Hans von Hammerstein
Roland und Rotraut
Hans von Hammerstein

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Sonnenwende.

Den nächsten Morgen, als kaum die Sonne ihre ersten Strahlen blitzend über die vogelschallerfüllten Waldwipfel schoß, machte sich Ragnar auf den Weg zur Fürstenburg. In tiefem Sinnen schritt er dahin und überlegte, wie er es beginnen solle, um die Gesinnung des Fürsten zu prüfen und, noch eh er ihm von Rolands und Rotrauts Rückkehr Mitteilung gemacht, zu erforschen, ob er einer Verbindung der beiden seinen väterlichen Segen nicht verweigern würde. Denn so hatte er es mit Roland beschlossen. Oft blieb er stehen, hielt die Hand an die hohe, gefurchte Stirne oder wühlte wie träumend mit der Spitze seines Stabes im welken Laub am Boden umher.

Am Saum des Hirschwaldes ließ er sich unter der alten Eiche auf einen ihrer Wurzelknorren nieder, begann vor sich in den flimmernden Morgenduft hinaus zu träumen und mit den langen, knochigen Fingern der edelgebildeten Hand erregt das Silbergeflock seines Bartes zu strählen. Steil gruben sich die zwei Falten zwischen seine buschigen Brauen ein; Mißgefälliges schien er zu erwägen, und einmal stieß er grimmig mit dem Stab nach einem jener steinfarbenen Heupferdchen, die mit ihren weiten, schnarrenden Sprüngen die Ränder des Sommerwaldes beleben. Schwirrend machte sich der harmlose Grasgeiger auf seinen purpurgebänderten Flügeln davon; 199 der Alte sah ihm seufzend nach und schüttelte das Haupt. Ruhiger strich er sich nun den Bart, der harte Stahlblick seiner meergrauen Augen ging in ein mildes Glänzen über, ja, er lächelte und sah liebevoll einem Waldfinkenpärchen nach, das in zwitscherndem Zickzack durchs Geäste zu Boden jagte und einige Schritte entfernt im Gras mit lautem Geschäcker einen putzigen Werbetanz aufführte. Schließlich nickte er, als wäre er mit sich einig geworden, erhob sich, wanderte rüstig fort und beschleunigte seine Schritte, als er der Burg ansichtig wurde, wie sie mit ihren Türmen und steilen, in der Morgensonne gleißenden Giebeln vom starrenden Felsen höher und höher über die wallende Flut der Buchenkronen vor ihm emporgehoben wurde.

Als er, vor dem Schloß angelangt, nach dem Fürsten fragte, wies ihn ein Diener nach dem Garten und eilte voraus, um seine Ankunft zu melden und zu fragen, ob der Fürst geneigt sei, ihm Gehör zu geben. Der Diener zweifelte daran, trotzdem Ragnar immer bereitwilligst der Zutritt gestattet worden war; denn, sagte er, der Herrscher habe in den letzten Tagen wieder schwere Anfälle des Leidens ausgestanden, das ihn seit dem Winter plage, und pflege außer Phyleus und dem Arzt niemand um sich zu sehen. Doch kam er bald wieder mit der Botschaft zurück, daß Ragnars Vortritt sehr erwünscht sei. Dieser erschrak, als er des Fürsten ansichtig wurde, so war er gealtert, seit er ihn zum letztenmal gesehen. Seine Wangen waren eingefallen, sein Haar schlohweiß, und der Mann, der nicht viel mehr als Fünfzig zählen mochte, saß jetzt als ein gebrochener Greis in einen weiten, pelzverbrämten Mantel gehüllt und ganz in einem 200 hohen wappengeschmückten Lehnsessel zusammengesunken, an der heißen Junisonne. Phyleus stand neben ihm. Mit müdem Lächeln streckte der Fürst Ragnar die abgezehrte Hand entgegen.

»Es ist schön von Euch, daß Ihr mich wieder einmal besucht, alter Freund!« sprach er mit matter, heiserer Stimme. »Ich denke, es war hohe Zeit, wenn ihr mich noch in der Sonne treffen wolltet. Denn lange wird sie mir nicht mehr leuchten. Und das ist auch gut so,« fügte er traurig hinzu und senkte die Augen. »Was soll mir dieses Leben! Mein Sohn, meine einzige Freude, ist dahin. Gott spar' mir ein langsames Siechen und Altern in Harren und Hoffen und Verzweifeln und wieder Hoffen und Verzweifeln von einem Tag zum andern. Und er kommt doch nicht mehr – nein – nein . . . . Ich selbst bin ja schuld daran . . . .« und er machte eine abwehrende Bewegung.

»Und warum sollte er nicht mehr kommen?« warf Ragnar begütigend ein. »Wenn auch alles Forschen nach ihm vergeblich war . . . .«

»O!« unterbrach ihn der Fürst, »ganz Italien wurde nach ihm abgesucht, gleich im ersten Jahr, nachdem er fort war. Nichts – er ist in den Bergen verkommen oder in die Hände der Räuber gefallen, und die haben den schönen Knaben ins Morgenland verkauft. Grauenvoll, grauenvoll! Laßt es mich nicht denken; wüßt' ich nur, daß er tot ist!«

»Mir träumte heut' nacht . . . .« wollte Ragnar beginnen.

»Euch träumte?« rief der Fürst. »Hört, was mir vor einigen Tagen träumte; es hätt' nicht schreckhafter sein 201 können. Seither bin ich wieder so elend. Daß uns die quälenden Sorgen nicht einmal das bißchen armen fiebrigen Schlummer gönnen wollen! Da verwandeln sie sich in Traumbilder und stellen uns gerade das, wovor sich die wachen Gedanken, wenn sie es nur ahnend streifen, wie scheue Pferde zurückbäumen, mit fürchterlicher Gewißheit vor Augen und wissen ihre Gebilde mit Bedeutungen zu erfüllen, wie sie der größte Dichter so tiefsinnig nicht auszudenken vermöchte. Hört also: Mir träumte, ich säße vor dem Schloß in der Abendsonne, die das ganze Land mit einem seltsamen, blassen Dämmerlicht überstrahlte, wie man es wohl bei einer Sonnenfinsternis, ehe sie ganz vollendet ist, gewahr wird. Rote Wolken zogen ganz niedrig und schnell über die Wipfel hin. Die aber rührten sich nicht und starrten so bang und dunkel in wunderlichen Gestalten empor. Verstorbene . . . .« hier hielt er inne, und ein Schauer schien ihn zu überlaufen.

»Herr!« sprach Phyleus besorgt, »erzählt nicht weiter; es regt Euch wieder so auf.«

Der Fürst winkte matt mit der Hand ab.

»Verstorbene,« fuhr er zögernd fort, »mein seliges Gemahl und, ja, und noch andere Personen gingen schweigend an mir vorüber und sahen mich voll Schmerz und Vorwurf an, als wollten sie mir verkünden, daß nun etwas geschehen sei, was ich verschuldet. Ich wagte nicht, sie anzureden. Sie waren so bleich und schwebend und wechselten immerfort sonderbar ihre Erscheinung, und schließlich verwirrte sich alles, und sie verschwanden. Nun aber kam aus dem Tal, das ganz fremd unter mir lag – es sah wie eine italienische Landschaft aus – ein 202 glänzender Zug herauf. Und stellt euch vor: An der Spitze ritten auf schönen Pferden Roland und . . . und das Mädchen, das Ihr bei Euch hattet . . . . Rotraut hieß sie doch? – Sie waren prächtig gekleidet und schienen überaus glücklich. Und wie sie herankamen, verschwamm hinter ihnen das glänzende Gefolge, sie ritten ganz allein, und unter den Tritten ihrer Pferde sproßten unzählige Blumen auf, hohe glänzend weiße Lilien und dunkelrote Rosen, ein ganzes Meer davon war schließlich um sie, worein Tal und Wald versanken, und das ein leiser Wind lieblich hin und her bewegte. Und ein köstlicher Duft erfüllte die ganze Gegend. Schließlich versanken auch ihre Pferde, ich weiß nicht wie; sie traten Hand in Hand zu mir; Roland küßte das Mädchen, die plötzlich groß und wunderschön war, schöner noch als ihre . . . .«

Wieder hielt er inne und sah Ragnar erschrocken an.

»Ja, sie war sehr schön,« fuhr er fort, »und Roland schien sie sehr zu lieben. Als er sie küßte, hob sich ein wundersüßes Klingen rings aus dem Blumenmeer, wie Engelsgesang. Und – denkt Euch nur – sie knieten vor mir nieder, und ich verstand es, ohne daß sie irgendein Wort sprachen, verstand ich es, daß sie einander verlobt oder schon angetraut seien – kurz, ich erstarrte vor Schreck und erwachte, und Phyleus, der auf mein Stöhnen herbeieilte, fand mich in einem neuen Anfall meiner Krankheit, dem schlimmsten, der mich bisher überkommen. Er glaubte, ich stürbe, und mir war auch so zumute.«

Der Alte schwieg, und seine Hände krampften sich zitternd an die Sessellehne.

»Und warum hat Euch dieser schöne Traum so erschreckt?« fragte Ragnar mit einem unsicheren Blick. 203

»Warum?« versetzte der Fürst erstaunt und lehnte sich mühsam vor, den Hirten mit weitgeöffneten Augen anstarrend. »Ach so!« sprach er dann zurücksinkend. »Ich vergaß . . . Ja, ja . . . .«, und er versank in dämmerndes Sinnen.

Phyleus warf Ragnar einen Blick zu und schüttelte voll Sorge das graue Haupt.

»Aber Ihr müßt's ja doch einmal wissen!« begann der Fürst wieder mit einem tiefen Seufzer. »Wie könntet Ihr sonst meinen Schrecken über diesen Traum begreifen. – Doch, da muß ich weit ausholen,« fügte er stirnrunzelnd hinzu.

»Gnädigster Herr!« bat Phyleus, »sprecht nicht mehr, schont Euch, denkt . . . .«

»Still, still!« sagte der Fürst ungeduldig. »Es muß einmal heraus. Ich sterbe ruhiger, wenn ich mir's von der Seele gesprochen habe. Ragnar ist ein guter, weiser Mann, der wohl so aussieht, als hätt' er auch mehr hinter sich als nur sanftes Schafehüten und Flötenspielen.«

Ragnar nickte langsam mit dem Kopf, und sein Auge schien in weite Ferne zu starren. Und plötzlich fuhr er leise zusammen, als wäre ihm ein peinliches Bild vor die Seele getreten.

