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Dritter Abschnitt

Eine Woche verging in Herrlichkeit und Freuden.

Ich war auch dieses Mal über das Schlimmste hinweggekommen, hatte jeden Tag zu essen gehabt, mein Mut stieg, und ich schob ein Eisen nach dem anderen ins Feuer. Ich hatte drei oder vier Abhandlungen in der Arbeit, die mein armseliges Gehirn um jeden Funken beraubten, um jeden Gedanken, der darin entstand, und ich fand, daß es besser ging als je vorher. Der letzte Artikel, für den ich so viel Lauferei gehabt und auf den ich so viel Hoffnung gesetzt hatte, war mir bereits vom Redakteur zurückgesandt worden, und ich hatte ihn sofort vernichtet – zornig, beleidigt, ohne ihn nochmals durchzulesen. In Zukunft wollte ich es bei einer anderen Zeitung versuchen, um mir mehrere Auswege zu eröffnen. Im schlimmsten Fall, wenn auch dies nichts half, hatte ich noch die Schiffe als Zuflucht. Die »Nonne« lag segelklar unten am Kai, gegen Arbeit nahm sie mich vielleicht mit nach Archangel, oder wo es eben hingehen sollte. Es fehlte mir also nicht an Aussichten nach verschiedenen Seiten hin.

Die letzte Krise hatte mir böse mitgespielt. Ich verlor das Haar in großen Mengen, das Kopfweh war auch sehr lästig, besonders am Morgen, und die Nervosität wollte sich nicht geben. Tagsüber saß ich da und schrieb und hatte die Hände in Tücher eingebunden, nur weil ich meinen eigenen Atem auf ihnen nicht ertragen konnte. Wenn Jens Olai die Stalltüre unter mir hart zuschlug, oder ein Hund in den Hinterhof kam und zu bellen anfing, drangen mir kalte Stiche durch Mark und Bein und trafen mich überall. Ich war ziemlich heruntergekommen.

Tag für Tag mühte ich mich mit meiner Arbeit, gönnte mir kaum die Muße, mein Essen zu schlucken, und setzte mich schon wieder zum Schreiben hin. In dieser Zeit waren sowohl das Bett wie mein kleiner wackeliger Tisch mit Notizen und beschriebenen Blättern, an denen ich abwechselnd arbeitete, überschwemmt. Ich fügte neue Dinge hinzu, die mir im Laufe des Tages einfielen, strich durch, frischte die toten Punkte da und dort mit einem farbigen Wort auf, schleifte mich mit der größten Mühe von Satz zu Satz weiter. Eines Nachmittags endlich war einer meiner Artikel fertig und ich steckte ihn glücklich und froh in die Tasche und begab mich hinauf zum »Kommandeur«. Es war hohe Zeit, daß ich trachtete, wieder ein wenig Geld zu bekommen, ich hatte nicht mehr viele Öre übrig.

Und der »Kommandeur« bat mich, einen Augenblick Platz zu nehmen, er würde sofort ... Und er schrieb weiter.

Ich sah mich in dem kleinen Büro um: Büsten, Lithographien, Ausschnitte, ein unmäßiger Papierkorb, der aussah, als könne er einen Mann mit Haut und Haar verschlingen. Mir wurde traurig zumute beim Anblick dieses ungeheuren Rachens, dieses Drachenmaules, das immer offen stand, immer bereit, neue abgelehnte Arbeiten – neue zerbrochene Hoffnungen aufzunehmen.

Welches Datum haben wir? sagt plötzlich der »Kommandeur« am Tisch dort.

Den 28., antworte ich, froh darüber, daß ich ihm zu Diensten sein konnte.

Den 28. Und er schreibt immer noch. Endlich legt er ein paar Briefe in die Umschläge, wirft einige Papiere in den Korb und legt die Feder weg. Dann schwingt er sich auf dem Stuhl herum und sieht mich an. Als er merkt, daß ich noch an der Türe stehe, gibt er mir einen halb ernsten, halb scherzhaften Wink mit der Hand und deutet auf einen Stuhl.

Ich wende mich von ihm ab, damit er nicht sehen soll, daß ich keine Weste anhabe, wenn ich den Rock öffne, und hole das Manuskript aus der Tasche.

Es ist nur eine kleine Charakteristik Correggios, sage ich, aber sie ist wohl leider nicht so geschrieben, daß ...

Er nimmt mir die Papiere aus der Hand und beginnt in ihnen zu blättern. Er wendet mir sein Gesicht zu.

So sah er also in der Nähe aus, dieser Mann, dessen Namen ich schon in meiner frühesten Jugend gehört hatte, und dessen Zeitung alle diese Jahre her den größten Einfluß auf mich gehabt hatte. Sein Haar ist gelockt und die schönen braunen Augen sind ein wenig unruhig; er hat die Gewohnheit, ab und zu die Luft durch die Nase zu stoßen. Ein schottischer Pfarrer hätte nicht milder aussehen können, als dieser gefährliche Skribent, dessen Worte dort, wo sie hinfielen, stets blutige Striemen schlugen. Ein eigentümliches Gefühl der Furcht und der Bewunderung erfaßt mich diesem Menschen gegenüber, ich bin nahe daran, Tränen in die Augen zu bekommen, und ich rücke unwillkürlich einen Schritt vor, um ihm zu sagen, wie innig ich ihn verehre für all das, was er mich gelehrt hatte, und um ihn zu bitten, mir kein Leid zuzufügen. Ich sei nur ein armseliger Stümper, dem es schon schlimm genug gehe.

Er sah auf und legte das Manuskript langsam zusammen, während er dasaß und nachdachte. Um ihm eine abschlägige Antwort zu erleichtern, strecke ich die Hand ein wenig vor und sage:

Ach nein, natürlich ist es nicht brauchbar? Und ich lächle, um den Eindruck zu machen, daß ich es leicht nehme.

Wir können nur ganz populäre Sachen verwenden, antwortet er. Sie wissen, welche Art von Publikum wir haben. Aber könnten Sie es nicht wieder mitnehmen und ein wenig vereinfachen? Oder sich etwas anderes ausdenken, was die Leute besser verstehen?

Seine Rücksichtnahme setzt mich in Erstaunen. Ich begreife, daß mein Artikel abgelehnt ist, und doch könnte ich keine schönere Zurückweisung bekommen haben. Um ihn nicht länger aufzuhalten, antworte ich:

Doch ja, das kann ich wohl.

Ich gehe zur Türe. Hm. Er möge entschuldigen, daß ich ihn damit in Anspruch genommen habe ... Ich verbeuge mich und fasse nach dem Türgriff.

Wenn Sie etwas brauchen, sagt er, können Sie lieber einen kleinen Vorschuß bekommen. Sie können ja dafür schreiben.

Nun hatte er ja gesehen, daß ich zum Schreiben nicht taugte – sein Angebot demütigte mich deshalb ein wenig. Ich antwortete:

Nein, danke, ich reiche noch eine Zeitlang aus. Ich danke übrigens vielmals. Leben Sie wohl!

Leben Sie wohl! antwortet der »Kommandeur« und wendet sich gleichzeitig seinem Schreibtisch zu.

Er hatte mich doch unverdient wohlwollend behandelt und ich war ihm dankbar dafür; ich wollte das auch zu würdigen wissen. Ich nahm mir vor, nicht wieder zu ihm zu gehen, bevor ich ihm nicht eine Arbeit bringen konnte, mit der ich selbst ganz zufrieden war, und die den »Kommandeur« ein wenig in Erstaunen setzen sollte und ihn veranlassen konnte, mir ohne einen Augenblick der Überlegung zehn Kronen anweisen zu lassen. Und ich ging wieder heim und machte mich von neuem an meine Schreiberei.

An den folgenden Abenden, gegen acht Uhr, wenn das Gas schon angezündet war, geschah mir regelmäßig folgendes:

So oft ich aus dem Torweg herauskomme, um mich nach des Tages Mühe und Beschwer auf einen kleinen Spaziergang durch die Straßen zu begeben, steht immer eine schwarzgekleidete Dame an dem Laternenpfahl gleich vor dem Tor und wendet mir das Gesicht zu, folgt mir mit den Augen, wenn ich an ihr vorbeikomme. Ich beobachte, daß sie beständig dasselbe Kleid anhat, den gleichen dichten Schleier, der ihr Gesicht verbirgt und über ihre Brust herunterfällt, und daß sie einen kleinen Schirm mit einem Elfenbeinring am Griff in der Hand trägt.

Drei Abende nacheinander hatte ich sie nun schon hier gesehen, immer an derselben Stelle. Sowie ich an ihr vorbeigekommen bin, dreht sie sich langsam um und geht die Straße hinunter, von mir fort.

Mein nervöses Gehirn streckte seine Fühlhörner aus, und mir kam sofort der unsinnige Gedanke, daß ihre Besuche mir galten. Ich war zuletzt fast im Begriff, sie anzusprechen, sie zu fragen, ob sie jemand suche, ob sie irgendeine Hilfe brauche, ob ich sie heimbegleiten, sie, so schlecht gekleidet, wie ich leider sei, in den dunklen Straßen beschützen solle. Aber ich hatte eine unbestimmte Furcht davor, daß es vielleicht Geld kosten könnte, ein Glas Wein, eine Wagenfahrt, und ich hatte gar kein Geld mehr; meine trostlos leeren Taschen wirkten allzu niederschlagend auf mich. Ich hatte nicht einmal den Mut, sie ein wenig forschend anzusehen, wenn ich vorbeiging. Der Hunger hauste schon wieder bei mir, seit dem vorhergegangenen Abend hatte ich nichts gegessen; – das war allerdings noch keine lange Zeit, ich hatte es oft mehrere Tage lang aushalten können, aber ich ließ bedenklich nach, ich konnte gar nicht mehr so gut hungern wie früher, ein einziger Tag konnte mich betäuben, und ich litt an häufigem Erbrechen, sobald ich Wasser trank. Dazu kam, daß ich in den Nächten dalag und fror, in allen Kleidern, wie ich tagsüber ging und stand, und vor Kälte blau wurde. Daß mich jeden Abend Frostschauer durcheisten und ich im Schlaf erstarrte. Die alte Decke konnte die Zugluft nicht abhalten, ich erwachte am Morgen davon, daß mir die Nase durch die scharfe Reifluft, die von außen zu mir hereindrang, zugeschwollen war.

Ich gehe durch die Straßen und denke darüber nach, wie ich es anstellen könnte, mich aufrecht zu halten, bis ich meinen nächsten Artikel fertig hätte. Wenn ich nur eine Kerze besäße, würde ich versuchen, bis in die Nacht hinein loszulegen. Es würde ein paar Stunden dauern, falls ich nur erst richtig in Schwung käme; morgen könnte ich mich dann wieder an den »Kommandeur« wenden.

Ohne weiteres gehe ich ins Oplandske und suche meinen jungen Bekannten von der Bank, um mir zehn Öre für eine Kerze zu verschaffen. Man ließ mich ungehindert durch alle Zimmer gehen. Ich kam an einem Dutzend Tische vorbei, an denen plaudernde Gäste saßen und aßen und tranken, ich drang bis zum Ende des Cafés vor, bis in das Rote Zimmer, ohne meinen Mann zu finden. Flau und ärgerlich verzog ich mich wieder auf die Straße und ging in der Richtung zum Schlosse weiter.

War es nun nicht auch um zum Teufel zu fahren, daß meine Widerstände kein Ende nehmen wollten! Mit langen wütenden Schritten, den Rockkragen brutal in den Nacken heraufgeschlagen und die Hände in den Hosentaschen geballt, ging ich und schimpfte während des ganzen Weges auf meinen unglücklichen Stern. Seit sieben, acht Monaten nicht eine einzige wirklich sorgenfreie Stunde, keine einzige kurze Woche das nötigste Essen, – nun zwang die Not mich abermals auf die Knie. Bei alledem war ich tätig gewesen und mitten in allem Elend ehrlich geblieben, ehrlich, hehe, bis zum alleräußersten! Gott bewahre mich, wie närrisch war ich gewesen! Und ich erzählte mir selbst, wie ich sogar ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, weil ich einmal Hans Paulis Decke versetzen wollte. Ich lachte höhnisch über meine zarte Rechtschaffenheit, spuckte verächtlich auf die Straße und fand kein Wort, das stark genug war, mich wegen meiner eigenen Dummheit zum Narren zu halten. Das sollte nur jetzt sein! Fände ich in diesem Augenblick den Sparpfennig eines Schulmädchens auf der Straße, den einzigen Ör einer armen Witwe, ich würde ihn aufheben und ihn in die Tasche stecken, ihn mit bestem Gewissen stehlen und danach die ganze Nacht wie ein Stein schlafen. Nicht umsonst hatte ich für nichts und wieder nichts so unsäglich viel gelitten, meine Geduld war zu Ende, ich war zu allem bereit, was es auch sein mochte.

Ich ging drei-, viermal ums Schloß, faßte darauf den Entschluß, heimzugehen, machte noch einen kleinen Abstecher in den Park und nahm endlich den Weg durch die Karl-Johan-Straße zurück.

Es war ungefähr elf Uhr. Die Straße war ziemlich dunkel und überall wanderten Menschen umher, stille Paare und lärmende Scharen. Die große Stunde war da, die Paarungszeit, in der geheime Dinge geschehen und die frohen Abenteuer beginnen. Raschelnde Mädchenröcke, das eine und andere kurze sinnliche Lachen, wogende Brüste, heftige, keuchende Atemzüge; weit unten beim Grand ruft eine Stimme: Emma! Die ganze Straße war ein Sumpf, aus dem heiße Dämpfe aufstiegen.

Unwillkürlich durchsuche ich meine Taschen nach zwei Kronen. Die Leidenschaft, die in jeder Bewegung der Vorübergehenden zittert, sogar das dunkle Licht der Gaslaternen, die stille, schwangere Nacht, alles zusammen beginnt mich anzupacken, diese Luft, die erfüllt ist von Flüstern, Umarmungen, bebenden Geständnissen, halb ausgesprochenen Worten, kleinen Seufzern. Einige Katzen lieben sich mit hohen Schreien im Tor von Blomquist. Und ich hatte keine zwei Kronen! Es war ein Jammer, ein Elend ohnegleichen, so verarmt zu sein! Welche Demütigung, welche Entehrung! Und wieder fällt mir das letzte Scherflein der armen Witwe ein, das ich gestohlen hätte, die Mütze oder das Taschentuch eines Schulknaben, eines Bettlers Brotsack, die ich ohne Umstände zum Lumpensammler gebracht und den Erlös dann verpraßt hätte. Um mich zu trösten und mich schadlos zu halten, fing ich an, an diesen frohen Menschen, die an mir vorbeiglitten, alle möglichen Fehler aufzusuchen, ich zuckte zornig mit den Schultern und sah sie geringschätzig an, wie sie, Paar auf Paar, an mir vorbeizogen. Diese genügsamen, Süßigkeiten naschenden Studenten, die glaubten, europäisch ausschweifend zu sein, wenn sie einem Nähmädchen auf die Brust patschten! Diese Stutzer, Bankleute, Großhändler, Boulevardlöwen! Nicht einmal die Seemannsfrauen und dicken Weiber vom Kutorv, die für ein Seidel Bier im ersten besten Torweg umfielen, verschmähten sie! Welche Sirenen! Der Platz an ihrer Seite war noch warm von der vergangenen Nacht, die sie mit einem Feuerwehrmann oder mit einem Stallknecht verbracht hatten, der Thron war immer frei, gleich weit geöffnet, bitte sehr, steigen Sie hinauf! ... Ich spuckte weit über das Pflaster, ohne mich darum zu kümmern, ob ich jemand treffen könnte, war wütend, erfüllt von Verachtung für diese Menschen, die sich aneinander rieben und sich vor meinen Augen paarten. Ich erhob den Kopf und fühlte mich erhaben und gesegnet, weil ich auf reinen Wegen wandeln durfte.

Am Stortingsplatz traf ich ein Mädchen, das mich starr ansah, als ich an ihre Seite kam.

Guten Abend! sagte ich.

Guten Abend! Sie blieb stehen.

