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Erster Teil.

G Gestern noch stand ich an dem Pier in Bremerhaven und winkte dem Dampfer nach, auf dem die Kinder langsam an mir vorbeigeglitten waren, als er aus der Mündung der Weser fuhr. Gestern noch grüßten mich Ilsens Augen über dem großen Strauß von roten Rosen, während sie sich an ihren Mann lehnte. Heute umfängt mich das Torfhaus im Teufelsmoor. An dem Fenster des kleinen Zimmers sitze ich und habe lange hinausgeschaut auf das Moor.

Im Wagen bin ich von Bremen herübergefahren. Mein Kind selbst hat mir Quartier bereitet, und meine Wirtsleute empfingen mich und brachten mich in mein Zimmer. Ich sah die schwarzen Torfpyramiden, die von weitem so wunderbar erscheinen, wie Grabmäler, und die Wolken an dem Himmel, der sich über das alles spannt, weit und blau, und eine unendliche Traurigkeit zog in mich ein, am Vorabend dieser langen Trennung.

Ich bin über die Heide gegangen, und dann habe ich angefangen, an mein Kind zu schreiben. Ich weiß ja aber, daß der Brief sie nicht trifft von heute zu morgen, und es ist mir zum ersten Male gewesen, als würden meine Worte kalt. In der Nacht, in dieser ersten Nacht hier im Torfhaus, ist mir der Gedanke gekommen, ihr zu erzählen, was sich nicht ändert von heute zu morgen, was nicht gleich in ihre Hand zu kommen braucht, ohne seinen Wert zu verlieren, und was mir helfen wird über diese lange Zeit der Trennung, was mein Herz beruhigen und wieder froh machen wird.

Mein Leben will ich Dir aufschreiben, Ilse. Deiner Mutter Franzine Leben. Die Stimmung, die hier über allem liegt, so weltfern und schlicht, die ist der rechte Untergrund für das, was ich Dir zu sagen habe. Wie ein Kind will ich's machen, das man allein gelassen hat und das sich selbst etwas erzählt, damit es sich nicht fürchtet. Franzinens Geschichte will ich Dir erzählen, Ilse, und Deine eigene.


Was für ein lachender Mann war mein Vater! Nicht einer von denen, die immer lachen aus Leichtsinn und Trotz. Sein Lachen war die Lebensfreudigkeit selbst, die reine, ungetrübte Freude, die er haben mußte, wie die Sonne scheinen muß. Sie sagen jetzt immer, er sei leichtsinnig gewesen und hätte nicht für die Seinen gesorgt, und ich weiß wohl, daß mein Bruder es ihm nie verziehen hat – aber dann muß er seine Augen vergessen haben. Diese leuchtenden, glücklichen Augen, die zu ihm gehörten, und die immer so scheu und unsicher wurden, wenn irgend ein Gespenst dem Frieden des Tages nahte. »Ein fauler Friede,« sagte Gerhard, »es ist immer ein fauler Friede, der jeden Krieg scheut.« Mag sein, ich kann ihm nicht zürnen. Ich weiß, daß der Krieg um etwas Großes, Edles ihn in den vordersten Reihen gefunden hätte, mit demselben Lachen; aber den Krieg mit den Kleinigkeiten konnte er nicht ertragen, dem erlag er. Und weil er nicht unterliegen wollte, darum schob er das alles von sich ab, wie er die Fliegen von sich abwehrte in unserem Hause unten in der Mark.

Wir waren aus einem alten mecklenburgischen Geschlecht, und dessen Vorfahren sind einmal Herren über zehn Güter gewesen. Zuweilen erzählte Vater davon, von den großen Zeiten vor der Revolution, als der Adel noch alles gegolten hatte. Damals hatten die Söhne des Hauses in Paris studiert und hohe Ämter im Staat bekleidet. Von dem silbernen Familiengeschirr hatte mein Vater noch eine Frühstückstasse besessen, in der war das Wappen eingegraben. Doch schon der Großvater hatte den Adel abgelegt, als ein Gut nach dem anderen in fremde Hände ging, und war ausgewandert ins Preußische, wohin die Armut besser passe, wie er gesagt hatte. Denn dort, wo die Adeligen den roten Rock tragen und zu besonderer Stunde für sie die Kirchenglocken gehen, dort muß man ein reicher Herr sein, wenn man ein Herr ist.

