beobachtung der Verurteilten im Gefängnisse zu beauftragen und ihn aufzufordern, ein Gutachten über ihren Geisteszustand zur Zeit der Begehung der Tat abzugeben oder unter gleichzeitiger Äußerung über ihren gegenwärtigen Geisteszustand näher darzulegen, warum ein Urteil über ihren Geisteszustand zur Zeit der Tat nur durch Beobachtung in einer Irrenanstalt gewonnen werden könne. Die Strafkammer beschloß, anzuordnen, daß die N. zur Vorbereitung eines Gutachtens über ihren Geisteszustand auf die Dauer von höchstens 6 Wochen in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde, und begründete dies u. a. damit: Es stehe auch der gegenwärtige Geisteszustand der Verurteilten in Frage, wenigstens müsse dies nach dem Antrag des Sachverständigen angenommen werden. Bei der Bedeutung des Falles erscheine zur Beurteilung ein Spezialarzt auf Grund einer Beobachtung, wie sie nur in Irrenanstalten möglich sei, besser qualifiziert als der Gerichtsarzt.
Gegen diesen Gerichtsbeschluß erhob die Staatsanwaltschaft die sofortige Beschwerde. Zur Begründung führte die Anklagebehörde aus, der Antrag des Sachverständigen auf Überweisung der N. in eine Irrenanstalt sei nicht begründet. Es handele sich im Wiederaufnahmeverfahren nicht um Feststellung des gegenwärtigen Geisteszustandes, sondern um Feststellung des Geisteszustandes zur Zeit der Tat. Im übrigen könne auch gegen eine Person, die gegenwärtig nicht geisteskrank sei, eine solche Maßregel nicht verhängt werden. Sollte der Sachverständige nicht in der Lage sein, sich selbst über den Geisteszustand der N. zur Zeit der Tat erschöpfend zu äußern, so müsse doch wenigstens aus seinem Antrag auf Überführung in eine Irrenanstalt hervorgehen, 1. ob die N. gegenwärtig geisteskrank sei bzw. welche erheblichen Gründe eine gegenwärtig bestehende Geisteskrankheit vermuten ließen, – 2. ob der gegenwärtige krankhafte Geisteszustand einen Rückschluß auf einen krankhaften, die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Geisteszustand derselben zur Zeit der Tat zulasse bzw. bedinge, – 3. ob und warum die vorerwähnten Fragen nicht vom Gerichtsarzt, sondern nur durch Beobachtung in einer Irrenanstalt gelöst werden könnten. Es müsse auch erörtert werden, ob trotz des schwangern Zustandes der N., die voraussichtlich im kommenden Monat ihrer Entbindung entgegensehe, die Beobachtung in einer Irrenanstalt stattfinden könne.
Das Oberlandesgericht entschied unter Aufhebung des Beschlusses der Strafkammer, daß der Gerichtsarzt in X. die N. im Gerichtsgefängnis zu beobachten habe; der beobachtende Arzt habe entweder ein Gutachten über den gegenwärtigen Geisteszustand der Verurteilten und über ihren Geisteszustand zur Zeit der Begehung der Tat zu erstatten oder unter gleichzeitiger Äußerung über den gegenwärtigen Geisteszustand darzulegen, warum ein Urteil über den Geisteszustand zur Zeit der Begehung der Tat nur durch Beobachtung in einer Irrenanstalt gewonnen werden könne, und ob diese Beobachtung schon jetzt trotz des schwangern Zustandes der N. stattfinden könne. Es heißt u. a. in den Gründen: »… Für die Zulässigkeit einer aus § 81 St.P.O. zu treffenden Anordnung kann ein ohne jede Begründung gestellter Antrag eines ärztlichen Sachverständigen nicht als ausreichend erachtet werden, da weder in dem seit März 1893 stattgefundenen Untersuchungsverfahren noch in der Schwurgerichtsverhandlung irgend ein Bedenken gegen die völlige geistige Zurechnungsfähigkeit der Verurteilten damals und zur Zeit der Begehung der Tat (Monat Dezember 1892) zutage getreten ist, und da ferner auch im Wiederaufnahmeverfahren bisher für die Behauptung des Verteidigers, daß die Verurteilte zur Zeit der Begehung der Tat geistesgestört gewesen sei, und für die weitere zur Anwendung des § 81 St.P.O. erforderliche Voraussetzung, daß die Verurteilte gegenwärtig geisteskrank sei, keinerlei Anhaltspunkte erbracht sind. Ob und weshalb aus den Zeugenaussagen irgendwelche Schlüsse auf eine bereits im Dezember 1892 vorhanden gewesene und auf eine noch gegenwärtig vorhandene Geisteskrankheit der Verurteilten gezogen werden dürften, muß zunächst der Beurteilung des ärztlichen Sachverständigen überlassen werden … Nach Eingang des motivierten Gutachtens wird die Strafkammer weiter zu entscheiden haben, ob die notwendigen Voraussetzungen zum Erlasse einer Anordnung aus § 81 St.P.O. tatsächlich vorliegen.«
Der Kreisphysikus beobachtete nunmehr die N. im Gerichtsgefängnis und stellte – es war mittlerweile Mitte November 1893 geworden – den Antrag, die Verurteilte auf die Dauer von 6 Wochen in eine öffentliche Irrenanstalt zur Beobachtung zu überführen, jedoch erst nach erfolgter Entbindung. Aus der Begründung des Gutachtens interessiert folgende Stelle: »Die Aufseherin gibt an, daß die N. ihr vom ersten Tage ihrer Gefangenschaft auffallend erschienen sei. Ihr Auge habe stets ein eigentümliches starres Aussehen gehabt, ihr ganzes Benehmen sei ein vollständig anderes als das der übrigen weiblichen Gefangenen. Trübe, mürrischen Gemüts, mit stets niedergeschlagenen Augen, still in sich gekehrt, den andern Gefangenen ausweichend, gehe sie umher und rede, ohne erst verschiedene Male befragt zu werden, nie ein Wort. Nach ihrer Verurteilung habe sie geäußert, sie sei ja im Jahre 1892 gar nicht schwanger gewesen, könne daher auch kein Kind gehabt haben, das von ihr ermordet sein sollte. Bei dieser Äußerung ist sie bis jetzt geblieben. Sie hat zu verschiedenen Malen Versuche im Gefängnis gemacht, sich mit einem Stück Garn, das sie sich selbst gesponnen, zu erhängen, ist aber stets von ihren Mitgefangenen an der Ausführung der Tat verhindert worden. Dann hat sie acht Tage hindurch keine Nahrung zu sich genommen, ist nicht zum Aufstehen von ihrer Lagerstätte zu bewegen gewesen und hat über heftige Kopfschmerzen in dieser Zeit geklagt. Diese Verweigerung der Nahrungsaufnahme und Klagen über Kopfschmerzen sowie Schwindel im Kopf haben sich im Laufe der Zeit wiederholt, ebenso die Versuche, sich das Leben zu nehmen. Als ich damals an ihr Bett gerufen wurde, sah sie sehr aufgeregt aus, hatte eine tiefrote Gesichtsfarbe, beschleunigten Puls, stöhnte gewaltig und gab auf alle an sie gerichteten Fragen anfänglich keine Antwort. Erst nach langem freundlichen Zureden antwortete sie, daß sie sehr heftige Hitze und Schmerzen im Kopfe habe, daß ihr schwindelig sei und übel werde. Auf meine Frage, warum sie denn absolut nicht esse, schwieg sie mit niedergeschlagenen Augen. Dieser Zustand dauerte etwa acht Tage. Erst nach dieser Zeit gelang es mir durch wiederholtes Bitten und freundliches Zureden, sie zu bewegen, wieder Speise und Trank zu sich zu nehmen. Ferner fehlte der Schlaf nach Aussage der Mitgefangenen fast vollständig. Sie wirft sich des Nachts fortwährend im Bett herum und seufzt laut, ohne aber etwas zu reden. Am Tage ist sie aber auch nicht schläfrig, sondern spinnt fleißig den ganzen Tag hindurch, ohne einmal aufzusehen oder sich am Gespräch der Mitgefangenen zu beteiligen. Sie ist stets verschlossen, still und trübe gestimmt, in einem tief melancholischen Zustand. Zu Zeiten hört sie angeblich immer auf die Bank klopfen, ohne daß jemand, der klopfen könnte, zu sehen ist. Ich habe mich oft mit ihr längere Zeit zu unterhalten versucht, indessen dauerte es stets eine geraume Zeit, bis sie mir antwortete. Anfänglich gab sie gar keine Antwort; erst, wie auch von früher berichtet wird, auf längeres freundliches Zureden reagierte sie. Auch mir gegenüber hält sie ihre Behauptung, im Jahre 1892 gar nicht schwanger gewesen zu sein, aufrecht. Auf meine Frage, weshalb sie denn eingestanden habe, ihr im Dezember 1892 geborenes Kind vorsätzlich und mit Überlegung getötet zu haben, antwortete sie anfänglich, wie gewöhnlich, gar nicht. Nach wiederholtem Fragen sagte sie endlich mit kurzen Worten etwa wie folgt: »Der Gendarm warf die Ketten auf den Tisch und drohte mich zu schließen, wenn ich nicht gestände. Da gestand ich, es ist aber nicht wahr.« Weiter von mir befragt, weshalb sie denn auch dem Herrn Untersuchungsrichter dasselbe eingestanden habe, antwortete sie wiederum nach längerem Schweigen: »Da konnte ich nicht antworten, da sprach immer der Gendarm.« Auf die weitere Frage, weshalb sie denn endlich auch vor den Geschworenen den Mord eingestanden habe, da doch nunmehr der Gendarm anfänglich nicht dabei gewesen sei, gab sie zur Antwort: »Was ich da eigentlich gesagt habe, weiß ich gar nicht.