Hm. Ob sie so spät noch spazieren gehe? War es denn nicht ein wenig gefährlich für eine junge Dame, um diese Tageszeit auf Karl Johan zu gehen! Nicht? Ja, aber wurde sie denn niemals angesprochen, belästigt, ich meine, gerade herausgesagt, gebeten, mit nach Hause zu kommen?

Sie starrte mich verwundert an, forschte in meinem Gesicht, was ich wohl damit meinen könnte. Dann schob sie plötzlich die Hand unter meinen Arm und sagte:

Also gehen wir!

Ich ging mit. Als wir einige Schritte an den Droschken vorbei waren, hielt ich an, machte meinen Arm frei und sagte:

Höre, mein Kind, ich besitze nicht einen Ör. Und ich schickte mich an, meines Weges zu gehen.

Im ersten Augenblick wollte sie mir nicht glauben; aber nachdem sie alle meine Taschen durchsucht und nichts gefunden hatte, wurde sie ärgerlich, schüttelte den Kopf und nannte mich einen Stockfisch.

Gute Nacht! sagte ich.

Warten Sie ein wenig! rief sie. Ist das eine Goldbrille, die Sie tragen?

Nein.

Dann scheren Sie sich zum Teufel!

Und ich ging.

Gleich darauf kam sie mir nachgelaufen und rief mich wieder.

Sie können trotzdem mitkommen, sagte sie. Ich fühlte mich von diesem Angebot einer armen Straßendirne gedemütigt und sagte nein. Es sei außerdem spät in der Nacht, und ich hätte noch eine Verabredung; sie könne sich auch solche Opfer nicht erlauben.

Doch, jetzt will ich Sie mit mir haben.

Aber ich gehe auf diese Art nicht mit.

Sie wollen natürlich zu einer anderen, sagte sie.

Nein, antwortete ich.

Ach, ich hatte nicht mehr das richtige Zeug in mir. Mädchen waren für mich beinahe wie Männer geworden, die Not hatte mich ausgedörrt. Ich hatte das Gefühl, daß ich mich dieser aparten Dirne gegenüber in einer jämmerlichen Lage befand und beschloß, den Schein zu retten.

Wie heißen Sie? fragte ich. Marie? Na! Hören Sie nun zu, Marie! Und ich erklärte ihr mein Betragen. Das Mädchen wurde immer erstaunter. Ob sie also geglaubt habe, daß auch ich einer von denen sei, die an den Abenden auf die Straßen gingen und kleine Mädels kaperten? Ob sie wirklich etwas so Schlechtes von mir geglaubt habe? Hatte ich vielleicht zu Beginn etwas Unartiges zu ihr gesagt? Betrug man sich so wie ich, wenn man etwas Böses vorhatte? Kurz und gut, ich habe sie angesprochen und sei ein paar Schritte mit ihr gegangen, um zu sehen, wie weit sie es treiben würde. Übrigens sei mein Name der und der, Pastor so und so. Gute Nacht! Gehe hin und sündige nicht mehr.

Damit ging ich.

Entzückt über meinen guten Einfall rieb ich mir die Hände und sprach laut mit mir selbst. Welche Freude war es doch, umherzugehen und gute Werke zu tun! Vielleicht hatte ich diesem gefallenen Geschöpf einen Anstoß zur Besserung für das ganze Leben gegeben! Und sie würde das anerkennen, wenn sie sich darauf besänne, sich sogar in ihrer Todesstunde, das Herz voll Dank, meiner erinnern. Oh, es lohnte sich trotzdem, ehrlich zu sein, ehrlich und rechtschaffen! Meine Laune war strahlend, ich fühlte mich frisch und mutig zu allem, was es auch sein mochte. Wenn ich nur ein Licht hätte, dann könnte ich vielleicht meinen Artikel fertig schreiben! Ich ging und schlenkerte mit meinem neuen Torschlüssel, summte, pfiff und sann darüber nach, wie ich mir Kredit verschaffen konnte. Es blieb nichts anderes übrig, ich mußte meine Schreibsachen herunterholen, auf die Straße heraus, unter die Gaslaterne. Und ich öffnete das Tor und ging hinauf, um meine Papiere zu holen. Als ich wieder herunterkam, schloß ich das Tor von außen zu und stellte mich in den Lichtschein. Es war überall still, ich hörte nur den schweren, klirrenden Schritt eines Schutzmannes unten in einer Querstraße, und weit weg, in der Richtung von St. Hanshaugen, einen bellenden Hund. Nichts störte mich, ich zog den Rockkragen über die Ohren und begann aus allen Kräften zu denken. Es würde mir großartig weiterhelfen, wenn ich so glücklich wäre, den Schluß dieser kleinen Abhandlung zustande zu bringen. Ich befand mich eben an einem etwas schwierigen Punkt, es sollte ein ganz unmerklicher Übergang zu etwas Neuem kommen, darauf ein gedämpftes, gleitendes Finale, ein langes Knurren, das zuletzt in einer Klimax enden sollte, so steil, so aufwühlend, wie ein Schuß oder wie der Krach eines berstenden Felsens. Punktum.

Aber die Worte wollten mir nicht einfallen. Ich las das ganze Stück von Anfang an durch, las jeden Satz laut, konnte aber meine Gedanken durchaus nicht zu dieser berstenden Klimax sammeln. Während ich dastand und daran arbeitete, kam obendrein der Schutzmann, stellte sich ein Stück weit von mir entfernt mitten in der Straße auf und verdarb meine ganze Stimmung. Was ging es nun ihn an, daß ich in diesem Augenblick dastand und an einer ausgezeichneten Klimax zu einem Artikel für den »Kommandeur« arbeitete? Herrgott, es war rein unmöglich, mich über Wasser zu halten, was ich auch versuchte! Ich stand eine ganze Stunde da, der Schutzmann ging seines Weges und die Kälte wurde zu groß, um ruhig stehenzubleiben. Mutlos und verzagt über diesen neuen vergeblichen Versuch öffnete ich endlich wieder das Tor und ging in mein Zimmer hinauf.

Es war kalt da oben, und ich konnte in dieser dicken Finsternis kaum mein Fenster sehen. Ich tastete mich zum Bett vor, zog die Schuhe aus und wärmte meine Füße zwischen den Händen. Dann legte ich mich nieder – so wie ich es seit langer Zeit zu tun pflegte, ganz einfach wie ich ging und stand, in allen Kleidern.

 

Sobald es am nächsten Morgen hell wurde, setzte ich mich im Bett auf und nahm meinen Artikel wieder in Angriff. In dieser Stellung saß ich bis zum Mittag und hatte dann ungefähr zehn, zwanzig Zeilen zustande gebracht. Und ich war noch nicht zum Finale gekommen. Ich stand auf, zog die Schuhe an und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, um warm zu werden. Auf den Fensterscheiben lag Eis; ich sah hinaus; es schneite, im Hinterhof lag eine dicke Schicht Schnee auf dem Pflaster und auf dem Pumpbrunnen.

Ich kramte im Zimmer umher, ging willenlos auf und ab, kratzte mit den Nägeln an der Wand, legte meine Stirne vorsichtig an die Türe, klopfte mit dem Zeigefinger auf den Boden und horchte aufmerksam, alles ohne irgendeinen Sinn, sondern still und nachdenklich, als hätte ich eine wichtige Sache vor. Und dabei sagte ich ein über das andere Mal laut, so daß ich es selbst hörte: Aber, du guter Gott, das ist doch Wahnsinn! Und so trieb ich es ununterbrochen weiter. Nach Verlauf langer Zeit, vielleicht einiger Stunden, nahm ich mich fest zusammen, biß mich in die Lippe und straffte mich auf, so gut ich konnte. Es mußte ein Ende haben! Ich suchte einen Splitter, um darauf zu kauen, und setzte mich entschlossen wieder zum Schreiben hin.

Ein paar kurze Sätze kamen mit großer Mühe zustande, ein Dutzend ärmlicher Worte, die ich mir mit Gewalt abrang, um nur überhaupt vorwärts zu kommen. Dann hielt ich an, mein Kopf war leer, ich konnte nicht mehr. Und da ich durchaus nicht mehr weiterkommen konnte, starrte ich mit weit offenen Augen auf diese letzten Worte, diesen unbeendeten Bogen, gaffte diese seltsamen zitternden Buchstaben an, die mich vom Papier aus wie kleine stachelige Figuren anstarrten, und zuletzt begriff ich das Ganze nicht mehr, ich dachte an nichts.

Die Zeit verging. Ich hörte den Verkehr auf der Straße, den Lärm von Wagen und Pferden. Jens Olais Stimme stieg aus dem Stall zu mir herauf, wenn er mit den Pferden schwätzte. Ich war ganz schläfrig, saß da und schmatzte ein wenig mit dem Mund, tat aber sonst gar nichts. Meine Brust war in einer traurigen Verfassung. Es begann zu dämmern, ich fiel immer mehr zusammen, wurde müde und legte mich auf das Bett zurück. Um meine Hände ein wenig zu wärmen, strich ich mit den Fingern durch das Haar vor und zurück, kreuz und quer; es gingen kleine Zotteln mit, losgelöste Büschel, die sich zwischen die Finger legten und auf das Kopfkissen fielen. Ich dachte nichts dabei, es war, als ginge es mich nichts an, ich hatte auch noch genug Haare. Ich versuchte wieder, mich aus dieser seltsamen Betäubung aufzurütteln, die mir wie ein Nebel durch alle Glieder glitt, setzte mich aufrecht, schlug mir mit der flachen Hand auf die Knie, hustete, so fest es meine Brust zuließ – und fiel wiederum zurück. Nichts half. Ich starb mit offenen Augen hilflos dahin, geradeaus auf die Decke starrend. Zuletzt steckte ich den Zeigefinger in den Mund und sog daran. In meinem Gehirn begann sich etwas zu rühren, ein Gedanke, der sich da drinnen hervorarbeitete, ein ganz toller Einfall: Wenn ich nun zubiß? Und ohne mich einen Augenblick zu bedenken, kniff ich die Augen zu und schlug die Zähne zusammen.

Ich sprang auf. Endlich war ich wach geworden. Es sickerte ein wenig Blut aus dem Finger, und ich schleckte es immer wieder ab. Es tat nicht weh, die Wunde war auch nicht der Rede wert. Aber ich war mit einemmal zu mir selbst gekommen, schüttelte den Kopf, ging zum Fenster und suchte nach einem Lappen für die Wunde. Während ich dastand und mich mit ihr beschäftigte, trat mir das Wasser in die Augen, ich weinte leise vor mich hin. Dieser magere, zerbissene Finger sah so traurig aus. Gott im Himmel, wie weit war es nun mit mir gekommen.

Die Dunkelheit wurde dichter. Vielleicht war es nicht unmöglich, daß ich mein Finale im Laufe des Abends fertig schreiben konnte, wenn ich nur eine Kerze hatte. Mein Kopf war wieder klar geworden, die Gedanken kamen und gingen wie gewöhnlich, und ich litt nicht sehr. Nicht einmal den Hunger fühlte ich so schlimm wie vor einigen Stunden, ich konnte gut bis zum nächsten Tag aushalten. Vielleicht gelang es mir, einstweilen eine Kerze auf Kredit zu bekommen, wenn ich in den Kramladen ging und meine Lage erklärte. Ich war so gut bekannt da unten; in guten Tagen, als ich noch Geld dazu besaß, hatte ich manches Brot in diesem Laden gekauft. Ohne Zweifel würde ich auf meinen ehrlichen Namen eine Kerze bekommen. Und zum erstenmal seit langer Zeit raffte ich mich dazu auf, meine Kleider ein wenig zu bürsten und die losen Haare auf meinem Rockkragen zu entfernen, soweit sich dies in der Dunkelheit machen ließ. Dann tastete ich mich die Treppe hinunter.

Als ich auf die Straße kam, bedachte ich, ob ich nicht vielleicht lieber ein Brot verlangen solle. Unentschlossen blieb ich stehen und grübelte darüber nach. Auf keinen Fall! antwortete ich mir endlich selbst. Ich war leider nicht in dem Zustand, daß ich nun Nahrung vertrug; die gleichen Geschichten würden sich wiederholen, mit Gesichten und Wahrnehmungen und wahnsinnigen Einfällen, mein Artikel würde niemals fertig werden, und es galt doch, zum »Kommandeur« zu kommen, bevor er mich wieder vergessen hatte. Auf gar keinen Fall! Und ich entschloß mich zu einer Kerze. Damit ging ich in den Laden.

Am Ladentisch steht eine Frau und macht Einkäufe; mehrere kleine Pakete, in verschiedene Sorten Papier gewickelt, liegen in meiner Nähe. Der Gehilfe, der mich kennt und weiß, was ich gewöhnlich kaufe, verläßt die Frau und packt ohne weiteres ein Brot in eine Zeitung und legt es vor mich hin.

Nein – ich wollte heute abend eigentlich eine Kerze, sage ich. Ich sage das sehr leise und demütig, um ihn nicht ärgerlich zu machen und mir nicht die Aussicht auf die Kerze zu verspielen.

Meine Antwort kam ihm unerwartet, es war das erstemal, daß ich etwas anderes als Brot von ihm verlangt hatte.

Ja, dann müssen Sie ein wenig warten, sagt er und wendet sich wieder zu der Frau.

Sie erhält ihre Sachen, bezahlt mit einem Fünfkronenschein, auf den sie herausbekommt, und geht.

Nun sind der Gehilfe und ich allein.

Er sagt:

Ja, Sie wollen also eine Kerze. Und er reißt ein Paket Kerzen auf und nimmt eine für mich heraus.

Er sieht mich an, und ich sehe ihn an, ich kann meine Bitte nicht über die Lippen bringen.

Ach, richtig, Sie haben ja bezahlt, sagt er plötzlich. Er sagt einfach, daß ich bezahlt hatte; ich hörte jedes Wort. Und er beginnt das Silbergeld aus der Kasse herauszuzählen, Krone um Krone, blankes, fettes Geld – er gibt mir auf fünf Kronen heraus, auf die fünf Kronen der Frau.

Bitte schön! sagt er.

Nun stehe ich da und sehe dieses Geld eine Sekunde lang an. Ich empfinde, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist, ich überlege nicht, denke an gar nichts, falle nur in Erstaunen über all diesen Reichtum, der vor meinen Augen daliegt und leuchtet. Und mechanisch streiche ich das Geld zusammen.

Ich bleibe vor dem Ladentisch stehen, dumm vor Verwunderung, geschlagen, vernichtet. Mache dann einen Schritt gegen die Türe und bleibe wieder stehen. Ich richte meinen Blick auf einen bestimmten Punkt an der Wand. Dort hängt eine kleine Glocke an einem Lederhalsband und darunter ein Bündel Schnüre. Und ich stehe da und starre diese Sachen an.

Der Gehilfe glaubt, ich will ein Gespräch anfangen, da ich mir so viel Zeit lasse und sagt, indem er einige Packpapiere ordnet, die auf dem Tisch umherliegen:

Es sieht aus, als wollte es nun Winter werden.

Hm. Ja, antworte ich, es sieht aus, als wollte es nun Winter werden. Es sieht so aus. Und kurz darauf füge ich hinzu: O ja, es ist nicht zu früh. Aber es sieht wirklich so aus, ja. Es ist übrigens wirklich nicht zu früh.

Ich hörte selbst mich dieses Gefasel sagen, faßte aber jedes Wort, das ich sagte, so auf, als käme es von einer anderen Person.

Ja, finden Sie das eigentlich? sagt der Gehilfe.

Ich steckte die Hand mit dem Geld in die Tasche, griff nach der Klinke und ging; ich hörte, daß ich gute Nacht wünschte und daß der Gehilfe antwortete.

Als ich ein paar Schritte von der Treppe weggekommen war, hörte ich, daß die Ladentüre aufgerissen wurde, und der Gehilfe mir nachrief. Ohne Erstaunen wandte ich mich um, ohne eine Spur von Angst; ich faßte nur die Münzen in der Hand zusammen und bereitete mich darauf vor, sie zurückzugeben.