Großvater hatte ein Gütchen in der Mark gekauft; aber die Armut muß ihm nicht geschmeckt haben, denn er soll mehr in der benachbarten Stadt, als auf seinen Feldern gewesen sein. Vater war Offizier, bis er durch einen Sturz mit dem Pferde sich ein Hüftleiden zuzog, das ihn zum Dienst untauglich machte. Er hinkte leicht, bemühte sich aber nach Kräften, trotz dieses Hindernisses seiner Leidenschaft, der Jagd, obliegen zu können; und weil um diese Zeit sein Vater starb und er es sich wohl nicht zutraute, Seide zu spinnen aus den Kartoffeläckern und Kiefernwäldern des heimatlichen Gutes, das stark verschuldet war, so verkaufte er die Klitsche und mietete sich ein Häuschen in der Nähe der Warthewiesen, da wo die sogenannte kiefernbestandene »Höhe« der Neumark aufsteigt. Er pachtete die Jagd dort, wurde Gemeindevorsteher in dem Dorf und ein Liebling im Kasino der nahen Stadt, wo Militär lag.

Das alles war für ihn zusammengetroffen mit dem großen Lebensabschnitt, den der Tod meiner Mutter gebildet hatte, zwei Jahre nach meiner Geburt. Als blutjunger Leutnant hatte er sie kennen gelernt, und es ist mir in meinem Leben ein Trost und eine Hilfe gewesen, daß eine Liebe, wie die zwischen den beiden, so selten ist in dieser Welt, wie mein eigenes Schicksal. Mein Vater war damals Feldjäger und viel auf Reisen, in Paris, in London und in Konstantinopel. Er ist immer ein Dichter gewesen, das weiß ich von den wenigen Wanderungen her, die ich mit ihm machte, hinab zu den Wiesen und durch die Kiefernschonungen. – In den Reisebriefen, die er der Geliebten schrieb, war er ein großer Dichter. Sie soll sehr schön gewesen sein, doch glaube ich eher, daß es eine Schönheit war, wie die der Frau von Dante Gabriel Rosetti. – Auch ihr Schicksal war ein ähnliches, nur daß die Rittmeistersgattin begraben wurde wie jede andere Soldatenfrau, und mein Vater nicht daran dachte, ihr seine Briefe mit in den Sarg zu geben, wie Rosetti damals der Geliebten seine Sonette mitgab, und daß seine ruhmsüchtigen Freunde nicht nötig hatten, später den Schlaf der Toten zu stören, um sich diese Gedichte anzueignen und sie an die Öffentlichkeit zu bringen. Jene Briefe sind in meine Hände gekommen und sollen einmal in meinem Sarg liegen. Aber das Bild der Mutter in dem schwarzen, bauschigen Seidenkleid mit den offenen Ärmeln, aus denen sich die weißen Tüllmanschetten hervordrängen und um die wunderzarten Gelenke schließen, und mit dem wehmütigen Ausdruck in den großen Augen, erinnert mich immer an die Gattin Rosettis, und ich lese gern jene Verse aus seiner Brautnacht:

»Die Lippen trennten sich mit süßem Schmerz.
Wie von den Traufen nach des Sturmes Wehen
die letzten Tropfen sinken, kaum zu sehen,
so klopfte jetzt das Blut in beider Herz.«

Ich war stolz darauf, das Kind einer so großen Liebe zu sein, ihr letztes Pfand, denn sechs Jahre vor mir war mein Bruder Gerhard geboren, und dann noch zwei Schwestern. Die waren gestorben. Zwei Jahre nach meiner Geburt starb auch die Freudespenderin an der Schwindsucht, deren Keim sie lange in sich trug. Sie sagen, mein Vater wäre mit jeder Frau glücklich gewesen, und dreimal hat er es ja auch gekostet. Aber ich werde mir nie nehmen lassen, daß die große Sonne in seinem Leben doch nur meine Mutter war. Freilich, ich glaube es heute, daß er ein Mann war, der nicht ohne Frau leben konnte, daß er zu zart und zu ritterlich war, um jemals die, die sich ihm gegeben hatte, eine Enttäuschung fühlen zu lassen, und daß er Wärme und Wohligkeit brauchte wie die Luft des Lebens. Daher waren seine Ehen immer friedlich. Glücklich im allerletzten Sinne war nur jene erste.