»Glaubt mir's, Herr!« sagte er beinah flüsternd vor sich hin, »ich hab' das Leben gekostet, das Leben mit seinem süßen, lockenden Goldrand und seiner bitteren Neige. Diese Hand,« und er schauderte, als er sie hinstreckte, »diese unselige Hand hat nicht immer den milden Stab geführt. Genug, lassen wir ruhen, was begraben ist.«

»Nein!« erwiderte der Fürst mit einem schmerzlichen 204 Aufstöhnen, »einmal müssen die Toten noch gestört werden. Einmal noch, und dann still, still für immer.«

»Hört mich an,« fuhr er nach einer Pause fort und setzte sich ein wenig im Sessel auf, wie, um all seine Kraft zusammenzufassen. »Es sind nun wohl bald zwanzig Jahre her. Ich war ein kräftiger, junger Mann. In Abenteuern und Kriegszügen hatte ich meine besten Tage verbracht und wollt' es auch so weitertreiben, solang ich ein feuriges Roß zwischen die Schenkel hätte nehmen können. Aber mein Vater, der damals noch lebte, war meiner Fahrten überdrüssig und drang in mich, daß ich ein Weib nehmen und mich mit der Verwaltung meines Erbes befassen solle. Lang' sträubte ich mich. Als ich endlich sah, daß ihn der Wunsch, seinen Stamm, dessen einziger Sproß ich war, in ein paar gesunden Enkeln fortblühen zu sehen, schier verzehrte, entschloß ich mich eines Tages, zog mit glänzendem Gefolg an den Hof des Landgrafen Otto und warb um die Hand seiner Tochter Wiltrud, deren Schönheit die Sänger durch ganz Deutschland priesen. Ich war reich, und meine Waffen hatten manchen Kranz erfochten. So durfte ich nicht ohne Stolz auftreten, und ich setzte meinen Ehrgeiz darein, gerade die schöne Wiltrud, die schon manchen Königssohn abgewiesen hatte, zu erringen. Ich wurde vom Landgrafen sehr wohl aufgenommen und Wiltrud neigte sich meiner Bewerbung schneller, als mir lieb war. Im stillen hatt' ich gehofft, es würde ohne einigen abenteuerlichen Reiz, der meine früheren Minnefahrten reichlich gewürzt hatte, nicht abgehen. Sei es nun, daß mein Ruf und mein schönes Erbe sie verlockte, sei es, daß sie das Freierspiel schon verdroß, 205 oder daß sie fürchtete, die volle Blüte ihrer Schönheit könne bald von jüngeren überglänzt werden, kurz, sie reichte mir die Hand, unser Bund war geschlossen, und wenn ihm auch der elterliche Segen nicht ermangelte, der Segen der Liebe mochte ihn nur matt übergolden. Die Hochzeit ward mit großem Prunk begangen; ich zog mit Wiltrud hierher und bemühte mich ehrlich, das geruhsame Leben schön zu finden. Mein Vater starb bald. Er hat das Söhnlein nicht mehr erlebt, das Wiltrud mir schenkte. Manche Sorge hatte seine letzten Tage verdüstert. Er verstand sich schlecht mit meiner Gemahlin und fühlte es wohl auch, daß zwischen ihrem und meinem Herzen keine rechte Gemeinschaft war. Die junge Fürstin war prunkliebend und stolz. Dies ehrwürdige Haus mit seinen schlichten Gepflogenheiten entsprach wenig ihrem prachtgewohnten Sinn. Sie änderte dieses und jenes und nahm wenig Rücksicht dabei auf die Empfindungen des alten Mannes, dem jedes Rühren an der Umgebung, wie er sie teils überkommen, teils mit seiner Gattin in glücklichster Eintracht gestaltet hatte, ein Schnitt ins Herz war. Auch entsprach ihr die freie, offene Art unseres Verkehres mit unseren Untertanen nicht, und das Herz des Volkes verschloß sich allmählich ihrem abweisenden, kühlen Wesen, das ihr auch meine Zuneigung immer mehr entzog. Dazu kam, daß sie eine zarte Gesundheit hatte und vielleicht auch ängstlicher derselben pflog, als eben nötig war, was zu meiner strapazengewohnten Lebensweise wenig stimmte. Unser Unglück aber vollendete ein Mädchen, ein süßes junges Ding, das am Hof des Landgrafen aufgewachsen und von Kindheit auf um sie 206 gewesen war. Sie hatte das Mädchen auch mit hierher genommen. Anfangs beachtete ich die Kleine wenig. Ihre Anwesenheit war mir im Gegenteil oft beschwerlich und gab manchmal Anlaß zu Verstimmungen zwischen mir und meiner jungen Frau, die sie kaum von ihrer Seite ließ. Das schöne Kind indes wußte derlei Peinlichkeiten mit viel Zartgefühl auszugleichen, und ich empfand ihre Munterkeit schließlich wie einen versöhnlichen Sonnenschein in den häufig bewölkten Tagen meines häuslichen Lebens. Sie sang mit lieblicher Stimme alte Lieder, spielte mit Geschick die Laute und konnte sehr zierlich tanzen. Als die Fürstin in den letzten Monaten vor Rolands Geburt noch öfter kränkelte und jede Gesellschaft mißlaunig abwies, erheiterte mich die Kleine manche Stunde mit ihrem Plaudern und Singen. Die Vertraulichkeit, die sie mit der Fürstin verband, übertrug sich auch auf mich; ich behandelte sie wie eine Verwandte, und eh' ich mir's versah, war eine Neigung zu ihr in meinem Herzen aufgekeimt, die nicht unerwidert blieb. Rolands Geburt brachte meine Frau an den Rand des Grabes. Zwar wurde sie gerettet, aber sie war monatelang ans Krankenbett gefesselt und ertrug ihren leidenden Zustand mit sehr wenig Gleichmut. Von ihren Launen wiederholt schroff abgewiesen, gab ich es endlich auf, ihr Trost und Erheiterung schaffen zu wollen, und verfiel selbst einer gereizten Stimmung. Die suchte ich mir manchen Abend zu vertreiben, indem ich mir Wein bringen ließ und Elftraut, so hieß das schöne Mädchen, bat, mir vorzusingen und zu tanzen. Sie tat es mit Eifer; meine Leidenschaft zu ihr wuchs von Tag zu Tag und, um es kurz zu gestehen, meiner 207 geübten Minnekunst fiel es nicht schwer, zu bewirken, daß das harmlose, heißblütige Kind mir zu Willen war. Ach, mein Verbrechen brachte mir viele süße Stunden, eh es seine Strafe zeitigte. Wir wurden aus unseren Rosenträumen erst jäh aufgeschreckt, als sich bei Elftraut die Folgen unseres Fehltrittes einstellten. Und die Fürstin, wie von einer bösen Ahnung erfaßt, verstand es nun plötzlich, nachdem sie sich um das Mädchen lange Zeit gar nicht gekümmert hatte, alle meine Versuche, ihr die Verführte aus den Augen zu schaffen, zu vereiteln. Wie früher, mußte nun Elftraut immer um sie sein; sie verwendete überaus viel zärtliche Aufmerksamkeit auf das arme, von Gewissenspein und ihrem verheimlichten Zustand gefolterte Kind, und unsere ratlose Verzweiflung stieg von Tag zu Tag. Da verfiel meine Gattin von neuem in schwere Krankheit. Das Fieber trübte ihre Sinne, und jetzt wäre Gelegenheit gewesen, Elftraut fortzubringen. Aber es war zu spät. Sie genas überraschend eines Mädchens, und es war schwer genug, das Ereignis dem Schloßgesinde wenigstens zu verbergen. Unter der Obhut der treuen Doris, des guten Phyleus' Weib, wurde sie in einem abgelegenen Flügel der Burg untergebracht, und wir mußten hoffen, die Krankheit der Fürstin werde über eine Entdeckung glücklich hinweghelfen. Doch eines Abends, als ich mit Doris an Elftrauts Bett saß – das Kind schlief ruhig in der Wiege neben uns – ging plötzlich die Türe des Gemaches auf und herein trat mit irrem Blick, wie eine Traumwandlerin, eine Decke um den Leib geschlungen, einen Leuchter in der Hand, die Fürstin. Sie sprach kein Wort, setzte den Leuchter hin, hob das Kind aus der 208 Wiege, betrachtete es und brach mit einem Schreckensruf ohnmächtig zusammen. Gleich hinter ihr her kam mit verzweifelter Gebärde eine Zofe gelaufen, die nachher erzählte, sie habe das Schlafgemach der Fürstin für einen Augenblick verlassen, um einen Diener nach dem Arzt zu schicken, da die Fürstin im Fiebertraume so laut geschrien und sich voll Unruhe hin und her gewälzt habe. Als sie wieder hereingekommen wäre, sei das Bett leer gewesen. Meine Gemahlin war durch die andere Tür entwichen und hatte, wie von ihrer Ahnung geführt, durch Zimmer und Gänge ohne Irrweg zu uns gefunden. Man brachte sie nun wieder zurück. Nach einiger Zeit erwachte sie aus ihrer Ohnmacht, war klar bei Sinnen und sich ihrer unseligen Entdeckung auch voll bewußt. Sie ließ mich rufen und erzählte mir ohne den geringsten Vorwurf, aber mit tiefem Ernst, sie habe Elftrauts Kind in einem schrecklichen Traume genau so gesehen, wie sie es gefunden. Ich solle es samt der Mutter sogleich weit fortschaffen, und es dürfe nie, nie mit Roland zusammenkommen. Furchtbares Unheil drohe meinem Stamme von diesem Mädchen. Ich setzte ihren Bitten und Beschwörungen entgegen, daß Elftraut noch keineswegs fähig zu einer Reise sei. Sie ließ es schließlich gelten, befahl aber, daß man den kleinen Roland an ihr Bett bringe und nicht mehr von ihr entferne. Sie ließ den Knaben nicht aus den Augen, bis Elftraut endlich mit dem Kinde fort war. Phyleus reiste heimlich mit ihr weit in ein fremdes Land. Ich erbot mich auf alle Art, für sie zu sorgen. Aber sie selbst wollte nichts von meinen Bemühungen wissen und verlangte nur, daß man ihr in einer ganz einsamen Gegend ein Hüttchen 209 baue, wo sie mit dem Kinde arm und verlassen leben wolle. Ein paar Schmuckstücke nahm sie als Erinnerungen von mir an; sonst wies sie alles ab. Doch ich versorgte Phyleus reichlich mit Geld, und er kaufte für sie ein schönes Freigut in einer Lage, die ihr gefiel, warb ihr Gesinde und ließ sie dort anscheinend in erträglichen Verhältnissen. – Als sie fort war, schien die Fürstin sich zu beruhigen. Sie lag meist still und blaß auf ihrem Bett und starrte verträumt ins Leere. Eines Abends, als ich bei ihr saß, ergriff sie meine Hand und forderte von mir, ich solle ihr schwören, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, daß Roland nie, nie mit Elftrauts Kind zusammenkäme. Ich antwortete ihr ausweichend und versicherte, daß bei der großen Entfernung und Heimlichkeit von Elftrauts jetzigem Aufenthalt, den nur Phyleus kenne, durchaus kein Grund zu solchen Befürchtungen sei. Sie aber gebärdete sich wie eine Verzweifelte, bat, flehte, drohte mit der Rache ihrer Verwandten, prophezeite mir mit schreckhaft geweiteten Augen den Untergang meines Hauses, wenn ich ihrem Wunsch nicht willfahre, so daß mir keine Ausflucht mehr blieb und ich endlich, um ihre Erregung zu stillen, nachgab. Aber sie begnügte sich nicht mit meinem ritterlichen Wort. Ich mußte niederknien und unter fürchterlichen Anrufungen, die sie mir mit fieberflackernden Blicken vorsprach, einen heiligen Eid leisten, der nicht nur ihrem ersten Wunsch entsprach, sondern auch mir für alle Zeit jede Möglichkeit nahm, mich weiter um Elftrauts und ihres Kindes Geschick zu kümmern. Sie glich einer Seherin im Zustand des tiefsten Traumschauens, während sie mir den schrecklichen Schwur vorsagte, und die Worte und Bilder, die sie dabei 210 gebrauchte, schienen wie aus den Abgründen der Ewigkeit heraufgeholt.