Bitte, Sie haben Ihre Kerze vergessen, sagt der Gehilfe.

Oh danke, antworte ich ruhig. Danke! Danke!

Und ich wandere wiederum die Straße hinunter, die Kerze in der Hand.

Mein erster vernünftiger Gedanke galt dem Geld. Ich ging zu einem Laternenpfahl und überzählte es von neuem, wog es in der Hand und lächelte. So war mir also herrlich geholfen – großartig, wunderbar geholfen für lange, lange Zeit! Und ich steckte die Hand mit dem Geld wieder in die Tasche und ging.

Vor einem Speisekeller in der Storstraße blieb ich stehen und überlegte kalt und ruhig, ob ich mich erdreisten sollte, sogleich eine kleine Mahlzeit zu genießen. Ich hörte das Klirren von Tellern und Messern, hörte, wie Fleisch geklopft wurde. Die Versuchung war zu stark, ich trat ein.

Ein Beefsteak! sage ich.

Ein Beefsteak! rief die Kellnerin durch die Luke. Ich ließ mich an einem kleinen Tisch nieder, ganz allein für mich, gleich bei der Türe und wartete. Es war ein wenig dunkel, wo ich saß, ich fühlte mich gut versteckt und fing an zu denken. Ab und zu sah die Kellnerin mit neugierigen Augen zu mir her.

Meine erste eigentliche Unehrlichkeit war begangen, mein erster Diebstahl, gegen den alle meine früheren Streiche nicht zu zählen waren; mein erster kleiner, großer Fall ... Und wenn auch! Daran war nichts zu ändern. Übrigens stand es mir frei, es mit dem Krämer wieder zu ordnen, späterhin, wenn ich besser Gelegenheit dazu hatte. Es brauchte nicht weiter abwärts mit mir zu gehen; außerdem hatte ich mich nicht verpflichtet, ehrlicher zu leben als alle anderen Menschen, das war keine Abmachung ...

Glauben Sie, daß das Beefsteak bald fertig ist?

Ja, gleich. Die Kellnerin öffnet die Luke und sieht in die Küche hinein.

Aber wenn nun die Sache eines Tages aufkäme? Wenn der Gehilfe Mißtrauen faßte, über den Vorgang mit dem Brot nachzudenken begänne, über die fünf Kronen, auf die die Frau herausbekommen hatte? Es war nicht unmöglich, daß er eines Tages daraufkommen würde, vielleicht das nächstemal, wenn ich hineinging. Na ja, Herrgott! ... Ich zuckte verstohlen mit den Schultern.

Bitte schön! sagt die Kellnerin freundlich und stellt das Beefsteak auf den Tisch. Aber wollen Sie nicht lieber in ein anderes Zimmer gehen? Hier ist es so dunkel.

Nein, danke, lassen Sie mich nur hierbleiben, antworte ich. Ihre Freundlichkeit macht mich mit einemmal bewegt, ich bezahle das Beefsteak sofort, gebe ihr aufs Geratewohl, was ich in der Tasche zwischen die Finger bekomme, und drücke ihr die Hand zu. Sie lächelt, und ich sage im Scherz, mit nassen Augen: Für den Rest kaufen Sie sich ein Haus ... Wohl bekomm's!

Ich begann zu essen, wurde immer gieriger und schluckte große Stücke hinunter, ohne sie zu kauen. Wie ein Menschenfresser riß ich an dem Fleisch.

Die Kellnerin kommt wieder zu mir her.

Wollen Sie nichts zu trinken haben? sagt sie. Und sie beugt sich ein wenig zu mir herab.

Ich sah sie an; sie sprach sehr leise, beinahe schüchtern. Sie schlug die Augen nieder.

Ich meine ein Glas Bier oder was Sie wollen ... Von mir ... dreingegeben ... wenn Sie mögen ...

Nein, vielen Dank! antwortete ich. Nicht jetzt. Ich will ein anderes Mal wiederkommen.

Sie zog sich zurück und setzte sich hinter den Schenktisch; ich sah nur ihren Kopf. Ein sonderbares Menschenkind!

Als ich fertig war, ging ich sofort zur Türe. Ich fühlte bereits Würgen. Die Kellnerin erhob sich. Ich scheute mich, ins Licht zu treten, fürchtete, dem jungen Mädchen, das mein Elend nicht ahnte, mich zu sehr zu zeigen und sagte deshalb schnell gute Nacht, nickte und ging.

Das Essen begann zu wirken, ich litt sehr darunter und konnte es nicht lange bei mir behalten. Ich ging und entleerte meinen Mund in jedem dunklen Winkel, an dem ich vorbeikam, kämpfte damit, dieses Würgen, das mich von neuem aushöhlte, zu unterdrücken, ballte die Hände und machte mich hart, stampfte auf das Pflaster und würgte wieder wütend hinunter, was herauf wollte – vergebens! Schließlich sprang ich in einen Torweg hinein, vornübergebeugt, blind von dem Wasser, das mir in die Augen drang, und entleerte mich wieder.

Ich wurde verbittert, ging durch die Straße und weinte, fluchte den grausamen Mächten, die mich so verfolgten, verwünschte sie für ihre Niederträchtigkeit in die Verdammung und ewige Qual der Hölle. Wenig Ritterlichkeit war diesen Mächten eigen, wirklich sehr wenig Ritterlichkeit, das war nicht zu leugnen! ... Ich ging zu einem Manne hin, der in ein Schaufenster gaffte und fragte ihn in größter Eile, was man seiner Meinung nach einem Menschen geben solle, der lange Zeit gehungert habe. Es gelte das Leben, sagte ich, er vertrüge kein Beefsteak.

Ich habe gehört, daß Milch gut sein soll, gekochte Milch, antwortet der Mann äußerst erstaunt. Für wen fragen Sie übrigens?

Danke! Danke! sage ich. Ja, das ist vielleicht das beste, gekochte Milch.

Und ich gehe weiter. Ich ging in das erste beste Café und bestellte gekochte Milch. Ich bekam die Milch, trank sie, so heiß wie sie war, hinunter, schluckte gierig jeden Tropfen, bezahlte und ging nach Hause.

Nun geschah etwas Seltsames. Vor meinem Tor, an den Laternenpfahl gelehnt und mitten in dessen Licht, steht eine Gestalt, die ich schon von weitem erspähe. – Es ist wieder die schwarzgekleidete Dame. Die gleiche schwarzgekleidete Dame wie an den früheren Abenden. Es konnte kein Irrtum sein, sie war zum viertenmal an dieselbe Stelle gekommen. Sie steht vollkommen unbeweglich.

Ich finde dies so sonderbar, daß ich unwillkürlich meine Schritte verlangsame; in diesem Augenblick habe ich meine Gedanken ganz in Ordnung, aber ich bin sehr erregt, meine Nerven sind durch die letzte Mahlzeit gereizt. Ich gehe wie gewöhnlich dicht an ihr vorbei, komme beinahe bis zum Tor und bin im Begriff einzutreten. Da bleibe ich stehen. Mit einemmal kommt mir ein Einfall. Ohne mir darüber Rechenschaft zu geben, drehe ich mich um und gehe bis dicht zu der Dame hin, sehe ihr ins Gesicht und grüße:

Guten Abend! Fräulein!

Guten Abend! antwortet sie.

Entschuldigen Sie, suchen Sie jemand? – Ich hätte sie schon früher bemerkt; ob ich ihr in irgendeiner Weise behilflich sein könne? Ich bitte übrigens vielmals um Entschuldigung.

Ja, sie wüßte nicht recht ...

Hinter diesem Tor wohne niemand außer drei, vier Pferden und mir; es sei dies übrigens ein Stall und eine Spenglerwerkstatt. Sie sei sicher auf falscher Fährte, wenn sie hier jemand suche.

Da dreht sie das Gesicht weg und sagt:

Ich suche niemand, ich stehe nur hier.

Soso, sie stehe nur hier, stehe hier Abend für Abend nur um einer Laune willen. Das war ein wenig sonderbar; ich dachte darüber nach und geriet immer mehr in Verwirrung über die Dame. Dann beschloß ich, dreist zu sein. Ich klapperte mit meinen Münzen ein wenig in der Tasche und lud sie ohne weiteres zu einem Glas Wein ein, irgendwohin ... In Anbetracht des Winters der gekommen sei, hehe ... Es brauche nicht lange zu dauern ... Aber das wolle sie wohl nicht?

O nein, danke, das ginge nicht gut. Nein, das könne sie nicht tun. Aber wenn ich so freundlich sein und sie ein Stück weit begleiten wollte, so ... Der Heimweg sei sehr dunkel und es geniere sie, allein durch die Karl-Johan-Straße zu gehen, da es so spät geworden sei.

Wir setzten uns in Bewegung; sie ging an meiner rechten Seite. Ein eigentümliches, schönes Gefühl ergriff mich. Das Bewußtsein, in der Nähe eines jungen Mädchens zu sein. Ich ging neben ihr hin und sah sie während des ganzen Weges an. Das Parfüm in ihrem Haar, die Wärme, die ihr Körper ausströmte, dieser Frauenduft, dieser süße Hauch, so oft sie mir das Gesicht zuwandte, – alles strömte auf mich ein, drängte sich unbändig in alle meine Sinne. Ich konnte ein volles, ein wenig bleiches Antlitz hinter dem Schleier erspähen und eine hohe Brust, die den Mantel ausbuchtete. Der Gedanke an all diese verhüllte Herrlichkeit, die ich hinter dem Mantel und dem Schleier ahnte, verwirrte mich, machte mich idiotisch glücklich, ohne jeden vernünftigen Grund. Ich hielt es nicht mehr länger aus, berührte sie mit meiner Hand, fingerte an ihrer Schulter und lächelte albern. Ich fühlte mein Herz schlagen.

Wie seltsam Sie sind! sagte ich.

Wieso denn?

Ja, zunächst hätte sie einfach die Gewohnheit, Abend für Abend ohne irgendeine Absicht vor einem Stalltor zu stehen, nur weil es ihr so einfiele ...

Sie könne doch ihre Gründe dafür haben; sie liebe es übrigens, lang in die Nacht hinein aufzubleiben, das hätte sie schon immer gerne getan. Ob ich es liebe, vor zwölf Uhr zu Bett zu gehen?

Ich? Wenn es etwas in der Welt gebe, das ich haßte, so war es, mich vor zwölf Uhr nachts zu Bett zu legen. Hehe.

Hehe, ja sehen Sie! Da machte sie also an den Abenden, an denen sie nichts zu versäumen hatte, diesen Spaziergang; sie wohne oben am St. Olafsplatz ...

Ylajali! rief ich.

Wie bitte?

Ich sagte nur Ylajali ... Kurz und gut, fahren Sie fort!

Sie wohne oben am St. Olafsplatz, ziemlich einsam, zusammen mit ihrer Mutter, mit der man nicht sprechen könne, weil sie taub sei. War es da so sonderbar, daß sie gerne ein wenig ausgehen wollte?

Nein, durchaus nicht! antwortete ich.

Na ja, was dann? Ich konnte ihrer Stimme anhören, daß sie lächelte.

Ob sie nicht eine Schwester habe?

Doch, eine ältere Schwester – woher ich das übrigens wüßte? – aber die sei nach Hamburg gereist!

Kürzlich?

Ja, vor ungefähr fünf Wochen. Woher ich wisse, daß sie eine Schwester habe.

Ich weiß es durchaus nicht, ich fragte nur.

Wir schwiegen. Ein Mann, der ein Paar Schuhe unter dem Arm trägt, geht an uns vorbei, sonst ist die Straße leer, so weit wir sehen können. Beim Tivoli leuchtet eine lange Reihe von farbigen Lampen. Es schneite nicht mehr. Der Himmel war klar.

Gott, frieren Sie nicht ohne Überrock? sagt die Dame plötzlich und sieht mich an.

Sollte ich ihr erzählen, warum ich keinen Überrock hatte? Ihr meine Lage sofort offenbaren und sie von vorneherein verscheuchen?

Es war doch so herrlich, hier an ihrer Seite zu gehen und sie noch eine kleine Weile in Unwissenheit zu lassen. Ich log, ich antwortete:

Nein, gar nicht. Und um auf etwas anderes zu kommen, fragte ich: Haben Sie die Menagerie im Tivoli gesehen?

Nein, antwortete sie. Ist da etwas zu sehen?

Wenn sie nun hingehen wollte? In all das Licht, unter so viele Menschen! Sie würde verlegen werden, ich würde sie mit meinen schlechten Kleidern, mit meinem mageren Gesicht, das ich seit zwei Tagen nicht einmal gewaschen hatte, verjagen, sie würde vielleicht sogar entdecken, daß ich keine Weste hatte ...

O nein, antwortete ich deshalb, es ist dort sicher nichts zu sehen. Und es fielen mir einige glückliche Wendungen ein, von denen ich gleich Gebrauch machte, einige dürftige Worte, Reste aus meinem ausgesaugten Gehirn: Was könnte man wohl von solch einer kleinen Menagerie erwarten? Überhaupt interessierte es mich nicht, Tiere im Käfig zu sehen. Diese Tiere wissen, daß man dasteht und sie ansieht; sie fühlen hundert neugierige Blicke und werden davon beeinflußt. Nein, da möchte ich schon um Tiere bitten, die nicht wußten, daß man sie betrachtete, um jene scheuen Wesen, die in ihrer Höhle umherhuschen, dort mit schläfrigen grünen Augen liegen, an ihren Klauen schlecken und nachdenken. Nicht wahr?

Damit hätte ich allerdings recht.

Nur das Tier in all seiner eigenen Schrecklichkeit und eigenen Wildheit könne uns fesseln.

Der lautlose, schleichende Tritt in der Dunkelheit und der Finsternis der Nacht, in des Waldes Sausen und Unheimlichkeit, die Schreie eines vorbeifliegenden Vogels, der Wind, der Blutgeruch, das Getöse in der Luft, kurz, der Geist des Raubtierreiches über dem Raubtier ...

Aber ich fürchtete, daß sie dies ermüde, und das Gefühl meiner großen Armut ergriff mich von neuem und drückte mich nieder. Wenn ich nur einigermaßen gut angezogen gewesen wäre, hätte ich sie mit einem Abend im Tivoli erfreuen können! Ich begriff dieses Menschenkind nicht, das ein Vergnügen darin finden konnte, sich durch die ganze Karl-Johan-Straße von einem halbnackten Bettler begleiten zu lassen. Was, in Gottes Namen, dachte sie sich wohl? Und weshalb ging ich hier und stellte mich so an und lächelte blöde um nichts? Hatte ich auch nur eine vernünftige Ursache, mich von diesem feinen Seidenvogel zu einem so langen Spaziergang ausnützen zu lassen? Kostete es mich vielleicht keine Anstrengung? Fühlte ich nicht nur bei dem leisesten Windstoß, der uns entgegenblies, die Schauer des Todes bis ins Herz hinein? Und tobte nicht bereits der Wahnsinn in meinem Gehirn, nur weil es mir seit vielen Monaten an Nahrung fehlte? Sie hinderte mich sogar daran, heimzugehen und ein wenig Milch auf die Zunge zu bekommen, einen Löffel Milch, den ich vielleicht bei mir behalten konnte. Weshalb wandte sie mir nicht den Rücken und ließ mich zum Teufel gehen ...?

Ich wurde verzweifelt; meine Hoffnungslosigkeit führte mich zum Äußersten und ich sagte:

Sie sollten eigentlich nicht mit mir zusammen gehen, Fräulein; ich beschäme Sie vor allen Leuten schon allein durch meinen Anzug. Ja, das ist wirklich wahr; ich meine das so.

Sie stutzt. Sie sieht schnell zu mir auf und schweigt. Darauf sagt sie:

Herrgott auch! Mehr sagt sie nicht.

Was meinen Sie damit? fragte ich.

Uff nein, sagen Sie nicht so etwas ... Nun haben wir nicht mehr weit. Und sie ging ein wenig schneller.

Wir schwenkten in die Universitätsstraße ein und sahen bereits die Lichter auf dem St. Olafsplatz. Da ging sie wieder langsamer.

