Friedrich Halm
Die Marzipan-Lise
Friedrich Halm

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Weit entfernt, durch Entlassung des Schreibers jede Möglichkeit der Fortdauer eines solchen Verhältnisses abzuschneiden, besorgte er vielmehr, eben dadurch einesteils den von Antal verbreiteten Gerüchten einen Anschein von Begründung zu geben, andernteils sich selbst ohne Not eines vortrefflichen, nicht leicht zu ersetzenden Arbeitsgehilfen zu berauben. Um Czenczis Ruf vor Verleumdung sicherzustellen, erschien es ihm genügend, den jungen Leuten die Fortsetzung des wechselseitigen Unterrichts zu untersagen, und so unterbrach er eines Tages die Lehrstunde, wies den Schreiber dahin zurück, wohin er gehöre, nämlich in die Schreibstube zu seinen Büchern, verbot seiner Tochter allen ferneren Verkehr mit dem flötenspielenden Betteljungen, legte dem mit Entlassung bedrohten, in tiefster Zerknirschung um Gnade flehenden Antal ewiges unverbrüchliches Stillschweigen auf, und alles war abgetan. Die jungen Leute, die erst ganz vernichtet schienen, fanden sich, ehe man es erwarten konnte, in den ihnen aufgelegten Beschränkungen zurecht, und gaben sich, wenn nicht heiter, doch gefaßt und ruhig; Antal knurrte und murrte innerlich, ballte die Fäuste in der Tasche und fletschte die Zähne gegen die Wand, und Horváth, dem keine Verdächtigung weiter zu Ohr kam und der nichts Ungebührliches mehr bemerkte, ließ allgemach die Dinge, die er glücklich in das richtige Geleise gebracht zu haben glaubte, wieder ruhig nach wir vor ihren Gang nehmen.

So waren zwei Jahre verflossen; ein schöner Herbst lag über dem Lande, und ich wenig Tagen sollte der Michaelimarkt zu Ofen beginnen, den Horváth jährlich zu besuchen pflegte. Zwei Frachtwagen mit feinen Tüchern waren auch diesmal schon dahin abgegangen und der Kaufmann gedachte ehestens seiner Ware nachzufolgen. Es war Mittag; den Schreiber hatte Horváth Gelder einzukassieren ins Kloster nach Bakony-Bél gesandt, und er selbst kramte unter Papieren und Warenmustern, als Antal, der Schaffner, in die Schreibstube trat und die Anrede des Herrn erwartend, demütig an der Tür des Gemachs stehen blieb. Antal hatte vor einigen Wochen eine für seine Verhältnisse nicht unbedeutende Erbschaft gemacht und infolgedessen Herrn Horváth seine Dienste gekündigt, um in seiner Heimat selbst einen Kramladen zu eröffnen. Seine Dienstzeit war abgelaufen, das Wägelchen, das ihn heimwärts führen sollte, stand vor der Tür, und er war nun gekommen, Abschied von dem Manne zu nehmen, der ihm durch zehn Jahre ein mitunter ungebärdiger und auffahrende, aber bei alledem ein wohlwollender und freundlicher Herr gewesen. Horváth hatte die Feder weggelegt und war auf den nicht eben mehr jungen, aber von Kraft und Gesundheit strotzenden Burschen zugeschritten, der durch ein seltsames Zucken in seinen offenen Zügen und durch ein krampfhaftes Drehen des wohlgewichsten Schnurrbarts unverkennbar heftige innere Bewegung verriet. Als nun Horváth in gewohnter Gutmütigkeit die Hand auf seine breite Schulter legte, ihm für die guten Dienste, die er ihm geleistet, für Redlichkeit und Treue, die er ihm durch lange Jahre bewiesen, freundlich dankte und bedauerte, daß er trotz aller Abmahnungen, statt in seinem Hause bessere Tage abzuwarten, sich in so mißlicher Zeit auf seine eigenen Beine stellen und sein Glück im Handel versuchen wolle, da rollten große Tränen über Antals braune Wangen. »Herr,« stieß er schluchzend heraus, »ich weiß, es kann mein Unglück sein, daß ich gehe und gewiß werde ich's nirgends mehr so gut haben, als ich's bei Euch hatte, aber ich muß fort! Gott straf mich; weil ich zur Unzeit Ungebührliches ins Blaue hineinschwatzte, darf ich nun zur rechten Zeit das Notwendige nicht sagen, und zusehen kann ich auch nicht mehr, oder mir drückt es das Herz ab!« – »Was sieht Er denn,« rief Horváth, den die Erschütterung des Burschen anzustecken begann, »und warum muß er es verschweigen?« – »Ich muß! Ich muß!« versetzte Antal, indem er sich mit der mächtigen Hand vor die Stirn schlug, »ich habe im Zorn meine Seele dem Teufel verschworen, wenn noch ein Wort über meine Lippen käme, das einen hier im Haus beträfe; ich darf nur eins,« fuhr er fort, indem er die Hände faltete, »bitten, bitten darf ich Euch, macht die Augen auf und sehet den Weg, den Ihr geht! Schafft Rat, da es noch Zeit ist! Denkt nach, warum der hübsche Kis Sándor zu jung und der wackere Barna Láßló zu alt war, Euer Schwiegersohn zu werden! Denkt nach, nehmt Euer Herz in die Hand und Gott – segne Euch!« und damit küßte er schluchzend dem Herrn die Hände und den Saum des Kleides und fuhr zur Tür hinaus.