Als ich geschworen hatte, sank sie erschöpft zurück, und wenige Stunden darauf war sie tot.«

Der Fürst schwieg. Ragnar starrte ihn mit entsetzten Augen an.

»Alles ging nun ruhig seinen Gang fort,« begann der Fürst wieder. »Roland blühte heran und wandelte wie ein lichter Engel des Friedens und der Versöhnung durch diese unheilverdüsterten Hallen. Da kamt Ihr, armer Ragnar, als ahnungsloser Erfüller trüber Geschicke in dies Land gezogen, und Rotraut, das liebliche Mädchen, das Ihr mitbrachtet, und in welchem mein Roland eine fröhliche Genossin harmloser Kinderspiele fand, ist Elftrauts Kind, meine leibliche Tochter.«

»Es ist nicht wahr, es ist nicht möglich!« schrie Ragnar auf und fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen.

»Kein Zweifel!« erwiderte der Fürst und wandte sich mühsam nach Phyleus um.

»Faßt Euch, Ragnar!« ergriff dieser nun das Wort. »Es ist so, wie unser hoher Herr sagte. Jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Erinnert Ihr Euch, wie ich das erstemal zu Euch kam, als Ihr Rotraut noch hattet? Da hab' ich die Kinder beobachtet, und das Glück war mir günstig, so daß ich sogar ihre harmlose Sommerlust in den kühlen Fluten des Baches, der Eurem Haus gegenüber in den Fluß mündet, belauschen konnte. Hätt' ich nicht Rotraut schon an der Ähnlichkeit mit ihrer Mutter erkannt, der sie, wie Ihr selber damals sagtet, aus dem Gesicht geschnitten ist, allein das Mal an ihrer linken Hüfte, das ich aus meinem nahen Versteck bemerkte, 211 würde mich auf diesen Gedanken gebracht haben. Denn es ist ein sonderbares, unverkennbares Mal und gleicht so gar nicht den gewöhnlichen, entstellenden Muttermalen.«

»Gewiß, das seltsame Rosenmal,« unterbrach ihn der Fürst, »dem die Fieberträume meiner Gattin eine so große, unheimliche Bedeutung zumaßen. An diesem Zeichen hat sie das Kind erkannt, als sie es an jenem Abend vor uns aus der Wiege hob, und der Schreck darüber hat ihre Glieder gelähmt. Sie sah im Traum Roland mit dem Mädchen spielen. Er deutete auf das Mal an ihrer Seite und küßte es. Da fiel es wie ein Blutstropfen davon zu Boden, und eine wundersame Blume sproßte an dieser Stelle aus der Erde hervor, die schnell zwischen den beiden Kindern aufschoß und eine große feuerfarbene Blüte trieb. Die Kinder beugten sich über die Blüte, sahen verwundert in ihren Kelch und küßten sich über ihm. Da fing sie an zu flackern und zu lodern und wuchs immer höher empor, und die Kinder wuchsen mit ihr. Sie schienen nicht zu bemerken, daß die Blume brenne, umschlangen sich und küßten sich wieder. Da wurden sie von den Flammen ganz eingehüllt und verzehrt.«

Ragnar klammerte sich totenblaß an seinen Stab.

»Und was Ihr mir von jener Frau, von dem Hof, von dem Gesinde erzählt habt,« sprach jetzt Phyleus wieder, »alles stimmt haargenau. Es ist der Hof, den ich für Elftraut kaufte; ja sogar den betrügerischen Großknecht hab' ich ihr noch geworben. Er wurde mir damals von einigen alten Bauern in der Gegend als der tüchtigste, ehrlichste Mann gepriesen.« 212

»Und nun werdet Ihr mir verzeihen, guter Ragnar,« versetzte der Fürst, »wenn ich Euch gestehe, daß Rotraut Euch auf meinen Befehl geraubt wurde. Seid ruhig ihretwegen. Sie ward einem braven Mann in Italien, einem Verwandten meines Phyleus, übergeben, wo sie's gewiß gut hat. Vielleicht hat sie gar schon einen reichen Florentiner Kaufherrn geheiratet, denn ich hab' ihr ein hübsches Heiratsgut mitgegeben.«

»Und es darf, es darf doch nicht sein!« murmelte Ragnar vor sich hin. Er hob den Kopf, und den Fürsten scharf ansehend, fragte er: »Welcher Art waren die Schmuckstücke, die Ihr Elftraut mitgabt? – Ein Ring mit einem großen Smaragd?«

Der Fürst nickte.

»Ein fünfreihiges Perlenhalsband?«

Der Fürst nickte noch einmal.

Ragnar griff sich an die Stirne. »Noch einige andere Stücke,« sagte er sinnend. »Doch das Auffallendste, was mir die Bäuerin für ihr Töchterlein mitgab, und worauf sie besonderen Wert zu legen schien: eine Trinkschale aus rubinrotem, geschliffenem Glas, und wenn man sie in die Sonne hebt, funkelt sie wunderbar wie Blut und Feuer, und im Schliff zeigt sich ein Wappen, ein springender Leu . . . .?«

»Wenn alles täuschender Zufall wäre,« entgegnete der Fürst, »dieses Beweisstück allein würde genügen. Die Schale stammt von meiner Mutter, die aus italienischem Grafenhaus war. Sie ist kostbar venetianisch Glas, der springende Leu ist meiner Mutter Wappen. An dem Abend, als meine unselige Leidenschaft mit Elftrauts Unschuld rang, ergriff ich diese Schale, füllte sie mit 213 süßem Wein und reichte sie ihr mit den Worten: Trink meine Liebe! Und der Trank mag mit seinem Feuer wohl ihre letzte Scham verzehrt und den Brand ihrer Sinne voll entfacht haben. Als sie fortmußte, war der Becher das einzige, um das sie mich bat.«

»Was ist Euch?« rief plötzlich Phyleus und sprang zu Ragnar, der schwankte wie ein Trunkener und zusammengebrochen wäre, hätte ihn jener nicht gestützt.

»Nichts, nichts!« stöhnte Ragnar. »Ich bin das Wandern nicht mehr gewohnt. Ich werde alt, sehr alt und müde, müde.«

Phyleus führte ihn zu einer Steinbank, die in der Nähe stand, und rief einem Gärtnerjungen, er solle Wein und Speise bringen lassen.

»Ragnar!« sprach der Fürst, »wir sind beide alt und müde, und Phyleus ist's auch. Laßt Eure Ziegen und Schafe, zieht her in die Burg; wir wollen einander trösten und den beneiden, der früher stirbt.«

Ein Diener brachte Erquickungen für Ragnar. Der aber rührte nichts an. »Lebt wohl, edler Herr!« sprach er, sich mühsam erhebend, »ich muß zu meinen Schäfchen zurück, denen ich ein schlechter Hirt war. Ich hoffe, für meine Tage lohnt sich ein Umzug vom Wald in die Fürstenburg nicht mehr, und wir sehn uns bald anders wieder, dort, wo wir frei und jung einherwandeln werden, nachdem wir unser und anderer Schicksal hier auf Erden mit allem, was wir zu seiner Verhinderung tun wollten, gefördert und recht wie traumsichere Schlafwandler erfüllt haben. Ein Schritt, der uns und andere retten sollte, und er hat eben noch gefehlt, um uns und andere in den Abgrund zu stürzen; ein Wort, und sein Hauch 214 löst die lauernde Zentnerlast eigner und fremder Schuld und stürzt sie uns auf die Seele; ein Griff, und unsere Hände, die Mildes tun wollten, sind voll Blut. – Ich war – doch warum den abgetanen bunten Narrentand noch einmal hervorholen, mit dem uns das Leben einst geschmückt hatte? – Das Spiel ist aus. – Ich hab' auch einmal ein Schwert geschwungen und ließ es kräftig auf manch edlen Reckenschädel niederklirren. Bis es sich dem Liebsten, das ich auf Erden hatte, ins Herz bohren mußte. Da warf ich's schaudernd weg. Und verbrannte mein Leben hinter mir. Und begann ein neues – ich seh's – zu neuem Unheil. Aber damit soll's genug sein. Lebt wohl! Auf Wiedersehn dort, wo alle Schuld in Blut und Tränen abgewaschen sein wird.« Und niederkniend, küßte er des Fürsten Hand. Der umarmte ihn, und große Zähren rollten ihm über die hohlen Wangen und versickerten im greisen Bart. Dem Phyleus reichte Ragnar stumm die Hand, und dann wankte er zur Burg und durch Hof und Tor in den grellen, heißflimmernden Sonnentag hinaus.

