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I. Vom Meermann Ekke Nekkepenn
Einst segelte ein Schiff von Sylt nach England. Unterwegs erhob sich ein starker Sturm. Die Schiffsleute wurden ängstlich und dachten, daß sie zugrunde gehen sollten. In der Nacht wurde das Ruder unklar. Als die Mannschaft über Bord schaute, wurde sie gewahr, daß ein großer wild aussehender Mann seinen Kopf in der Nähe des Ruders aus dem Wasser steckte. Auf die Frage, was er dort wolle, antwortete er: »Ich will den Kapitän eures Schiffes sprechen.« Die Leute riefen den Kapitän. Er kam, sah auch über Bord und fragte den Mann; »Wer bist du? Was willst du?« – »Ich bin der Meermann Ekke Nekkepenn. Meine Frau ist krank, sie verlangt, daß deine Frau zu ihr kommt, um ihr zu helfen; denn wir erwarten ein Kind.« – »Meine Frau schläft, sie kann nicht kommen«, antwortete der Schiffer. – »Sie muß kommen«, rief der ärgerliche Meermann, »sonst macht meine Alte noch mehr Lärm und Spektakel und noch schlimmeren Seegang und Sturm. Dann seid ihr alle verloren.« – »Ich werde sofort kommen«, rief die Frau des Kapitäns, die alles mit angehört hatte. »Man soll niemanden in Not lassen, wenn man ihm helfen kann.« – Im selben Augenblick sprang sie zu dem Meermann über Bord und ging mit ihm hinunter auf den Grund des Meeres. Da wurde es plötzlich ganz still, der Sturm war vorbei, und die See beruhigte sich sofort. Unterdessen war der Kapitän um seine Frau sehr beunruhigt. Aber es dauerte gar nicht lange, da hörte er so lieblich unten im Wasser »Heia, heia, hei!« singen, und die Wellen gingen so gleichmäßig auf und ab, als ob die ganze große See eine einzige Wiege sei. Da wußte er, daß das Kind angekommen und alles wohl sei. – Es dauerte kaum eine Stunde, da kam die Kapitänsfrau wieder aus dem Wasser herauf und glücklich an Bord. Sie war kaum einmal naß geworden. Die ganze Schürze hatte sie voll von Gold und Silber. Sie erzählte, daß der Meerfrau Rhan ein Kind geschenkt worden sei, das wie ein Seekalb aussähe. Die Mutter aber meine, es sei so schön wie ein Engel. Ekke Nekkepenn sei so froh geworden, daß er ihr so viel Gold und Silber gegeben habe, wie sie tragen könne. – Nun hatte das Schiff guten Wind, machte die Reise schnell ab, und der Kapitän segelte schnell wieder heim mit seiner Frau und ihrem vielen Geld. Von da ab nahm er aber seine Frau nicht wieder mit auf das Meer.
*
Viele Jahre nach der vorher erzählten Begebenheit dachte der Meermann noch oft an des Kapitäns schöne und mitleidige Frau. Seine Frau war inzwischen alt und runzlig geworden, und Ekke Nekkepenn beschloß, sein altes Hauskreuz zu verlassen, den Kapitän, wenn er auf See war, mit einem Sturm zu überfallen und zu töten und dann die schöne Witwe zu freien. Doch fiel es ihm nicht ein, daß auch die Frau des Schiffers inzwischen alt geworden war.
Einst sah er das Schiff von Rantum auf Sylt wieder über See kommen. Da dachte er: »Nun ist die Gelegenheit günstig.« Er sagte zu seiner Frau: »Ich will hin, um Heringe zu fangen. Du mußt Salz mahlen zu der Heringslauge, die wir zum Einpökeln brauchen. Mahl nur so lange, bis ich wiederkomme!« – Er wußte ganz genau, daß Rhan, seine Frau, dabei einen schrecklichen Lärm in ihrem Hause auf dem Meeresgrunde machte und daß ein furchtbarer Strom dadurch entstand. Als der Kapitän mit seinem Schiff an diese Stelle kam, war dort ein so starker Mahlstrom, daß er darin mit seinem Schiff und mit Mann und Maus versank.
*
Ekke Nekkepenn hatte den Untergang des Schiffes gesehen. Sofort danach schwamm er nach Sylt und ging dort an der Südspitze bei Hörnum ans Land. Er schlenderte am Strand entlang nach dem Norden herauf und dachte dabei an die schöne Frau des verunglückten Kapitäns. Als es Abend wurde, begegnete ihm zwischen Hörnum und Rantum gegenüber von Taatjemglaat ein junges Mädchen. Er meinte, es sei die Frau, die er suchte. Aber es war deren Tochter, die der Mutter sehr ähnlich war. Ekke hatte sein Aussehen sehr geändert. Wie ein Sylter Seefahrer hatte er sich angetakelt, und er gebärdete sich wie ein Halefjunkengänger und begann sofort, zu dem Mädchen zu freien. Es wurde sehr verlegen und hatte Angst vor ihm. Er aber setzte ihm einen goldenen Ring auf jeden Finger, band ihm ein goldene Kette um den Hals und sagte: »Nun habe ich dich gebunden, nun bist du meine Braut.« – Es weinte sehr und bat ihn: »Laß mich doch gehen!« Aber die goldenen Ringe und die Kette reichte es ihm nicht zurück. Ekke antwortete darauf:
»Ich mag dich – muß dich haben!
Magst du mich? – Sollst mich kriegen.
Willst du nicht – kriegst mich doch;
Mittewoch – haben wir Gelag.
Doch kannst sagen – wie ich heiß,
Dann bist frei – und mich los.« –
Darauf ließ er das Mädchen gehen. Es gelobte ihm, daß es ihm am folgenden Abend an derselben Stelle Bescheid tun wolle. Es dachte: »Ich bekomme wohl irgendwo zu wissen, wie dieser aufdringliche Freier heißt.« Doch überall, wo es fragte, kannte man ihn nicht.
Am nächsten Abend mußte es aber sein Versprechen halten und zu dem ungebetenen Freier gehen. So machte es sich auf den Weg und weinte dabei bitterlich. Ganz in Gedanken verloren ging es immer weiter am Strand nach dem Süden hinunter, bis es zu einer Dünendecke kurz vor Hörnum kam. Da kam es ihm so vor, als ob in der Düne jemand singe. Es blieb stehen und horchte. Da vernahm es deutlich die Stimme seines Freiers. Er sang:
»Heute soll ich brauen!
Morgen soll ich backen;
Übermorgen will ich Hochzeit machen.
Ich heiße Ekke Nekkepenn,
Meine Braut ist Inge von Rantum,
Und das weiß niemand als ich allein.«
Als Inge das hörte, wurde sie froh. Auf der Stelle machte sie kehrt und ging nach Taatjemglaat zurück und wartete dort auf ihren unfreiwilligen Bräutigam. Es dauerte gar nicht lange, da kam er schon an. Schnell rief sie ihm zu: »Du heißt Ekke Nekkepenn, und ich bleibe Inge von Rantum.« –
Dann lief sie, so schnell sie konnte nach Hause zurück mit ihren goldenen Ringen und ihrer Kette. Und der Meermann war genarrt.