Horváth stand betroffen und von Staunen und ungewisser Angst wie gelähmt; als er, wieder zur Besinnung gekommen, Antal nacheilte, war dieser längst auf sein Wägelchen gesprungen, hatte mit Zunge und Peitschenknall das Gespann angetrieben und flog von Staubeswirbeln umhüllt in echt ungarischem rasenden Jagen der Heimat zu.

Spät am Abend desselben Tages, als die Dämmerung längst hereingebrochen war, kehrte der Schreiber Ferencz in einen Szür eingehüllt, einen schweren Geldsack unter dem Arm, von Bakony-Bél zurück. Die heller als gewöhnlich durch das Küchenfenster herleuchtende Flamme des Herdfeuers und ein ihm unbekannter Knecht, der ein paar sichtlich ermüdete Rosse pfeifend im Hofe herumführte, damit sie langsam sich abkühlten, ließen ihn bald gewahren, daß ein Gast im Hause wäre. Er stand eine Weile unschlüssig unter dem Torweg; als er aber später den Burschen, die Pferde in den Stall weisend, ein lustiges »Schnadahüpfl« anstimmen hörte, stampfte er unmutig mit dem Fuße und wandte sich dann hastig einem dunklen Gange zu, der vom Torwege zur Küche führte. Das Rasseln und Klirren eines mächtigen Schlüsselbundes und trippelndes Pantoffelklappern verkündete ihm bald die Bähe der Base Margit, die er eben suchte und die er demütig mit einem Handkuß begrüßend um die Gefälligkeit ersuchte, den Geldsack an seiner Statt dem Herrn zu überbringen und ihm zu sagen, seine Aufträge seien ausgerichtet; denn ihn habe wieder sein Kopfrheuma gepackt, er fröstle und wolle zu Bett! »Ei wo denkt Er hin, mein Sohn,« versetzte die Alte. »Er will nicht zum Abendessen kommen, und wir haben Besuch, den Herrn Steidler, den reichen Hammerherrn aus Mürzhofen, der nach Ofen zum Markte will! Und ich sollte dem Herrn den Geldsack bringen und mich ausschelten lassen, wenn ich ihm die Auskünfte nicht geben kann, die er verlangt? Zu Bette gehen! Zu Tische soll Er gehen und sich zusammennehmen, wie es einem jungen Burschen geziemt, das soll Er!« Auf diese und ähnliche Vorstellungen erwiderte Ferencz in kläglichem Tone, er leide heute mehr als je, er wolle lieber glühende Eisen anfassen, als nur den Kiefer bewegen, dabei träne sein Auge wie ein lecker Eimer und empfinde jeden Lichtstrahl wie einen Nadelstich! Die Alte aber meinte, er solle sich mit ihrem Wunderwasser waschen, den Kopf einbinden und den Lichtschirm nehmen, so werde es ihm nicht ans Leben gehen. Er solle an das Gerede der Leute denken, und wie ungern eben darum der Herr sein Wegbleiben vom Tische sähe, wenn Gäste da wären; zudem sei er mittags fortgewesen und der Czenczi würde es leid tun, wenn sie auch abends ihn nicht sehen sollte! Sei es nun, daß diese letzte Rücksicht den jungen Mann überredete, oder gab Herr Horváth den Ausschlag, der eben seinen Gast zu Tische geleitend, am oberen Treppenrande vorbeikam und in den Flur hinabrief, was es gäbe und ob der Schreiber noch nicht zurück wäre? Genug, er erwiderte auf den Anruf, er sei zurück und werde gleich Rapport erstatten, worauf er hastig in sein Stübchen sprang, um, wie er der Base Margit zuflüsterte, vorerst ihre ärztlichen Vorschriften zu befolgen.