Erst schritt er hastig fort, wie einer, der sich beeilt, um vor einem aufsteigenden Gewitter heimzukommen. Im Wald stand er still. Der Schweiß tropfte ihm unterm breiten Schlapphut über die Stirn herunter. Er zog den Hut ab, wischte sich die Schläfen, stand auf seinen Stab gestützt und starrte vor sich in den Boden. Dann fuhr er zusammen, als hätt' ihn plötzlich jemand angerufen, sah angstvoll um sich und lief eilig weiter. Und abermals blieb er stehen und lehnte sich, das Haupt in die Hand gestützt, an einen Stamm. Seine Lippen bewegten sich zuckend, seine Augen füllten sich mit Tränen. 215 Er brach in Schluchzen aus, rang mit verzweifeltem Blick lautjammernd die Hände zum Himmel, bedeckte mit ihnen sein Antlitz und sank in die Knie. Eine Weile verharrte er so, und stilles Weinen erschütterte seine gebeugte Greisengestalt. Seufzend stand er endlich auf und schleppte sich fort wie unter einer Last, die mit jedem Schritt schwerer wurde. So kam er, nachdem er etwa den halben Weg zurückgelegt, auf eine Waldblöße, wo ein grauer Felsen unter breiten Buchenwipfeln ragte. An dem ließ er sich nieder, neigte sein Haupt und versank in tiefes Sinnen. Mählich hob er das Gesicht und sah wie in erhabenes Schauen verloren in den dunkelblauen Himmel hinauf. Mit dem fahlen, zerfurchten Antlitz, dem greisen Bart und dem dürren Hünenwuchs im grobgrauen Gewand, das steife Falten stellte, schien er, an die Felswand zurückgelehnt, selber zu Fels erstarrt. Lange saß er so und rührte sich nicht. Mit einem tiefen Seufzer erwachte er dann aus seinem Traum, griff nach dem Stab, erhob sich, entschlossen die Lippen aufeinanderpressend, und wanderte in langen Schritten seinem Hügel zu.

Roland und Rotraut kamen ihm Arm in Arm entgegen. Als er sie erblickte, wie sie da blühend in schlanker, wunderbarer Schönheit, in süßester Jugend und innigstem Einandergehören, umlacht von tausend hellen Blumengesichtern, durch die hohe, farbige Wiese schritten, als wären sie selige Götterkinder, die aus rosigen Wolken niedergestiegen, unberührbar von Schmerz und Tod über die Erde wandelten, um sie einmal in ihrer üppigsten Sommerpracht zu schauen und das fröhliche Bild der Lust und Fülle durch die eigene Lieblichkeit zu vollenden, hielt er inne, und seine Augen füllten sich aufs Neue mit Tränen. 216

»Nun, Ragnar, was bringst du für Kunde?« rief ihm Roland in banger Ungeduld entgegen, als sie sich auf ein paar Schritte genaht waren.

Ragnar ging auf sie zu, und beide umarmend und küssend, sprach er bewegt: »Ihr müßt fort von hier, liebe, liebe Kinder. Fragt nicht, zürnt nicht, weinet nicht und glaubt es mir, der ich euch liebe, mehr, als je ein Vater seine Kinder geliebt hat, und nur euer Glück sehen möchte, ihr müßt fort, weit fort von hier!«

»So, will der Vater nichts mehr von mir wissen?« rief Roland erbleichend, »will mir nicht verzeihen, stößt mich von sich . . .?«

»Still, still!« sprach Ragnar und nahm seinen Lockenkopf in beide Hände. »Er hat dir längst verziehen, er verstößt dich nicht; du wirst ihn auch wiedersehen, vielleicht bald, bald schon, und er wird euch beide als seine geliebten Kinder selig in die Arme schließen. Nur jetzt, nur jetzt, nur hier darf's nicht sein!« fuhr er stockend fort, und seine Tränen quollen. »O, verlangt nicht zu wissen, aus welcher Ursach'! Ihr dürft es nicht wissen, wie ihr jetzt seid. Ihr würdet es nicht verstehen; es würde euch beiden das Herz zerreißen. Einmal, bald schon werdet ihr es inne sein, und dann wird es euch nur lächeln machen, was euch heute in die Verzweiflung triebe. Gebt euch zufrieden, habt euch lieb, das kann euch niemand, kein Fürst der Welt, kein Gott des Himmels nehmen, wenn ihr nur schweigt, nicht mehr fragt und forscht und mir Altem, Kundigem vertraut.«

Roland starrte zu Boden. Rotraut hing mit todesbangem Blick an ihm. 217

»Und auch ich, ich allein darf nicht zum Vater, nicht auf eine Stunde, nicht, um ihm zu Füßen zu fallen . . . .?«

Ragnar streckte abwehrend beide Hände aus und schüttelte erschreckt das Haupt.

»Nicht auf den Blick eines Menschenauges!« rief er. »Sei getrost, ich hab's von seinem eigenen Mund vernommen, daß er dir verziehn, daß nicht der leiseste Groll gegen dich in seinem schwergeprüften Herzen wohnt. Zürne auch du ihm nicht, damit würdest du schwere Schuld auf dich laden. Er ist der beste, der edelste und unglücklichste Vater, den dieser Stern des Unheils trägt.«

Rolands Kopf sank auf Rotrauts Schulter, und er weinte bitterlich. Ihren Mund auf seine Wangen pressend, streichelte das Mädchen mit zitternden Händen seine weichen Locken, und ihre Tränen flossen in seine.

»Wohlan!« sprach er endlich und hob, Rotraut an seine Brust drückend, das verweinte Antlitz. »So will ich mit dir bis ans Ende der Welt gehen, wenn es sein muß, will freudig in Not und Armut leben, wenn ich nur dich, nur dein süßes, goldenes Herz habe, und nicht einmal der Tod soll uns trennen!«

Und sie umschlangen einander, als wollten sie ganz in eins verschmelzen.

»Recht so!« rief Ragnar mit ernster Freude. »Gott lohne eure Liebe und Treue, Gott schirme eure Unschuld.«

Und wie segnend, legte er seine Hände auf ihre Häupter.

»Doch wir haben ja gute und mächtige Freunde, auf die wir bauen können, als wären sie unsere Brüder,« sagte Roland nun und schlang den Arm um Rotrauts Schulter. »Morgen in aller Frühe brechen wir auf, wandern zum Uhlenstein zurück, und dort wird es sich 218 zeigen, was weiter mit uns geschieht. Mir ist nicht bang um unsere Zukunft, solang Fürst Gunther und Königin Irene leben. Und du, lieber alter Ragnar, gehst mit und lebst bei uns als unser Vater!«

Ragnar schüttelte traurig das Haupt. »Ich kann nicht mit euch gehn. Nicht gleich, nicht gleich. Ich komme euch etwas später nach,« sagte er leise.

»Nun aber laßt uns noch fröhlich sein!« fuhr er lebhafter fort. »Wißt ihr denn gar nicht, daß heut' der Tag der Sonnenwende ist? – Kommt, wir wollen ein Festmahl bereiten, ich hab' noch Wein unten, den mir der Fürst geschenkt, und wenn es dämmert, werden wir ein lustig Feuerlein auf dem Hügel anzünden. – Wenn es dämmert . . . .« murmelte er, düster sinnend.

Er pfiff dem Hüterburschen und rief ihm, als er heraufgelaufen kam, zu, er solle Holz auf dem Hügel zusammentragen. Dann schickte er sich an, mit Roland und Rotraut hinunterzugehen, um alles, was zum Mahle nötig war, zu holen.

»Ragnar!« sagte Roland, während sie den Hang hinabschritten, »gerade über der Höhle ist eine Feuerlilie entsprossen. Ihre Blüte ist schon halb offen. Mag wohl ein Vöglein ein Samenkorn vom Roßstein heruntergetragen haben?«

Der Hirt blieb stehen und sah die beiden erschrocken an.

»Wird so sein,« sagte er dann ruhig. »Diese Blumen wachsen sonst nur höher in den Bergen.« Und er schritt in Gedanken fort.

In der Hütte nahmen sie Geschirr und Becher, Ragnar holte aus der Vorratskammer Speisen und aus einer Höhlung, die sich unter dem Estrich befand, einen Schlauch 219 hervor, der mit Wein gefüllt war. Über diesen Vorbereitungen hatten sie sich alle drei wieder ermuntert; sie scherzten, und Roland, mit allerlei Gerät und dem Weinschlauch beladen, ergriff im Hinausgehen auch noch die Harfe, die auf einem Nagel an der Tür hing.

Auf dem Hügel wieder angelangt, deckten sie eine breite Steinplatte als Tisch und wälzten ein paar andere Blöcke zum Sitzen heran. Der Bursch meldete, daß er das Holz auf dem Gipfel zusammengetragen habe.

»Jetzt nimmst du die zwei Böcklein, die Herbord gekauft hat,« befahl ihm Ragnar, »und treibst sie noch heute fort. Wenn du nicht unnütz verweilst, kannst du bald nach Sonnenuntergang bei Werner sein und dort nächtigen. Längstens zwei Stunden nach Mitternacht brich wieder auf, dann bist du ums erste Melken an Ort und Stelle. Die Tiere müssen morgen früh dort sein. Ich vergaß es dir zu sagen, eh' ich heut' fortging. Den Hund kannst du mitnehmen. Eh' du gehst, treib die Herde ein.«

Der Junge zögerte noch und schien erstaunt über diesen Auftrag. Herbord hatte gesagt, es wäre nicht so eilig mit den Böcken. Aber auf ein entschiedenes »Voran!« aus Ragnars Mund, schickte er sich an, den Befehl zu vollziehen. Er koppelte die beiden Tiere, trieb die Herde zu Stall, pfiff dem Hund und ging. Lange noch hörten sie das eifrige Gebell des Hundes und des Burschen fröhlichen Gesang übers Tal.