*
Von der Zeit an war der Meermann auf die Rantumer sehr böse. Er fügte ihnen ein Unglück nach dem andern zu und trieb seinen Schabernack mit ihnen. Ihre Schiffe überfiel er mit Sturm und ließ sie versinken zu seinem alten Weib Rhan auf dem Meeresgrund. Es fing sie in Netzen und gab die Toten nicht wieder her. Ekke hatte sich bequemen müssen, zu seiner Frau zurückzukehren. Ihnen wurden noch mehrere Kinder geschenkt, und Rhan mußte noch oft wieder Salz mahlen, wenn Ekke das für nötig hielt. – Durch große Fluten verdarb er schließlich das Land der Rantumer ganz. Ihre Häuser ließ er in Sand untergehen, und es blieb von allem nur eine lange Reihe kahler, unfruchtbarer Dünen nach.
*
Es wohnten in der Zeit, in der Ekke Nekkepenn um Inge von Rantum freite, auf dem nördlichen Teile Sylts in der Gegend der jetzigen Norddörfer Kampen, Wenningstedt und Braderup die Unterirdischen auf der Heide oder in sumpfigen Schluchten. Das waren kleine Leute, die sich bequem in der hohen Heide verstecken konnten oder in den Höhlen und Büschen, die es in der Zeit dort überall gab. Sie hatten rote Mützen auf dem Kopf. Ihre Nahrung bestand aus den Krähenbeeren (Heidebeeren) und Miesmuscheln, die sie in dem nahen Wattenmeer holten. Sie fingen auch wohl Fische und Vögel und sammelten Eier. Sie hatten steinerne Messer, Äxte und Streithämmer. Diese schliffen sie selber. Aus Ton fertigten sie ihre Töpfe an. Wenn sie auch arm waren, so waren sie doch allezeit froh. Im Mondenschein sangen und tanzten sie recht oft auf ihren Hügeln und um sie herum. Aber sie waren falsch. Arbeiten taten sie wenig, stahlen aber von den viel größer gewachsenen Friesen alles, was sie nur erlangen konnten, sogar Kinder und Frauen. Daher mußten die Friesen, die nahe an der Heide wohnten, stets recht wachsam sein und gut aufpassen, daß ihre Frauen und Mädchen nicht gestohlen und ihre Kinder von den Unterirdischen verwechselt wurden. – Sie waren allesamt Heiden, konnten hexen und verwandelten sich oft in Mäuse und Kröten. Auch sprachen sie eine besondere Sprache. Ihr Oberster hieß Finn. Er wohnte in dem Reisehoog mitten auf der hohen Heide zwischen den Norddörfern, die allerdings damals noch nicht vorhanden waren.
*
Einst gedachte Ekke Nekkepenn bei diesen Unterirdischen sein Glück zu versuchen, nachdem Inge von Rantum ihn so schnöde abgewiesen hatte. Er verwandelte sich in ebensolchen Unterirdischen, wohnte in einer Höhle auf dem Roten Kliff und begann zu einer jungen Zwergin zu freien. Diese aber, die in dem Ennenhoog wohnte, war so hochmütig, daß sie ihm sofort einen Korb gab. Sie sang und antwortete ihm höhnisch in der Sprache der Unterirdischen diesen Reim:
»Einer ist mein, den ich mag:
Akel Dakel Dummeldei.
Wölfe, Hunde bleiben oben.
Du alte Quappe, Ekke,
bekommst Bundis Katze.«
Ekke wurde böse, kehrte ihr den Rücken zu und rief:
»Ehre, mehre gute Freunde;
Pick, Pack weg!«
*
Nun wandte sich Ekke ostwärts nach dem Weißen Kliff bei Braderup, suchte sich dort eine Höhle, um darin zu wohnen. Unterwegs kehrte er bei dem König der Unterirdischen, Finn, in dem Reisehoog ein, um bei ihm einen guten Rat zu holen. Kurz vorher hatte Finn Hochzeit gehabt mit einem Mädchen aus Braderup und war wohl so vergnügt. Er erzählte Ekke, daß er einst angehört hätte, daß ein Braderuper Mädchen, das etwas viel zu tun hatte, zu einer Freundin gesagt hätte: »Hätte man es doch auch so gut wie die Unterirdischen. Sie sind immer lustig und vergnügt, singen und tanzen jeden Abend und arbeiten am Tag nicht mehr als sie mögen.« »Als nun diese Jungfrau einst am frühen Morgen an meinem Hügel vorbeikam, lief ich zu ihr hinaus und fragte sie, ob sie es so gemeint habe, wie sie es neulich ihrer Freundin gesagt habe. Sie antwortete mir, daß sie alles so meine. Da sagte ich ihr, daß sie bei mir bleiben und meine Frau sein solle. Dann würde sie es ebenso gut bekommen, wie wir es haben. Da ergriff sie meine Hand und sagte ›Ja‹ zu allem, was ich von ihr verlangte.« Finn erzählte dann weiter, daß er sie darauf in seinen Hügel geführt und daß am nächsten Abend die Hochzeit stattgefunden hätte. Alle Unterirdischen, die damals auf Sylt wohnten, waren zu diesem Fest geladen. Froh und wohlgemut waren sie alle gekommen, sogar von der entfernteren Morsumer Heide. Sie hatten sich geschmückt und trugen alle eine Gabe für die Braut. Der eine brachte einen Napf oder eine Schale voller Beeren oder Muscheln, der andere trug einen Fingerhut oder ein Töpfchen voller Milch oder Honig, der dritte eine Mausefalle oder ein Fischnetz, der vierte einen Besen oder einen Kamm, der fünfte einen hölzernen Löffel oder einen Schleifstein, der sechste ein Taschentuch oder ein Bettlaken, der siebente einen krummen Nagel oder einen Türschlüssel. So hatte jeder etwas mitgebracht, und die Gaben häuften sich draußen am Hügel. – Es wurde gewaltig aufgetischt vor den kleinen Gästen. Man setzte ihnen Heringsmilch und Rogen, geröstete Sandspierlinge, Austern, gesalzene Eier, Iltisbraten mit Heide- und Moosbeeren als Essen vor. Met gab es vollauf zu trinken. – Der König saß auf seinem Thron, dem Sesselstein. Er hatte einen Mantel von weißen Mausfellen um seine Schultern gelegt. Auf dem Kopf trug er eine Krone, die wie ein Donnerstein aussah und aus lauter Edelsteinen bestand. An seiner Seite saß seine junge Frau, die nun die Königin des kleinen Volkes geworden war. Sie hatte ein Kleid an, das so fein und durchsichtig war, als ob es aus zahllosen Flügeln der Libellen zusammengesetzt worden sei. Einen Kranz von den schönsten Heideblumen trug sie um Stirn und Nacken. Darin befanden sich Diamanten und andere glänzende Steine. Auf jedem Finger erglänzte ein goldener Ring. – Die ganze Nacht hindurch tanzten und sprangen die Unterirdischen auf der Heide herum. In ihrer Freude dichteten sie ein kleines Lied und sangen es dem König und der Königin vor. Es hieß also:
»Eine feine Sippschaft seht!