« Bei jeder Unterhaltung blieb sie kalt, fast ruhig auf dem ihr angewiesenen Platz, ohne einmal die Augen aufzuschlagen. Diese andauernde tief melancholische Stimmung in Verbindung mit der mehrmaligen Verweigerung der Nahrungsaufnahme, die Selbstmordversuche, die andauernde Schlaflosigkeit, das Hören von Klopfen (Gehörshalluzinationen) sind Zeichen einer krankhaft gestörten Geistestätigkeit, die zurzeit ohne Zweifel besteht. Nimmt man zu diesen Erscheinungen die in den beigebrachten Attesten bekundeten Tatsachen und die Aussagen der vernommenen Zeugen, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß dieser oder ein ähnlicher Zustand bereits vor etwa 10-20 Jahren bestanden hat. Auch liegt die Vermutung nicht nur nahe, sondern es ist nach den vor 10 Jahren bestandenen Erscheinungen aus dem jetzigen Zustande der N. zu schließen, daß ihr Geisteszustand auch im Jahre 1892 wahrscheinlich ein nicht normaler gewesen sein wird. Inwieweit aber dieser geistige Zustand ein derartig krankhafter gewesen ist, daß dadurch die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, kann bei dieser so tief eingreifenden Strafsache, wo es sich um das Leben eines Menschen handelt, erst klar und deutlich erkannt werden, wenn die Person dauernd und unausgesetzt einer längern psychischen Beobachtung unterzogen wird, die besonders auch darauf gerichtet sein muß, ob nicht etwa die hier zutage getretenen Erscheinungen absichtlich vorgetäuscht sind. Eine solche Beobachtung kann nur in einer öffentlichen Irrenanstalt geschehen …«
In diesem Gutachten des ärztlichen Sachverständigen tritt also zuerst greifbar ein Gesichtspunkt hervor, der sich von nun an – das mag schon hier betont werden – wie ein roter Faden durch die ganze weitere Untersuchung hindurchzieht. Hat die N. überhaupt Mitte Dezember 1892 geboren, war sie überhaupt schwanger? Diese Fragen fesseln nunmehr psychologisch in erster Linie das Interesse des Lesers der Aktenbände dieses merkwürdigen Strafprozesses.
Am 18. November 1893 gebar die N. im Gerichtsgefängnis zu X. einen lebenden und lebensfähigen Sohn.
Am 23. November ordnete die Strafkammer – nach erfolgter Erklärung des Einverständnisses von seiten der Staatsanwaltschaft und nach Anhörung des Verteidigers – an, daß die N., sobald es ihr Gesundheitszustand gestatte, zur Vorbereitung eines Gutachtens über ihren Geisteszustand auf die Dauer von höchstens 6 Wochen in eine öffentliche Irrenanstalt zu bringen und dort auf ihren Geisteszustand zur Zeit der begangenen Tat und in der Gegenwart zu untersuchen sei. Die Verurteilte wurde am 4. Januar 1894 in die Provinzial-Irrenanstalt eingeliefert und am 14. Februar 1894 wieder zur Untersuchungshaft ins Gerichtsgefängnis in X. zurückgebracht.
Aus dem Gutachten des Anstaltsleiters ist folgendes mitzuteilen. Es stehe unzweifelhaft fest,
1. daß die N. schon wiederholt Anfälle von Geistesstörung durchgemacht habe. Um den Charakter dieser Störungen näher aufzuklären, habe der Sachverständige den Ehemann N. eingehend vernommen. Der N. habe bekundet, seine Frau habe den Hausstand ziemlich geführt, aber »ruckweise« Verkehrtheiten gemacht und dann den Haushalt gänzlich vernachlässigt. Solche Verschlimmerungen seien unregelmäßig gekommen, oft ein- bis zweimal wöchentlich, oft in langem Zwischenräumen. Seine Frau sei von Jugend auf etwas gestört im Kopf gewesen;
2. daß die N. im Gefängnis in X. eine schwere geistige Störung durchgemacht habe; diese entspräche genau dem Bilde einer akuten Melancholie.
Was nun das Ergebnis der Beobachtung in der Anstalt angehe, so sei diese Melancholie bei der Ankunft der N. in der Anstalt noch in geringem Grade vorhanden gewesen, dann aber bei Ruhe und guter Pflege allmählich verschwunden. Das Resultat der Beobachtung habe nichts wesentlich Neues zutage gefördert. Zu betonen sei aber folgendes: Die N. habe den ihr zur Last gelegten Mord entschieden bestritten, da sie überhaupt nicht schwanger gewesen sei. Es sei nun zunächst auch unwahrscheinlich, daß eine Geburt eines lebensfähigen Kindes stattgefunden habe. Die N. selbst habe ihre letzte Periode Mitte April 1892 angenommen. Sie hätte sich also am 15. Dezember 1892 am 1. Tage der 35. Schwangerschaftswoche befunden, also 6 Wochen vor dem normalen Ende derselben. Die Geburt hätte in dem kleinen Zimmer stattgefunden, die Leiche hätte in diesem Zimmer viele Wochen lang bei ziemlich hoher Temperatur geweilt, der in demselben Zimmer und in demselben Bette schlafende Ehemann hätte weder von der Schwangerschaft noch von der stattgehabten Entbindung noch von der verwesenden Leiche etwas gemerkt. Sprächen diese Umstände gegen die bisherige Annahme, so sei auch das Geständnis der Verurteilten nicht dafür zu verwerten. Dieses Geständnis habe gar keinen Wert, denn es müsse aller Wahrscheinlichkeit nach als der Ausfluß der gestörten Geistestätigkeit der N. angesehen werden. Über diese Frage führt das Gutachten wörtlich aus: »Erfahrungsgemäß beschuldigen sich geisteskranke und geistesschwache Personen häufig, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine starke Gemütsbewegung auf sie einwirkt. In der hiesigen Anstalt, in welcher Frau N. eine sehr gute Zeit durchgemacht hat, gibt sie an, sich jetzt der Vorgänge des 15. Dezembers genau zu entsinnen. Sie habe an dem genannten Tage, nachdem sie in den vorhergehenden Monaten wiederholt kleinere Blutabgänge verspürt habe, eine große Masse, wie sie annehme, geronnenen Blutes – genau habe sie sich die Masse nicht angesehen – aus ihren Geschlechtsteilen verloren und habe diese Masse außerhalb des Hauses auf den Erdboden gegossen, ohne sich weiter um dieselbe zu bekümmern. Sie habe im Sommer angenommen, schwanger zu sein, sei aber von diesem Gedanken abgekommen, nachdem sich die Periode wieder gezeigt habe. Für einen Fötus habe sie die Masse nicht gehalten; irgendwelche Lebenszeichen habe sie daran nicht wahrgenommen. Um die Zeit ihrer Verhaftung sei sie verstört im Kopfe gewesen und könne sich der Vorgänge, namentlich aber dessen, was sie gesagt habe, nicht mehr entsinnen. Auch wenn sie zum Verhör geführt worden sei, und bei der Gerichtsverhandlung sei sie jedesmal verängstigt gewesen und wisse nicht mehr, was dabei vorgegangen sei. – Den strikten Beweis zu führen, daß diese ihre Behauptungen die Wahrheit sind, ist unmöglich, namentlich weil während ihres hiesigen Aufenthalts ein Zustand der Verwirrung und Aufgeregtheit, wie sie früher oft vorgekommen sind, nicht beobachtet worden ist und demgemäß ein genaues Krankheitsbild sich nicht konstruieren läßt. Wahrscheinlich aber sind ihre Behauptungen, z. B. diejenigen über den totalen beziehungsweise partiellen Erinnerungsdefekt für die Zeit ihrer Erregungen. Bei dieser Schilderung sucht Frau N. nicht zu täuschen oder den Verdacht bestehender Geistesstörung zu erwecken, sie will überhaupt nicht für geistesgestört gehalten werden, also auch nicht Geisteskrankheit als Strafausschließungs- oder Strafmilderungsgrund geltend machen, um so weniger da sie ja die Straftat überhaupt leugnet und ihre Geständnisse als ihr unbewußt und als Folge momentaner Verwirrung hinstellt.« Der Sachverständige kommt dann zu dem Schlusse: »Frau N. ist eine schon in ihrer Jugend als dispositionsunfähig bezeichnete Person, welche auch in späterem Lebensalter von einwandfreien Zeugen als unzurechnungsfähig bezeichnet wird und von den Dienstherrschaften entlassen werden mußte, weil sie unzweifelhafte Symptome von Geistesverwirrung darbot. Auch in ihrer Ehe zeigte sie in unregelmäßigen Intervallen ein verkehrtes Wesen und machte späterhin im Gefängnis zu X. eine schwere akute Geistesstörung durch. Diese geistig nicht normale Person wird unter dem schweren Verdacht des Mordes verhaftet, wobei es dahin gestellt bleiben mag, ob sie das Verbrechen überhaupt begangen hat oder nicht. Die Beobachtung in hiesiger Anstalt konnte sich leider nicht aus einen der früher unzweifelhaft häufiger vorgekommenen Anfälle erstrecken, da ein solcher nicht vorkam. Für die Schuldfrage ist maßgebend, ob anzunehmen ist, daß in einem derartigen Anfalle die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist, und diese Frage ist nach Analogie ähnlicher Fälle zu bejahen. Daß die inkriminierte Handlung in einem derartigen Anfall begangen worden ist, ist nicht zu beweisen, die Möglichkeit, daß dies der Fall gewesen ist, ist indes nicht ausgeschlossen, vielmehr die Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß Inkulpatin, wenn sie überhaupt die Tat begangen hat, sich zur Zeit der Begehung derselben in einem krankhaften Zustand der Geistesstörung befand, welcher die freie Willensbestimmung ausschließt.« In dem Begleitschreiben empfahl der Sachverständige im Interesse der Verurteilten, von Gerichtswegen neue Erhebungen über ihre Schwangerschaft anzustellen.