Die Sonne neigte sich den Wäldern zu. Warm und strahlend lag der goldene Abend über der prächtigen Junilandschaft. Die Grillen zirpten in den blumigen Wiesen, der Kuckuck rief, und die Drosseln sangen in den Wipfeln. 220

Behaglich plaudernd tafelten die drei an ihrem Felsentisch im duftigen Heidegras, und Ragnar füllte die Becher häufig mit des Fürsten köstlichem Wein. Auch Rotraut nippte fleißig davon und bekam schimmernde Augen und glühende Bäcklein und war so wundersüß in ihrer Munterkeit, daß sich Roland gar nicht von ihren roten Lippen trennen wollte.

Als sie gesättigt waren, lehnten sie sich ins Gras zurück, und Rotraut ließ ihre zarten weißen Finger spielend durch Rolands braune Seidenlocken gleiten. Ragnar nahm die Harfe und schlug ein paar Akkorde an.

»Ach!« sagte er nach einigem Sinnen, »mir will nichts Fröhliches einfallen. Sing du uns was vor, Roland.« Und damit reichte er ihm die Laute. Der nahm sie, und fröhlich griff er in die Saiten.

»Was Lustiges will ich euch singen,« sprach er mit funkelnden Augen. »Ein wildes Lied von der Liebe. Eckbrecht hat's mich gelehrt. Das fällt mir heut' ein, und es schickt sich so recht in meine Laune. Denn jetzt möcht' ich auch die ganze Welt und alles und mich selbst dazu hinwerfen, um der Liebe willen. Hört!« Und aufspringend, setzte er einen Fuß an den Stein, stützte die Harfe aufs Knie, ließ zum Vorspiel alle Saiten stürmisch klingen und begann:

»Ulrich der Springer, der sprach: »Und was gilt's?
Wer frägt, ist ein Tölpel, wer freit, ist ein Filz.
Geschmacht und Geseufze, Geflenn und Gequäl!
Dem Henker die Kehl' und dem Teufel die Seel'
Um Liebe, um Liebe, um Liebe!«

Was tat er? Er zog aus dem Stall sein rot Roß,
hinritt er vor Herzog Rüdigers Schloß. 221
Dem Burgvogt den Bart in die Gurgel er schlug,
Herzog Rüdigers Tochter von dannen er trug,
um Liebe, um Liebe, um Liebe.

Heim kam der Herzog von fröhlicher Jagd,
mit Zittern und Zagen ward's ihm gesagt:
»Ei, Springerlein, keckes, du springst mir nicht aus!
Du hüpfst mir noch wie in der Falle die Maus,
um Liebe, um Liebe, um Liebe.«

Nach lustiger Nacht der Springer im Hemd
Guckt aus dem Fenster. Was blend't ihn so fremd?
»Feinslieb, der Herr Vater ums Nestlein uns schlang
einen Trauring aus Spießen und Schilden so blank,
um Liebe, um Liebe, um Liebe.«

Der Herzog, der grüßte mit Pfeilen so scharf.
Der Springer hinab ihm ein Pechkränzlein warf.
Doch ward ihm gar teuer bald Schwelgen und Schmaus,
sie drehten die Katze am Spieß samt der Maus,
um Liebe, um Liebe, um Liebe.

Der Springer, der füllt mit dem allerletzten Wein
einen güldenen Becher fürs Herzliebchen sein.
Sie trank, und er wiegt sie in minniger Lust
und stach ihr das Schwert in die schneeweiße Brust,
um Liebe, um Liebe, um Liebe.

Was tat er? Er zog sein Roß aus dem Stall,
er ritt hinaus auf den äußersten Wall.
Da gähnt's zwanzig Klafter die Felsen hinab.
»Herr Herzog, der Springer springt in sein Grab,
um Liebe, um Liebe, um Liebe!«

Aufbäumt sich das Roß, rot fliegt seine Mähn',
so seltener Vogel ward nimmer gesehn!
Blank picken die Raben des Springers Gebein,
wunderweiß bleicht es der Mondenschein,
um Liebe, um Liebe, um Liebe.« 222

»Das ist ein trauriges Lied,« sagte Rotraut, als er geendet hatte, »wenn es auch auf eine lustige Weise geht.«

»Recht wie das Leben selbst,« versetzte Ragnar. »Lustig, lustig mit Klang und Kling, und ob das Herz dabei zerspring! Und immer um Liebe, Liebe, Liebe, bis alles in Scherben ist.« Und er leerte mit einem Zug seinen Becher.

»Ich weiß auch ein Liedchen,« begann Rotraut verlegen lächelnd und wurde purpurrot bis unter die Löckchen an den Schläfen. »Das hat eine lustige Weise und auch einen lustigen Sinn. Aber ich fürchte, es ist sehr, sehr abscheulich. Ein Mädchen an Königin Irenes Hof, ein recht wildes, leichtsinniges Ding, hat's oft gesungen. Und weil's gar so eine zierliche Melodie hatte, hab' ich's mir gemerkt, und manchmal, wenn ich im Innern recht fröhlich und zu Streichen aufgelegt war, hab' ich's heimlich vor mich hingeträllert. So sang ich's eines Tags, als ich stickend am Fenster vor der Königin Schlafgemach saß. Ich saß mit dem Rücken gegen die Tür und bemerkte nicht, daß die Königin ganz leise eingetreten war und hinter mir stand. Plötzlich, als mir der letzte Ton kaum von den Lippen war und ich eben meine Arbeit gegen 's Licht hob, umschlang mich die Königin mit beiden Armen, daß ich für Schreck beinah vom Sessel fiel. Sie drehte mir den Kopf herum und drohte mit dem Finger, aber ihre großen, glänzenden Schwarzaugen lachten. ›Wer hat dich dieses garstige Lied gelehrt?‹ fragte sie und bemühte sich, die weiße Stirn zu runzeln. ›Pfui! Das darfst du mir nie mehr singen, nicht vor andern und auch nicht allein! Hörst 223 du? Nicht einmal denken sollst du's!‹ Und mich mit den schönen weichen Lippen küssend, drückte sie mein Gesicht fest an ihre weiße Brust, die bebte vor heimlichem Lachen. – Nein!« setzte sie nach einigem Zaudern hinzu und barg ihr Antlitz an Rolands Arm. »Nein, ich kann's nicht singen. Vater Ragnar würde böse werden!«

Ragnar schüttelte lächelnd den Kopf.

»Sing! Sing!« rief Roland und küßte sie.

Da nahm sie die Harfe in den Schoß, rührte zierlich mit den schmalen Fingern an die Saiten, daß sie ganz süß und leise bebten, warf Roland einen verschämt-lustigen Blick zu, schlug die Augen nieder und sang wie ein Waldvöglein:

»Stand ein Prinzeßlein am Bachesrand,
hielt eine Angel in der Hand.
Die Fischlein in den Wellen hell,
die silberblanken fing sie schnell.
        Fürs Leben, fürs Leben,
        fürs Leben tät' sie das so gern.

Kam da im Rock voll Flick und Fleck
ein Bursch so arm, so jung, so keck.
»Ei, Jungfer, um was gebt Ihr mir
Eu'r Mündlein süß und Ehrenzier?
        Fürs Leben, fürs Leben,
        fürs Leben hätt' ich die so gern!«

»Ei, Bursch, in's Schwedenkönigs Kron'
steckt ein Smaragd, der wär' mein Lohn.
Groß wie mein Fäustlein rund ist der
und scheint wie 's Wasser unterm Wehr.
        Fürs Leben, fürs Leben,
        fürs Leben hätt' ich den so gern!« 224

Was zog er aus der Lumpentasch'?
Was hob er in die Sonne rasch?
Den Stein! Wie kühl der sprüht und strahlt!
Dem Fischlein so der Tag sich malt.
        Fürs Leben, fürs Leben,
        fürs Leben hätt' ich den so gern!

Prinzeßlein bebt, erblaßt und weint:
»Ach, Bursch, so hab' ich's nicht gemeint!«
»Ei, hüpf', ei schlüpf' ins Seidenbett,
ich zeig' dir, wie ich mein' die Wett'!
        Fürs Leben, fürs Leben,
        fürs Leben zeig' ich's dir so gern!«

Und als die Nacht vergangen war,
sie wühlt und rauft ihr nußbraun Haar,
sie tränkt's mit Tränen viel und klagt:
»O weh, der Wett', die ich gewagt!
        Fürs Leben, fürs Leben,
        fürs Leben wagt' ich die nicht mehr!«

Er streicht und küßt ihr Stirnlein heiß.
»Sei still, sei still, mein Dirnlein weiß!
Der Stein ist aus mein's Vaters Kron',
Ich bin des Schwedenkönigs Sohn.
        Fürs Leben, fürs Leben,
        fürs Leben bin ich das so gern.«

Da lacht sie hell, und flink und schlank,
umschlingen ihn die Ärmlein blank.
»O süßer Bettelknab' so reich,
wett' noch einmal mit mir, und gleich!
        Fürs Leben, fürs Leben,
        fürs Leben tu' ich das so gern!«

Und die Laute auslassend, warf sie sich an Rolands Brust und versteckte ihr glühendes Gesichtchen. Der lachte in schallender Fröhlichkeit und küßte sie stürmisch 225 auf Locken, Augen und Mund und herzte sie voll Lust in den Armen. Auch über Ragnars tiefernste Züge flog eine sieghafte Heiterkeit.

Die Sonne war untergegangen und warf hinter dem tiefblauen Waldrücken ungeheuere, rosenrote Feuergarben hoch in den klaren Himmel hinauf, daß der Widerschein traumhaft über der ganzen einsamen Gegend lag. Wie ein Nordlicht war die Glut anzusehen. Wohl ein Dutzend glühende Lichtbunde sprühten hinter der Höhe hervor und verbreiteten sich fächerartig über das hohe Luftgewölb, das dunkelviolett zwischen den einzelnen Strahlenbahnen hindurchschien.