Die Mahlzeit hatte bereits begonnen, als Ferencz ein Tuch um die Backen geschlungen und einen Schirm über die Augen gezogen, in die Stube trat, und sich dem Herrn des Hauses näherte, der das obere Ende eines Tisches in einer ernstern und nachdenklichern Stellung einnahm, als er sonst bei dem Empfange lieber Gäste zu zeigen pflegte. Horváth warf einen verdrießlichen Blick auf den Schreiber, nahm seinen Bericht mit stummem Kopfnicken entgegen, winkte ihm, sich an seinen Platz am untern Ende der Tafel zu begeben und wandte sich dann wieder zu seinem Gaste, währen Czenczi mit einem Blicke der Freude und des Bedauerns dem Verspäteten zunickte. Das Tischgespräch erging sich lange Zeit in Klagen über die mißlichen Ergebnisse der Ernte und in Vermutungen über den Einfluß derselben auf die Warenpreise des bevorstehenden Marktes, um sich dann den Witterungsverhältnissen zuzulenken, die einen regnerischen Hochsommer mit einem anhaltend schönen hellen Herbste zu vergelten versprachen. Diese Wendung des Gesprächs gab dem Gaste Anlaß, auf die grundlos schlechten Wege zurückzukommen, die er von Steinamanger bis über Sárvár hinaus gefunden, und die ihm wenigstens zwei Stunden Aufenthalt verursacht hätten! »Übrigens,« setzte der ganz verständige, nur etwas umständliche Mann hinzu, »übrigens hätten mich meine Schimmel doch noch vor dem Abenddunkel hierhergebracht, hätte ich nicht heute früh mit dem armen Sünder zu viel Zeit versäumt!« – »Mit welchem armen Sünder?« fragte Horváth, und Steidler, die allgemein sich kundgebende Neugier zu befriedigen, berichtete nun in seiner breiten Redeweise, wie ein Tischlergeselle zu Steinamanger vor zwei Jahren seinen Meister erschlagen, aber allen Verdacht abzulenken gewußt, sich später auf die Wanderschaft begeben und auch sein gutes Fortkommen gefunden hätte, vor drei Wochen aber, von der nie ruhenden unerträglichen Folter des Gewissens getrieben, plötzlich nach Steinamanger zurückgekehrt wäre, um sich selbst als den Mörder seines Dienstherrn dem Gerichte zu überliefern, worauf er denn am heutigen Tage bereuend und mit Gott versöhnt zur höchsten Erbauung der tieferschütterten Menge sein Verbrechen auf der Richtstatt mit dem Leben gebüßt hätte.

Steidlers Bericht war nicht ohne Wirkung auf seine Hörer geblieben, dafür bürgte die tiefe Stille, mit der er aufgenommen wurde und die ihm folgte. Horváth war es, der sie zuerst unterbrach. »Ja,« sagte er mit nachdrücklicher und bewegter Stimme, »Gott weiß jeden zu finden, und nichts,« fuhr er fort, indem er einen ernsten und forschenden Blick auf die jungen Leute warf, »nichts ist so fein gesponnen, es kommt zuletzt ans Licht der Sonnen!« Der Eindruck, den diese ziemlich scharf betonte Bemerkung machte, war ein sehr verschiedener: auf Czenczis Wangen rief sie dunkle Röte hervor, Ferencz dagegen, der stumm und gleichgültig wie zuvor mit vor ihm liegenden Brotkrumen spielte, schien sie gar nicht zu beachten, während Herr Steidler nachdenklich den Kopf schüttelte und sie mit diesen Worten erwiderte: »Ja, die Leute sagen so! Aber es kommt nicht alles ans Licht der Sonne! Ich selbst weiß von einem Fall zu erzählen, von einer schauerlichen Mordtat, die sich vor etwa dritthalb Jahren begeben, ohne daß seither auch nur eine Spur des Mörders entdeckt worden wäre!« – »Ei was,« versetzte Horváth ärgerlich, denn ihm war, als sähe er die Lippen des Schreibers spöttisch zusammenzucken, »es ist nicht aller Tage Abend! und kann nicht eine Stunde entdecken, was dritthalb Jahre verschwiegen blieb? Wenn ihn auch die Menschen nicht erreichen, Gott weiß seinen Mann zu finden, dabei bleibe ich! Aber laßt uns doch die Geschichte hören, deren Ihr eben gedachtet! Noch ein Glas Somlyóer, werter Herr Steidler; dem Wein dürft Ihr trauen, er ist eigenes Baugut und vom besten Jahrgang, und nun gebt uns Eure Mordtat zum besten!« Horváth hatte während dieser Worte die Gläser gefüllt, und Steidler, der vergebens vorstellte, daß jener Vorfall an und für sich nicht besonders spannend und nur vielleicht für jene, welche die beteiligten Personen gekannt, merkwürdig wäre, fügte sich endlich dem Andringen seines freundlichen Wirtes und begann folgendermaßen seine Erzählung: »Ihr müßt wissen,« sagte Steidler, »daß mich meine Geschäfte mehr als einmal des Jahres nach Bruck führen, einem hübschen Städtchen, das einige Meilen von meiner Heimat am Zusammenfluß der Mürz und der Mur gelegen ist. Ich pflege dort beim Kreuzwirt Herberge zu nehmen und habe mich, seit Jahren ein Stammgast des Hauses, unter seinem Dache immer so wohl besorgt und aufgehoben gefühlt wie nur am eigenen Herd. Eines Tages, es mögen nicht ganz drei Jahre sein, gegen Abend ankommend, finde ich jedoch das Haus von oben bis unten erleuchtet, Gänge und Treppen von Menschen wimmelnd und vor dem Hause ein Gewirr ineinandergefahrener Wagen, daß ich nur mit Mühe an den Torweg gelangen konnte. Kreuzwirt, sagte ich absteigend, Euer Haus sieht heute nicht anders aus als die leibhaftige Arche Noah, da werde ich denn wohl rechtsum machen und im Brauhaus einsprechen müssen! Der aber krummbuckelt und entschuldigt sich, die Schützengilde feiere heute unter seinem Dach einen Ehrenschmaus, dem ein Tanz folgen sollte; die Stube, die ich gewöhnlich einnehme, diene als Bankettsaal, aber für mich hätte er immer Unterkunft; er würde mir, wenn ich es nicht übelnehmen wolle, eine hübsche Kammer im Hinterhause einräumen und an Aufmerksamkeit und schuldiger Rücksicht für meine Bequemlichkeit solle es nicht fehlen! Was war zu tun? Im Hause war ich einmal und im Handumdrehen sah ich mich eine Hintertreppe hinauf in die verheißene Kammer geschoben, die denn auch wirklich ganz bequem und so abgelegen war, daß ich darin ungestört von dem Gestampfe der Tanzenden und dem Geschwirre der Musik ganz ruhig und behaglich die Nacht zubrachte.