Die vom Gericht beschlossene Beweisaufnahme über den Geisteszustand der N. konnte hiermit als geschlossen erachtet werden. Prozessual lag der Fall nunmehr etwas eigenartig. Die Richtung, in der sich das Wiederaufnahme-Verfahren zu bewegen hatte, war gewiesen durch den Beschluß der Strafkammer vom 28. August 1893, vgl. S. 95 (freie Willensbestimmung ausschließende Geistesstörung bei Begehung der Tat). Die nun aufgetauchte Zweifelsfrage – hat die N. überhaupt ein lebensfähiges Kind geboren? – fiel indessen aus dem Rahmen des auf Geistesstörung gestützten Wiederaufnahmeverfahrens nicht heraus. Denn wenn sie kein solches Kind geboren hatte, dann war das alle Einzelheiten des Vorgangs enthaltende wiederholte Geständnis ein deutliches Zeichen einer wenige Monate nach der ihr zur Last gelegten Tat vorhandenen Geistesstörung. Eine Beweisaufnahme über die Tatsache der Geburt oder Nicht-Geburt eines lebensfähigen Kindes lieferte daher auch Beweis oder Nicht-Beweis für die Frage der Geistesstörung. Aber praktisch mußte die Erledigung dieser Beweisfrage auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Daß die N. im Dezember 1892 ein lebensfähiges Kind gebären konnte, erschien nach ihren eigenen Angaben über ihre letzte Regel zweifelsfrei. Denn da sie die letzte Regel in die Mitte des Aprils 1892 verlegte, hätte ein Mitte Dezember, also nach 8 Monaten, geborenes Kind nach allgemeinen Erfahrungen sehr wohl lebensfähig sein können. Ob sie aber ein solches Kind geboren hatte oder nicht, dafür konnten neue Beweismittel kaum herbeigeschafft werden (von ihren eigenen Angaben abgesehen). Denn was Auskunftspersonen über den Vorfall und die Geschehnisse der vorhergehenden Zeit sagen konnten, war bereits festgestellt.
Der weitere Verlauf des Prozesses gestaltete sich folgendermaßen: Die Staatsanwaltschaft beantragte, zunächst noch Beweis darüber zu erheben, ob die N. im Jahre 1892 überhaupt schwanger gewesen sei und ob sie im Dezember 1892 ein lebensfähiges Kind geboren habe. Zu diesem Zwecke sei sie selbst nochmals verantwortlich, es seien auch Zeugen und Sachverständige darüber zu vernehmen. Die Strafkammer beschloß nur zum Teil diesem Antrag entsprechend. Sie ordnete die nochmalige eidliche Vernehmung der Eigenkätners-Eheleute P. und die verantwortliche Vernehmung der Verurteilten über ihre Schwangerschaft und Niederkunst an. Die Vernehmung von Sachverständigen darüber, ob die N. im Jahre 1892 ein lebensfähiges Kind geboren habe, wurde abgelehnt, da nach den den Sachverständigen gegebenen Unterlagen die Bejahung dieser Frage unmöglich, die Möglichkeit der Geburt eines Kindes im Dezember 1892 jedoch außer allem Zweifel sei.
Die P.schen Eheleute bekundeten eidlich, daß sie der festen Überzeugung gewesen seien, die N. sei im Jahre 1892 schwanger gewesen und Mitte Dezember 1892 niedergekommen. Sie gaben im einzelnen dasselbe an wie früher und bekundeten insbesondere, daß der Leib der N. im November 1892 einen derartigen Umfang hatte und so weit nach vorne stand, wie dies nur bei hochschwangeren Frauen der Fall sei, und daß dahin gehende Äußerungen der Eheleute N. sie in dieser festen Überzeugung bestärkt hätten. Was die Niederkunft angehe, so habe die N. am 1. Dezember 1892 geäußert, sie erwarte sie Ende Januar 1893 und habe dabei über das Fehlen der Nahrung geklagt. Einige Tage später habe sie erzählt, sie wisse gar nicht, wie ihr wäre, erst habe das Kind ganz stark gelebt und jetzt sei es, als ob es tot wäre. Einige Tage vor Weihnachten habe sie geäußert, daß sich bei ihr die Regel wieder eingestellt hätte und zwar ganz stark, sie könne sich dies nicht erklären. Zur Hebamme aber habe sie nicht gehen wollen, weil sie sich so schäme. Im Januar und Februar 1893 habe sie sich auffällig zurückgezogen. Im März sei es ihnen aufgefallen, daß die N. wieder ganz schlank geworden sei. Der Ehemann P. bekundete weiterhin: »Als ich im Auftrage des Gendarms die N. die Nacht hindurch bewachen sollte, redete ich ihr gut zu, sie solle doch zugeben, daß sie im Dezember 1892 ein Kind geboren habe, da ihr ja nach ihren eigenen Angaben bereits im April 1892 die Regel ausgeblieben wäre. Das Kind brauchte ja nicht gelebt zu haben, sondern könne schon im Mutterleibe abgestorben und stückweise abgegangen sein. Ich redete ihr noch gut zu, sie solle sich doch nicht ins Unglück stürzen, sondern es ruhig zugeben, wenn sie ein totes Kind geboren und beiseite geschafft hätte. So etwas könne ja auch bei einer verheirateten Frau vorkommen. Darauf sagte die N. weinend: »Ja, P.chen, es ist stückweise abgegangen«. Auf meine Frage, wo sie das Kind gelassen habe, antwortete sie, sie hätte es in der Nähe des Grabens verscharrt … Dem Gendarm gab die N. dann weiter zu, daß das Kind nach seiner Geburt noch gelebt, daß es mehrere Male aufgeschrieen und daß sie es mit dem Kopf nach unten in einen Stüppel mit Wasser gesteckt hätte …« –
Die Verurteilte selbst gab folgendes an: »Ich bestreite, im Dezember 1892 überhaupt ein Kind geboren zu haben. Ich mag das und ebenso, daß ich dieses Kind ermordet habe, wiederholt gesagt haben, es ist aber nicht richtig gewesen. Ich weiß eigentlich gar nicht recht, was ich überall gesagt habe und kann keinen Aufschluß darüber geben, wie und aus welchen Gründen ich zu meinen Aussagen gekommen bin. Ich bin geisteskrank, das hat der Doktor in … gesagt. Die Regel habe ich für längere Zeit zum letzten Male in der Mitte April 1892 gehabt, dann blieb sie bis etwa Mitte Dezember 1892 aus. Mitte Dezember kam sie so stark wieder, wie ich sie nie in meinem Leben gehabt habe, es gingen ganze Stücke ab … Ich will noch einmal vors Schwurgericht kommen, weil ich kein Kind bekommen und kein Kind getötet habe.«
Die Beweisaufnahme wurde am 15. März 1894 geschlossen. Die Staatsanwaltschaft beantragte, den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurückzuweisen. Die Tatsache, daß die N. im Dezember 1892 ein lebendes Kind geboren habe, könne nach dem Zeugnis der P.schen Eheleute in Verbindung mit den früheren Geständnissen der Verurteilten nicht bezweifelt werden. Der spätere Widerruf ihrer Geständnisse erscheine unbegründet. Für den Nachweis, daß sie die Tat in einem Anfall von Geistesstörung verübt habe, fehle – möge die N. auch hier und da an vorübergehender Geistesstörung leiden – hinreichender Anhalt. Die ganze Art der Ausführung der Tat, die ihre nachherigen genauen Schilderungen enthalten, sprächen gegen eine solche Annahme. Die Strafkammer ordnete jedoch am 21. März 1894 die Wiederaufnahme und Erneuerung der Haupt-Verhandlung vor dem Schwurgericht in X. an, ließ aber die Untersuchungshaft fortbestehen. Aus der umfangreichen Begründung des Beschlusses, der dem Antrag des Verteidigers vom 16. August 1893 stattgab, interessiert vornehmlich folgende Stelle: »Da der Spruch der Geschworenen hauptsächlich auf dem Geständnis der Verurteilten beruht und diesem Geständnis allein nach dem Gutachten des Sachverständigen ein Wert nicht beizumessen ist, so wird dasselbe aus seine Stichhaltigkeit einer besonders strengen Prüfung zu unterziehen sein. Es ist nach dem Zeugnis der P.schen Eheleute nicht zu bezweifeln, daß die Verurteilte im November und Dezember 1892 hochschwanger gewesen ist. Deshalb muß sie also demnächst ein Kind geboren haben, welche Tatsache sie verheimlicht hat. Die Leiche dieses lebend oder tot zur Welt gekommenen Kindes ist heimlich beiseite geschafft. Aus diesen Tatsachen in Verbindung mit dem Umstande, daß die Verurteilte vorher eine Anzahl lebender Kinder und nachher, im Jahre 1893, wiederum ein lebendes Kind zur Welt gebracht hat, daß auch zur Verheimlichung der Geburt kein Grund vorgelegen hätte, falls das Kind tot geboren wäre, muß geschlossen werden, daß die Verurteilte ein lebendes Kind geboren und getötet hat. In diesem Punkt ist ihrem Geständnis wegen der es stützenden sonstigen Umstände also zu folgen (objektive Seite), und es bleibt fraglich, ob entweder ein Strafausschließungsgrund gemäß § 51 St.G.B. vorliegt oder ob verneinendenfalls dem Geständnis der Verurteilten