Ich möchte nicht indiskret sein, fange ich wieder an, aber wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen, bevor wir uns trennen? Und wollen Sie nicht, für einen Augenblick nur, den Schleier abnehmen, damit ich Sie sehen kann? Ich wäre so dankbar.

Pause. Ich wartete.

Sie haben mich früher schon gesehen, antwortet sie.

Ylajali! sage ich wieder.

Sie haben mich einen halben Tag lang verfolgt, bis nach Hause. Waren Sie damals betrunken? Wieder hörte ich, daß sie lächelte.

Ja, sagte ich, leider, ich war damals betrunken.

Das war häßlich von Ihnen!

Und zerknirscht gab ich zu, daß das häßlich von mir gewesen sei.

Wir waren zum Springbrunnen gekommen. Wir bleiben stehen und sehen zu den vielen erleuchteten Fenstern in Nummer 2 empor.

Nun dürfen Sie nicht mehr weiter mitgehen, sagt sie; Dank für heute abend!

Ich beugte den Kopf, wagte nichts zu sagen. Ich nahm meinen Hut ab und stand barhäuptig da. Ob sie mir wohl die Hand reichen würde?

Warum bitten Sie mich nicht, ein Stück weit mit Ihnen zurückzugehen? sagt sie scherzhaft. Aber sie sieht auf ihre Schuhspitzen nieder.

Herrgott, antworte ich, wenn Sie das täten!

Ja, aber nur ein kleines Stück.

Und wir kehrten um.

Ich war äußerst verwirrt, wußte nicht, wie ich gehen oder stehen sollte; dieses Geschöpf stürzte meinen ganzen Gedankengang um. Ich war hingerissen, wunderbar froh; mir war, als ginge ich vor Glück herrlich zugrunde. Sie hatte ausdrücklich mit mir zurückgehen wollen, es war nicht mein Einfall, es war ihr eigener Wunsch. Ich sehe sie an und werde immer mutiger, sie muntert mich auf, zieht mich mit jedem Wort an sich. Für einen Augenblick vergesse ich meine Armut, meinen Unwert, mein ganzes jämmerliches Dasein, ich fühle das Blut warm durch den Körper jagen, wie in den alten Tagen, ehe ich zusammengefallen, und ich beschließe, mich mit einem kleinen Kniff vorzutasten.

Übrigens verfolgte ich damals nicht Sie, sagte ich, sondern Ihre Schwester.

Meine Schwester? fragt sie höchst erstaunt. Sie bleibt stehen, sieht mich an, erwartet wirklich eine Antwort. Sie fragte in vollstem Ernst.

Ja, antwortete ich. Hm. Das heißt, also die jüngere der beiden Damen, die vor mir gingen.

Die Jüngere? Oho! Sie lachte mit einemmal laut und herzlich wie ein Kind. Nein, wie schlau Sie sind! Das sagten Sie nun, damit ich den Schleier abnehmen solle. Ich verstehe. Aber darauf können Sie lange warten ... zur Strafe.

Wir begannen zu lachen und zu scherzen, sprachen die ganze Zeit und unaufhörlich, ich wußte nicht, was ich sagte, ich war froh. Sie erzählte, daß sie mich schon früher einmal gesehen habe, im Theater, es sei lange her. Es seien drei Kameraden dabei gewesen und ich hätte mich wie ein Verrückter betragen; ich sei sicher auch damals betrunken gewesen, leider.

Weshalb sie das glaubte?

Doch, ich hätte so gelacht.

So. O ja, damals lachte ich viel.

Aber jetzt nicht mehr?

O doch, jetzt auch. Es sei so herrlich auf der Welt!

Wir kamen zur Karl-Johan-Straße. Sie sagte:

Nun gehen wir nicht mehr weiter! Und wir kehrten um und gingen wieder die Universitätsstraße hinauf. Als wir wieder zum Springbrunnen kamen, verlangsamte ich meine Schritte ein wenig; ich wußte, daß ich nicht weiter mitgehen durfte.

Ja, nun müssen Sie also umkehren, sagte sie und blieb stehen.

Ja, das muß ich wohl, antwortete ich. Gleich darauf aber meinte sie, daß ich gut bis zum Tor mitgehen könne. Herrgott, es sei doch nichts Schlimmes dabei. Nicht?

Nein, sagte ich.

Aber als wir am Tor standen, drang mein ganzes Elend wieder auf mich ein. Wie konnte man auch den Mut aufrechterhalten, wenn man so zusammengebrochen war? Hier stand ich vor einer jungen Dame, schmutzig, zerrissen, von Hunger entstellt, ungewaschen, nur halb bekleidet, – es war um in die Erde zu sinken. Ich machte mich klein, duckte mich unwillkürlich nieder und sagte:

Darf ich Sie nun nie mehr wiedersehen?

Ich wagte nicht zu hoffen, daß ich die Erlaubnis bekommen würde, sie wieder zu treffen; ich wünschte beinahe ein scharfes Nein, daß mich straff und gleichgültig hätte machen können.

Doch, sagte sie.

Wann?

Ich weiß nicht.

Pause.

Wollen Sie nicht so lieb sein und den Schleier nur einen einzigen Augenblick abnehmen, sagte ich, damit ich sehen kann, mit wem ich gesprochen habe. Nur einen Augenblick. Denn ich muß doch sehen, mit wem ich gesprochen habe.

Pause.

Sie können mich am Dienstag abend hier draußen treffen, sagt sie. Wollen Sie das?

Ja, Liebe, wenn ich darf!

Um acht Uhr.

Gut.

Ich strich mit meiner Hand an ihrem Mantel hinunter, bürstete den Schnee ab, um einen Vorwand zu haben, sie zu berühren; es war mir eine Wollust, ihr so nahe zu sein.

Und dann dürfen Sie nicht allzu schlecht von mir denken, sagte sie. Sie lächelte wieder.

Nein ...

Plötzlich machte sie eine entschlossene Bewegung und zog den Schleier in die Stirne hinauf; wir standen da und sahen einander eine Sekunde lang an. Ylajali! rief ich. Sie streckte sich empor, schlang die Arme um meinen Hals und küßte mich mitten auf den Mund. Ich fühlte wie ihre Brust wogte, sie atmete gewaltsam. Und augenblicklich entwand sie sich meinen Händen, rief gute Nacht, atemlos, flüsternd, wandte sich um und lief, ohne mehr zu sagen, die Treppe hinauf ... Das Tor fiel zu.

 

Am nächsten Tage schneite es stärker, ein schwerer, mit Regen vermischter Schnee fiel in großen blauen Flocken, die zu Schmutz wurden. Das Wetter war rauh und eisig.

Ich war spät aufgewacht, im Kopf seltsam betäubt von den Gemütsbewegungen des Abends, im Herzen berauscht von der schönen Begegnung. In meiner Entzückung hatte ich eine Weile wach gelegen und mir Ylajali an meine Seite gedacht; ich breitete die Arme aus, umarmte mich selbst und küßte in die Luft. Dann war ich endlich aufgestanden und hatte wieder eine Tasse Milch zu mir genommen und gleich darauf ein Beefsteak. Ich war nicht mehr hungrig; nur meine Nerven waren wieder stark erregt.

Ich begab mich zu den Kleiderbasaren hinunter. Es fiel mir ein, daß ich vielleicht zu einem billigen Preis eine gebrauchte Weste kaufen könnte, um etwas unter dem Rock zu haben, gleichviel was. Ich stieg die Treppe zu den Basaren hinauf und fand eine Weste, die ich zu untersuchen begann. Während ich damit beschäftigt war, kam ein Bekannter vorbei; er nickte und rief mich an, ich ließ die Weste hängen und ging zu ihm hinunter. Er war Techniker und sollte in das Kontor.

Gehen Sie mit ein Glas Bier trinken, sagte er. Aber kommen Sie gleich, ich habe nur wenig Zeit ... Was war das für eine Dame, mit der Sie gestern abend spazieren gingen?

Hören Sie, sagte ich, auf seinen bloßen Gedanken eifersüchtig, wenn es nun meine Braut wäre?

Tod und Teufel! rief er.

Ja, das hat sich gestern abend entschieden.

Ich hatte ihn damit geschlagen, er glaubte mir unbedingt. Ich log ihn voll, um ihn wieder los zu werden; wir bekamen das Bier, tranken und gingen.

Guten Morgen! ... Hören Sie, sagte er plötzlich. Ich bin Ihnen noch einige Kronen schuldig und es ist eine Schande, daß ich sie nicht längst zurückbezahlt habe, aber nächstens sollen Sie sie bekommen.

Ja, danke, antwortete ich. Doch ich wußte, daß er mir diese Kronen niemals zurückgeben werde.

Das Bier stieg mir leider gleich zu Kopf, mir wurde sehr heiß. Der Gedanke an das Abenteuer des Abends überwältigte mich, machte mich beinahe verstört. Wie, wenn sie sich nun am Dienstag nicht einfände! Wie, wenn sie nachzudenken begänne und Mißtrauen faßte! ... Mißtrauen gegen was? ... Meine Gedanken wurden mit einem Schlag lebendig und begannen mit dem Geld zu spielen. Ich wurde ängstlich, tödlich erschrocken über mich selbst. Der Diebstahl stürmte mit allen seinen Kleinigkeiten auf mich ein; ich sah den kleinen Laden, den Tisch, meine magere Hand, als ich nach dem Geld griff, und ich malte mir das Verfahren der Polizei aus, wenn sie käme, mich festzunehmen. Eisen um Hände und Füße, nein, nur um die Hände, vielleicht nur an die eine Hand; die Schranke, das Protokoll des Wachthabenden, der Laut seiner kratzenden Feder, sein Blick, sein gefährlicher Blick: Na, Herr Tangen? Die Zelle, die ewige Finsternis ...

Hm. Ich ballte heftig die Hände zusammen, um mir Mut zu machen, ging schneller und kam zum Stortorv. Hier setzte ich mich.

Keine Kinderstreiche! Wie in aller Welt konnte man beweisen, daß ich gestohlen hatte? Außerdem wagte der Ladenbursche gar nicht Alarm zu schlagen, selbst wenn er eines Tages sich erinnern würde, wie das Ganze zugegangen war; er hatte wohl seinen Platz zu lieb. Keinen Lärm! keine Szenen, wenn ich bitten darf! Aber dieses Geld in meiner Tasche beschwerte mich nun trotzdem ein wenig und ließ mich nicht in Frieden. Ich fing an, mich selbst zu prüfen und fand auf das klarste heraus, daß ich früher glücklicher gewesen war, damals, als ich in aller Ehrlichkeit litt. Und Ylajali! Hatte ich nicht auch sie mit meinen sündigen Händen herabgezogen! Herrgott, Herr mein Gott! Ylajali!

Ich fühlte mich betrunken wie ein Alk, stand plötzlich auf und ging zu der Kuchenfrau bei der Elefantenapotheke. Noch konnte ich mich von der Schande befreien, es war noch lange nicht zu spät, ich wollte der ganzen Welt zeigen, daß ich dazu imstande war! Unterwegs hielt ich das Geld in Bereitschaft, hielt jeden Ör in der Hand; ich beugte mich zu dem Tisch der Frau hinunter, als ob ich etwas kaufen wollte und drückte ihr ohne weiteres die Münzen hastig in die Hand. Ich sagte kein Wort und ging gleich weg.

Wie wunderbar schmeckte es, wieder ein ehrlicher Mensch zu sein! Meine leere Tasche beschwerte mich nicht mehr, es war ein Genuß, von neuem blank und bar zu sein. Wenn ich richtig nachdachte, hatte mir dieses Geld im Grund viel heimlichen Kummer bereitet, ich hatte wirklich ein über das andere Mal mit Schaudern daran gedacht; ich war keine verstockte Seele, meine ehrliche Natur hatte sich gegen diese niedrige Handlung aufgebäumt, ja. Gott sei Dank, ich hatte mich vor meinem eigenen Bewußtsein wieder erhoben. Macht mir das nach! sagte ich und sah über den wimmelnden Markt hin. Macht mir das nur nach! Ich hatte eine alte, arme Kuchenfrau erfreut, daß es eine Art hatte; sie wußte weder aus noch ein. Heute abend sollten ihre Kinder nicht hungrig zu Bett gehen ... Ich geilte mich mit diesen Gedanken auf und fand, daß ich mich ausgezeichnet betragen hatte. Gott sei Dank, das Geld war ich nun los.

Betrunken und nervös brach ich auf und ging die Straße entlang. Die Freude, Ylajali rein und ehrlich entgegengehen und ihr ins Antlitz sehen zu können, ging in meiner Trunkenheit mit mir durch; ich hatte keine Schmerzen mehr. Mein Kopf war klar und leer, es war, als sei es ein Kopf aus eitel Licht, der auf meinen Schultern stand und leuchtete. Ich bekam Lust, Narrenstreiche zu machen, erstaunliche Dinge zu begehen, die Stadt auf den Kopf zu stellen und zu lärmen. Durch die ganze Graensenstraße hinauf führte ich mich wie ein Wahnsinniger auf. Es sauste leicht in meinen Ohren, und in meinem Gehirn war der Rausch in vollem Gang. Begeistert vor Dummdreistigkeit, kam es mir in den Sinn, einem Dienstmann, der übrigens kein Wort gesprochen hatte, mein Alter anzugeben, ihm die Hand zu drücken, ihm eindringlich ins Gesicht zu sehen und ihn dann wieder ohne eine Erklärung zu verlassen. Ich unterschied die Abschattungen in den Stimmen und dem Lachen der Vorübergehenden, beobachtete einige kleine Vögel, die vor mir auf der Straße umherhüpften, studierte den Ausdruck der Pflastersteine und fand allerhand Zeichen und wunderliche Figuren darin. Mittlerweile war ich bis zum Storthingsplatz hinuntergekommen.

Ich stehe plötzlich still und starre zu den Droschken hin. Die Kutscher wandern schwätzend umher, die Pferde stehen da und beugen sich vornüber gegen das häßliche Wetter. Komm! sagte ich und puffte mich selbst mit dem Ellbogen. Ich ging schnell zum ersten Wagen vor und stieg ein. Ullevaalsweg Nummer 37! rief ich. Und wir rollten davon. Unterwegs begann der Kutscher sich umzusehen, sich hinunterzubeugen und in den Wagen zu gucken, wo ich unter dem Schutzleder saß. War er mißtrauisch geworden? Ohne Zweifel war ihm meine schäbige Bekleidung aufgefallen.

Ich will jemand treffen! rief ich ihm zu, um ihm zuvorzukommen, und erklärte ihm inständig, daß ich diesen Mann absolut treffen müsse.

Wir halten vor Nummer 37, ich springe heraus, eile die Treppen hinauf, ganz hinauf bis zum dritten Stock, ergreife einen Glockenzug und ziehe an; die Glocke drinnen tat sechs, sieben schreckliche Schläge.

Ein Mädchen kommt und macht auf; ich bemerke, daß sie Ringe in den Ohren hat und schwarze Lastingknöpfe an dem grauen Kleid. Sie sieht mich erschrocken an.

Ich frage nach Kierulf, Joachim Kierulf, wenn ich so sagen dürfe, ein Wollhändler, kurz gesagt, man könne ihn nicht verwechseln ...

Das Mädchen schüttelt den Kopf.

Hier wohnt kein Kierulf, sagt sie.

Sie starrt mich an, ergreift die Türe, bereit, sich zurückzuziehen. Sie strengte sich nicht an, den Mann ausfindig zu machen; und sie sah dabei wirklich aus, als kenne sie die Person, nach der ich fragte, wenn sie nur nachdenken wollte, das faule Geschöpf. Ich wurde zornig, wandte ihr den Rücken und lief die Treppen wieder hinunter.

Er war nicht da! rief ich dem Kutscher zu.

Nicht da?

Nein. Fahren Sie nach der Tomtestraße Nummer 11.

Ich war in der heftigsten Aufregung und steckte den Kutscher damit an, er glaubte ganz sicher, daß es das Leben gelte, und fuhr ohne weiteres davon. Er schlug stark auf das Pferd ein.

Wie heißt der Mann? fragte er und wandte sich auf dem Bock um.