Appel Dappel donnere nicht!
Isa (die Braut) sitzt;
Halt sie fest.
Wird sie Christin,
Ist sie frei.«
Auf so ungewöhnliche Weise war Finn zu seiner Frau Isa gekommen, und die beiden lebten glücklich miteinander seit der Zeit.
Als Finn dem Meermann das alles erzählt hatte, riet er ihm, es auch so zu machen. In Braderup gäbe es mehr solcher schönen Mädchen, die sich lieber freien ließen, als daß sie so schwer arbeiteten. Ekke dachte darauf: »In Braderup muß ich mein Glück machen.«
*
Kurz danach saß Ekke eines Morgens und starrte aus seiner Höhle am Kliff ins Morgenrot hinein und hatte so seine eigenen Gedanken. Da kam ein schöner Jüngling unten im Tal an ihm vorbeigegangen. Er wollte im nahen Wattenmeer ein Bad nehmen. Da Ekke so lange nicht im Wasser gewesen war, überkam ihn plötzlich die Lust, auch einmal wieder ein Bad zu nehmen. Es mag aber auch sein, daß er die Bekanntschaft des schönen Jünglings machen wollte. Als Ekke nun hinunter ans Ufer kam, erschrak die badende Gestalt sehr und wollte die Flucht ergreifen. Es war nämlich gar kein Jüngling, sondern ein junges Mädchen, das Männerkleidung trug, damit die Unterirdischen es nicht raubten wie Finn seine Frau. Zum Fliehen war es aber schon zu spät. Ekke ergriff das Mädchen und hielt es fest, obgleich es ihn inständig bat, es doch gehen zu lassen und niemandem zu erzählen, daß es ein Mädchen sei. Ekke versprach ihm das, wenn es ihn über Jahr und Tag heiraten wolle. Dörte Bundis – so hieß das Mädchen – mußte ihm das geloben, sonst hätte er sie gleich in seine Höhle mitgenommen. Nun war Ekke sehr froh. Doch, der arme Wicht, er konnte nicht schweigen, was er wußte. So saß er wohl oft in seinem Loche oder auf den benachbarten Hügeln beim Mondschein und sang:
»Ekke soll brauen,
Und Ekke soll backen,
Ekke, er will Hochzeit machen.
Dörte Bundis ist meine Braut;
Ich bin Ekke Nekkepenn,
Und das weiß niemand als ich allein.«
Das hörten nun aber die Braderuper und auch andere Leute. So kam es dann heraus, daß Dörte ein Mädchen und Ekkes Braut war. Dörte ärgerte sich sehr darüber. Es verdroß die Braderuper um sie, wie um alle ihre jungen Mädchen, die der Unterirdischen wegen nicht einmal mehr sicher ihres Weges gehen konnten. Sie hielten daher Wache bei ihren Frauen und Mädchen und schlugen die kleinen Leute, wo sie sie fanden.
Sie waren so böse auf sie, daß sie von da ab alle ihre toten Tiere in die Schlucht bei Ekkes Wohnung warfen, um ihn durch den Gestank zu vertreiben. Ja, eines Tages steckten sie eine tote Katze in seine Höhle und riefen ihm zu: »Das ist Bundis Katze, mit ihr kannst du dich verheiraten!« Ekke konnte es zuletzt dort nicht mehr aushalten vor Schimpf und Gestank. Er mußte schließlich die Flucht ergreifen.
*
Er begab sich auf dem schnellsten Wege wieder zum König Finn, um ihm einmal wieder seine Not zu klagen. Ekke erzählte dem König alles, was ihn bedrückte. Finn antwortete darauf: »Der Sadrach plagt dich! Du bist allzu dumm für einen Unterirdischen. Wie du das Mädchen hattest, da hättest du es behalten sollen, oder sonst hättest du eben schweigen müssen. Dein ewiger Singsang verrät dich bei den Großen und führt dich und uns alle ins Unglück. Geh du bloß wieder nach Hörnum oder in die See. Bei uns auf der Heide und in den Hügeln taugst du nichts.« Darauf wurde Ekke sehr grob. Er meinte, daß er nicht allein auf der See die Macht habe, sondern daß er auch auf dem Lande mehr tauge als Finn. Und das wolle er ihm beweisen. Im selben Augenblick sprang er auf den großen Sesselstein, den Thron des Königs Finn und rief diesem zu: »Kannst du mich nun von dem Stein wegstoßen, so bist du stärker als ich, sonst aber bleibe ich bei euch auf der Heide und will König über euch alle sein.« – »Nichts ist leichter als das«, meinte Finn. Er lief einmal gegen Ekke an und gab ihm einen tüchtigen Schlag an den Kopf. Ekke rief: »Au!«, blieb aber doch sitzen. – »Warte nur!« sagte Finn, »ich will meine Axt holen.« – Ekke dachte: »Er könnte mich wohl totschlagen«, aber er sagte: »Ekke hat einen dicken Kopf und einen starken Rücken. Solange ich auf deinem Throne sitze, bin ich euer König, der über die ganze, weite Heide und alle Heidehügel und Unterirdischen herrscht. Wer auf dem Throne sitzt, der ist König.« – Finn konnte gegen diese Weisheit nichts sagen. Er lief hinaus, um seine Axt, die er begraben hatte, zu holen. Es dauerte gar nicht lange, da kam er zurück. Zu seiner Frau, der vor einigen Wochen ein kleines Kind geschenkt worden war, sagte er: »Es ist ein Schiff auf den Strand gekommen.« – »Wo?« rief Ekke, der neugierig wurde. – »Hier ganz dicht bei«, sagte Finn. »Es ist durch das Riisgap hineingetrieben und hat Affen an Bord, die Theater spielen können. Wir, meine Frau und ich, wollen heute abend in diese Vorstellung. Du kannst dann auf unser Kind, das in der Wiege liegt, passen.« – »Ich will mit!« rief darauf Ekke und sprang von dem Stein herab. – »Meine Axt ist noch scharf«, sagte Finn und lachte bei sich selbst. Ekke wurde bestürzt. Es kam ihm in den Sinn, daß er nicht mehr auf dem Stein saß, und er kletterte schnell wieder hinauf. Aber er wollte doch auf keinen Fall zu Hause bleiben bei dem kleinen, schreienden Kind. Die Neugierde plagte ihn dazu. Schließlich kam er auf einen Ausweg. Er band sich den schweren Sesselstein auf den Rücken und keuchte damit nach dem Westen, den Dünen zu. Er nahm an, daß Finn und seine Frau schon lange voran seien. Als er nun den großen Stein etwa eine halbe Stunde geschleppt hatte, war er so müde wie eine Made. Er pustete und stöhnte und war in Schweiß gebadet. Die Last konnte er nicht länger tragen. Sie entfiel ihm. Er setzte sich aber sofort wieder oben auf den Stein. So saß er auf diesem Thron die ganze Nacht und hoffte, daß Finn und seine Frau zu ihm kommen und daß das Theater beginnen solle. Allein es geschah nichts dergleichen. Doch noch immer stierte er in die Niederung, die nachher das Affental genannt wurde, hinab, ob er nicht das Schiff oder die Affen gewahr werden könne. Aber er sah nichts.