auch insoweit zu folgen ist, als dasselbe sich aus die Tötung mit Überlegung bezieht (subjektive Seite). Da nach dem Gutachten des Sachverständigen nunmehr die Möglichkeit nicht zu verwerfen ist, daß die Verurteilte in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand von Geistesstörung die Tat verübt haben kann, während die Geschworenen nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung zur Annahme dieser Möglichkeit keinen Anlaß hatten, so muß zugestanden werden, daß auf Grund der neuen Tatsache, daß die N. wiederholt Anfälle von Geistesstörung durchgemacht hat, die Freisprechung erfolgen kann. Sollte aber auch angenommen werden, daß sie die Tat nicht in einem derartigen Anfall begangen, sie also zu verantworten hat, so bleibt zweifelhaft, welcher Wert dem Geständnis der Verurteilten, daß sie die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, beizumessen ist. Dieselbe ist eine Person, auf deren Reden nach dem Zeugnisse der P.schen Eheleute wenig zu geben ist, da sie in auffälliger Weise sich häufig widerspricht. Sie ist infolge mehrfacher Anfälle von Geistesstörung oder auch von Natur beschränkten Geistes. Es ist leicht denkbar, daß eine derartige Person im Gefühle ihrer Schuld sich einbildet und auf Befragen erklärt, sie habe die Tötung bereits vor der Geburt geplant, während dieser Entschluß wirklich doch nie zur Reife bei ihr gekommen war, die vorsätzliche Tötung vielmehr der Eingebung eines plötzlichen Entschlusses entsprang, also nicht mit Überlegung ausgeführt wurde. In dieser Richtung ist also dem Geständnis der Verurteilten, zumal sie bei ihrer ersten richterlichen Vernehmung die Überlegung noch verneint hat, keine Bedeutung beizumessen und es ist daher sehr wohl denkbar, daß die Geschworenen zwar die vorsätzliche Tötung bejahen, dagegen aussprechen, daß die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt ist, daß also die neu ermittelten Tatsachen in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung (aus § 212 statt § 211 St.G.B.) herbeiführen können.«
Gegen diesen Beschluß erhob die Staatsanwaltschaft wiederum sofortige Beschwerde. Sie ging davon aus, daß dem Geständnis der N. voller Glaube beizumessen sei, daß hinreichender Anhalt fehle, daß sie zur Zeit der Bejahung der Tat geistesgestört gewesen sei und daß demnach keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vorlägen, welche die Freisprechung oder die Anwendung eines milderen Strafgesetzes begründet erscheinen ließen. Auf die bloße Möglichkeit hin, ein anderes Schwurgericht könne eine andere Auffassung von der Sache gewinnen, könne aber die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht angeordnet werden. Die Oberstaatsanwaltschaft fügte der sofortigen Beschwerde die Erklärung bei, der Beschluß der Strafkammer über die Erneuerung der Hauptverhandlung erscheine verfrüht. Die in dem Wiederaufnahmeantrag des Verteidigers vorgebrachten Tatsachen hätten bislang keine ausreichende Erörterung gefunden, es entbehrten daher die ärztlichen Gutachten der tatsächlichen Unterlagen. Es sei daher noch eingehend aufzuklären, inwiefern aus dem Verhalten der N. in früheren Zeiten und im Gefängnis in X. Zeichen für Geistesstörung gewonnen werden könnten, und ob die N. im Jahre 1892, wie von den Eheleuten P. beobachtet, schwanger gewesen sei. Auch dürfte bei der Wichtigkeit der Sache nach Abschluß der neuen Ermittelungen noch ein anderer Sachverständiger zu hören sei.
Das Oberlandesgericht beschloß, vor der Entscheidung über die sonstige Beschwerde noch eingehende Ermittelungen über eine Reihe bestimmter Punkte stattfinden zu lassen.
Die sehr umfangreiche Beweisaufnahme über diese Beweisthemen ist im folgenden in der Weise wiedergegeben, daß jedesmal zunächst das Beweisthema (abgekürzt und zusammengedrängt) und alsdann die dazu gehörigen Beweisergebnisse im wesentlichen referiert werden.
1. Hat die N. bei ihrer Vernehmung durch den Gendarm irgend welche Spuren von Geistesstörung gezeigt und ein Geständnis erst nach einer Drohung, sie in Ketten zu schließen, und nach Vorweisung von Handfesseln abgelegt? Der Gendarm bekundete: »Ich habe die N. zum erstenmal zwei Tage vor ihrer Verhaftung gesehen … Ich ging damals zufällig an dem P.schen Hause vorüber und hörte, daß sie sich laut mit der Frau P. stritt … Kurz nachher erfuhr ich von dem Miteinwohner R., daß der Grund des Wortwechsels der von der P. geäußerte Verdacht der Beiseiteschaffung des Kindes gewesen sei … Am Tage darauf kam die P. zu mir und machte die in meiner Anzeige enthaltenen Angaben. Ich begab mich darauf in die Wohnung der Verurteilten und vernahm sie … Sie machte auf mich einen vollständig vernünftigen Eindruck. Sie war zwar über die gegen sie erhobene Beschuldigung sehr erregt, gab jedoch durchaus sachgemäße und vernünftige Antworten, sodaß ich auch nicht das geringste Bedenken hatte, sie für völlig geistesgesund zu halten. Ich habe an diesem Tage mit der Verurteilten stundenlang (zirka 6 Stunden) ruhig und ohne jede Erregung mich unterhalten und habe ihr dabei freundlich und in ruhiger Weise zugeredet, sie möchte doch die Wahrheit sagen, da dies für sie besser sei. Während dieser ganzen mehrstündigen Unterredung mit der N. sind mir nicht die geringsten Spuren von Geistesstörung bei ihr aufgefallen. Sie bestritt bis zuletzt, überhaupt ein Kind geboren zu haben, und gab schließlich nur zu, daß ihr allerdings Mitte Dezember 1892 ein großer Klumpen Blut abgegangen sei. Ich verließ daher gegen 7 Uhr abends die Wohnung der N., ohne sie zum Geständnis gebracht zu haben. Vor meinem Weggehen hatte ich den P. damit beauftragt, während des ersten Teils der Nacht bei ihr zu wachen, damit sie sich nicht selbst ein Leid antue oder etwa noch vorhandene Spuren der Tat beiseite schaffe. Kurz nach 8 Uhr abends kam P. zu mir und teilte mir mit, die N. habe ihm jetzt eingestanden, daß sie ein Kind geboren und verscharrt hätte. Ich ging sofort in die N.sche Wohnung und die N. gestand mir nunmehr aus freien Stücken und ohne daß ich ihr eine Drohung vorhielt, was ich seinerzeit in meiner Anzeige angegeben habe. Gerade aus dem Grunde, um sie nicht zu erschrecken oder zu sehr einzuschüchtern, sprach ich mit ihr unwillkürlich ruhig und freundlich und sagte: »Frauchen, das hätten Sie mir doch nachmittags schon sagen können, als es noch hell war. Jetzt müssen wir uns eine Laterne anzünden, um die Stelle zu finden, wo Sie das Kind vergraben haben.« Die N. machte zu dieser Zeit einen sehr bedrückten und betrübten Eindruck. Sie ging sogleich, ohne zu zögern, direkt auf die Stelle zu und bezeichnete den von mir früher angegebenen Punkt als die Stelle, wo sie die Leiche vergraben hätte. Sie fügte dabei noch hinzu: »Hier dicht an diesem Stubben habe ich es vergraben …« Die N. hat mir also abends das Geständnis ohne irgend einen physischen oder psychischen Zwang gemacht. Richtig ist allerdings, daß ich nachmittags zu ihr gelegentlich geäußert habe, sie möchte doch lieber gutwillig gestehen, dann könnte sie ja unter Aufsicht zu Hause in ihrer Wohnung bleiben, während ich sie andernfalls wie einen Verbrecher festnehmen und nach L. ins Amtsgerichtsgefängnis transportieren müsse. Sie möchte doch daran denken, wenn die Leute es ansehen würden, wie ich sie über die Straße ins Gefängnis brächte. Die Leute würden sich dann erzählen, die N. sei wegen Kindesmordes verhaftet. Dieses Gerede würde vermieden werden, wenn sie mir gutwillig die Tat eingestehe. Davon, daß ich ihr Fesseln anlegen würde, habe ich ihr, soweit ich mich jetzt noch entsinnen kann, auch am Nachmittag nichts gesagt. Ketten oder Handfesseln habe ich ihr unter keinen Umständen vorgewiesen …«
2. Hat die N. bei ihrer verantwortlichen Vernehmung vor dem Amtsrichter in L. am 24. März 1893 irgendwelche Spuren von Geistesstörung gezeigt? Der Amtsrichter bekundete, die N. habe dabei keinerlei Spuren von Geistesstörung gezeigt. Sie habe alle an sie gerichteten Fragen in klarer Weise beantwortet und sich ruhig verhalten. Keinerlei Umstände hätten aus eine Störung schließen lassen.