Kierulf, Wollhändler Kierulf.

Und der Kutscher fand auch, daß man sich in dem Mann nicht irren konnte. Ob er nicht einen hellen Rock zu tragen pflege?

Wie? rief ich, einen hellen Rock? Sind Sie verrückt? Glauben Sie, ich frage nach einer Teetasse? Dieser helle Rock kam mir sehr ungelegen und verdarb mir das Bild des Mannes, wie ich es mir gedacht hatte.

Wie sagten Sie, daß er heiße? Kjärulf?

Ja, gewiß, antwortete ich, ist da etwas Seltsames daran? Der Name schändet niemand.

Hat er nicht rotes Haar?

Nun war es ja gut möglich, daß er rotes Haar hatte, und als der Kutscher davon sprach, war ich sofort überzeugt, daß er recht habe. Ich fühlte mich dem armen Kutscher gegenüber dankbar und sagte ihm, er habe den Mann ganz richtig erfaßt; es verhielte sich wirklich so, wie er sagte. Es sei eine Seltenheit, einen solchen Mann ohne rotes Haar zu treffen.

Ich glaube, den habe ich schon ein paarmal gefahren, sagte der Kutscher. Er hat auch einen Knotenstock.

Dies ließ mir den Mann ganz lebendig werden und ich erwiderte:

Hehe, diesen Mann hat wohl noch niemand ohne seinen Knotenstock in der Hand gesehen. Dessen können Sie sicher sein, ganz sicher.

Ja, es war klar, daß dies der gleiche Mann war, den er gefahren hatte. Er erkannte ihn wieder ...

Und wir fuhren darauf los, daß die Funken von den Hufen sprühten.

Mitten in diesem aufgeregten Zustand hatte ich keinen einzigen Augenblick die Geistesgegenwart verloren. Wir kommen an einem Polizeibeamten vorbei, und ich bemerke, daß er die Nummer 69 hat. Diese Zahl trifft mich grausam genau, steht mit einemmal wie ein Splitter in meinem Gehirn. Neunundsechzig, genau neunundsechzig, ich würde es nicht vergessen!

Ich lehnte mich im Wagen zurück, eine Beute der verrücktesten Einfälle, kroch unter dem Schutzleder zusammen damit niemand sehen sollte, daß ich den Mund bewegte, und plapperte idiotisch vor mich hin. Der Wahnsinn rast durch mein Gehirn und ich lasse ihn rasen, ich bin mir vollkommen bewußt, daß ich Einflüssen unterliege, über die ich nicht Herr bin. Ich beginne zu lachen, stumm und leidenschaftlich, ohne jeden Grund, immer noch lustig und betrunken von den etlichen Glas Bier, die ich genossen hatte. Nach und nach nimmt meine Erregung ab, meine Ruhe kehrt mehr und mehr zurück. Ich fühlte in meinem verwundeten Finger die Kälte und steckte ihn in den Halsbund, um ihn ein wenig zu wärmen. So kamen wir in die Tomtestraße. Der Kutscher hält an.

Ich steige ohne Hast aus dem Wagen, gedankenlos, schlapp, schwer im Kopf. Ich gehe durch das Tor, komme in einen Hinterhof, den ich überquere, stoße auf eine Türe, die ich öffne, gehe hinein und befinde mich in einem Gang, einer Art Vorzimmer mit zwei Fenstern. In einem Winkel stehen zwei Koffer übereinander, und an der Längswand ist eine alte, unbemalte Sofabank, auf der eine Decke liegt. Im nächsten Zimmer zur Rechten höre ich Stimmen und Kindergeschrei und über mir im ersten Stock den Lärm einer Eisenplatte, auf die gehämmert wird. All dies bemerke ich, sowie ich hereingekommen bin.

Ich gehe ruhig quer durchs Zimmer, zur entgegengesetzten Türe hin, ohne mich zu beeilen, ohne den Gedanken an Flucht, öffne auch diese Türe und trete in die Vognmandsstraße hinaus. Ich sehe an dem Haus hinauf, das ich eben durchquert habe, und lese über der Türe: Kost und Logis für Reisende.

Es fällt mir nicht ein, wegzuschleichen, mich von dem Kutscher, der auf mich wartet, fortzustehlen; ich gehe sehr bedächtig auf die Vognmandsstraße hinaus, ohne Furcht und ohne mir einer schlechten Tat bewußt zu sein. Kierulf, dieser Wollhändler, der so lange in meinem Gehirn gespukt hatte, dieser Mensch, den ich tatsächlich am Leben geglaubt, und den ich notwendig hätte treffen müssen, war mir aus dem Kopf gekommen, war ausgelöscht, zusammen mit anderen verrückten Einfällen, die einer nach dem anderen kamen und gingen, er war mir nur noch wie eine Ahnung, eine Erinnerung im Gedächtnis.

Ich wurde immer nüchterner, je weiter ich wanderte, fühlte mich schwer und matt und schleppte die Beine nach. Der Schnee fiel immer noch in großen, nassen Fetzen. Zuletzt kam ich nach Grönland hinaus, bis zur Kirche, wo ich mich auf eine Bank setzte. Alle Vorübergehenden betrachteten mich sehr verwundert. Ich fiel in Gedanken.

Du guter Gott, wie schlecht war es um mich bestellt! Ich war meines ganzen elenden Lebens so herzlich müde, daß ich es nicht mehr der Mühe wert fand, weiterhin darum zu kämpfen. Das Mißgeschick hatte überhand genommen, es war zu arg geworden. Ich war so merkwürdig vernichtet, nur noch ein Schatten dessen, was ich einmal gewesen war. Meine Schultern waren ganz auf die eine Seite herabgesunken, und es war mir zur Gewohnheit geworden, mich beim Gehen stark vorzubeugen, um meine Brust zu schonen, so gut es ging. Ich hatte meinen Körper vor ein paar Tagen untersucht, eines Mittags in meinem Zimmer oben, und ich war dagestanden und hatte die ganze Zeit über ihn geweint. Seit vielen Wochen trug ich das gleiche Hemd, es war steif von altem Schweiß, und mein Nabel war aufgewetzt; ein wenig blutiges Wasser kam aus der Wunde, sie schmerzte nicht, aber es war so traurig, mitten auf dem Bauch diese Wunde zu haben. Ich konnte nichts für diese Wunde tun und von selbst wollte sie nicht wieder zuheilen; ich wusch sie, trocknete sie sorgsam ab und zog wieder das gleiche Hemd an. Es war nicht zu ändern ...

Ich sitze auf der Bank und denke über all dieses nach und bin ziemlich traurig. Es ekelte mich vor mir selbst; sogar meine Hände kommen mir widerlich vor. Dieser schlappe, schamlose Ausdruck auf meinem Handrücken peinigt mich, macht mir Unbehagen; ich fühle mich durch den Anblick meiner mageren Finger roh in Mitleidenschaft gezogen, ich hasse meinen ganzen schlottrigen Körper und schaudere bei dem Gedanken, ihn zu tragen, ihn um mich zu fühlen. Herrgott, wenn es doch nur ein Ende nehmen wollte! Ich würde so herzlich gerne sterben. Vollständig bezwungen, besudelt und in meinem eigenen Bewußtsein erniedrigt, stehe ich mechanisch auf und gehe heimwärts. Unterwegs kam ich an einem Tor vorbei, an dem folgendes zu lesen stand: »Leichenwäsche bei Jungfer Andersen, rechts im Torweg.« – Alte Erinnerungen! sagte ich und dachte an mein früheres Zimmer auf Hammersborg, den kleinen Schaukelstuhl, die Zeitungen unten bei der Türe, die Anzeigen des Leuchtfeuerdirektors und an Bäcker Fabian Olsens frischgebackenes Brot. O ja, damals hatte ich es doch viel besser gehabt als jetzt; in einer einzigen Nacht hatte ich ein Feuilleton für zehn Kronen geschrieben, nun konnte ich nichts mehr schreiben, konnte durchaus nichts mehr schreiben, mein Kopf wurde sofort leer, sobald ich es versuchte. Ja, ich wollte nun ein Ende haben! Und ich ging und ging.

Mit jedem Schritt, mit dem ich dem Kramladen näher kam, hatte ich halb unbewußt das Gefühl, ich gehe einer Gefahr entgegen; aber ich hielt an meinem Vorsatz fest, ich wollte mich ausliefern. Ruhig steige ich die Treppe hinauf, begegne in der Türe einem kleinen Mädchen, das eine Tasse in der Hand trägt, schlüpfe an ihr vorbei und schließe die Türe. Der Gehilfe und ich stehen uns wieder gegenüber, allein.

Na, sagt er, das ist ein schreckliches Wetter.

Wozu diesen Umweg? Warum stellte er mich nicht sofort? Ich wurde wütend und sagte:

Ich bin nicht hierher gekommen, um über das Wetter zu sprechen.

Diese Heftigkeit verblüfft ihn, sein kleiner Krämergeist versagt; es war ihm gar nicht eingefallen, daß ich ihn um fünf Kronen geprellt hatte.

Wissen Sie denn nicht, daß ich Sie betrogen habe? sagte ich ungeduldig, und ich schnaufe heftig, bebe, bin bereit, Gewalt anzuwenden, falls er nicht sofort zur Sache käme.

Aber der arme Kerl ahnt nichts.

Ach, du lieber Himmel! unter welch dummen Menschen mußte man doch leben! Ich schelte ihn aus, erkläre ihm Punkt für Punkt, wie das Ganze zugegangen war, zeige ihm, wo ich stand und wo er stand, als die Tat geschah, wo das Geld gelegen hatte, wie ich es in meine Hand eingesammelt und die Hand darum zusammengeschlossen hatte, – und er versteht alles, unternimmt aber trotzdem nichts gegen mich. Er wendet sich hierhin und dorthin, horcht nach Fußtritten im Nebenzimmer, macht mir Zeichen, um mich zu leiserem Sprechen zu bewegen und sagt zum Schluß:

Das war recht schäbig von Ihnen!

Nein, warten Sie! rief ich in meinem Drang, ihm zu widersprechen und ihn aufzureizen. Es sei nicht so gemein und niedrig gewesen, wie er es sich in seinem elenden Krämerhirn vorstelle. Ich hätte das Geld natürlich nicht behalten, das wäre mir niemals eingefallen; ich für meinen Teil wollte keinen Nutzen daraus ziehen. Dies sei meiner grundehrlichen Natur zuwider ...

Was taten Sie dann damit?

Ich hätte es einer alten, armen Frau gegeben, jeden Ör, daß er es nur wisse; solch ein Mensch sei ich, ich vergäße die Armen nicht ganz ...

Er denkt eine kleine Weile darüber nach, wird offenbar unsicher, wieweit ich ein ehrlicher Mann sei oder nicht. Endlich sagt er:

Hätten Sie das Geld nicht besser zurückgeben müssen?

Nein, hören Sie, antworte ich frech. Ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, ich wollte Sie schonen. Aber das ist der Dank, den man für seinen Edelmut hat. Nun stehe ich hier und erkläre Ihnen das Ganze und Sie schämen sich nicht wie ein Hund, machen auch nicht die geringsten Anstalten, den Streit mit mir auszugleichen. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Im übrigen soll Sie der Teufel holen. Leben Sie wohl!

Ich schlug die Türe hart hinter mir zu.

Aber als ich in mein Zimmer kam, in dieses betrübliche Loch, durchnäßt vom weichen Schnee, die Knie bebend von des Tages Wanderungen, verlor ich augenblicklich meine Hochnäsigkeit und fiel wiederum zusammen. Ich bereute meinen Überfall auf den armen Ladengehilfen, weinte, griff mir an die Kehle, um mich für meinen erbärmlichen Streich zu strafen, und tobte umher. Er war natürlich in der tödlichsten Angst um seine Stellung gewesen und hatte nicht gewagt, wegen dieser fünf Kronen, die das Geschäft verloren hatte, viel Aufhebens zu machen. Und ich hatte seine Furcht ausgenützt, hatte ihn mit lauter Rede gepeinigt, ihn mit jedem Wort, das ich ausrief, aufgespießt. Und der Kaufmann selbst hatte vielleicht im Zimmer nebenan gesessen und wäre bei einem Haar herausgekommen, um zu sehen, was vorging. Nein, es war doch unfaßbar, welche Niederträchtigkeiten ich begehen konnte!

Na, aber weshalb war ich nicht verhaftet worden? So wäre es zu einem Abschluß gekommen. Ich hatte doch die Hände schon förmlich nach den Fesseln ausgestreckt. Ich hätte gar keinen Widerstand geleistet, hätte im Gegenteil dazugeholfen. Herr des Himmels und der Erden, einen Tag meines Lebens für eine glückliche Sekunde! Mein ganzes Leben für ein Linsengericht! Erhöre mich nur dieses eine Mal! ...

Ich legte mich in den nassen Kleidern nieder; ich hatte den unklaren Gedanken, daß ich vielleicht in der Nacht sterben würde, und verwandte meine letzte Kraft darauf, mein Bett ein wenig zu ordnen, damit es am Morgen einigermaßen ordentlich um mich herum aussehe. Ich faltete die Hände und wählte meine Lage.

Dann erinnerte ich mich mit einem Mal Ylajalis. Daß ich sie den ganzen Abend über so vollständig vergessen hatte! Und das Licht dringt wieder ganz schwach in mein Gemüt, – ein kleiner Sonnenstrahl, der mich so wohltuend wärmt. Und es kommt noch mehr Sonne, ein mildes, feines Seidenlicht, das mich betäubend herrlich streift. Und die Sonne wird stärker und stärker, brennt scharf auf meinen Schläfen, kocht schwer und glühend in meinem ausgezehrten Gehirn. Und zuletzt flammt ein wahnwitziger Strahlenhaufen vor meinen Augen. Himmel und Erde entzündet, Menschen und Tiere aus Feuer, Berge aus Feuer, Teufel aus Feuer, ein Abgrund, eine Wüste, eine Welt in Brand, ein rauchender jüngster Tag.

Und ich sah und hörte nichts mehr ...

 

Ich erwachte am nächsten Tag in Schweiß gebadet, feucht am ganzen Körper; das Fieber hatte mich gewaltig erfaßt. Im ersten Augenblick war ich mir nicht klar darüber, was gestern mit mir vorgegangen war, ich sah mich mit Erstaunen um, fühlte mein Wesen vollständig vertauscht, kannte mich gar nicht wieder. Ich tastete Arme und Beine ab, fiel in Erstaunen darüber, daß das Fenster in dieser und nicht in der gerade entgegengesetzten Wand war und hörte das Stampfen der Pferde unten im Hof, als käme es von oben. Mir war ziemlich übel.

Das Haar lag mir naß und kalt um die Stirne; ich stützte mich auf den Ellbogen und sah aufs Kopfkissen nieder: auch hier lag nasses Haar in kleinen Büscheln. Meine Füße waren im Lauf der Nacht in den Schuhen angeschwollen; aber sie schmerzten nicht, ich konnte nur die Zehen nicht gut bewegen.

Als es gegen das Ende des Nachmittags ging und bereits ein wenig zu dämmern begonnen hatte, stand ich vom Bett auf und machte mir im Zimmer zu schaffen. Ich tat kleine vorsichtige Schritte, versuchte mich im Gleichgewicht zu halten und schonte meine Füße soviel als möglich. Ich litt nicht sehr und weinte nicht; ich war eigentlich nicht traurig, war im Gegenteil unendlich zufrieden; es kam mir nicht in den Sinn, daß irgend etwas anders sein könnte, als es war.

Dann ging ich aus.

Das einzige, was mich ein wenig störte, war trotz meines Ekels vor Essen der Hunger. Ich begann wieder einen schandbaren Appetit zu fühlen, eine innere gefräßige Eßlust, die ständig schlimmer wurde. Unbarmherzig nagte es in meiner Brust, vollführte eine schweigende, seltsame Arbeit da drinnen. Es war wie ein Dutzend winzig kleiner, feiner Tiere, die den Kopf auf die eine Seite legten und ein bißchen nagten, darauf den Kopf auf die andere Seite legten und ein bißchen nagten, einen Augenblick vollkommen still lagen, wieder anfingen, sich ohne Lärm und ohne Hast einbohrten und überall leere Strecken hinterließen ...