*
Als Ekke am anderen Morgen noch auf dem Stein unweit der Dünen saß, sah er einen ganzen Trupp der Unterirdischen vom Strand heraufkommen. Sie schleppten ein großes, wunderliches Ding mit sich. In der Mitte war es so dick wie eine Tonne. Es hatte einen Kopf wie ein Mensch und einen Schwanz wie ein Fisch. Ekke hörte es heulen und sah es sich sträuben gegen das Mitschleppen. »Halt!« rief der Meermann, als sie näher zu ihm hinkamen. »Es ist mein altes Meerweib Rhan. Kommt nicht näher! Bringt das alte Ungeheuer wieder ins Wasser; ich will von ihm nichts mehr wissen!« – Doch es war, als ob sie ihn nicht gehört oder verstanden hätten. Sie näherten sich ihm immer mehr. »Bleibt mir doch vom Leibe mit Rhan!« rief er. »Ich bin nun euer König. Auf dem Sesselstein sitze ich, und dann müßt ihr mir gehorchen!« – Doch auch das nützte nichts; sie kamen immer näher. Als Ekke das sah, ließ er den Stein liegen, rannte schnell westwärts an den Strand, sprang ins Wasser und schwamm nach dem Süden hinunter. Zu den Zwergen aber kam er nie wieder. Sein altes Weib kam ihm bald nach und war ihm seit der Zeit immer auf den Fersen, damit er nicht wieder ausschweifend werde. – Der Sesselstein aber liegt noch heute auf dem Platz, wohin ihn Ekke einst geschleppt hat.
* * *
II. Von den Unterirdischen und den Riesen auf Sylt
Als die Unterirdischen den Meermann nun glücklich losgeworden waren, sammelte Finn am nächsten Abend alle seine Untertanen um den Reisehoog. Es war ein schönes Mondscheinwetter, doch ein dichter Nebel lag über der weiten Heide. Daraus ragten die Hügel wie Klippen hervor. – Den ganzen Tag hatten es die Unterirdischen so eilig gehabt wie die Ameisen. Sie waren über die Heide wie die Wetterkatzen gelaufen. Als es nun Nacht geworden war, summte es um den Reisehoog wie ein Bienenschwarm. Da waren Finn und Elfinn, Eske und Labbe, Hatje und Pilatje, die Puken und Deelchen, die Nissen und Klabautermännchen, jeder mit seinem Haufen von ganz Sylt. Sie schnatterten und schwatzten wie die Rottgänse es im Wattenmeer zu tun pflegen. Drinnen in den Hügeln war es so voll von den Weibern der Zwerge wie in Jenschens Ofen, als siebenhundert Mäuse einst zugleich darin hausten.
Als das Geschnatter und Gemurmel in und auf den Hügeln kein Ende finden konnte, da blies Finn beide Backen auf und rief mit grober Stimme: »Erhebt Euch!« »Erheben, erheben!« antworteten ihm sofort viele Stimmen. – Nun wurde alles still. Finn sagte: »Der Meermann hat uns viel Verdruß bereitet, der Sadrach plagt ihn. Er ist von seinem alten Weibe weggelaufen, hat den Rantumer Schiffer im Sturm umkommen lassen, um dessen Witwe zu freien. Er hat aber dummes Zeug geschwatzt und von der Tochter des Schiffers ein blaues Schienbein bekommen. Da meinte er sein Glück bei uns zu machen und kroch in die Haut eines Unterirdischen. Akel Dakel Dummeldeis Braut wollte er verführen und sich in den Ennenhoog einfreien. Aber da bekam er kurzen Bescheid. Enken jagte ihn sehr schnell von ihrer Tür fort. Darauf fand er Dörte Bundis, eine hübsche Verwandte meiner Frau, im Wattenmeer beim Weißen Kliff und wollte sie mit Gewalt haben. Das arme Mädchen konnte von ihm nicht loskommen, und es mußte ihm versprechen, daß es seine Braut sein wolle, so lange er es verschweigen könne. Allein der Dummkopf verriet sich sehr bald mit seinem Singsang, sich und uns allen zum Schimpf und zur Schande. Seit der Zeit sind die Braderuper und alle Riesen auf ganz Sylt böse auf uns. Sie wollen uns nichts mehr leihen und nichts mehr geben als tote Hunde und Katzen. Sie lassen uns nirgends in Ruhe und schlagen uns überall, wo wir uns sehen lassen. Den Sesselstein haben wir verloren. Den hat der Meermann weggetragen. Ich bin jetzt kein König mehr. Was sollen wir nun anfangen?« – »Ihr antwortet wie Bundis Böcke. Die sagten: Nichts. Ich sage: Reise! Wir müssen uns erheben und handeln!« – »Reise, Reise!« rief nun die ganze Versammlung. – »Ich sage, wir müssen unsere Messer und Zähne wetzen und unsere Hämmer und Äxte wieder ausgraben und dann kämpfen wie die Lappen!« – »Kämpfen wie die Lappen!« riefen alle nach. – »Wir sammeln uns morgen bei den Stapelhügeln«, schrie nun die Menge. Darauf gingen alle Unterirdischen auseinander. Jeder ging nach seiner Wohnung, um sich zum Kriege zu rüsten.
*
In derselben Nacht, in der die Unterirdischen Kriegsrat hielten, konnte Dörte Bundis keine Ruhe finden. Es tat ihr leid, daß ihretwegen Unfriede gekommen war. Am Morgen, vor Tagesanbruch schlich sie sich, während alle Unterirdischen schliefen, leise in den Nebel hinaus. Sie lief quer über die Heide zum Reisehoog; denn die Braderuper hatten wohl gemerkt, daß die Unterirdischen in der Nacht so herumgelaufen und laut gewesen waren auf ihren Fußsteigen draußen nach den Hügeln. Als Dörte beim Reisehoog ankam, war alles still. Sie legte sich nieder und horchte in den Hügel hinein. Da hörte sie, daß Finns Frau wach war und ihr Kindchen wiegte. Sie sang dabei über der Wiege:
»Heia hei!
Das Kind ist mein.
Morgen kommt sein Vater Finn
Mit eines Mannes Kopf.