3. Hat die N. vor dem Untersuchungsrichter irgendwelchen Anlaß zu der Annahme gegeben, daß sie an Geistesstörung leide? Hat etwa der Gendarm die das damalige Geständnis der N. enthaltenden Angaben statt der Angeschuldigten gemacht und ist etwa lediglich aus ihrem Schweigen ihre Zustimmung zu jenen Angaben des Gendarms gefolgert worden? Der frühere Untersuchungsrichter bekundete, die N. habe bei der Vernehmung nicht den Eindruck gemacht, daß sie an Geistesstörung leide. Es sei ihm niemals in den Sinn gekommen, daß sie unzurechnungsfähig sein könne. Sie sei bei der Vernehmung etwas deprimiert gewesen, habe ihre Auslassung stockend und in Absätzen gemacht, wie es häufig bei ersten Geständnissen von Angeschuldigten geschehe. Sie habe stets mit gesenkten Augen dagestanden, habe auch anscheinend innerlich gefroren; letzteres könne auch seinen Grund darin gehabt haben, daß sie aus dem kalten ins warme Zimmer gekommen sei. Der Gendarm sei bei der Vernehmung zugegen gewesen … Er habe aber nicht statt ihrer die Angaben gemacht … Allerdings sei es möglich, daß er, wenn die N. bei ihrem Geständnis irgendeinen Punkt anzuführen vergessen haben mochte, den Richter darauf aufmerksam gemacht habe, worauf der letztere die Angeschuldigte darüber befragt haben könnte. Es sei ihm vornehmlich darauf angekommen, ein spezielles und genaues Geständnis von der Angeschuldigten zu erlangen, da ja eine Kindsleiche nicht aufgefunden worden sei. Die detaillierten Angaben ihres Geständnisses habe die N. sämtlich selbst gemacht … Sie habe auch zugegeben, den Plan zur Ermordung des Kindes schon einige Zeit vor der Geburt gefaßt zu haben …«
4. Hat die N. sich im Gefängnis in X. auffällig benommen oder den Eindruck einer geisteskranken Person nicht gemacht? Hat sich ihr Benehmen nach der Verurteilung geändert? Hat sie über ihre Schwangerschaft und die Tötung ihres Kindes irgendwelche Angaben gemacht? Es sei bemerkt, daß bei Absatz 4 und 5 des Beschlusses des O.L.G. die über jeden Punkt zu vernehmenden Zeugen ganz genau bezeichnet sind. Die Gefangenaufseherin sagt aus: Die N. habe auf sie niemals den Eindruck einer Geistesgestörten gemacht, obgleich sie sehr beschränkt und schüchtern gewesen sei. Sie habe oft beobachtet, daß sie nachts sehr wenig schlief und daß sie, wenn sie schlief, im Schlaf sehr unruhig war. Auffällig habe sie sich bis zu ihrer Verurteilung nicht benommen, sie habe bis dahin fleißig gesponnen. Nach ihrer Verurteilung habe sich ihr Benehmen insofern geändert, als sie versucht habe, sich durch Verweigerung der Nahrungsaufnahme das Leben zu nehmen. Auch habe man ihr einmal eine geknüpfte Schnur wegnehmen müssen … Über ihre Selbstmordabsichten hätten ihre Mitgefangenen häufig geklagt … Auf alle von der Aufseherin an sie gerichteten Fragen habe sie sachgemäß geantwortet, wenn auch mitunter etwas stockend und nicht ganz klar. Sie habe niemals unaufgefordert etwas gesagt … Über die Tat befragt, habe sie geantwortet, sie habe ihr Kind nicht getötet, sie habe das dem Gendarm aus Angst eingestanden, weil er ihr mit Ketten gedroht und Handschellen vorgezeigt habe. Näheres über den Vorfall, insbesondere über die Schwangerschaft, habe sie (Zeugin) nicht gefragt. Sie halte es nicht für unmöglich bei der Beschränktheit der N., daß sie ein falsches Geständnis abgegeben haben könne. – Sechs frühere Mitgefangene erklären: Die A.: Die N. habe auf sie einen geistesgesunden Eindruck gemacht. Spuren einer geistigen Krankheit habe sie nicht wahrgenommen. Aus alle Fragen habe die N. sachgemäß geantwortet. Über die Schwangerschaft habe sie die N. nie befragt, jedoch habe die N. in ihrer Gegenwart aus die Frage der Aufseherin (im Juli 1893), welches Geschlecht das von ihr geborene Kind gehabt habe, geantwortet: »Männliches«. – Die B.: Die N. sei durchaus geistig gesund erschienen, obgleich sie sehr still gewesen sei und selten ohne Aufforderung gesprochen habe. Sie habe nach ihrer Verurteilung viele Nächte in Kleidern sitzend und herumgehend zugebracht. Sie habe sie (Zeugin) öfters dadurch nachts geweckt, daß sie ihr mit der Hand über das Gesicht strich. Auf die Frage, was sie damit wolle, habe sie geantwortet: »Gar nichts«. Auf die Frage nach ihrem Verbrechen habe sie einmal gesagt, sie sei unschuldig und habe überhaupt kein Kind geboren, sei auch nicht schwanger gewesen. – Die C.: Die N. sei ihr geistig durchaus gesund vorgekommen, wenn sie auch nicht viel und ohne Anregung überhaupt nicht gesprochen habe … Sie habe auf Befragen erzählt, sie sei unschuldig zum Tode verurteilt worden, sie hätte damals weder ein Kind geboren noch sei sie vorher schwanger gewesen. Sie habe hinzugefügt, sie sei nach der Irrenanstalt gebracht worden, um dort auf ihren Geisteszustand untersucht zu werden, sie sei jedoch geistig gesund und klüger, als manche andere. – Die D.: Ähnlich wie die C. mit dem Zusatz: Die N. habe sich im Oktober 1893 umbringen wollen und sich bereits eine Schnur um den Hals gelegt; sie sei durch das Eingreifen von Mitgefangenen an ihrem Vorhaben gehindert worden. – Die E.: Die N. habe den Eindruck einer geisteskranken Person nicht gemacht. Sie habe zwar viel geweint und geklagt, daß sich eines ihrer Kinder hier Gemeint ist das im Gefängnis geborene Kind. und das andere dort herumtriebe. Sonst habe sie ein auffälliges Benehmen nicht gezeigt, die Zeugin habe aber auch wenig auf sie geachtet und nichts gefragt. – Die F.: Sie sei mit der N. von dem Tage ab, an welchem diese aus der Irrenanstalt zurückgekehrt sei, zusammen gewesen. Die N. habe auf ihre Fragen erzählt, es sei nicht wahr, daß sie ihr Kind gemordet habe, sie habe keins geboren und auch keins gemordet. Allerdings sei ihr lange die Regel ausgeblieben, zuletzt habe sie sie im April gehabt. Als die Regel endlich wiedergekommen sei, – unterwegs – sei sie so stark gekommen, wie nie zuvor, sie sei von einem Unwohlsein befallen worden, sei hingefallen und es sei ihr viel Blut abgegangen, ein Kind aber nicht gekommen … Sie habe wiederholt über das ihr zur Last gelegte Verbrechen ganz ruhig und in vernünftiger Weise gesprochen und nicht den Eindruck einer Geisteskranken oder Gestörten gemacht … Was sie in der Irrenanstalt eigentlich gesollt habe, wisse sie nicht, sie sei gar nicht verrückt, sondern ganz richtig im Kopfe. Sie (Zeugin) habe auch während der ganzen Zeit nichts an der N. gemerkt, was auf Geisteskrankheit schließen lasse. Sie sei allerdings sehr niedergeschlagen gewesen, … sie habe zuweilen geäußert, sie möchte sich am liebsten das Leben nehmen, wobei sie wild um sich geblickt habe. Abends habe sie manchmal weinend und über ihr trauriges Schicksal klagend am Ofen gesessen. Sie habe aber in dem ganzen Verhalten der N. keine Geisteskrankheit, sondern nur einen ganz natürlichen Ausdruck ihrer Verzweiflung über ihre traurige Lage erblickt. Sie sei übrigens auch nicht immer traurig, sondern mitunter auch recht vergnügt gewesen, so daß sie gelacht und für sich gesungen habe, aber nicht wie eine Geisteskranke, sondern wie eine ganz vernünftige Person.