»Wie wundervoll!« rief Roland, entzückt hinausstarrend.

»Herrlich!« sprach Rotraut verträumt.

»Doch ein wenig unheimlich fast, als würde da hinten die Welt zu brennen anfangen.«

Ragnar nickte, und düstere Schatten senkten sich auf seine Stirn.

Allmählich verblaßten die Strahlen, der Glutenherd hinter den Bergen verglomm und ging in eine durchsichtige, amethystfarbene Verklärung über, als öffne sich da der Himmelsschoß, daß man tief in den Glanz um Gottes Thron hineinsähe. Und wo das Leuchten ins Dunklere spielte, war nun der Himmel grün wie das Meer.

»Ein Feuer!« rief Rotraut und deutete mit dem Finger auf eine Höhe im Süden.

»Wirklich! Das erste Sonnenwendfeuer!« versetzte Roland. »Wie ein großer Stern steigt es empor.«

»Und es ist auch einer,« fiel Ragnar ein. 226

»Seht, jetzt schwebt es schon über dem blauen Schattenriß des Gipfels langsam in die Luft. Nur die Dunstschicht machte es scheinbar flackern. Es ist der Abendstern, der Liebesstern. Aber so groß und leuchtend hab' ich ihn selten gesehen.«

Klar und still, wie ein blankes Golddreieck, das an den Winkeln funkelnde Blitzbündel aussprühte, hob sich der schöne, helle Stern in die kühlleuchtende Dämmerung.

»Aber da ist nun wirklich ein Feuer,« sagte Ragnar, in eine andere Richtung zeigend. »Die kenn ich. Die können's immer nicht erwarten. Kaum ist die Sonne unten, so geht ihr Feuer auf, und wenn alle andern erst recht im vollen Dunkel flammen, ist das ihre schon niedergebrannt.«

Es wurde finsterer. Immer mehr Sterne traten am sanftdunkeln Himmelsbogen hervor, und nach und nach hatten alle Höhen ihre Sonnwendbrände ausgesteckt.

Ragnar träumte düster hinaus. Der Schein des versunkenen Tages, der noch einmal aufglomm und das leichte Gewölk im Westen mit tiefglühendem Rotbraun färbte, umspielte sein edles, wunderbar schönes Greisenhaupt mit seltsam geisterhaftem Licht. Sein Aug' war sehergleich geweitet. Wie im Traum langte er nach der Harfe, rührte sacht die Saiten und summte ein Lied, das allmählich in verständliche Worte überging. Es war eine Weise, die in wenigen Tönen auf und nieder steigend erhaben klagend klang, als käme sie aus ungeheueren, finsteren Urweltschlünden herauf. 227

»Kennt ihr den Baum,
die uralte Esche?
Durch drei Welten
ragt gewaltig
ihr Riesenwuchs.
Ihr Wipfel wölbt
den hohen Himmel,
ihr Laub sind die Wolken,
in ihren Blättern
blühen die Sterne
und runden sich reifend
und fallen zuweilen
in Funken zerstäubend.

Drei Wurzeln taucht sie
tief in Urgründe.
Die eine gen Mittnacht
in schweigende Schatten.
Da ruht auf dem Eispfühl
der Riese über
das Horn des Schreckens
gebogen und schlummert.

Die andre gen Morgen,
vom Wurme umwunden,
der sie benagt
mit neidigem Gierzahn.
Ihm zu Häupten
hockt im Gehölze
der schwarze Hahn
mit den flammroten Flügeln.

Die dritte gen Mittag.
Da sitzen am Urdborn
die schweigenden Schwestern
und spinnen Geschicke.
Die eine rückwärts
das Antlitz gerichtet, 228
zieht aus dem Dunkel
die düstern und lichten
Fäden hervor.
Die zweite wirrt sie
mit webenden Fingern,
knüpft die hemmenden
Knoten hinein
und dreht das Garn
der dritten hinüber.
Die läßt es sinnend
durch harrende Hände
rollen und rinnen,
und manchmal seufzt sie
tief wie im Traume
und bricht den fließenden
Faden entzwei.

Wir aber wandeln
unter dem Wipfel
gekorene Kreise
und spähn in den Wolken
nach Sternen, die fliehend
aufleuchten und wieder
im Grau ertrinken,
und heben die Hände
zu stummen Gestalten
aus Dünsten und Schimmern,
die lockend leuchten,
die lauernd lasten,
die steigen, sinken
und wieder zerrinnen.

Wir wandeln wie Träumer,
wir bleichen wie Blumen,
wir fallen wie Halme,
und über uns heben
sich andre und wandeln
gekorene Kreise. 229

Oben aber
über der breiten
Krone des Baumes
wohnen die Götter
in goldenen Sälen
und lassen lachend
goldene Kugeln
über perlflimmernde
Fliesen rollen
und schleudern Speere
nach spiegelnden Zielen
und heben kristallene
Krüge voll Süßtrank
an selige Lippen.

Doch manchmal atmet
über den Wonnerund
wehendes Schweigen hin.
Die Krüge sinken,
die Kugeln verrollen,
die Speere stecken
zitternd im Ziel.

Unten flüstert's
leise im Eschenlaub.
Der Riese regt sich
raunend im Traume,
der Drache zerrt
mit dem Zahn an der Wurzel,
der Hahn hebt das Haupt
unterm flammigen Flügel,
schüttelt sich trunken
und schläft wieder ein.

Die Schwestern weben
die Fäden weiter,
aufhorchen die Menschen,
die Götter schaudert's.« 230

Er verstummte. Sie schwiegen alle drei und sahen hinaus. Die Bergfeuer flammten und glühten weit und breit in der Runde. Die Sterne glitzerten. Über der Höhe im Westen lag noch der blasse Tagesschein.

»Horch!« rief Roland, »ein Glöcklein! Das Kapellenglöcklein des Schlosses!« Und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Wirklich!« versetzte Ragnar. »Die Luft weht's herüber. Das bedeutet Regen. Es läutet den Abendsegen. – So spät?« fügte er mit leichtem Verwundern hinzu.

Roland strömten die Tränen über die Wangen. Er warf sich ins Gras, und wildes Schluchzen erschütterte seine Gestalt. Rotraut nahm seine Hand und hielt sie an ihr Herz. Ihre Lippen zitterten.

»Sei getrost!« flüsterte Ragnar, ihm die Locken streichelnd. »Du wirst ihn wiedersehn. Er hat dir verziehen!«

»Bald?« fragte Roland, sich verweint aufrichtend. »Und mit Rotraut?«

»Er wird euch beide voll Vaterliebe aufnehmen. Nur ein Weilchen wartet noch,« sagte Ragnar.

»Wie lang', wie lang' noch, Ragnar?« seufzte Roland.

»Ein Weilchen, ein Weilchen! Vertraut mir! Ich führ' euch dann ihm zu,« begütigte der Hirt.

»Seid fröhlich, liebe Kinder!« sprach er nach einer Weile. »Kommt, wir wollen das Feuer anzünden!«

Sie erhoben sich und schritten zur Kuppe des Hügels hinauf. Der Mond, der seine goldene Fülle erreicht hatte, war aufgegangen. Heute enthielt sich Ragnar aller Feierlichkeit. Er schlug Feuer, steckte ein Tannenreis an, schwang es ein paarmal hin und her, daß es knisternd aufloderte, und stach es in den Holzstoß. Mit 231 gierem Prasseln stürzte sich die Flamme auf ihre Nahrung, griff wie mit langen, zuckenden Fingern hin und her durchs aufgeschichtete Astwerk, sprang an den dürren Zweigen knatternd empor und leckte mit breiten Flatterzungen in die Nacht hinauf. Bald brannte der Stoß in schlagender, wirbelnder Lohe.

Wie das Feuer stieg, kam eine wilde Lustigkeit über Roland. Er riß einen Brand heraus und schwang ihn jauchzend um sich, daß er wie in einem Feuerkreis stand.

»Gib acht, daß du nicht anbrennst!« rief ihm Rotraut bange zu.

Er warf den Besen wieder in die Glut, sprang auf Rotraut hin, hob sie hoch in den starken Armen empor und lief mit ihr ums ganze Feuer. Sie lachte, klatschte in die Hände und küßte ihn.

Dann holte er den Weinschlauch und die drei Becher und schenkte ein. Sie tranken gegenseitig auf ihr Glück und gedachten auch der fernen Freunde. Noch mancherlei Scherz trieben die Jungen. Ragnar stand, den geleerten Becher in der Hand, traumverloren da und starrte in die Glut, die langsam niedersank. Plötzlich riß er sich aus seinem Sinnen mit einem tiefen Seufzer gewaltsam empor, streckte die Arme gen Himmel und verharrte eine Weile so, als wäre er in Gebet verzückt. Dann ließ er die Arme sinken und wandte sich nach den beiden um. Der Feuerschein zuckte in seinem todblassen, tiefernsten Antlitz.

»Es ist spät,« sprach er mit dumpfer Stimme. »Seid nur fröhlich und habt euch lieb, Kinder. Ich geh' nun hinunter und hol' euch den Rubinbecher für den Liebestrunk. Dann wollen wir schlafen gehen. Schlafen! – 232 Ihr in eurer süßen jungen Liebe, und ich in meinem bittern alten Gram. Und wir allesamt in Gottes Frieden.«

Damit schritt er wankend zu Tal. Rotraut sah ihm erschrocken nach.

»Munter! Munter!« rief Roland und faßte sie bei den Händen. »Laß den Alten seine Trübsalflöte blasen. Wir sind jung, wir sind stark, wir haben das blühende, flammende Leben vor uns! – O du!« fuhr er flüsternd fort und packte sie leidenschaftlich bei den zarten Schultern, »ich nehme dich und spring mit dir hinein! Verbrennen möcht' ich mit dir, engumschlungen, ganz eins ins andere verstrickt und verwühlt möcht' ich mit dir auflodern in den Purpurbränden unserer süßen, göttlichen Glut!« Und lange hielten sie sich bebend umfangen.