Heia, hei, heia, hei!«
Als Dörte das hörte, dachte sie: »Es ist höchste Zeit, daß die Sylter Kämpfer oder Riesen geweckt werden. Sie könnten sonst leicht von den Zwergen überfallen und geschlagen werden.« Sofort lief sie nach dem westlich von Braderup gelegenen Fredenshoog und zündete darauf das Braderuper Licht an. Das war in alten Zeiten für die Sylter immer ein Zeichen, daß es Krieg geben würde. – Es dauerte auch gar nicht lange, da wurde getutet (Hörner wurden geblasen) in Eidum und in Keitum, in Tinnum, und ehe es Tag wurde, brannte schon als Antwortzeichen bei jedem Sylter Dorf ein Biekenfeuer.
*
Sofort nach Mittag kamen die Sylter Riesen von allen Himmelsrichtungen gefahren oder gegangen. Das waren gewaltig große Männer, und sie waren ebenso stark und derb wie sie lang waren. Die meisten von ihnen hatten sich recht sonderbar angetakelt und mit wunderlichen Waffen versehen. Einige hatten Röcke von geteertem Segeltuch, andere Kleider von dickem Filz an. Aber die meisten trugen einen Pelz von Schaf- oder Robbenfell, und viele hatten bloß eine Kuh- oder Pferdehaut um die Schultern gehängt. Der Seekönig Ring hatte einen vergoldeten Hut, der aussah wie ein kleines, kieloben liegendes Boot, auf dem Kopf. Der König Bröns fuhr mit seinem Sohn, dem kleinen Bröns, in einem vergoldeten Wagen. Piar war sein Kutscher. Er fuhr ihn von Steidum hinauf nach dem Öwenhoog und dem Klööwenhoog auf seinem eigenen Lande. Die beiden letztgenannten hatten vollständige Rüstungen, wie sie in der Zeit in Gebrauch waren, an. Sie trugen ein eisernes Wams aus lauter Ringen und einen vergoldeten Helm mit einem Adler auf dem Kopf. Der Bramm von Keitum war aus ihrer Verwandtschaft. Er war derjenige in der Familie, der das Raten hatte, und er war auch nicht wenig stolz darauf. Er war der Ratgeber des Königs und hatte vergoldete Knöpfe auf seinem Rock, so groß wie kleine Austern. Der Bulle von Morsum hatte ein Kuhfell mit goldenen Hörnern um sich gehängt. Die Hörner steckten über seinen Kopf herauf. Der große Urdig hatte einen eisernen Bügel um den Kopf und einen eisernen Dreschflegel in der Hand. Der Schmied von Morsum, der immer sehr durstig war, hatte eine Tonne Bier auf dem Rücken. Aber er wollte es nicht merken lassen, daß die Tonne gefüllt war; deshalb sagte er, es sei seine Trommel. Wenn er annahm, daß die anderen es nicht sähen, nahm er sich schnell einen Schluck. Aber seine Mitkämpfer wurden es bald gewahr, und sie fluchten, Nis Schmied solle vorangehen, und sie wollten bei der Trommel bleiben. Tjüül von Archsum war ein großer Bauer und so breit wie ein Fuder Heu. Er kam gefahren und hatte seine Scheunentür mit auf dem Wagen. Er sagte: »Diese Tür ist nützlich, wenn es zur Schlacht geht. Dann halte ich sie vor mir auf, und dann können die Feinde mich nicht treffen. Kommen sie mir einmal sehr nah, dann kann ich wohl zwanzig und mehr auf einmal damit quetschen.« Der große Eber von Steidum war Stallknecht bei dem König Bröns. Er hatte einen Strick um den Hals und einen Heubaum auf dem Rücken. Der Strick war ein Zeichen, daß er diente, und der Heubaum war sein Sprungstock und seine Waffe. Hauleke hatte eine große Sense, und Boh und Boik hatten große Bootshaken in der Hand. Der Adler von Keitum war von königlicher Herkunft und hatte seinen Hut mit Federn geschmückt. Tix und Thör kamen von Tinnum. Tix war des Königs Schreiber. Thör aber war dessen Narr. Er hatte einen Weidenzweig in der Form eines Reifens um den Hals als Zeichen seiner Unfreiheit. – Die Uwen kamen von Osten und die Mannen von Westen. Barming kam mit seinem ganzen Haufen. Er war weit in der Welt herumgekommen. Nun wohnte er in Eidum. Niaul und seine Leute wurden die Westerländer Katzen genannt, weil sie kleiner und falscher als die übrigen Sylter Kämpfer waren. Sialle und Kialbing waren Fischer von Eidum. Sialle war in eine Delphinhaut gekrochen, hatte aber den Kopf und den Schwanz daran sitzen lassen. Der Kopf überragte seinen eigenen, und der Schwanz schleppte hinterher wie die Schöße eines Frackes. Er roch wie ein Aas. Aber er meinte, das hätte keine Not. Dann liefen die Unterirdischen so viel schneller vor ihm davon. Kialbing schleppte mit dem großen Kinnbackenknochen eines Walfisches daher. Damit wollte er seine Feinde erledigen. Unding und Wirk oder Widerich von Rantum hatten sich rund herum mit getrockneten Rochen behängt, und jeder von ihnen hatte sich ein besonders großes Tier auf den Rücken gebunden. Sie meinten: »Diese Rochen sind uns sehr nützlich; denn einmal schießt der Feind nicht hindurch, und zum andern haben wir immer etwas zu essen, wenn die Schlacht etwas länger dauern sollte.« Sie hatten Fischerforken in den Händen. – Die meisten der Sylter Riesen hatten bronzene oder eiserne Schwerter und Beile oder Streithämmer mit. Diejenigen, die gut schießen konnten, waren mit Pfeil und Bogen oder mit der Armbrust bewaffnet. Sie schossen mit Pfeilen aus Holz oder Fischbein und Bolzen aus Bronze oder Eisen.
So zogen sie alle nach den in der Mitte der Insel gelegenen Thinghügeln auf der Heide bei Tinnum. Hier war ihr alter Versammlungsplatz; denn hier hielten sie zweimal im Jahr ihren Thing ab, im Frühjahr und im Herbst. Da kam dann das ganze Volk zusammen, um Rat zu halten über die Wohlfahrt des Landes und um Recht zu sprechen über diejenigen, die Unrecht getan hatten.