Ich war nicht krank, nur matt, ich begann zu schwitzen. Ich wollte zum Stortorv gehen, um dort ein wenig auszuruhen; aber der Weg war lang und beschwerlich; endlich war ich beinahe dort, ich stand an der Ecke vom Marktplatz und der Torvstraße. Der Schweiß rann mir in die Augen, benetzte meine Brille und machte mich blind, und ich war soeben stehengeblieben, um mich ein wenig abzutrocknen. Ich merkte nicht, wo ich stand, dachte nicht darüber nach; der Lärm um mich her war fürchterlich.

Plötzlich ertönt ein Ruf, ein kalter, scharfer Warnungsruf. Ich höre diesen Ruf, höre ihn sehr gut und rücke nervös zur Seite, mache einen Schritt, so schnell meine schlechten Beine sich bewegen können. Ein Ungeheuer von einem Brotwagen fährt dicht an mir vorbei und streift meinen Rock mit dem Rad; wäre ich etwas flinker gewesen, wäre ich ganz frei ausgegangen. Ich hätte vielleicht etwas flinker sein können, ein ganz klein wenig flinker, wenn ich mich angestrengt hätte; nun war nichts mehr zu machen, mein einer Fuß tat mir weh, ein paar Zehen waren zerquetscht worden. Ich fühlte, wie sie sich im Schuh gleichsam zusammenkrümmten.

Der Wagenführer hält die Pferde mit aller Kraft an; er dreht sich auf dem Wagen um und fragt entsetzt, wie es gehe. Nun, es hätte schlimmer ausfallen können ... es sei wohl nicht so gefährlich ... ich glaube nicht, daß etwas gebrochen sei ... Oh, bitte sehr ...

Ich ging, so schnell ich konnte, zu einer Bank; diese vielen Menschen, die um mich her stehenblieben und mich anglotzten, störten mich. Eigentlich war es kein Todesstoß, es war verhältnismäßig gut gegangen, wenn das Unglück schon einmal geschehen mußte. Das Ärgste war, daß mein Schuh zerquetscht, die Sohle von der Kappe abgerissen worden war. Ich hob den Fuß und sah Blut in der Öffnung. Na, es war von keiner Seite mit Absicht geschehen, es war nicht die Absicht des Mannes gewesen, mir noch Schlimmeres zuzufügen; er hatte sehr erschrocken ausgesehen. Wenn ich ihn vielleicht um ein kleines Brot vom Wagen gebeten hätte, so hätte ich es bekommen. Er hätte es mir gewiß mit Freuden gegeben. Möge Gott es ihm vergelten.

Ich hungerte schwer und wußte nicht, wie ich meinen schamlosen Appetit loswerden sollte. Ich wand mich auf der Bank hin und her und bog die Brust bis auf meine Knie hinunter. Als es dunkel wurde, schlich ich zum Rathaus.

Gott weiß, wie ich dahin kam – ich setzte mich auf die Kante der Balustrade. Ich riß die eine Tasche aus meinem Rock heraus und fing an, darauf zu kauen, übrigens ohne irgendwelche Absicht, mit finsterer Miene, die Augen starr geradeaus gerichtet, ohne etwas zu sehen. Ich hörte einige kleine Kinder um mich herum spielen und vernahm es instinktmäßig, wenn ein Spaziergänger an mir vorbeiging; sonst beachtete ich nichts.

Da fällt mir plötzlich ein, in einen der Basare unter mir zu gehen und ein Stück rohes Fleisch zu holen. Ich stehe auf und gehe quer über die Balustrade, bis zum anderen Ende des Basardaches und steige hinab. Als ich beinahe bis zur Fleischbank hinuntergekommen war, rief ich in die Treppenöffnung hinauf und drohte zurück, als spräche ich zu einem Hund da oben, und wandte mich frech an den ersten Metzger, den ich traf.

Ach, seien Sie so gut und geben Sie mir einen Knochen für meinen Hund! sagte ich. Nur einen Knochen. Es braucht nichts daran zu sein; er soll nur etwas im Maul zu tragen haben.

Ich erhielt einen Knochen, einen prächtigen kleinen Knochen, an dem noch etwas Fleisch war, und steckte ihn unter den Rock. Ich dankte dem Mann so herzlich, daß er mich erstaunt ansah.

Nichts zu danken, erwiderte er.

Doch, sagen Sie das nicht, murmelte ich, es ist sehr freundlich von Ihnen.

Und ich ging hinauf. Das Herz schlug stark in mir.

Ich schlich mich so tief als möglich in den Schmiedgang und blieb vor einem verfallenen Tor in einem Hinterhof stehen. Von keiner Seite war ein Licht zu sehen, es war wundervoll dunkel rings um mich; ich begann an dem Knochen zu nagen.

Er schmeckte nach nichts; ein erstickender Geruch von altem Blut stieg von ihm auf, und ich mußte mich sofort erbrechen. Ich versuchte es wieder. Wenn ich es nur bei mir behalten könnte, würde es wohl seine Wirkung tun; es galt, den Magen zu beruhigen. Ich erbrach mich wieder. Ich wurde zornig, biß heftig in das Fleisch, zerrte ein Stückchen ab und würgte es mit Gewalt hinunter. Und es nützte doch nichts; sobald die kleinen Fleischbrocken im Magen warm geworden waren, kamen sie wieder herauf. Wahnsinnig ballte ich die Hände, war vor Hilflosigkeit dem Weinen nahe und nagte wie ein Besessener; ich weinte, daß der Knochen naß und schmutzig wurde von den Tränen, erbrach mich, fluchte und nagte wieder, weinte, als wollte mir das Herz brechen, und übergab mich abermals. Ich wünschte mit lauter Stimme alle Mächte der Welt zur Hölle.

Stille. Kein Mensch um mich her, kein Licht, kein Lärm. Ich bin in der gewaltsamsten Gemütserregung, atme schwer und laut und weine zähneknirschend, so oft ich diese kleinen Bissen Fleisches, die mich vielleicht ein wenig hätten sättigen können, von mir geben muß. Als gar nichts hilft, so sehr ich auch alles versuche, schleudere ich voll ohnmächtigen Hasses den Knochen gegen das Tor, hingerissen von Wut, rufe und drohe heftig gegen den Himmel hinauf, schreie Gottes Namen heiser und verbissen hinaus und krümme meine Finger wie Klauen ... Ich sage dir, du heiliger Baal des Himmels, du lebst nicht, aber wenn du lebtest, würde ich dir so fluchen, daß dein Himmel vom Feuer der Hölle erbeben würde. Ich sage dir, ich habe dir meine Dienste angeboten, und du hast sie abgewiesen, du hast mich verstoßen, und ich wende dir für ewig den Rücken, weil du die Stunde der Gnade nicht erkanntest. Ich sage dir, ich weiß, daß ich sterben muß, und ich spotte deiner trotzdem, mit dem Tod vor Augen, du himmlischer Apis. Du hast Gewalt gegen mich angewandt, und du weißt nicht, daß ich mich niemals dem Unglück beuge. Mußtest du das nicht wissen? Hast du mein Herz im Schlaf gebildet? Ich sage dir, mein ganzes Leben und jeder Blutstropfen in mir freut sich darüber, dich zu verhöhnen und deine Gnade zu bespeien. Von dieser Stunde an will ich allen deinen Werken und deinem ganzen Wesen entsagen, ich will meine Gedanken verfluchen, wenn sie wieder an dich denken sollten, und meine Lippen ausreißen, wenn sie deinen Namen wieder nennen. Ich sage dir, wenn du wirklich bist, das letzte Wort im Leben und im Tode, ich sage dir Lebwohl. Und dann schweige ich und wende dir den Rücken und gehe meines Weges ...

Stille.

Ich bebe vor Erregung und Erschöpfung, stehe noch auf demselben Fleck, immer noch Flüche und Schimpfworte flüsternd, noch schlucksend nach dem heftigen Weinen, gebrochen und schlapp nach diesem wahnsinnigen Zornesausbruch. Ach, es war nur Büchersprache und Literatur, was ich hier angebracht hatte, mitten in meinem Elend sogar, es war Geschwätz. Ich stehe vielleicht eine halbe Stunde da und schluchze und flüstere und halte mich am Tor fest. Dann höre ich Stimmen, ein Gespräch zwischen zwei Männern, die durch den Schmiedgang hereinkommen. Ich taumle von der Türe weg, schleppe mich an den Häusern entlang und komme wieder auf die hellen Straßen hinaus. Während ich die Youngshöhe hinunterschleiche, fängt mein Gehirn plötzlich in einer höchst seltsamen Richtung zu arbeiten an. Es fällt mir ein, daß die elenden Baracken unten an der Seite des Marktplatzes, die Läden und die alten Buden mit gebrauchten Kleidern doch eine Verunstaltung der Gegend seien. Sie schändeten das Aussehen des ganzen Platzes, befleckten die Stadt, pfui, nieder mit dem Gerümpel! Und in Gedanken überschlug ich, was es kosten würde, das Geographische Institut hierher zu stellen, dieses schöne Gebäude, das mir immer so gut gefallen hatte, so oft ich daran vorbeigekommen war. Ein derartiger Transport würde sich vielleicht nicht unter siebzig bis zweiundsiebzigtausend Kronen machen lassen, – eine schöne Summe, das mußte man zugeben, ein ganz schönes Taschengeld, hehe, so für den Anfang. Und ich nickte mit schwerem Kopf und gab zu, daß es ein ganz schönes Taschengeld sei, so für den Anfang. Ich zitterte immer noch über den ganzen Körper und schluchzte hie und da tief auf nach dem Weinen.

Ich hatte das Gefühl, als sei nicht mehr viel Leben in mir, als pfiffe ich im Grunde auf dem letzten Loch. Dies war mir auch ziemlich gleichgültig, es beschäftigte mich nicht im geringsten; ich ging im Gegenteil durch die Stadt zum Hafen hinunter, immer weiter und weiter weg von meinem Zimmer. Ich hätte mich ebensogut zum Sterben platt auf die Straße hingelegt. Die Qualen machten mich immer gefühlloser; in meinem verwundeten Fuß klopfte es heftig, ich hatte sogar den Eindruck, daß der Schmerz sich über den ganzen Körper verbreitete, aber nicht einmal das tat besonders weh. Ich hatte schlimmere Dinge ausgestanden.

So kam ich zum Eisenbahnkai. Es war kein Verkehr dort, kein Lärm, nur hie und da war ein Mensch zu sehen, ein Schauermann oder ein Seemann, der mit den Händen in den Taschen sich herumtrieb. Ich bemerkte einen hinkenden Mann, der starr mich anschielte, während wir aneinander vorbeigingen. Instinktmäßig stellte ich ihn, griff an den Hut und fragte, ob die »Nonne« abgesegelt sei. Und nachher konnte ich es nicht lassen, ein einziges Mal dicht vor seinen Augen mit den Fingern zu knipsen und zu sagen: Tod und Teufel, die »Nonne« ja! Die »Nonne«, die ich ganz vergessen hatte! Der Gedanke an sie hatte wohl trotzdem unbewußt in meinem Inneren geschlummert, ich hatte ihn mit mir herumgetragen, ohne es selbst zu wissen.

Ja, bewahre, die »Nonne« sei abgesegelt.

Er könne mir wohl nicht sagen, wohin?

Der Mann denkt nach, steht auf dem langen Bein und hält das kurze in die Luft; das kurze baumelt ein wenig.

Nein, sagt er. Wissen Sie, was sie hier gelastet hat?

Nein, antwortete ich. Aber nun hatte ich die »Nonne« bereits vergessen, und ich fragte den Mann, wie weit es wohl bis Holmestrand sein könne, in guten, alten geographischen Meilen gerechnet.

Bis Holmestrand? Ich nehme an ...

Oder bis Veblungsnaes?

Was ich sagen wollte, ich nehme an, daß bis Holmestrand ...

Ach, hören Sie, weil es mir gerade einfällt, unterbrach ich ihn wieder, Sie würden wohl nicht so freundlich sein, mir einen kleinen Bissen Tabak zu geben, nur ein ganz klein wenig.

Ich erhielt den Tabak, dankte dem Mann sehr herzlich und ging fort. Ich machte keinen Gebrauch von dem Tabak, ich steckte ihn sofort in die Tasche. Der Mann behielt mich immer noch im Auge, ich hatte vielleicht sein Mißtrauen auf irgendeine Weise erregt; wo ich ging und stand, fühlte ich diesen mißtrauischen Blick auf mir und wollte mich nicht von diesem Menschen verfolgen lassen. Ich kehre um und trete an ihn heran und sage:

Nadler.

Nur dieses Wort: Nadler. Nicht mehr. Ich sehe ihn sehr starr an, während ich das sage, ich fühlte, daß ich ihn fürchterlich anstarrte; es war, als ob ich ihn aus einer anderen Welt anschaute. Und ich bleibe eine kleine Weile stehen, als ich dieses Wort gesagt habe. Dann schleiche ich wieder zum Bahnhofsplatz zurück. Der Mann gab keinen Laut von sich. Er behielt mich nur im Auge.

Nadler? Ich stand plötzlich still. Ja, hatte ich nicht schon sofort das Gefühl gehabt: ich hätte den Krüppel schon früher einmal getroffen. Oben in Graensen, an einem lichten Morgen; ich hatte meine Weste versetzt. Es schien mir eine Ewigkeit vergangen zu sein seit diesem Tag.

Während ich dastehe und darüber nachdenke – ich stütze mich gegen eine Hauswand an der Ecke des Marktplatzes an der Hafenstraße – fahre ich plötzlich zusammen und versuche wegzuschleichen. Da mir dies nicht gelingt, starre ich verstockt geradeaus und beiße aller Scham den Kopf ab, es war nichts mehr zu machen, – ich stehe Antlitz in Antlitz mit dem »Kommandeur«.

Ich werde rücksichtslos frech, trete sogar einen Schritt von der Wand weg, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Ich tue das nicht, um Mitleid zu erwecken, sondern um mich selbst zu verhöhnen, mich an den Pranger zu stellen; ich hätte mich auf der Straße wälzen und den Kommandeur bitten mögen, über mich hinwegzugehen, mir ins Gesicht zu treten. Ich sagte nicht einmal guten Abend.

Der »Kommandeur« ahnte vielleicht, daß bei mir irgend etwas nicht richtig war, er verlangsamte seinen Schritt ein wenig, und ich sage, um ihn zum Stehen zu bringen:

Ich hätte Ihnen schon etwas gebracht, aber es ist noch nichts Rechtes geworden.

Ja? antwortet er fragend. Haben Sie es noch nicht fertig?

Nein, ich habe es noch nicht fertigbekommen.

Aber bei der Freundlichkeit des »Kommandeurs« stehen meine Augen plötzlich voll Wasser, und ich räuspere mich und huste erbittert, um mich stark zu machen. Der »Kommandeur« stößt einmal die Luft durch die Nase; er sieht mich an.

Haben Sie mittlerweile etwas zum Leben? sagt er.

Nein, antworte ich, das habe ich auch nicht. Ich habe heute noch nicht gegessen, aber ...

Gott bewahre Sie, es geht doch unmöglich an, daß Sie hier herumlaufen und verhungern, Mensch! sagt er. Und er greift sofort in die Tasche.

Jetzt erwacht das Schamgefühl in mir, ich schwanke wieder zu der Mauer und halte mich fest, stehe da und sehe zu, wie der »Kommandeur« in seinem Geldbeutel wühlt; aber ich sage nichts. Und er reicht mir einen Zehnkronenschein. Er macht keinerlei Umstände damit, er gibt mir einfach zehn Kronen. Gleichzeitig wiederholt er: es gehe doch unmöglich an, daß ich verhungere.

Ich stammelte eine Einwendung und nahm den Schein nicht sogleich: Es sei schändlich von mir, dies ... es sei auch zuviel ...

Beeilen Sie sich nun! sagt er und sieht auf seine Uhr. Ich habe auf den Zug gewartet; aber nun höre ich ihn kommen.