Es war hellichter Tag, als ich erwache, mich in die Kleider werfe und das Fenster öffne, um ein Viertelstündchen frische Luft zu schöpfen, wie dies im Sommer und Winter, bei Sonnenschein wie Schneegestöber mein Gebrauch ist. Das Fenster der Kammer ging in ein Gäßchen, das ich, sooft ich auch durch Bruck gekommen, niemals bemerkt, noch weniger betreten hatte. Mir gerade gegenüber lag ein altertümliches, wettergeschwärztes Haus mit hohem Giebel und unter dem Spitzbogen der Haustür, zu der einige Stufen hinaufführten, sah ich zwei Personen in eifrigem Gespräch begriffen, deren Vertraulichkeit bei der großen Verschiedenheit ihres Alters und ihrer bürgerlichen Stellung meine Aufmerksamkeit erregte. Die eine der beiden Personen nämlich, ein junger Mann in zierlicher, blonder Stutzperücke, in einem anständigen braunen Tuchkleide und geflammten Seidenstrümpfen, gehörte unzweifelhaft zu den Honoratioren der Stadt, während das Frauenzimmer, das den Abschiednehmenden bis zur Haustür begleitet zu haben schien, in Tracht und Haltung nur wie eine gewöhnliche Bürgerfrau aussah. Sie war alt und überaus häßlich; die kleinen stechenden Augen und das spöttische Grinsen des zahnlosen Mundes gaben dem gelben runzlichten Gesichte einen widerlich hämischen Ausdruck, den das wirre graue Haar, das unter der schwarzen Drahtflügelhaube hervorhing, nicht zu mildern vermochte. Die kleine hagere Gestalt war mit einem etwas abgenützten Kleide von schwarzem Kamelott und einem mit verschossenem Samtband besetzten Halbmäntelchen von demselben Stoffe angetan, aus dessen Armschlitzen ihre dürren Hände mit den gichtgekrümmten Fingern wie Adlerklauen hervorsahen. Dazu trug sie baumwollene schlechte Strümpfe, grobe Schuhe, Zinnschnallen, ein grellgelbes Halstuch und eine feuerfarbene Schleife auf der Drahthaube; kurz und gut, nur der Besen fehlte, so war die Hexe fertig.«

»Ach, du dreieiniger Gott!« stöhnte Base Margit, indem sie sich bekreuzigte; Czenczi aber schlug die Hände vors Gesicht und rief: »Gott behüt' uns, mir ist, als sähe ich es vor mir stehen, das häßliche Weib!«


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