»Komm!« sprach er, sie loslassend. »Hier liegt noch Holz. Wir wollen das Feuer noch einmal aufsteigen lassen. Die andern sind schon fast alle niedergegangen.«

Er nahm ein abseits liegendes Bund Reisig und ein paar Prügel und warf sie in die Feuerstätte. Aufgestört fuhr die Flamme, die sich schon müde zum Sterben niederlegen wollte, wütend empor und langte mit den goldroten Armen flackernd in die Nacht hinaus.

Roland faßte einen brennenden Ast und jagte Rotraut, die schrie und lachte, auf der Wiese umher. Den Zweig weit von sich schleudernd, fing er sie und riß sie an sich, und seine erregten Hände bebten über ihre schlanke Gestalt hin, die vor seiner Wildheit erschauderte. Seine brennenden Küsse überlohten ihr Gesicht, Nacken, Brust und Arme. Zitternd hing sie an seinem Hals, schmiegte sich an ihn und erwiderte verwirrt seine Glut. 233

Eine Sternschnuppe fuhr am Himmelsgewölb nieder und verschwand im Leuchtkreis des vollen Mondes.

»Du!« rief Roland, auf sie hinzeigend, »was wünschest du dir?«

»Nichts, nichts!« flüsterte sie und legte ihre Wange an seine. »Ich hab' alles, alles, was ein glückliches Weib nur haben kann!«

Sie ruhten aneinander und schwiegen selig.

»Horch!« sprach er, »Ragnar kommt wieder!«

Unten ging die Hüttentür. Ragnar erschien und schritt langsam den Hügel herauf. Vorsichtig trug er etwas in den zur Brust erhobenen Händen, das im wehenden Feuerschein manchmal rot aufleuchtete. Träumerisch summte er wieder die düstere Urweise des Nornenliedes vor sich hin. Bald stand er vor ihnen.

»Hier, Kinder!« begann er und hob eine schön geschliffene Trinkschale, die funkelte wie Rubin, ins Flammenlicht. »Hier ist der Kelch der Liebe, den ihr trinken sollt.«

»O, meiner Mutter Trinkschale!« rief Rotraut, »ich hab' sie dir beschrieben, Roland!«

»Laß sehn!« sprach dieser und wollte die Schale fassen. Aber Ragnar wehrte ab und gab sie nicht aus den Händen. Wie er sie schwenkte, schien es, als bewege sich auf ihrem Grund schon eine Flüssigkeit.

»Wo hast du den Wein?« fragte Ragnar. Roland brachte den Schlauch. Er enthielt noch einige Becher. Ragnar füllte davon in die Schale.

»Setzt euch, liebe, liebe, glückliche Kinder!« sprach er feierlich. »So, recht nah' aneinander. Umfaßt euch. Seid fröhlich!« 234

»Wir sind's!« entgegnete Roland. »Du nur bist so trübe und unheimlich heute!«

»Nein, nein!« versetzte Ragnar mit leiszitternder Stimme. »Seht, ich bin auch froh. Schaut nur, wie wundervoll der Brand in diesem Kelch wiedersprüht, als hätte sich alle Glut süß, zauberhaft, urmächtig in ihm gesammelt, wie in einen Kern des Feuers und der Kraft. – Kinder, habt ihr einander lieb?«

»O!« rief Rotraut, indem sie Roland umschlang, »wie kannst du nur fragen, Vater Ragnar! Ich weiß nicht, wie ich dir darauf antworten soll. Alle Worte zerrinnen da zu Nichts. Die ganze große Welt ist mir mein Roland! Himmel und Erde, Vater, Mutter, Heimat, alles, alles! Es gibt niemand, niemand sonst, der mir das sein könnte. Verlöre ich ihn, ich wäre wie eine geleerte Schale, die eine erbarmende Hand wegwerfen müßte, daß sie zerbricht. O nein, nie, nie ihn verlieren!« ^

Roland preßte sie an seine hochatmende Brust.

»Mehr könnt' auch ich nicht sagen, Ragnar!« sprach er tief bewegt. »Wollt' ich's nur andeuten, was sich in mir regt, wenn ich diese alleinzig Geliebte in die Arme nehme, was mein Herz füllt und es selig überschwellen macht, so wär's, daß ich dann das Gefühl habe, ich möcht' in ihr münden wie in ein unendliches Meer der Lust, möcht' all mein Wesen in sie glühend ausströmen, in ihr aufgehen, mich ganz in ihr lösen und verlieren. Und ich glaub', wenn's das gäbe, das wär' der süße Tod!«

»So ist's!« entgegnete Ragnar ergriffen. Tränen glänzten in seinen Augen. Seine Hände, die den Kelch umspannten, zitterten. 235

»Trinkt, geliebte, süße, schöne Kinder!« sprach er feierlich. »Laßt alles leben, was schön ist: die Sonne, den Frühling, die Jugend, die Liebe und euch selbst, das Schönste, Beste, Liebste von allem, die süßesten Blüten, die je diese Leid und Sünde zeugende Erde hervorgebracht. Zu schön, zu rein, zu gut seid ihr! Nie darf euch der graue Nebelqualm des gemeinen Alltags, der Rauhfrost des Schmerzes und des Scheidens berühren. Vereint müßt ihr bleiben, ganz eins in seliger Harmlosigkeit und ewiger Jugend!«

Er reichte Rotraut mit bebender Hand den Kelch. Sie trank.

»O wie süß und schwer schmeckt der Wein aus dieser Schale!« sprach sie. »Gleich Feuer rinnt er durchs ganze Blut und verwirrt so selig die Sinne.«

Sie gab ihn Roland.

»Ewig lebe unsere Liebe!« rief der und leerte den Rest auf einen Zug.

»Sieh!« sprach er, »wie schön dort weit, weit drüben noch der Sonnwendtag herüberdämmert. Es ist, als könnt' er nicht sterben. Und die lichten Wolken träumen ihm immer noch selig nach. Und der Mond herrscht so hoch und hat fast alle Sterne aufgezehrt. Die Feuer sind verloschen. Welch tiefer, tiefer Friede umher! Jetzt, wenn man recht lauscht, geht's wie ein süßes, leises Lied durch die Runde, wie ein ururaltes, wundersames Lied, das ich so oft in meiner Kindheit hörte, wenn ich abends mit den glücklichen Wunderaugen groß und still in die ruhende Welt hinaussah. Rotraut? Kennst du's nicht auch? . . . .«

Da sank ihr Köpfchen wie eine gebrochene Lilie auf 236 seine Schulter. Erschreckt sah er sie an. Und plötzlich kam es in seine Augen wie ein großes, großes Bangen. Der Kelch entfiel seiner Hand und zersprang mit schrillem Klirren an einem Stein. Mit beiden Armen umschlang er das Mädchen und preßte seine Lippen auf die ihren. Sie sanken zurück und waren still.

Ragnar fuhr auf, starrte sie einen Augenblick entgeistert an, wandte sich, lief ein paar Schritt zurück, schlug die Hände vors Gesicht und brach zusammen.

Das Feuer auf dem Gipfel zuckte noch einmal auf, und die letzte Flamme erstarb unter einem niederknisternden, glosenden Scheit. Alles war still. Nur der Fluß rauschte dunkel im Tal. Ein prachtvolles Meteor schoß in leuchtendem Bogen über den Abendhimmel und zersprühte am Horizont in farbigen, funkelnden Tropfen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Da war's, als halle ferner, eiliger Hufschlag vom Walde her. Dumpf klang es auf und verlor sich wieder. Und scholl deutlicher und näher. Und endlich kamen zwei Reiter zwischen den Bäumen auf die mondhelle Wiese heraus.

»Ragnar! Ragnar!« rief eine bange Stimme.

Es war Phyleus mit einem Diener. Er hatte von einer Waldblöße aus des Hirten Gestalt vor dem verlöschenden Feuer schattenhaft vorübereilen gesehen.

»Ragnar!« rief er noch einmal. Nichts rührte sich.

»Dort liegt was, Herr!« sprach sein Begleiter.

Phyleus hob sich mühsam aus dem Sattel und ging auf Ragnar zu, der, die Hände ums Haupt gekrampft, 237 am Boden lag und sein Gesicht tief ins Gras gewühlt hatte.

»Ragnar!« rief er und rüttelte ihn an der Schulter.

Verstört schreckte der Alte empor.

»Laß die Toten ruhn!« sprach er mit hohler Stimme.

»Amen!« antwortete Phyleus bebend. »Ragnar, der Fürst ist tot. Am Abend starb er. Du warst kaum fort, da verfiel er in neue Krämpfe, verlor die Besinnung und erwachte nicht mehr.«

»Der Glückliche!« entgegnete Ragnar dumpf und richtete sich ganz auf. »So sind sie schon vereint!«

Nun bemerkte er hinten die Pferde und den Mann.

»Wer ist das?« fragte er hastig.

»Ein Diener,« versetzte Phyleus. »Ich wollt' ihn erst allein mit der traurigen Botschaft zu dir senden, aber weder er noch sonst jemand wußte recht den Weg. Da ritt ich selbst und hab' ihn mitgenommen, denn ich bin alt und schon unsicher im Sattel.«

»Schick ihn fort!« befahl Ragnar rasch. »Wir müssen allein sein!«

Phyleus ging zum Diener und gebot ihm, die Pferde an den Waldsaum zu führen.

Nun faßte Ragnar den Zurückkehrenden bei der Hand und zog ihn nach vorwärts. »Da!« sprach er, nach Atem ringend, und zeigte auf die engverschlungenen Leichen, »da liegen sie, seine Kinder! – Phyleus – Ich hab' ihnen den Herrgottswein zu trinken gegeben! – Sie sind bei ihm!«

Und stöhnend schlug er die Hände vors Antlitz.

Phyleus stand wie gelähmt. Endlich faßte er sich und trat einen Schritt näher. Ragnar holte stumm ein 238 glimmendes Scheit vom Feuer, schwang es zu Flammen auf und leuchtete den Toten ins Gesicht. Sie lagen friedlich, wie in tiefem, tiefem Schlaf.

»Sie sind's!« rief Phyleus entsetzt. »Sie ist's! Wie gleicht sie ihrer Mutter! Wie schön und groß sind sie geworden! O mein Herr, mein lieber junger Herr!«

Und aufschluchzend warf er sich über die Entseelten.