Als nun alle Riesen versammelt waren, trat der König Bröns auf den höchsten der Thinghügel und rief: »Euer Heil allesamt!« – »Euer auch!« war die Antwort der Menge. – »Sind etwa Fremde unter euch?« fragte Bröns. – »Hier sind Jes und Jasper von Braderup!« antwortete der Schreiber. – »Wi sin och Siljringer Wir sind auch Sylter.!« rief Jasper schnell. – »Das klingt etwas dänisch«, sagte Bramm, »das müssen wir näher untersuchen. Sag einmal: Da liegen drei neugelegte Kiebitzeier in einem Rest auf Rhanshörn.« – Jes sagte: »Dar liegen drei neue Hüüser op aa Heide, o die sind altisammen bestohlen von die Unterjordisken Da liegen drei neue Häuser auf der Heide und die sind allesamt von den Unterirdischen bestohlen worden..« – »Das hast du klug gemacht«, sprach Bröns, »darauf kommt es eben an. Probiere du das auch, Jasper.« – Jasper erwiderte: »Dar liegt ein Weib im Wochenbett me tree Jungen in ein Hüüs i Baderup, aa de sind min Weib. Ich skall ßu hjem nach Hause. o passen auf, dat de tree drei. kleine Sildringer nicht bliver gestohlen, wenn I nicht will kommen, om ßu helfen mir.« – »Das war noch besser«, sprach der König. – »Was haben die Zwerge euch denn gestohlen?« fragte der König. – »Finn, han hat mein Dienstmädchen gestohlen und ßu ßein Weib genommen; und Ekke wollte meine Schwester Dörte verführen. Aber ich narrte ihn; er bekam eine Katze«, sagte Jes. – »Mir haben die Rackers Pack Lämmer und Skinken genommen«, antwortete Jasper. – »Dann haltet ihr nicht mit den Unterirdischen. Wollt ihr dann mit uns, um sie totzuschlagen?« sprach der Ratgeber des Königs. – »Ja, min Seel, de sollen bekommen ein pienlich schmerzlich. Tod!« antworteten sie beide. »Das ist gut«, sprach darauf der König. – »Habt ihr anderen etwas zu klagen über die Unterirdischen?« – »Ja«, meldete sich darauf Nis Schmied, »sie saufen mein Bier aus in meinem Keller.« – »Sie wollten mir meine Frau stehlen«, rief Tipken, der Hahn von Keitum, »aber ich ertappte sie und zwang sie, mir dieselbe wiederzugeben.« – »Schreib das alles auf«, sagte der König zu Tix. – »Stop! das auch, sie haben mir mein Kind verwechselt«, sprach Manne von Eidum. – »Sie melken unsere Kühe und bewirken, daß wir nur Hexenbutter erhalten«, klagten die Tinnumer. – »Sie laufen mir immer vor die Füße und treten mir auf die Fersen, wenn ich über die Heide gehe«, rief der große kurzsichtige Erck Nickels von Keitum. – »Das sind Klagen genug über die Unterirdischen. Wir müssen sie bestrafen. Fechten müssen wir mit ihnen und sie allesamt auf Sylt ausrotten«, sprach der König. »Fühlt ihr euch stark genug, um Krüppel und Bettler und Diebe zu schlagen?« rief nun König Bröns in die Menge hinein. – Darauf begannen die Sylter Kämpfer oder Riesen greulich zu fluchen und zu schimpfen auf ihre Peiniger. Sie versicherten, es sollte nicht einer von ihnen mit heilen Knochen davonkommen. Siegen oder sterben wollten sie. Als der Sturm zwischen ihnen sich etwas gelegt hatte, wählten sie auf des Königs Aufforderung hin ihre Anführer in dem kommenden Krieg. Es waren der Bulle von Morsum, der Adler von Keitum und Ring von Eidum. Nis Schmied sollte mit der Trommel vorangehen und Jasper auch, um ihnen allen den Weg zu zeigen. Er bekam einen Stock mit einer toten Krähe darauf in die Hand und trug diesen hoch erhoben vor sich her, damit die anderen ihn immer sehen und ihm folgen konnten. Später wurde er deshalb meistens Jasper Krag (Krähe) genannt. – Doch ehe die Sylter nordwärts in den Krieg zogen, sprach der heilige Frödde von Steidum: »Wir müssen erst opfern, ehe wir uns in den Krieg begeben.« – »Wir haben schon heute morgen unser Bieken gebrannt«, antwortete Hai. – Frödde sagte: »Habt ihr dann auch gerufen: O, Weda (Wodan), rette uns! O, Weda, zehre (unser Opfer)?« – »Ja, das ist getan worden auf den Winjshoogern, auf dem Wethoog und auf dem Hilligenört«, wurde ihm geantwortet. – »Dann sind wir fertig«, meinte darauf der König.
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Nun zogen die Sylter Krieger nordwärts über die Heide auf die Wohnsitze der Unterirdischen zu. Als sie nach Braderup kamen, war die Tonne des Morsumer Schmieds schon lange leer, und alle hatten großen Durst. So lagerten sie sich rund um einen großen Teich eben südlich von Braderup. Dieser Teich wurde Müür genannt. Diesen tranken die Riesen beinahe leer, obwohl er doch ein nicht kleines Wasserloch ist. Darauf zogen sie weiter nach dem Norden. Der König fuhr in seinem Wagen in ihrer Mitte. Nis mit der Trommel und Jasper mit der Krähe zogen voran. Hinter ihnen kam Tjüül mit seinem Scheunentor und die zwei Rantumer mit ihren Stachelrochen. Dann folgten Ring und Barming mit ihren Eidumer Seeleuten und Katzen, die flink waren und gut schießen konnten. Hinter ihnen hatten sich die Rantumer Fischer und Strandläufer eingereiht. Nun kam der Wagen des Königs Bröns, der seinen Sohn bei sich hatte. Weiter saßen bei ihnen im Wagen der Schreiber des Königs und sein Kutscher. Neben dem Wagen lief der große gefleckte Hund des Königs, und dort gingen die übrigen Eidumer und die Tinnumer. Darauf folgten der Adler von Keitum und Bramm mit allen anderen Bewohnern dieses Ortes, und hinter ihnen gingen der Bulle von Morsum und Urdig mit all den anderen Morsumern und Archsumern. Zuletzt hinter dem ganzen Heere folgten der Eber mit dem Heubaum, Kialbing mit dem Kinnbackenknochen des Walfisches, Sialle mit der Delphinhaut und Thör, der Narr des Königs, mit seinem Reifen um den Hals, einer Glocke auf seiner blauen Mütze, einem Weidenzweig in der einen und einem Kuhhorn in der anderen Hand. Jeden Augenblick blies er in das Horn und sagte, er jage seines Vaters Rinder und Schweine nach der Heide. Sie könnten das grüne, fette Gras nicht vertragen. Mit seinem Zweige schlug er dann und wann auf die Delphinhaut, doch Sialle merkte es nicht.
Jes war nicht so tapfer wie Jasper. Er blieb immer ein Stück zurück, sobald die Sylter dem Norden der Insel näher kamen. Bei dem Reisehoog blieb er zuletzt ganz stehen. Thör rief ihm zu: »Jüß! Jüß!« (wie man die Schweine ruft) – aber es nützte nichts. Jes meinte, er wolle Wache halten bei dem Reisehoog, um zu sehen, ob seine Dienstmagd oder die Unterirdischen noch da seien. Er riß das Heidekraut und die Erde von den Seiten des Hügels ab und suchte nach einem Eingang. Allein die Unterirdischen hatten, als sie von ihren Wohnungen fortgegangen waren, alle Löcher so dicht verstopft, daß nachher in keinem Hügel eine Tür mehr zu finden war. – Die anderen Sylter Krieger zogen unterdessen weiter.
