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Von unserer mittelalterlichen Literatur sind am bekanntesten heute die Epen mit den alten volkstümlichen Stoffen, die Ritterepen mit fremden Stoffen und die lyrischen Gedichte. Eine vierte Art von Dichtungen, die man als Novellen in Versen bezeichnen kann, hat weniger Interesse erweckt, obwohl ihre Überreste vielleicht mit zu dem Besten gehören, was uns aus unserer älteren Literatur erhalten ist. Es wird in den vorliegenden Bänden der Versuch gemacht, die interessantesten dieser Stücke in einer Erneuerung dem heutigen Leser darzubieten. Hauptquelle für unsere Auswahl war die Sammlung v. d. Hagens, die den alten Titel »Gesamtabenteuer« trägt; es sind aber auch aus Laßbergs Liedersaal, aus Kellers Sammlung altdeutscher Gedichte und anderen Büchern Erzählungen genommen; das Prinzip der Auswahl war vor allem: Wiederholungen zu vermeiden und also immer nur die gelungenste Fassung einer Geschichte mitzuteilen und Erzählungen mit allzu bekanntem Inhalt auszulassen, vor allem also die, welche im Dekamerone zu ähnlich behandelt sind. Dabei ist nicht Rücksicht darauf genommen, ob das eine oder andere Stück aus der früheren Zeit stammte oder bereits Meistersinger-Charakter aufwies, wie sich in der Tat hier auch kaum so scharf scheiden läßt zwischen den alten Dichtern und den späteren, wie zwischen Minnedichtern und Meistersingern. Diese Novellendichter treten ja überhaupt erst auf, als die übrige ältere Literatur abzusterben beginnt, gegen die Mitte des XIII. Jahrhunderts, und so weit wir ihre Namen kennen, sind sie fast alle bürgerlich.
Die Blüte unserer mittelhochdeutschen Dichtung hat ja nur sehr kurz gewährt; der letzte Grund wird doch wohl sein, daß sie im wesentlichen ein künstliches Produkt war. Stoffe wie Formen wurden von außen gebracht, und die ritterlichen Epen sowohl wie die Lieder müssen mehr als freie Übersetzungen, wie als Originalarbeiten betrachtet werden, vergleicht man diese Werke mit ihren Vorlagen, so muß man diesen fast immer den Vorzug geben. Vielleicht ist einmal ein Motiv natürlicher und eine Darstellung weniger lasziv, ist hier und da der Versuch einer Vertiefung gemacht, immer aber ist weitschweifiger und langweiliger erzählt und dabei doch im eigentlichen Erfinden fast gar nichts geleistet. Der Träger dieser Literatur war der Adel, der allein damals weltliche Bildung hatte; als die Zeiten unruhig wurden und die Bauern und Bürger gegen den Adel emporkamen, ging diese fremde Bildung sehr schnell verloren. Stoffe und Formen, welche im eigenen Volk vorhanden waren, wurden damals vernachlässigt, und das meiste von ihnen entartete dann später zu bänkelsängerischer Trivialität.
Aus dem Kleinbürgertum kann doch nie eine bedeutende Dichtung kommen: auf der einen Seite fehlt die Bildung und der weitere Blick, auf der anderen die freie Empfindung. Die fahrenden Schüler, die man als arme Studenten oder als Vagabunden bezeichnen mag, haben eine wundervolle Lyrik hinterlassen, welche der provenzalischen ebenbürtig zur Seite steht; aber die Handwerksmeister lebten zu behaglich, um Leidenschaft und Gefühl wie der Archipoeta, und mußten zu viel arbeiten, um freie Bildung wie Walther von der Vogelweide zu haben. Immerhin ist ihre rührende Dichtung ein merkwürdiger Ausdruck der deutschen Volksseele; in unseren höheren Ständen muß doch nicht soviel edler Trieb vorhanden sein, wie normalerweise sein müßte und bei anderen Völkern auch ist; sicher ist bei der Bildung unserer Aristokratie viel von dem besten Blut in die niederen Schichten des Volkes gekommen, denn bei keiner anderen Nation ist das kleine Bürgertum so wichtig für die Kultur, wie bei der deutschen.
Unsere Novellen nun haben aber etwas, das sie besonders geeignet macht für bürgerliche Darstellungskunst, wie ja auch von Hans Sachs' Werken uns noch heute seine Schwänke – das sind unsere Versnovellen – interessieren. Man könnte in ihnen einen bewußten Gegensatz gegen das konventionelle und nicht selten verstiegene Gefühl der Ritterdichtung annehmen; sie stehen auf dem Boden der Wirklichkeit, sind anständig, nehmen die Natur in Schutz gegen allzu hohe Ansprüche des Geistes, haben eine eigene Schalkhaftigkeit und Behaglichkeit.
Es ist ja durchaus nicht gesagt, daß die bürgerlichen Dichter dieser Werke nun durchaus immer brave Stadtbürger gewesen sein müssen; wahrscheinlich stammen viele dieser Stücke von Spielleuten her, die den französischen Trouveres ähnlich waren, und Namen wie der Stricker und Wernher der Gärtner scheinen mir, trotz neuerer Deutungen, das zu erweisen; immerhin aber haben diese vagierenden Dichter in diesem Literaturzweig scheinbar bei uns nicht die Bedeutung wie in Frankreich.
Form und Inhalt auch dieser Dichtungen stammt aus dem Ausland, direkt aus Frankreich und weiterhin aus dem Orient, woher sie mit den heimkehrenden Kreuzrittern gekommen sind. Aber sie sind doch nationaler geworden wie die Ritterepen, wie bis zu gewissem Grad selbst die Minnelieder; ist ja doch das Bürgertum immer nationaler gewesen wie die Aristokratie, die gerade damals christlich-international empfand. Mögen die fast immer so lustigen Geschichten auch in ihrem neuen Gewand soviel Freude bereiten, wie einst auf Burgen und in Städten in ihrer alten Form!