5. Vgl. die Note auf S. 118. Hat die N. an ihrem früheren Wohnort vor Martini 1892 irgendwelche Spuren von Geisteskrankheit gezeigt? War sie damals schwanger? Hat jemand in X. nach Martini 1892 etwas von ihrer Schwangerschaft gemerkt, hat der Ehemann oder sie selbst jemals davon gesprochen? Hat jemand nach Martini 1892 vor ihrer Verhaftung irgendwelche Spuren von Geisteskrankheit bemerkt? a) R., Mitbewohner des Hauses, in dem die N.schen Eheleute in X. wohnten: … Er habe die N. nur selten gesehen und dabei nicht daraus geachtet, ob sie schwanger erscheine. Von Schwangerschaft habe die N. selbst nie gesprochen. Ihm sei stets ihr merkwürdig scheues Wesen aufgefallen; sie habe bei den Begegnungen nie ein Wort gesagt und auch nie die Tageszeit geboten. Sie sei vor Weihnachten 1892 nur ein einziges Mal in seiner Stube gewesen, etwa 8 Tage vor Weihnachten und nur einen Augenblick lang. Spuren von Geisteskrankheit habe er nie bemerkt, nur das stille scheue Wesen … – b) Ehefrau R. sagt aus wie der Vorzeuge mit dem Hinzufügen, daß sie die N. beim Tage ihres Anzuges (also Martini 1892) gesehen und nach ihrer körperlichen Beschaffenheit auf Schwangerschaft geschlossen habe. – c) Mitbewohner D.: Er habe auf die N. nicht geachtet, habe nie mit ihr gesprochen, könne über Geistesstörung oder Schwangerschaft nichts bekunden. – d) Ehefrau D.: Die N. sei sehr scheu und zurückhaltend gewesen und habe niemals die andern Einwohner angeredet. Spuren von Geisteskrankheit habe sie niemals an ihr bemerkt. Erst im März 1893 habe die N. sie mehrmals beim Wasserholen angesprochen und sich dabei über die P.schen Eheleute beklagt, welche ihr nicht »die Augen im Kopfe gönnten«. Sie habe dabei aber einen ganz vernünftigen Eindruck gemacht. In der Zeit zwischen Martini und Mitte Dezember 1892 habe sie die N. ab und zu gesehen und dabei bemerkt, daß sie ihren Unterleib etwas nach vorn herausstehend getragen habe. Sie (Zeugin) habe aber dabei nicht an Schwangerschaft gedacht, da es bei Frauen, welche bereits mehrfach geboren haben, vorkomme, daß sie, auch ohne schwanger zu sein, den Unterleib vorstehend trügen. Von Schwangerschaft gesprochen habe die N. niemals. – e) Zeuge E.: Er habe im früheren Wohnort der Eheleute N. bis März 1882 im selben Hause mit ihnen gewohnt. Die N. habe »nicht viel Vernünftiges« geredet und habe das, was sie einmal gesagt habe, immerfort wiederholt. Er und seine Ehefrau hätten sie daher für ganz besonders einfältig gehalten, dies auch deshalb, weil sie immer ein scheues und zurückhaltendes Wesen gezeigt habe. Von Spuren einer Geisteskrankheit habe er nichts wahrgenommen. Er habe die A. seit März 1892 das erstemal am ersten Weihnachtstage in X. wiedergesehen, wo er ihr einen 2-3 stündigen Besuch gemacht habe. Irgendetwas Auffälliges sei ihm bei diesem Besuch nicht aufgefallen. Er habe keinen üblen Geruch in der Wohnung verspürt, die N. habe auch mit keinem Worte von einer Schwangerschaft oder einer Entbindung gesprochen. Sie habe auch diesmal, wie früher, immer Gesagtes wiederholt. – f) Zeugin E.: Im Sommer 1892 sei sie ab und zu nach ihrem früheren Wohnort, wo die N.s noch wohnten, gegangen und habe dabei die N. wiederholt gesehen und gesprochen. Die letztere habe öfters erzählt, daß sie sich kränklich fühle, worauf sie (Zeugin) gemeint habe, die N. sei wohl schwanger. Die N. habe dies für möglich gehalten und aus freien Stücken erzählt, sie sei vom April her schwanger. Am zweiten Weihnachtstage habe sie sie in X. gefragt, wie es denn mit ihrer Schwangerschaft sei. Da habe die N. erwidert, sie wisse gar nicht, wie es mit ihr wäre, sie spüre jetzt gar nichts mehr in ihrem Leibe. Sie (Zeugin) habe ihr darauf entgegnet, dann sei sie gewiß gar nicht schwanger gewesen. Auf die Körperbeschaffenheit der N. habe sie früher nicht geachtet. Spuren einer Geisteskrankheit habe sie an ihr nicht wahrgenommen. Sie habe sich aber sehr vom Verkehr mit andern Menschen zurückgezogen und sei immer »so vor sich hin« gewesen. Sie habe ganz vernünftig erzählen können, manchmal habe sie allerdings immerfort ein- und dasselbe geredet. – g) F., Dienstherr des Ehemannes der N.: … Er sei in der ersten Hälfte des Dezembers 1892 (an einem Montag, also am 5. oder 12. Dezember) auf der Rückkehr vom Holzfahren bei N. eingekehrt, um einen Schnaps mit N. zu trinken. Die Ehefrau N. sei im Zimmer hin- und hergegangen und schien dem äußeren Anschein nach schwanger gewesen zu sein. Sie habe sich mit ihm unterhalten und einen durchaus vernünftigen Eindruck gemacht … Etwa 3 Wochen später habe er dem N. gesagt, daß ihm der Storch wohl bald etwas bringen werde. N. habe darauf gelacht und erwidert, das hätte seine Freundschaft auch schon gesagt. Seine Freundschaft hätte ihm sogar schon schriftlich zur Kindtaufe gratuliert. N. habe noch hinzugefügt: »Aber diesmal irrt Ihr Euch alle, dieses Mal ist es nichts damit.« – h) Eigenkätner P.sche Eheleute: Die N. habe niemals irgendwelche Spuren von Geisteskrankheit gezeigt, sie habe sich vielmehr ganz vernünftig benommen. Nur manchmal habe es geschienen, als ob sie plötzlich unsicher werde; sie habe dann plötzlich während des Sprechens die Augen niedergeschlagen, sei verstummt und habe erst nach einiger Zeit mit dem Sprechen fortgefahren. Sie habe zuweilen in sich gekehrt geschienen und nichts gesprochen. – i) Zeuge G.: Er habe von Martini 1891 bis Martini 1892 Zimmer an Zimmer mit den N.schen Eheleuten gewohnt. Von Schwangerschaft wisse er aus eigener Wahrnehmung nichts zu sagen, jedoch habe die N. einmal vor ihrem Wegzuge nach X. geäußert: »Sie wisse nicht recht, woran sie sei, ob sie schwanger oder nicht schwanger sei.« Es sei ihm immer so vorgekommen, als ob die N. nicht ganz richtig im Kopfe sei, als ob sie »einen Fehler im Kopfe hätte«. Es habe Zeiten gegeben, wo sie allerhand dummes Zeug durcheinander geschwatzt habe, so daß man sie habe für blödsinnig halten können. Zu andern Zeiten habe man sie für vollständig vernünftig halten können. – k) Zeuge H.: … Er habe beim Sprechen der N. zwischen ihren Reden und den Reden anderer Frauenspersonen keinen Unterschied gesunden. Manchmal sei es ihm allerdings vorgekommen, daß die N. Unsinn geredet habe. Er habe jedoch angenommen, sie habe dann nur die andern zum Narren halten wollen, weil sie dabei vor sich hingelacht hätte.
Diese sämtlichen Zeugen wurden eidlich vernommen. – Die Oberstaatsanwaltschaft beantragte, nunmehr ein Obergutachten des Königlichen Medizinal-Kollegiums der Provinz einzuholen, darüber, ob die N. zur Zeit der Begehung der Tat geisteskrank im Sinne des § 51 St.G.B. gewesen war. Das Oberlandesgericht beschloß demgemäß und stellte gegebenenfalls Beobachtung der N. auf ihren Geisteszustand vor Abgabe des Gutachtens anheim. Dieser Beschluß erging unter dem 29. Juni 1894; die Arbeitersfrau Auguste N. saß nunmehr schon ein ganzes und ein Vierteljahr in Haft.