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Als die Sylter Riesen so weit nordwärts gekommen waren, daß sie die Stelle, wo heute der große Brönshoog liegt, erreicht hatten, kamen die Unterirdischen ihnen entgegen. Als die Kleinen die Krähe auf der Stange des Jasper gewahr wurden, wurden sie froh, daß es kein Kreuz war. Sie meinten daraufhin zueinander: »Ein Glück, daß es keine anderen sind!« Doch als sie alle die großen Krieger und vor allem Tjüül mit seinem Scheunentor erblickten, als sie die Trommel hörten und der Gestank von der Delphinhaut und den Rochen ihnen entgegenkam, da krochen sie schnell in ihre Löcher und unter das Gestrüpp und die Heidebüschel, wovon das Land in der Gegend zu der Zeit voll war. Es war mit einem Schlag, als ob sie völlig verschwunden seien, und die Riesen hatten es schwer, um sie zu finden und zu treffen. Doch traten Tjüül und Erk Nickels manche tot, ohne sie überhaupt gewahr zu werden. Zuletzt fanden die Eidumer Katzen sie in ihren Löchern und im Gebüsch. Darauf hetzten sie den großen Hund des Königs in die Höhlen, um sie herauszutreiben. Dann schossen sie sie mit ihren Pfeilen und Bolzen ab. Doch dauerte es nicht lange, da hatten die Unterirdischen den großen Hund vergiftet, so daß er bald tot umfiel. Das ärgerte den König. Er befahl nun, daß Sialle mit der Delphinhaut vorangehen solle, um die kleinen Leute aus ihren Löchern durch den Gestank herauszuholen; denn er hatte bemerkt, daß die Unterirdischen sehr feine Nasen hatten. Nun begannen die Zwerge von einem Loch zum anderen zu fliehen. Die Pukleute wurden dessen zuerst müde. Ihr König Nis lief selbst zum König Bröns und fiel ihm zu Füßen, um seine Gnade zu erwirken. Die übrigen Pukleute liefen ostwärts über die Heide in ein großes Tal hinein und versteckten sich hier. Dieses Tal heißt noch heute das Puktal.
Als nun der große Trupp der Unterirdischen sahen, daß die Pukleute verzagt und ihnen untreu geworden waren, wurden sie böse und tapfer zugleich. Sie krochen und sprangen schnell wie die Flöhe den großen langsamen Riesen hinauf unter die Kleider und an den Beinen entlang in die Höhe und stachen und schnitten in der Hast manche tot mit ihren Messern und Äxten. Sogar der König Bröns und sein Sohn, aber auch der König Nis, dem keine Gnade geworden war, verloren in dieser Schlacht das Leben. Die Unterirdischen waren klug und haßten den König Bröns, den Führer der Riesen in der Schlacht, am meisten. Am schlimmsten aber erging es Teewelken, dem Leibdoktor des Königs Bröns, dem Zauberer von Steidum. Die Unterirdischen begruben ihn bei lebendigem Leibe in einem Hügel in der Nähe des späteren Dorfes Kampen. – Doch die Riesen wehrten sich wie die Löwen und schlugen und stachen und schossen so rasend, daß auch viele Unterirdische ihr Leben lassen mußten. Als sie ihren König Bröns und einige Hunderte ihres Volkes verloren hatten, zogen sie sich nach dem Südwesten auf das Riisgap zu zurück.
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Als die Sylter Riesen in die Nähe des Riisgaps gekommen waren und sich an der Stelle befanden, wo heute das Dorf Wenningstedt liegt, kamen ihnen zu ihrem Glück ihre Frauen und Töchter mit den wohlgefüllten Grütztöpfen entgegen. Die Frauen hatten große Sorge gehabt, daß ihre Männer großen Hunger hätten und daß sie wohl zur Nacht gar nicht nach Hause kommen würden. Deshalb hatte jede von ihnen einen Topf voll Grütze gekocht und sie so zugedeckt, daß sie noch heiß gegessen werden konnte. Daraufhin waren sie alle zusammen nach der Heide gegangen, um die Speise ihren Männern zu bringen. Als die Weiber nun sahen, daß die Männer auf der Flucht waren, wurden sie sehr zornig. Sie schalten und schimpften auf die Riesen und warfen mit der heißen Grütze nach den Unterirdischen. Einige von diesen bekamen den Brei in die Augen und wurden blind; andere bekamen zuviel in den Hals und erstickten, und einige vergaßen beim Anblick der vielen schönen Frauen das Fechten. Zuletzt kamen dabei die Riesen auch wieder zum Stehen und zu sich selber. Sie wandten sich nun wieder um und schlugen so grimmig auf die Unterirdischen ein, daß, ehe es Nacht wurde, alle kleinen Leute tot herumlagen auf der Heide beim Affental und dem großen Kiar. Nur der König der Unterirdischen, Finn, lebte noch. Er saß und weinte auf dem Sesselstein, den er hier wiedergefunden in dem Augenblick, in dem er die Schlacht verloren hatte. Weil er sein Volk und sein Reich nicht überleben wollte, stieß er sich kurz nach Sonnenuntergang sein eigenes Messer ins Herz. – So waren nun an einem einzigen Tage auf Sylt vier Könige ums Leben gekommen: Bröns, Ring, Nis und Finn.
Als nun die Schlacht gewonnen war, da wurden die überlebenden Sylter Riesen froh. Sie aßen die Reste der Grütze auf samt den Rochen der Rantumer und eine Menge großer Käse, die ein Archsumer zum Verkauf mitgenommen hatte. Dann gingen sie mit ihren Frauen und Töchtern vergnügt nach Hause.
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An den folgenden Tagen mußten die Sylter alle zusammen wieder nach dem Norden, um die Toten der Schlacht zu begraben. Die Vornehmsten aus ihren Reihen wurden da beerdigt, wo sie gefallen waren. Ihre Leichname wurden verbrannt, die Asche in Töpfe getan, ihre Waffen daneben oder darauf gelegt, und dann wurden eine Reihe großer und kleiner Steine rund um die Töpfe aufgestapelt und das Ganze mit einem großen Erdhaufen zugedeckt. Wer am angesehensten gewesen war, erhielt den größten Erdhaufen. Der des Königs Bröns wurde ein ganz großer Berg, der heute noch zu sehen ist und den Namen Brönshoog trägt. Ein wenig westlich davon liegt der Sohn des Königs, der kleine Bröns unter einem Hügel zur Ruhe gebettet. Sogar der Hund des Königs und der Pukkönig Nis bekamen etwas westlicher jeder einen Hügel zu ihrer Erinnerung. – Der Seekönig Ring erhielt seinen Grabhügel nördlich von Eidum oder Westerland. Die übrigen Sylter Kämpfer, die in der Schlacht gefallen waren, wurden in die langen Gräber, die man hier Börder oder Riesenbetten nennt, gelegt. Da gingen viele in ein Grab hinein. So ehrten die Sylter in der Zeit ihre Toten. – Wo die Leichen des Königs Finn und seiner Leute geblieben sind, weiß heute niemand mehr.