Ragnar schleuderte das glimmende Scheit zurück und starrte vor sich hin.

»O Ragnar! Was hast du getan!« stöhnte Phyleus, sich aufrichtend.

»Was geschehen mußte, von Ewigkeit her!« erwiderte Ragnar düster. »Mein Rat war der eines Feindes, meine Hand war die eines Freundes, meine Tat ist Gottes, und die Schuld ist unser aller . . . .«

Sie schwiegen.

»Und was nun? Was nun?« rief Phyleus und rang verzweifelt die Hände.

»Ich wollt' sie begraben,« sprach Ragnar langsam, »dort in der Höhle, wo sie glücklich waren. Und dann . . . .«

»Nein, nein!« sagte Phyleus hastig und stand auf. »Sie müssen heim! Sie müssen zum Vater! – O du unglückselige Fürstengruft!« klagte er aufjammernd. »Mit einem Öffnen verschlingst du das ganze Geschlecht!«

Rasch ging er zum Waldsaum und rief dem Knecht.

»Reit heim, was der Klepper jagen kann!« befahl er ihm, »sag' dem Burgvogt, er solle eilends mit ein paar Leuten herauskommen. Zu Pferd alles. Und zwei ledige Pferde mit und eine Tragbahre, die man ihnen über die Rücken schnallen kann. Schöne Pferde, schwarze Pferde! Sag', unsere jungen Herrschaften sind 239 wiedergekommen. Und sie sind tot – tot!« schrie er und brach aufs neue in Tränen aus.

Aschfahl stand der Diener und regte kein Glied.

»Fort!« herrschte ihn Phyleus an, »tu', wie ich dir sagte. In drei Stunden könnt ihr hier sein.«

Der Bursche sprang in den Sattel und jagte davon. Lange noch hörte man ihn durch den Wald galoppieren. Phyleus band sein Pferd an einen Stamm und ging zu Ragnar zurück. Sie ließen sich bei den Toten nieder.

»Sprich!« sagte Phyleus, »wie ist's gekommen?«

Und Ragnar berichtete mit stockender Stimme, was sich seit gestern mittag ereignet hatte. Nichts verschwieg er. Auch nicht, wie er Roland überredet.

Stumm hörte ihn Phyleus an. Der Mond schien hell auf die Ruhenden. Leise spielte der Nachtwind mit ihren Locken.

»Ragnar!« flüsterte Phyleus erregt. »Haben sie sich jetzt nicht gerührt? Vielleicht . . . .«

Ragnar schüttelte traurig den Kopf.

»Sie schlafen fest und sicher!« sprach er. »Verlaß dich darauf! Es ist das furchtbarste Gift, das die Natur aus ihrem dunklen Schoß hervorbringt. Das Tausendstel eines Tropfens davon gebrauchte ich wohl bei Todkranken. Der Pest hab' ich viele entrissen damit. Auch ihrer Mutter gab ich's. Da half's nichts mehr.«

Sie schwiegen wieder eine Weile. Dann erzählte Ragnar, wie die beiden gelebt hatten, seit man sie voneinander gebracht.

»O!« seufzte Phyleus, als er geendet hatte, und rang die Hände. »Hätte der Fürst damals seinen Eid gebrochen! Hätt' er sie zu sich genommen als seine Tochter! 240 Ich riet's ihm, und er schwankte. Und dann konnt' er doch den finsteren Fluch nicht von sich wälzen!«

»Mach' ihm keinen Vorwurf daraus,« entgegnete Ragnar mild. »Wir alle können nicht gegen das, was bestimmt ist. Wir alle haben zusammengeholfen wie im Traum. Nun ist's vollbracht. Ruht, ihr Götter! Und richtet uns – die Verbrecher aus Traum und Liebe . . . .«

Lange saßen sie stumm nebeneinander und starrten hinaus in die Mondnacht. Nichts regte sich umher. Nur Wellengeflüster unten und manchmal eine Eulenklage im Forst. Und wenn man aufhorchte, wurde man des Grillenzirpens gewahr. Und weit um die Runde ging ein leises, sausendes Kreisen. Als wär's das ferne Traumfluten der Ewigkeit an den bröckelnden Gestaden des Vergänglichen. Oder war's nur das eigene Blut, das so im Ohr sauste?

Der weiche Lufthauch koste mit den Locken der Toten und rührte an die Heidegräser um ihre stillen Häupter – sachte, kaum merklich. Es war, als müßten, müßten sie einmal aufseufzen, tief, im Schlaf. Als wäre alles wieder gut und nur ein dumpfer Alp gewesen.

Die Alten saßen und schwiegen.

Fern hallte Hufgetrappel auf. Ragnar erhob sich. Er ging eine Strecke abseits und kehrte mit etwas in der Hand zurück.

»Da, Phyleus!« sprach er, »gib ihnen das mit ins Grab!« Und er legte die Feuerlilie, die über der Höhle entsprossen war, zwischen die Leichname.

»Und das auch!« setzte er hinzu, die Scherben des Bechers auflesend. »Und nun schlaft wohl, meine lieben, süßen, süßen Kinder!« begann er wieder und 241 kniete neben die Toten hin. »Ihr wißt's schon, warum ich euch den Kelch gab, den süßen Kelch, der euch den bitteren erspart hat. Lebt wohl! Wir sehen uns wieder – über ein Stündlein schon!« Und in krampfhaftes Schluchzen ausbrechend, beugte er sich über sie und küßte sie.

Die Hufschläge kamen näher. Im Osten begann es fahl zu dämmern. Der Mond barg sich in leichtem Gewölk. Langsam strich es übers Land hin, wie eine große Schattenhand.

Ragnar stand auf, verabschiedete sich mit einem dumpfen »Lebe wohl!« von Phyleus, sah noch einmal nach den Abgeschiedenen zurück, seufzte tief und wankte hinab.

Unten ging er erst zum Stall. Er zündete Licht an, öffnete die Tore und lockte die Herde heraus, als ging's zur Weide. Blökend strömte sie hervor und zerstreute sich übers Tal. Er leuchtete noch einmal, ob kein Stück zurückgeblieben. Dann schloß er die Tore.

Oben hörte er Hufschläge und verworrenes Reden. Dann wurde es wieder still. Nur die Rosse schnaubten und stampften manchmal dumpf auf. Jemand erteilte gedämpfte Befehle. »Nicht so, nicht so!« rief eine Stimme, die Phyleus' schien. Noch einmal wurde erregt durcheinander gesprochen. Dann bewegte sich der Zug dem Walde zu. Verhüllte Huftritte auf dem weichen Gras. Noch ein Ruf. Ästeknacken vom Walde her. Und nun alles still.

Ragnar stand vor der Hüttentür. Da kam Phyleus den Hügel herab und trat zu ihm.

»Was willst du hier?« fragte Ragnar finster. »Geh heim! Begrab deine Herren!« 242

»Komm mit!« versetzte jener müd.

»Ich komm anders mit!« erwiderte Ragnar. »Ich seh' sie früher als du!«

Phyleus trat in die Hütte und ließ sich erschöpft auf einer Truhe nieder. Ragnar folgte ihm.

»Ein wenig laß mich bei dir sein!« bat Phyleus. »Zwar hast du sie umgebracht. Und doch ist mir wohl bei dir. Du hattest sie lieb wie ich und niemand sonst außer uns und dem seligen Herrn.«

»Geh, Alter, geh!« mahnte Ragnar nach einer Weile. »Es wird hell. Ich hab' noch zu tun. Es wird bald unbehaglich hier werden.«

Phyleus starrte vor sich hin.

Der Hirt ging hinaus. Als er wiederkam, fand er den andern eingeschlafen. Er rüttelte ihn auf.

»Geh!« befahl er. »Ich rate dir gut.«

Schlaftrunken sah Phyleus um sich. Ragnar setzte sich hinter den rohen Eichentisch an die Wand.

Draußen knisterte was. Durchs Fenster kam ein heller Schein.

Phyleus fuhr auf. »Was ist das?« rief er mit erschrockenem Blick. »Es brennt! Ragnar, hinaus! Es brennt!«

Doch der saß starr auf seinem Platz und regte sich nicht. Phyleus wollte ihn hervorzerren. Aber er saß wie angeschmiedet.

»Flieh!« gebot er barsch. »Geh hinaus, eh' dir das abgleitende Dachstroh den Weg verlegt.«

Phyleus machte noch einen fruchtlosen Versuch, den Alten hervorzuholen, dann stürzte er hinaus und schrie wie unsinnig um Hilfe. Nur das Echo aus dem Wald 243 und das angstvolle Geblök der Schafe antwortete ihm. Hoch brannten Stall und Hütte. Eine ungeheuere Rauchsäule stieß aufrecht in den Himmel und breitete ihre Krone wie ein riesiger schwarzer Föhrenwipfel übers Tal. Die Wälder ringsum und der Fluß leuchteten in gräßlicher Glut auf. Das Stroh des Daches rutschte ab und umgab die Hütte mit einer lohenden Mauer. Brüllendes Knattern, Prasseln und Krachen erfüllte die Luft. Entsetzt stierte Phyleus vom Fluß aus in die Verheerung. Das Fachwerk der Wände sank. Man sah in die Hütte hinein. Es war ihm, als stünde Ragnar, hochaufgerichtet, mitten im Flammenherd, der ganze Leib Glut, mit loderndem Bart und Haar, einen flatternden Feuermantel umgeschlagen. Hünenhaft schien er emporzuwachsen. Da bogen sich die glühenden Balken hochauf, barsten wie Späne, und krachend sank das glosende Hausgeripp in sich zusammen. Eine prachtvolle Funkengarbe stob knisternd in den Himmel auf, wo eben die letzten Sterne zwischen Wolkenstreifen verlöschten. Überm Wald stand blutrot der Morgen. Ein Windstoß fuhr wie ein tiefer Seufzer talwärts. Die Wipfel schauderten. Die sinkende Glut und der schwelende Rauch trieben gegen Morgen hinaus. Irr klagte die zerstreute Herde umher. Tausend Vogelstimmen jubilierten in den Wäldern.

 


 


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