Das nach längerer Zeit erstattete Obergutachten des Medizinal-Kollegiums der Provinz lautete in seinem entscheidenden Teile, wie folgt: »Das nach der Verurteilung der Frau N. gewonnene Material läßt es als unzweifelhaft erscheinen, daß sie wenigstens zeitweilig als eine psychisch abnorme Person angesehen werden muß. Aus früherer Zeit liegen übereinstimmende Aussagen ihrer Dienstherrschaften vor, welche ihre geistige Unbrauchbarkeit bezeugen, ferner liegt das wichtige Zeugnis des Vormundschaftsrichters vor, welcher auf Grund ihres Benehmens die Überzeugung gewann, daß sie nicht dispositionsfähig sei und sie für unfähig erklärte, die Decharge zu leisten. Es muß daraus geschlossen werden, daß der Intelligenzdefekt der N. zu dieser Zeit ein sehr erheblicher war und jedenfalls weit über den hinausging, der bei einer großjährigen gesunden Person von den Verhältnissen der N. normalerweise vorhanden sein kann. Nach ihrer Verheiratung hat sich ihre geistige Abnormität weniger geltend gemacht, es liegen wenigstens keine manifesten Tatsachen vor, welche beweisen, daß ihr geistiges Niveau ein so niederes war. Immerhin muß aus den Zeugenaussagen geschlossen werden, daß sie auch in der Zeit, die dem fraglichen Verbrechen unmittelbar voraufging, nicht als normal angesehen werden kann. Zwar bekunden die Zeugen ziemlich übereinstimmend, daß sie die N. nicht für geisteskrank gehalten haben, – sie verstehen unter einem Geisteskranken aber etwas anderes. Ein Zeuge gibt jedoch an, daß es ihm so vorgekommen sei, als ob die N. nicht ganz richtig im Kopfe sei, als ob sie einen Fehler im Kopfe habe. Zu Zeiten habe sie zwar vernünftig gesprochen, zu anderen aber allerhand dummes Zeug durcheinander geschwatzt, so daß man sie für blödsinnig halten konnte. … Hiernach muß angenommen werden, daß der Geisteszustand der N. auch unmittelbar vor der Zeit, in der sie das Verbrechen begangen haben soll, kein normaler gewesen ist. Für die Zeit nach ihrer Verurteilung liegt das Gutachten des Kreisphysikus vor, welcher während der Zeit seiner Beobachtung der N. im Untersuchungsgefängnis Symptome schwerer geistiger Störungen wahrgenommen hat. Nach der Angabe des Leiters der Irrenanstalt waren die Residuen dieser geistigen Störungen auch noch bei der Aufnahme der N. in die Anstalt vorhanden, wenn sie auch bald verschwanden. Anhaltspunkte, welche ein Urteil darüber zulassen, wie der Geisteszustand der N. an dem Tage der angeblichen Tat beschaffen gewesen sein soll, liegen nicht vor, sodaß das Medizinal-Kollegium nicht imstande ist, mit Bestimmtheit zu sagen, daß die N. am 15. Dezember 1892 geisteskrank gewesen ist. Immerhin muß dies, da es erwiesen ist, daß die N. in früheren Epochen ihres Lebens schwere psychische Störungen hatte, daß sie in den dem 15. Dezember 1892 voraufgehenden Monaten psychisch nicht normal war, daß sie auch später Zeichen von Geisteskrankheit gezeigt hat, als wahrscheinlich bezeichnet werden, sodaß anzunehmen ist, daß, wenn die N. am 15. Dezember 1892 wirklich ein Kind geboren und ermordet hat, dies in einem Zustande geschehen ist, in welchem sie die Folgen ihrer Handlungen nicht erwägen konnte. Das Medizinal-Kollegium kann nicht umhin, auch seinerseits zu betonen, daß es die Zweifel des Anstaltsleiters, ob die Tat geschehen, ob die N. überhaupt schwanger gewesen und ein Kind geboren habe, für berechtigt hält. Der Schuldbeweis beruht ausschließlich auf dem Geständnis der N., das nach den neuen Ermittelungen als wertlos bezeichnet werden muß. Daß sie bei ihrem Schwachsinn durch die Uberredungsversuche zu einem falschen Geständnis veranlaßt werden konnte und daß sie dasselbe bei den weiteren Vernehmungen aus Angst festhielt, muß als vollkommen möglich bezeichnet werden. Ein objektiver Beweis der Schwangerschaft und der Entbindung liegt nicht vor, die Zeugenaussagen beweisen nur, daß die N. sich selbst eine Zeitlang für schwanger hielt und daß sie auf Grund ihres Aussehens für schwanger gehalten worden ist … Die Angaben der N., daß sie die Leiche mehrere Monate unter dem Bett aufbewahrt hat, müssen als sehr unwahrscheinlich bezeichnet werden. Auch ist es immerhin auffallend, daß die angebliche Entbindung der N. mehr als einen Monat zu früh erfolgte, andererseits enthält das, was die Verurteilte selbst jetzt angibt, daß sie sich eine Zeitlang für schwanger gehalten, daß sie aber, nachdem sie vorher wiederholte Blutungen bemerkte, am 15. Dezember einen großen Klumpen wie geronnenes Blut entleert habe, in sich nichts Unmögliches oder Unwahrscheinliches. Somit kommt das Obergutachten des Medizinal-Kollegiums zu dem Schlusse, daß die N. zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens, auch unmittelbar vor dem Datum des ihr zur Last gelegten Verbrechens ebenso wie nach demselben, Zeichen von Geisteskrankheit gezeigt hat, daß mithin, falls sie wirklich die inkriminierte Handlung begangen haben sollte – was das Medizinal-Kollegium nicht für erwiesen hält – sie sich wahrscheinlich in einem Zustande befunden hat, welcher sie unfähig machte, die Folgen ihrer Handlung zu erwägen.«
Nach diesem Obergutachten sah sich die Oberstaatsanwaltschaft nicht mehr in der Lage, die gegen den Beschluß der Strafkammer in X. erhobenen Bedenken aufrecht zu erhalten, und nahm die sofortige Beschwerde zurück. Der Beschluß der Strafkammer vom 21. März 1894 (S. 111) war rechtskräftig, eine neue Verhandlung mußte stattfinden.
Neuer Termin zur Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht in X. wurde auf den 27. November 1894 bestimmt. Der Termin wurde später nochmals vertagt und auf den 18. Dezember 1894 verlegt. Diesmal wurden 29 Zeugen und 3 Sachverständige zur Hauptverhandlung geladen. Am 18. Dezember 1894, rund 2 Jahre später nach der unter Anklage gestellten Mordtat, fand die erneute Schwurgerichtsverhandlung gegen die N. wegen Mordes in X. statt. Der Ausgang konnte bei den mehrfach angeregten Bedenken nicht zweifelhaft sein.