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Nördlich der Stätte, wo die Schlacht für die Sylter einen so unglücklichen Anfang genommen hatte, bauten die Sylter Riesen oder Kämpfer nach dem Kriege ein Dorf, das nach dem Kampfe Kamp oder Kämpen genannt wurde. – Nicht weit von der Stelle, wo sie die Schlacht mit Hilfe ihrer Grütze streuenden Frauen gewonnen hatten, bauten sie später einen Ort, der zur Erinnerung an diesen Sieg Wonstadt oder Wenningstedt genannt wurde. – Östlich davon bestand schon während der Schlacht das Dorf Braderup. Während eines harten Winters sollen einst drei Jüten Jes, Doret und Jasper zu Fuß über das Eis nach Sylt gekommen sein. Sie sollen das Dorf Braderup zu bauen angefangen haben. Als die Sylter Riesen an dem Teich Müür auf ihrem Zug gegen die Unterirdischen lagerten und den Teich ungefähr leergetrunken hatten, sollen sie gerufen haben: »Der Braten ist auf!« Daher soll der Name Braderup gekommen sein.
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Die Sylter, die in der Gegend der nördlichen Heide wohnten, waren nun die Unterirdischen, ihre Plagegeister, losgeworden, und sie waren froh darüber. Bloß Nis Schmied in Morsum klagte noch immer, daß sie ihm das Bier in seinem Keller austränken. Auf der Morsumer Heide lebten also noch immer einige der den Syltern so verhaßten kleinen Leute. – Einst ertappte die Frau des Schmieds einen der diebischen Unterirdischen beim Auszapfen des Biers. Als sie ihn zur Rede stellte, versprach der Kleine, einen Segen in die Biertonne zu legen, daß dieselbe niemals leer werde. Dieser Segen solle so lange wirken, bis über die Tonne geflucht würde. Ihrem Manne durfte die Frau nichts davon sagen. – Die Frau versprach es und schwieg. Auch der Kleine hielt sein Versprechen, und der durstige Schmied lief, wie er es gewohnt war, weiterhin jeden Augenblick aus seiner Werkstatt in den Keller, um seinen Durst an dem Bier zu löschen. Als er nun merkte, daß trotz seines vielen Trinkens die Tonne nicht leerer wurde, entfuhr es ihm: »Das ist doch eine Teufelstonne, die nimmer leer wird!« – Sofort verschwand der Segen, die Tonne wurde leer, und die Unterirdischen stahlen Bier und Brot wie früher aus dem Keller, ohne einen Ersatz dafür zu geben. – Die Frau erzählte nun ihrem Mann, was sie ihm bisher verschwiegen hatte. Beide beratschlagten, was zu tun sei, um das diebische Gesindel loszuwerden. Man riet ihnen, sie sollten die kleinen Leute fangen und totschlagen. Allein die Zwerge waren klüger und flinker als sie beide zusammen. – Zuletzt kam eine alte Frau, die in ihrer Jugend oft mit den Unterirdischen gespielt hatte. Sie erzählte Nis, daß die Unterirdischen ihr einst erzählt hätten, sie könnten nicht gegen das Kreuz und alles, was damit verwandt sei, an. Sie könnten nicht über dasselbe, nicht durch und nicht unter dasselbe kommen. Vor dem Kreuze müßten sie fliehen oder – verderben. Die Frau riet deshalb dem Schmied, er solle ein Wagenrad vor jede Tür seines Hauses stellen und dann sein Haus in Brand stecken. Dann würden die Unterirdischen sämtlich mit dem Hause verbrennen.
Nis Schmied tat, wie ihm geraten worden war. Als das Haus in Flammen stand, wollten die kleinen Leute fliehen. Aber sie konnten nicht fortkommen vor all den Kreuzen, die die Wagenräder bildeten. Sie steckten ihre kleinen Hände hinaus durch die Speichen und riefen um Hilfe. Jedoch die Morsumer ließen sie alle hartherzig verbrennen. Zuletzt gewahrten die Unterirdischen in der Nähe des brennenden Hauses die alte Frau, die den Rat zu ihrem Untergange gegeben hatte. Da riefen sie ihr vorwurfsvoll zu: »Gespielin, Gespielin, wie hast du uns verraten!« – Das war das Letzte, was man auf Sylt von den Unterirdischen gehört hat. Sie verbrannten nun sämtlich, und damit waren die letzten derselben ausgerottet.
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Biekenfeuer = ein Feuer, das alljährlich am Abend des 21. Februar auf einem Hügel in der Nähe eines jeden Sylter Dorfes abgebrannt wird. Ursprünglich war es ein altes heidnisches Opferfeuer. Auch jedes andere gelegentlich im Freien brennende Feuer nennt man hier Bieken. Das Wort »Bieken« ist dasselbe wie die Bezeichnung »Bake«. Eine Bake dient zur Kennzeichnung der Wasserstraßen im seichten Wattenmeer.
Deelchen = Tälchen, also die Unterirdischen, die in den Heidetälern wohnten.
Delphin = ein Säugetier, das im Meere lebt. Hier handelt es sich um den Braunfisch oder das Meerschwein, das auf Sylt stets Tümmler genannt wird. Es tritt in der Nähe des westlichen Ufers der Insel in Rudeln auf.
Ennenhoog = Entenhügel, ein Grabhügel aus der Bronzezeit, nordwestlich des Dorfes Wenningstedt gelegen. Er hat seinen Namen daher, daß die Bewohner Wenningstedts in ihn hinein Löcher gegraben haben, in denen die Brandente nistet.
Ein blaues Schienbein bekommen = einen Korb kriegen.
Halefjunkengänger = ein junger Mann, der während der Dämmerung oder des Abends in solche Häuser einkehrt, in denen junge Mädchen im heiratsfähigen Alter wohnen.
Hoog = Hügel.
Jenschens Ofen = ein Backofen in einem Hause in Braderup. Man kennt noch heute die Stelle, wo das Haus einst stand.
Klabautermänner = Schutzgeister eines Schiffes.
Met = ein berauschendes Getränk aus gegorenem Honig.
Müür = Sumpf.
Nissen = die Gefolgsmänner des Königs Nis.
Puken = Hausgeister auf Sylt.
Rotes Kliff = ein etwa 30 m hohes Kliff, an der Westseite der Insel zwischen Wenningstedt und Kampen belegen.
Reisehoog = Erhebungshügel. »Reise!« bedeutet soviel wie das englische Wort » to rise« = sich erheben.
Rottgänse = eine Art der Wildgänse, die das Land meidet, also ihr Futter nur im Wattenmeer sucht.
Sadrach = Teufel, Unhold.
Sandspirling = Tobiasfisch. Er lebt im Sande der an der Westküste oft entstehenden Wasserpfützen, die man hier »Leyen« nennt.
Weißes Kliff = ein aus Kaolinsand bestehendes Kliff am Wattenmeer vor Braderup.
Wetterkatzen = die an heißen Tagen des Frühjahrs oder Sommers am Horizont flimmernde Luft, die sich äußerst schnell zu bewegen scheint.
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