Ich nahm das Geld, ich war lahm vor Freude und sagte kein Wort mehr, ich dankte nicht einmal.

Sie brauchen sich deswegen nicht zu genieren, sagt der »Kommandeur« schließlich noch; Sie können ja dafür schreiben, das weiß ich.

Dann ging er.

Als er einige Schritte weit gekommen war, erinnerte ich mich mit einemmal, daß ich dem »Kommandeur« für diese Hilfe nicht gedankt hatte. Ich versuchte ihn einzuholen, konnte aber nicht schnell genug vom Fleck kommen, meine Beine versagten, und immer wieder fiel ich schier zu Boden. Er entfernte sich mehr und mehr. Ich gab den Versuch auf, dachte daran, ihm nachzurufen, wagte es aber nicht, und als ich endlich trotzdem Mut gefaßt hatte und einmal, zweimal rief, war er bereits zu weit weg, meine Stimme war zu schwach geworden.

Ich blieb zurück, sah ihm nach und weinte ganz leise. Dergleichen habe ich nie erlebt! sagte ich zu mir; er gab mir zehn Kronen! Ich kehrte um und stellte mich dorthin, wo er gestanden hatte, und machte alle seine Bewegungen nach. Und ich hielt den Geldschein an meine nassen Augen, besah ihn von beiden Seiten und begann zu fluchen – ins Blaue hinein zu fluchen, daß es seine Richtigkeit mit dem habe, was ich in der Hand hielt, – es waren zehn Kronen.

Eine Weile danach – vielleicht sehr lange danach, denn es war überall schon ganz still geworden – stand ich merkwürdigerweise vor dem Haus in der Tomtestraße Nummer 11. Und hier hatte ich einen Kutscher betrogen, der mich einmal gefahren hatte, und hier war ich einmal quer durch das Haus gegangen, ohne von jemand gesehen zu werden. Als ich einen Augenblick dagestanden und mich gesammelt und gewundert hatte, ging ich zum zweitenmal durch das Tor, gerade hinein in »Kost und Logis für Reisende«. Hier bat ich um Obdach und bekam sofort ein Bett.

 

Dienstag.

Sonnenschein und Stille, ein wunderbarer, heller Tag. Der Schnee war weg; allerorten Leben und Lust und frohe Gesichter, Lächeln und Lachen. Von den Springbrunnen stiegen die Wasserstrahlen im Bogen auf, golden von der Sonne, blau von dem blauen Himmel ...

Gegen Mittag trat ich aus meinem Logis in der Tomtestraße, in dem ich immer noch wohnte und es mir für die zehn Kronen des »Kommandeurs« gut gehen ließ, und begab mich in die Stadt. Ich war in der fröhlichsten Stimmung und trieb mich den ganzen Nachmittag in den lebhaftesten Straßen umher und sah den Menschen zu. Noch bevor es sieben Uhr abends wurde, machte ich einen Spaziergang zum St. Olafsplatz und lugte heimlich zu den Fenstern in Nummer 2 hinauf. In einer Stunde sollte ich sie sehen! Ich ging die ganze Zeit in einer leichten, köstlichen Angst umher. Was würde geschehen? Was sollte ich anfangen, wenn sie die Treppe herunterkam? Guten Abend, Fräulein? Oder nur lächeln? Ich entschloß mich, es beim Lächeln zu lassen. Natürlich würde ich sie tief grüßen.

Ich schlich weg, ein wenig beschämt, weil ich so früh daran war, wanderte eine Weile in der Karl-Johan-Straße auf und ab und behielt die Universitätsuhr im Auge. Als es acht Uhr wurde, ging ich die Universitätsstraße wieder hinauf. Unterwegs fiel es mir ein, daß ich vielleicht ein paar Minuten zu spät kommen könnte, und ich holte aus, so gut ich vermochte. Mein Fuß schmerzte sehr, aber sonst fehlte mir nichts.

Ich nahm meinen Platz beim Springbrunnen ein und verschnaufte. Ich stand ziemlich lange da und sah nach den Fenstern in Nummer 2 hinauf; aber sie kam nicht. Na, ich würde schon warten, ich hatte keine Eile; sie war vielleicht noch verhindert. Und ich wartete weiterhin. Ich hatte das Ganze doch wohl nicht geträumt, die erste Begegnung mit ihr in der Einbildung erlebt, in jener Nacht, in der ich im Fieber lag? Ratlos begann ich nachzudenken und fühlte mich meiner Sache gar nicht sicher.

Hm! sagte es hinter mir.

Ich hörte dieses Räuspern, ich hörte auch leichte Schritte in meiner Nähe; aber ich drehte mich nicht um, starrte nur auf die große Treppe vor mir.

Guten Abend! sagt es dann.

Ich vergesse zu lächeln, greife nicht einmal sofort zum Hut, ich bin so erstaunt, sie von dieser Seite kommen zu sehen.

Haben Sie lange gewartet? sagt sie, und sie atmet etwas rasch nach dem Lauf.

Nein, gar nicht, ich kam vor kurzem, antwortete ich. Und außerdem, was hätte es geschadet, wenn ich lange gewartet hätte? Ich dachte übrigens, Sie würden von einer anderen Seite kommen?

Ich habe Mama zu Bekannten begleitet, Mama ist heute abend nicht zu Hause.

Ach so! sagte ich.

Wir waren ins Gehen gekommen. An der Straßenecke steht ein Schutzmann und sieht uns an.

Aber wohin gehen wir eigentlich? sagt sie und bleibt stehen.

Wohin Sie wollen, nur wohin Sie wollen.

Uff ja, aber es ist sehr langweilig, das selbst zu bestimmen.

Pause.

Dann sage ich, nur um etwas zu sagen:

Ihre Fenster sind dunkel, sehe ich.

Ja, freilich! antwortet sie lebhaft. Das Mädchen hat auch frei. So daß ich ganz allein zu Hause bin.

Wir stehen beide da und sehen zu den Fenstern in Nummer 2 hinauf, als ob keines von uns sie früher schon gesehen hätte.

Können wir nicht zu Ihnen hinaufgehen? frage ich. Ich werde die ganze Zeit bei der Türe sitzen bleiben, wenn Sie das wollen ...

Aber nun bebte ich vor Erregung und bereute sehr, so frech gewesen zu sein. Wenn sie nun gekränkt war und von mir fortging? Wenn ich sie nun nie mehr sehen durfte? Ach, welch elenden Anzug ich anhatte. Verzweifelt wartete ich auf die Antwort.

Sie brauchen durchaus nicht an der Türe zu sitzen, sagt sie. Wir gingen hinauf.

Auf dem Gang, wo es dunkel war, nahm sie meine Hand und führte mich. Ich brauchte durchaus nicht so still zu sein, sagte sie, ich könnte ruhig sprechen. Und wir kamen hinein. Während sie Licht machte – sie zündete keine Lampe an, sondern eine Kerze – während sie diese Kerze anzündete, sagte sie mit einem kleinen Lachen: Aber nun dürfen Sie mich nicht ansehen. Uff, ich schäme mich! Aber ich werde es nie wieder tun!

Was werden Sie nie wieder tun?

Ich werde nie ... uff nein, Gott behüte mich ... ich werde Sie nie wieder küssen.

Werden Sie das nicht? sagte ich, und wir lachten beide. Ich streckte die Arme nach ihr aus, sie glitt zur Seite, schlüpfte weg, zur anderen Seite des Tisches hinüber. Wir sahen einander eine Weile an, das Licht stand zwischen uns.

Dann löste sie den Schleier und nahm den Hut ab; währenddessen hingen ihre funkelnden Augen an mir und wachten auf meine Bewegungen, damit ich sie nicht fassen könnte. Ich machte wieder einen Ausfall, stolperte über den Teppich und fiel; mein verletzter Fuß wollte mich nicht mehr tragen. Ich erhob mich äußerst verlegen.

Gott, wie Sie rot geworden sind! sagte sie. Es war aber auch gräßlich ungeschickt.

Ja, das war es.

Und wir begannen wieder herumzuspringen.

Mir scheint, Sie hinken?

Ich hinke vielleicht ein wenig, aber nur wenig.

Kürzlich hatten Sie einen verletzten Finger, jetzt haben Sie einen verletzten Fuß; Sie haben viele Plagen.

Ich wurde vor einigen Tagen ein wenig überfahren.

Überfahren? Wieder betrunken? Nein, Gott bewahre mich, wie Sie leben, junger Mann! Sie drohte mit dem Zeigefinger und stellte sich ernst. Setzen wir uns also! sagte sie. Nein, nicht dort an die Türe; Sie sind zu zurückhaltend, hierher, Sie dort und ich hier, so, ja ... Uff, es ist schrecklich langweilig mit zurückhaltenden Menschen! Da muß man alles selbst tun und sagen, hat nirgends eine Hilfe. Nun könnten Sie zum Beispiel gerne Ihre Hand auf meinen Stuhlrücken legen, Sie hätten das wohl von selbst herausfinden können, das hätten Sie. Und wenn ich so etwas sage, dann machen Sie ein Paar Augen, als glaubten Sie es nicht recht. Ja, das ist wirklich wahr, ich habe es mehrere Male gesehen, jetzt machen Sie es wieder so. Aber Sie dürfen mir nur ja nicht weismachen wollen, daß Sie so bescheiden sind, wenn Sie sich nur getrauen. Sie waren damals ziemlich frech, als Sie betrunken waren und mir bis nach Hause folgten und mich mit Ihren geistreichen Anreden plagten: Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein, Sie verlieren ganz bestimmt Ihr Buch, Fräulein! Hahaha! Pfui, das war wirklich schlecht von Ihnen!

Ganz verloren saß ich da und sah sie an. Mein Herz schlug laut, das Blut rann mir warm durch die Adern. Welch ein wundervoller Genuß, wieder in einer menschlichen Wohnung zu sitzen und eine Uhr ticken zu hören, und anstatt mit mir selbst mit einem jungen, lebendigen Mädchen zu reden!

Weshalb reden Sie nichts?

Nein, wie süß Sie sind! sagte ich. Ich sitze hier und bin ganz benommen von Ihnen, hier in diesem Augenblick innerlich benommen. Dagegen ist nichts zu machen. Sie sind das seltsamste Geschöpf, das ... Manchmal strahlen Ihre Augen so, ich habe nie solche Augen gesehen, sie sehen wie Blumen aus. Was? Nein, nein, vielleicht auch nicht wie Blumen, sondern ... Ich bin ganz verliebt in Sie, da hilft gar nichts. Wie heißen Sie? Nun müssen Sie mir aber wirklich sagen, wie Sie heißen ...

Nein, wie heißen Sie? Gott, nun hätte ich es beinahe wieder vergessen! Ich dachte gestern die ganze Zeit daran, daß ich Sie danach fragen wollte. Ja, das heißt, nicht den ganzen gestrigen Tag, ich dachte durchaus nicht den ganzen Tag an Sie.

Wissen Sie, wie ich Sie genannt habe? Ich habe Sie Ylajali genannt. Wie gefällt Ihnen das? Solch ein gleitender Laut ...

Ylajali?

Ja.

Ist das eine fremde Sprache?

Hm. Nein, das nicht.

Ja, es klingt nicht häßlich.

Nach langen Verhandlungen sagten wir einander unsere Namen. Sie setzte sich mir dicht zur Seite auf das Sofa und schob den Stuhl mit dem Fuß fort. Und wir fingen wieder an zu plaudern.

Sie haben sich heute abend auch rasiert, sagte sie. Im ganzen sehen Sie um einiges besser aus als letzthin, aber nur ein ganz klein bißchen übrigens; bilden Sie sich nur ja nicht ein ... Nein, neulich sahen sie wirklich schäbig aus. Und obendrein hatten Sie noch einen scheußlichen Lappen um den Finger. Und in diesem Zustand wollten Sie absolut mit mir irgendwohin gehen und Wein trinken. Nein, danke!

Also um meines miserablen Aussehens willen wollten Sie damals nicht mitkommen? sagte ich.

Nein, antwortete sie und sah nieder. Nein, bei Gott, es war nicht deswegen. Ich dachte nicht einmal daran.

Hören Sie, sagte ich, Sie sitzen hier gewiß in dem Glauben, daß ich genau so leben und mich kleiden könne, wie ich möchte? Aber das kann ich eben nicht, ich bin sehr, sehr arm.

Sie sah mich an.

Sind Sie das? fragte sie.

Ja, das bin ich.

Pause.

Du lieber Gott, das bin ich ja auch, sagte sie mit einer unbefangenen Bewegung des Kopfes. Jedes ihrer Worte berauschte mich, traf mich wie Weintropfen ins Herz, obwohl sie gewißlich ein höchst durchschnittliches Kristianiamädchen war, mit Jargon und kleinen Keckheiten und Geschwätz. Die Gewohnheit, ihren Kopf ein wenig auf die Seite zu legen und zuzuhorchen, wenn ich etwas sagte, entzückte mich. Und ich fühlte ihren Atem dicht an meinem Gesicht.

Wissen Sie, sagte ich, daß ... Aber nun dürfen Sie nicht böse werden ... Als ich gestern abend zu Bett ging, legte ich den Arm für Sie zurecht ... so ... als ob Sie darin lägen. Und so schlief ich ein.

Ach nein? Das war schön! Pause. Aber so etwas konnten Sie auch nur auf Abstand tun; denn sonst ...

Glauben Sie nicht, daß ich es auch sonst tun könnte?

Nein, das glaube ich nicht.

Doch, von mir können Sie alles erwarten, sagte ich und warf mich in die Brust. Und ich legte den Arm um ihren Leib.

Kann ich das? erwiderte sie nur.

Es ärgerte und kränkte mich, daß sie mich für so sittsam hielt; ich richtete mich auf, faßte mir ein Herz und ergriff ihre Hand. Aber sie zog sie ganz leise weg und rückte von mir ab. Dies nahm mir wieder den Mut, ich schämte mich und sah zum Fenster. Ich war doch zu jämmerlich, wie ich so dasaß, ich brauchte nicht zu versuchen, mir etwas einzubilden. Hätte ich sie damals getroffen, als ich noch wie ein Mensch aussah, in meinen Wohlstandstagen, da ich noch ein wenig Überfluß hatte, so wäre es etwas anderes gewesen. Und ich fühlte mich sehr niedergeschlagen.

Da können Sie sehen! sagte sie, nun können Sie es wieder sehen; man kann Sie schon mit einem kleinen Stirnrunzeln schrecken. Sie kleinkriegen, indem man von Ihnen abrückt ... Sie lachte schelmisch, mit ganz geschlossenen Augen, als wenn auch sie es nicht ertrüge, angesehen zu werden.

Nein, du großer Gott! platzte ich heraus. Jetzt sollen Sie aber sehen! Und ich schlang die Arme heftig um ihre Schultern. War das Mädchen von Sinnen? Hielt sie mich für gänzlich unerfahren? He! ich wollte doch zum ... Es sollte mir keiner nachsagen, daß ich in diesem Fall zurückstünde. Es war doch ein Satansmädchen. Wenn es nur darauf loszugehen galt, dann ...

Als wenn ich zu gar nichts in der Welt taugte!

Sie saß ganz ruhig und hatte ihre Augen immer noch geschlossen; keines von uns sprach. Ich drückte sie fest an mich, preßte ihren Körper an meine Brust und sagte kein Wort. Ich hörte unseren Herzschlag, sowohl ihren wie meinen, es klang wie Pferdegetrappel.

Ich küßte sie.

Ich wußte nichts mehr von mir, sagte einigen Unsinn, über den sie lachte, flüsterte Kosenamen gegen ihren Mund, streichelte ihr die Wange, küßte sie viele Male. Ich öffnete einen oder zwei Knöpfe ihres Leibchens und sah ihre Brüste darunter, weiße, runde Brüste, die wie zwei süße Wunder unter dem Hemd schimmerten.

Darf ich sehen! sage ich, und versuche mehrere Knöpfe zu öffnen, versuche die Öffnung größer zu machen; doch meine Erregung ist zu stark, ich komme mit den untersten Knöpfen, wo sich das Leibchen fester anstrammt, nicht zurecht. Darf ich nur ein wenig sehen ... ein wenig ...