Wie sich der Verlauf der Hauptverhandlungen im einzelnen abgespielt hat und welche Gründe für den Wahrspruch der Geschworenen maßgebend gewesen waren, läßt sich bekanntlich aus dem Protokoll und Urteil einer Schwurgerichtsverhandlung nicht genau ersehen Welche Überzeugung die Beteiligten daraus gewannen, darüber vgl. unten S. 143.. Die Sachverständigen trugen ausweislich des Protokolls den Inhalt ihrer Gutachten vor, die meisten Zeugen sagten aus, wie früher bekundet. Über die Auslassung der Angeklagten und über die Bekundungen der Hauptzeugen enthält das Protokoll eingehende und genaue Angaben. Einiges darüber mag der Vollständigkeit halber noch mitgeteilt werden. Die Angeklagte ließ sich nun folgendermaßen aus Man beachte die vielfachen Widersprüche zu den früheren Angaben (S. 84 und 86) auch in an sich belanglosen Dingen.: Sie sei eines von 6 Geschwistern gewesen. In der Schule sei sie die schlechteste gewesen, weil sie nicht den Kopf dazu gehabt habe. Sie könne nur etwas schreiben, aber nicht viel. Gedrucktes könne sie lesen, dagegen Geschriebenes nur sehr wenig … Seit dem 14. Lebensjahre sei sie, wenn sie gesund gewesen, in Dienst gegangen; sie habe häufig an Kopfschmerzen und Schwindel gelitten. Mit 21 Jahren sei die Regel bei ihr eingetreten … Die erste Schwangerschaft sei aus dem Verkehr mit ihrem jetzigen Ehemann hervorgegangen. Sie habe ihn geheiratet, noch bevor sie entbunden worden sei … 3 Monate nach der im April 1883 erfolgten Verheiratung habe sie das erste Kind geboren, das nach wenigen Monaten an Krämpfen verstorben sei. Sie habe keine Nahrung gehabt und das Kind mit Fencheltee und Milch von ihrer Kuh ausgezogen. 1 Jahr später habe sie ein Mädchen geboren, – das noch lebende, nunmehr 8jährige Kind. Die nun folgenden 3 Kinder seien alle im zarten Alter an Krämpfen verstorben, keines sei älter als ein Jahr geworden. Sämtliche Kinder habe sie mit Fencheltee und Kuhmilch genährt … Als sie nach X. gezogen seien (im November 1892), sei sie nicht schwanger gewesen und habe auch dort kein Kind geboren … Als sie sich mit Frau P. über die beiderseitigen Kinder unterhalten hätte, habe sie auf deren Frage, ob sie wieder schwanger sei, gesagt, sie wisse es nicht, sie habe seit April 1892 die Regel nicht mehr gehabt. Sie sei allerdings nach ihrer eigenen Meinung schwanger gewesen. Freilich sei die Schwangerschaft bei ihr nicht so sehr augenscheinlich gewesen. Sie habe Bewegungen der Frucht nicht verspürt und auch nicht darüber zur Frau P. gesprochen. Sie habe auch sonst wohl geäußert, sie habe Schmerzen in der Herzgrube, vielleicht sei sie schwanger, die Regel sei fort, sie spüre aber noch nichts. Im halben Dezember 1892 sei eine Veränderung eingetreten. Vormittags, als sie am Spinnrocken gesessen habe, sei ein Stück Blut abgegangen, so groß wie eine Faust. Als es zur Erde gefallen sei, sei es auseinandergeflossen, der Kern sei fest geblieben. Sie habe das Blut mit der Hand in einen mit Wasser gefüllten Eimer getan und in den Graben gegossen … Befürchtungen über die Ernährung des zu erwartenden Kindes habe sie niemals zu den Eheleuten P. geäußert. Sie habe ihrem Ehemann von dem Blutabgang Mitteilung gemacht und habe es auch der Frau P. erzählt, die ihr geraten habe, zur Hebamme zu gehen. Sie habe jedoch entgegnet, was sie da solle, es habe ja nichts zu sagen. Die Figur ihres Körpers sei unverändert geblieben … Später sei sie mit der P. in Streit geraten … Darauf habe die P. das Gerücht verbreitet, sie sei schwanger gewesen, das Kind sei nicht da, sie müsse es umgebracht haben … »Als der Gendarm bei mir erschien, sagte ich ihm, es sei nur Blut abgegangen. Daraus wurde er ärgerlich, schimpfte und drohte, wenn ich nicht bekennen würde, mich zu ketten, warf auch Ketten, die er bei sich trug, auf den Kasten. Er setzte seine Nachforschungen bis 4 Uhr in meiner Wohnung fort, hierauf brachte er mich aufs Schulzenamt, woselbst er mich eine Stunde lang exerzierte, ich hätte geboren und sollte sagen, wo ich das Kind gelassen hätte. Schließlich sagte er, wenn ich nicht bekenne, würde er mir eins geben, daß ich vom Stuhle fiele. Ich blieb jedoch dabei, daß ich nichts zu bekennen hätte. Nunmehr brachte der Gendarm mich wiederum nach Hause, und schickte den P. zu mir … Ich weiß nicht, was ich zu P. und später zu dem herbeigeholten Gendarm gesagt habe. Die Gedanken waren mir geschwunden. Ich blieb die Nacht zu Hause, habe aber nur sehr wenig geschlafen … Was ich vor dem Amtsgericht gesagt habe, weiß ich nicht … Vom Untersuchungsrichter bin ich in Gegenwart des Gendarms gefragt worden, wo ich das Kind gelassen habe; was ich darauf geantwortet hatte, weiß ich nicht. Wenn ich ein Geständnis abgelegt habe, so ist dies nicht richtig und habe ich es nur aus Angst getan. Auch vor dem Schwurgericht bin ich ängstlich gewesen … Später wurde mir klar, daß ich aus Furcht alles, was ich gefragt wurde, gestanden hatte und mir dadurch die Todesstrafe zugezogen hatte, die ich nicht verdient habe. Ich habe nicht geboren und auch kein Kind beiseite geschafft …« Der Gendarm bekundete: … Als die Angeklagte bestritt, habe er sie darauf hingewiesen, daß das Beweismaterial zu groß sei und daß er sie arretieren müsse. Handschellen habe er nicht gehabt, es sei aber möglich, daß er die Schließkette bei sich gehabt hätte. Er habe ihr zwei bis drei Stunden zugeredet, die Tat zu gestehen, es käme ja vor, daß Kinder tot geboren würden. Nachdem sie ihm mitgeteilt habe, wann ihr die Regel ausgeblieben sei, habe er gesagt, es könne unmöglich nur Blut, es müsse ein Kind gewesen sein … Bei ihrer Vernehmung auf dem Schulzenamt sei sie ihm um den Hals gefallen und habe gebeten, sie doch in Ruhe zu lassen, sie wisse von nichts und könne auch nichts sagen. Er habe sie dann nach Hause gebracht und durch P. bewachen lassen. Als er dann auf dessen Meldung, sie habe jetzt gestanden, wieder zur Angeklagten gegangen sei, … habe er ihr folgende Fragen gestellt: »Wo haben Sie das Kind geboren, in der Stube?« (»Ja«). »Haben Sie es besehen?« (»Ja«). »Hatte es einen länglichen Kopf?« (»Ja«). »So wie eine Flasche?« (»Ja«). »War es ein Junge?« – »Hat es gezappelt und geschrieen?« (»Ja«). Auf alle Fragen habe die N. mit ja geantwortet. Sie habe ferner auf die Frage: »Wo haben Sie das Kind gelassen?« erwidert, sie hätte es in den Eimer gesteckt. Sie habe auch bejaht, daß sie es ersäufen wollte. Die Leiche habe sie in einem Topf unter das Bett gestellt und vor 14 Tagen ausgegossen … Auf die Vernehmung der Angeklagten vor dem Untersuchungsrichter entsinne er sich nicht mehr. – Der Amtsrichter aus L., der die N. nach der Festnahme verantwortlich vernommen hatte, bekundete, sie habe ihm auf seine Fragen klare Antworten gegeben, habe sich während der Verhandlung ruhig verhalten und durch nichts Anzeichen einer geistigen Störung gegeben. Der frühere Schwurgerichts-Vorsitzende bekundete, daß die Angeklagte in der Verhandlung am 27. Juni 1893 zuerst hartnäckig geschwiegen habe, auch aus sich nichts erzählt habe. Auf seine Fragen hin habe sie dann dasselbe Geständnis abgelegt, wie bei ihren früheren Vernehmungen. Seine Frage, ob es ein ausgewachsenes Kind gewesen sei, habe sie bejaht; auf die Frage, ob sie es von einem fremden Mann bekommen habe, habe sie geantwortet: »Nein, das Kind ist von meinem Ehemann«. Der Ehemann sagte (unbeeidigt) aus, er habe mit seiner Frau über ihre Schwangerschaft gesprochen, sie habe gesagt, sie wisse es nicht, was mit ihr sei, manchmal sei ihr so, manchmal auch nicht. Es sei vorgekommen, daß die Regel bei ihr zwei bis drei Monate ausgeblieben sei, ohne daß sie schwanger gewesen sei. Von Sorgen über die Ernährung des zu erwartenden Kindes habe seine Frau nichts gesagt, er selbst habe auch nicht daran gedacht. Eines Sonntags habe sie ihm erzählt, daß sich die Regel, welche lange ausgeblieben wäre, wieder eingestellt hätte. Sie habe ihm nichts davon gesagt, daß ihr ein Kind abgegangen sei, er habe nichts davon gemerkt, daß sie ein Kind geboren habe. – Der Eigenkätner P. bekundete noch, daß ihm die Angeklagte tatsächlich mitgeteilt habe, sie werde Mitte Dezember niederkommen … Als der Gendarm sie befragt habe, habe sie erzählt, es sei ihr ein Klumpen Blut abgegangen; das habe sie auch auf dem Schulzenamt auf wiederholtes Befragen angegeben. Als er (Zeuge) sich später mit ihr darüber unterhalten und gemeint habe, vielleicht sei das Kind stückweise abgegangen, habe sie erklärt, ja, es sei ihr stückweise abgegangen. Nachdem der Gendarm, dem er dieses mitgeteilt habe, wieder die Vernehmung übernommen hatte, habe er (Zeuge) das Gespräch der beiden angehört. Der Gendarm habe Fragen gestellt und die N. sie mit »ja« beantwortet …
Die Fragen, die den Geschworenen vorgelegt wurden, lauteten:
1. Ist die Angeklagte N. schuldig, im Dezember 1892 zu X. vorsätzlich einen Menschen, nämlich ihr damals geborenes Kind, getötet zu haben?
2. Im Falle der Bejahung der Frage zu 1:
Hat die Angeklagte N. die in der Frage zu 1 bezeichnete Tat mit Überlegung ausgeführt?
Die Geschworenen verneinten dem Antrage des Staatsanwalts entsprechend die Frage zu 1, die Angeklagte wurde unter Aufhebung des Urteils des Schwurgerichts zu X. vom 27. Juni 1893 von der Anklage des Mordes freigesprochen.
Am Abend des 18. Dezember 1894 wurde die Arbeitersfrau Auguste N. aus dem Gerichtsgefängnis entlassen, nachdem sie rund 21 Monate in Untersuchungshaft gewesen war. Ihr wurde ein Jahr später aus dem Justizfonds eine Entschädigung von 200 Mark für die erlittene Untersuchungshaft gewährt.