Sie schlingt den Arm um meinen Hals, ganz langsam, zärtlich; ihr Atem haucht mir aus den roten, zitternden Nasenlöchern ins Gesicht; sie beginnt selbst mit der anderen Hand die Knöpfe zu öffnen, einen nach dem anderen. Sie lacht verlegen, lacht kurz und sieht mehrere Male zu mir auf, prüfend, ob ich wohl bemerke, daß sie furchtsam ist. Sie löst die Bänder, hakt das Korsett auf, ist entzückt und ängstlich. Und mit meinen groben Händen nestle ich an diesen Knöpfen und Bändern ...

Sie streicht mir mit ihrer linken Hand über die Schulter, um die Aufmerksamkeit von dem, was sie tut, abzulenken und sagt:

Was hier für eine Menge loser Haare liegt!

Ja, antworte ich und will mit meinem Mund zu ihrer Brust eindringen. In diesem Augenblick liegt sie mit ganz offenen Kleidern da. Plötzlich ist es, als besänne sie sich, als fände sie, daß sie zu weit gegangen sei; sie bedeckt sich wieder und richtet sich ein wenig auf. Und um ihre Verlegenheit über die offenen Kleider zu verbergen, spricht sie wieder von den vielen ausgefallenen Haaren auf meiner Schulter.

Wie kommt es, daß Ihnen das Haar so ausgeht?

Weiß ich nicht.

Sie trinken natürlich zuviel, und vielleicht ... Pfui, ich will das nicht sagen! Sie sollten sich schämen! Nein, das hätte ich nicht von Ihnen geglaubt! Daß Sie so jung schon die Haare verlieren! ... Nun müssen Sie mir aber, bitte schön, erzählen, wie Sie eigentlich leben. Ich bin sicher, daß es fürchterlich ist! Aber nur die Wahrheit, verstehen Sie, keine Ausflüchte! Ich werde es Ihnen übrigens schon ansehen, wenn Sie etwas verheimlichen wollen. So, nun erzählen Sie!

Ach wie müde ich geworden war! Wie gerne wäre ich lieber stillgesessen und hätte sie angesehen, als mich hier aufzuspielen und mich mit allen diesen Versuchen zu quälen. Ich taugte zu nichts, ich war ein Fetzen geworden.

Fangen Sie an! sagte sie.

Ich ergriff die Gelegenheit und erzählte alles, und ich erzählte nur die Wahrheit. Ich machte nichts schlimmer als es war, es war nicht meine Absicht, ihr Mitleid zu erregen; ich sagte auch, daß ich mir eines Abends fünf Kronen angeeignet hatte.

Sie saß mit offenem Mund da und lauschte, bleich, erschrocken, die blanken Augen ganz verstört. Ich wollte es wieder gutmachen, den traurigen Eindruck, den ich erregt hatte, wieder zerstreuen, und strammte mich deshalb auf:

Es ist ja nun überstanden; jetzt ist keine Rede mehr davon, jetzt bin ich geborgen ...

Aber sie war sehr verzagt. Gott bewahre mich! sagte sie nur und schwieg. Sie wiederholte dies mit kurzen Pausen mehrmals und schwieg immer wieder dazwischen. Gott bewahre mich!

Ich begann zu scherzen, griff ihr in die Seite, um sie zu kitzeln, hob sie an meine Brust herauf; sie hatte ihr Kleid wieder zugeknöpft, und das ärgerte mich. Warum knöpfte sie das Kleid wieder zu? War ich jetzt in ihren Augen weniger wert, als wenn ich durch ein unbesonnenes Leben selbst verschuldet hätte, daß mir das Haar ausfiel? Hätte sie mich lieber gehabt, wenn ich mich als einen ausschweifenden Menschen hingestellt hätte? ... Keinen Unsinn. Es galt nur darauf loszugehen! Und wenn es nur galt, drauf loszugehen, dann war ich der Mann dazu. –

Ich mußte es aufs neue versuchen.

Ich legte sie hin, legte sie einfach aufs Sofa hin. Sie wehrte sich, übrigens ganz wenig, und sah mir erstaunt zu.

Nein ... was wollen Sie? sagte sie.

Was ich will?!

Nein ... nein aber ...?

Doch, doch ...

Nein, hören Sie! rief sie. Und sie fügte diese verletzenden Worte hinzu: Ich glaube beinahe, Sie sind wahnsinnig.

Unwillkürlich hielt ich inne und sagte:

Das meinen Sie doch nicht wirklich!

Doch, Sie sehen so eigentümlich aus! Und an dem Vormittag, an dem Sie mich verfolgten –. Sie waren also damals nicht betrunken?

Nein. Damals war ich auch nicht hungrig, ich hatte eben gegessen.

Um so schlimmer.

Möchten Sie lieber, daß ich betrunken gewesen wäre?

Ja ... Huh, ich fürchte mich vor Ihnen! Herrgott, so lassen Sie mich doch los!

Ich überlegte. Nein, ich konnte nicht loslassen, ich würde zuviel verlieren. Kein so verfluchtes Gewäsch in später Abendstunde auf einem Sofa. He, mit solchen Ausflüchten in einem solchen Augenblick zu kommen! Als wenn ich nicht wüßte, daß das Ganze nur Schamhaftigkeit war! Da müßte ich schön grün sein! So, still jetzt! Keinen Unsinn!

Sie wehrte sich eigentümlich heftig, allzu stark, um sich nur aus Schamhaftigkeit zu wehren. Ich stieß wie aus Versehen die Kerze um, so daß sie erlosch, sie leistete verzweifelten Widerstand, wimmerte sogar einmal leise.

Nein, nicht das, nicht das! wenn Sie wollen, dürfen Sie mich lieber auf die Brust küssen. Lieber, Guter!

Ich hielt sofort an. Ihre Worte klangen so erschrocken, so hilflos, ich wurde zutiefst getroffen. Sie glaubte, mir einen Ersatz zu bieten, indem sie mir erlaubte, ihre Brust zu küssen! Wie schön war das, wie schön und einfältig! Ich hätte vor ihr auf die Knie niederfallen mögen.

Aber liebes Kind! sagte ich ganz verwirrt, ich verstehe nicht ... ich begreife wirklich nicht, was dies für ein Spiel ist ...

Sie erhob sich und zündete mit bebenden Händen das Licht wieder an; ich lehnte mich auf dem Sofa zurück und tat nichts. Was würde nun geschehen? Mir war im Grunde sehr übel zumute.

Ihr Blick ging zur Wand, auf die Uhr, und sie fuhr zusammen.

Uff, jetzt kommt das Mädchen bald! sagte sie. Das war das erste, was sie sagte.

Ich verstand diese Andeutung und erhob mich. Sie griff nach dem Mantel, wie um ihn anzuziehen, bedachte sich aber, ließ ihn liegen und ging zum Kamin. Sie war bleich und wurde immer unruhiger. Damit es doch nicht so aussehen sollte, als weise sie mir die Türe, sagte ich:

War Ihr Vater Militär? Und gleichzeitig machte ich mich zum Gehen bereit.

Ja, er war Militär; woher ich das wisse?

Ich wisse es nicht, es sei mir nur so eingefallen.

Das sei merkwürdig!

Ach ja. Ich habe an manchen Orten solche Ahnungen. Hehe, das gehöre auch mit zu meinem Wahnsinn ...

Sie sah schnell auf, erwiderte aber nichts. Ich fühlte, daß ich sie mit meiner Anwesenheit peinigte und wollte kurzen Prozeß machen. Ich ging zur Türe. Würde sie mich jetzt nicht mehr küssen? Mir nicht einmal die Hand reichen? Ich stand da und wartete.

Wollen Sie jetzt gehen? fragte sie, und blieb noch beim Kamin stehen.

Ich antwortete nicht. Ich war gedemütigt und verwirrt und sah sie an, ohne etwas zu sagen. Nein, was hatte ich zerstört! Es schien sie nicht zu berühren, daß ich zum Gehen bereit war, sie war mit einemmal vollkommen verloren für mich, und ich suchte nach etwas, um es ihr zum Abschied zu sagen, ein schweres, tiefes Wort, das sie treffen und ihr vielleicht ein wenig imponieren könnte. Und meinem festen Entschluß vollkommen entgegen, verwundet, anstatt stolz und kalt, unruhig, beleidigt, fing ich geradezu von Unwesentlichem zu sprechen an; das treffende Wort kam nicht, ich betrug mich äußerst gedankenlos. Wieder wurde es Suada und Büchersprache.

Warum sage sie nicht einfach klar und deutlich, daß ich meines Weges gehen solle, fragte ich. Ja, ja, warum nicht? Es lohne sich nicht, sich zu genieren. Anstatt mich an das Mädchen zu erinnern, das bald heimkommen würde, hätte sie einfach folgendes sagen können: Jetzt müssen Sie verschwinden, denn jetzt muß ich meine Mutter abholen und ich will nicht Ihre Begleitung auf der Straße haben. So, das hätte sie nicht gedacht? O doch, das hätte sie wohl gedacht, ich habe es sofort verstanden. Es brauche so wenig, um mich auf die Spur zu bringen; schon die Art und Weise, wie sie nach dem Mantel gegriffen und ihn wieder liegen gelassen habe, habe mich sogleich überzeugt. Wie gesagt, ich hätte Ahnungen. Und es sei im Grunde wohl nicht soviel Wahnsinn darin ...

Aber Gott im Himmel, verzeihen Sie mir nun dieses Wort! Es entfuhr mir! rief sie. Aber sie blieb immer noch stehen und kam nicht zu mir her.

Ich war unerschütterlich und sprach weiter. Ich stand da und schwätzte, mit dem peinlichen Gefühl, daß ich sie langweilte, daß nicht ein einziges meiner Worte traf, und trotzdem hörte ich nicht auf: Im Grunde könne man ja ein ziemlich zartes Gemüt haben, auch wenn man nicht verrückt sei, meinte ich; es gäbe Naturen, die sich von Bagatellen nährten und an einem harten Wort stürben. Und ich ließ verstehen, daß ich eine solche Natur wäre. Die Sache sei die, daß meine Armut gewisse Eigenschaften in einem Grad geschärft habe, daß es mir geradezu Unannehmlichkeiten bereite, – ja, geradezu Unannehmlichkeiten, leider. Aber es habe auch seine Vorteile, es helfe mir in gewissen Situationen. Der arme Intelligente sei ein viel feinerer Beobachter als der reiche Intelligente. Der arme sieht um sich, bei jedem Schritt, den er tut, lauscht mißtrauisch auf jedes Wort, das er von den Menschen hört; jeder Schritt stellt somit seinen Gedanken und Gefühlen eine Aufgabe, eine Arbeit. Er ist hellhörig und feinfühlig, er ist ein erfahrener Mann, seine Seele hat Brandwunden ...

Und ich sprach recht lange von diesen Brandwunden, die meine Seele hatte. Aber je länger ich sprach, desto unruhiger wurde sie; zuletzt sagte sie in der Verzweiflung ein paarmal Gott im Himmel! und rang die Hände. Ich sah wohl, daß ich sie plagte, und ich wollte sie nicht plagen, aber ich tat es trotzdem. Endlich meinte ich, ihr in groben Zügen das Notwendigste gesagt zu haben, ihr verzweifelter Blick ergriff mich und ich rief:

Jetzt gehe ich! Jetzt gehe ich! Sehen Sie nicht, daß ich die Hand schon auf der Klinke habe? Leben Sie wohl! Leben Sie wohl! sage ich. Sie dürften mir schon antworten, wenn ich zweimal Lebewohl sage und fix und fertig zum Fortgehen dastehe. Ich bitte Sie nicht einmal, Sie wieder treffen zu dürfen, denn das würde Sie quälen; aber sagen Sie mir: Warum ließen Sie mich nicht in Frieden? Was habe ich Ihnen getan? Ich stand Ihnen nicht im Wege; nicht wahr? Warum wenden Sie sich plötzlich von mir ab, als ob Sie mich gar nicht mehr kennten? Nun haben Sie mich so gänzlich beraubt, mich noch elender gemacht, als ich jemals war. Herrgott, aber ich bin ja doch nicht wahnsinnig. Sie wissen sehr gut, wenn Sie sich nur besinnen, daß mir jetzt gar nichts fehlt. Kommen Sie doch und geben Sie mir die Hand! Oder erlauben Sie mir zu Ihnen hinzukommen! Wollen Sie das? Ich werde Ihnen nichts Schlimmes tun, ich will nur einen Augenblick vor Ihnen niederknien, auf dem Boden vor Ihnen niederknien, nur einen Augenblick; darf ich? Nein, nein, dann werde ich es nicht tun, ich sehe, daß Sie Angst haben, ich werde es nicht, werde es nicht tun, hören Sie. Herrgott, warum erschrecken Sie so? Ich stehe doch still, ich rühre mich nicht. Ich hätte eine Minute lang auf dem Teppich gekniet, genau hier, auf diesem roten Fleck gleich bei Ihren Füßen. Aber Sie erschraken, ich konnte es sofort an Ihren Augen sehen, daß Sie erschraken, deshalb stand ich still. Ich machte keinen Schritt, als ich Sie darum bat; nicht wahr? Ich stand ebenso unbeweglich wie jetzt, da ich Ihnen die Stelle zeige, wo ich mich vor Ihnen niedergekniet haben würde, dort auf die rote Rose im Teppich. Ich zeige nicht einmal mit dem Finger hin, ich zeige durchaus nicht hin, ich lasse es sein, um Sie nicht zu erschrecken, ich nicke nur und sehe hin, so! Und Sie verstehen sehr wohl, welche Rose ich meine, aber Sie wollen es mir nicht erlauben, dort zu knien; Sie haben Angst vor mir und trauen sich nicht, mir nahe zu kommen. Ich begreife nicht, daß Sie es übers Herz bringen können, mich verrückt zu nennen. Nicht wahr, Sie glauben das auch nicht mehr? Das war im Sommer einmal, vor langer Zeit, da war ich verrückt; ich arbeitete zu schwer und vergaß rechtzeitig zum Mittagessen zu gehen, wenn ich viel zu denken hatte. Das geschah Tag für Tag; ich hätte daran denken sollen, aber ich vergaß es immer wieder. Bei Gott im Himmel, das ist wahr! Gott möge mich nicht mehr lebendig von der Stelle kommen lassen, wenn ich lüge! Da können Sie es sehen, Sie tun mir Unrecht. Ich tat es nicht aus Not; ich habe Kredit, großen Kredit, bei Ingebret und Gravesen. Ich hatte oft auch viel Geld in der Tasche und kaufte trotzdem nichts zu essen, weil ich es vergaß. Hören Sie! Sie sagen nichts, Sie antworten nicht, Sie rühren sich nicht vom Kamin weg, Sie stehen bloß da und warten darauf, daß ich gehen soll ...

Sie kam rasch auf mich zu und streckte ihre Hand aus. Voll Mißtrauen sah ich sie an. Tat sie das auch leichten Herzens? Oder tat sie es nur, um mich los zu werden? Sie legte ihren Arm um meinen Hals, sie hatte Tränen in den Augen. Ich stand nur da und sah sie an. Sie reichte mir ihren Mund; ich konnte ihr nicht glauben, ganz bestimmt brachte sie ein Opfer, es war nur ein Mittel, um der Sache ein Ende zu machen.

Sie sagte etwas, es klang wie: Ich habe Sie trotzdem lieb! Sie sagte es sehr leise und undeutlich, vielleicht hörte ich nicht richtig, sie sagte vielleicht nicht gerade diese Worte; aber sie warf sich mir heftig an die Brust, hielt beide Arme eine Weile um meinen Hals geschlungen, hob sich sogar auf die Zehen, um gut heraufzureichen und blieb so stehen.

Ich fürchtete, daß sie sich zu dieser Zärtlichkeit zwang, ich sagte nur:

Wie schön Sie jetzt sind!

Mehr sagte ich nicht. Ich trat zurück, stieß die Türe auf und ging rückwärts hinaus. Und sie blieb drinnen stehen.


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