Damals, als er das kleine Haus gemietet hatte, das eigentlich zu dem Vorwerk eines Gutsbesitzers gehörte und schon lange nicht bewohnt war – der Ausbau hieß es einfach – suchte er wohl in der nahen Stadt und bei den dortigen Kameraden das erste Übermaß des Schmerzes zu dämpfen. Es mag den Freunden leicht geworden sein, ihn zu bereden, an den Vergnügungen der kleinen Stadt teilzunehmen, und er lernte dort zwei Schwestern kennen, die Töchter eines abgedankten Generals, die durch ihren Namen und ihre Stellung, und wenn ich gerecht sein will, wohl auch durch ihre Persönlichkeiten die Sterne der kleinen Garnison waren, Anna und Hedda von Willich. Sie mußten die entgegengesetzten Pole der Weiblichkeit vorgestellt haben, den Stolz und die Demut. Daß sich aber beide gleich beim ersten Sehen leidenschaftlich in meinen Vater verliebten und einen erbitterten Kampf um seine Zuneigung führten, das ist sicher einer von jenen stillen Kriegen, die sich im Rahmen einer Mädchenstube abspielen und viele Wunden und Leiden mit sich führen, und aus denen man für sein Leben lang so gebrochen hervorgehen kann, wie aus einem Feldzuge der Männer. Anna war eine sanfte, weiche Natur, und es ist begreiflich, daß bei der damaligen Gemütsverfassung meines Vaters sie den Sieg davontrug. Ob er gewußt hat, daß sein Hochzeitstag der stolzen Hedda das Herz brach, weiß ich nicht. Ich habe ja das alles viel später erfahren, mir in den Einsamkeiten meines eigenen Lebens mühsam aufgebaut und zusammengesetzt. Mama, wie ich Hedda nenne, hat mir nur einmal gesagt, daß sie gleich nach Annas Hochzeit zu Verwandten nach dem Elsaß gegangen ist, und daß sie dort in einem Winter drei Anträge bekommen hat. Sie hat aber nicht heiraten wollen.

Nun ist ja auch so alles gekommen, wie sie es sich wünschte. Nach neun Monaten hat in dem Ausbau die neue junge Frau im Sarge gelegen mit einem zu früh geborenen toten Kindchen im Arm. Ich weiß gar nichts von dieser zweiten Mutter, die gewiß gut und sanft gegen mich gewesen ist; aber mein frühestes Kindheitserinnern ist, daß ich mich an eine verschlossene Tür schleiche, meine beiden Hände um den Drücker klammere und durch das Schlüsselloch sehe. Da stand mitten im Zimmer ein großer schwarzer Kasten, in dem lag eine Frau, die hatte ein weißes Bündelchen im Arm, und ringsum lagen weiße Rosen, und an den Seiten brannten auf Leuchtern Kerzen. Ich spüre noch den Geruch des brennenden Wachses und das unverstandene schauerlich Schöne des Anblicks. Und dann ist der Vater gekommen und hat mich aufgehoben, und ich habe in sein tränenüberströmtes Gesicht gesehen. Ja, wenn ich recht zurückdenke, sah ich diesen immer lachenden Mann zum ersten Male mit Bewußtsein, als er weinte.

Hedda ist dann wohl schon beim Begräbnis gewesen, und von da an ist sie immer da, und in meinem kleinen Kinderherzen sind von Anfang an Haß und Trotz gegen sie. Ich bekomme meine ersten Schläge, weil ich der schönen Dame, die so oft unter den uralten Linden der Landstraße an unserem Hause vorbeireitet und dann jedesmal anhält, sich von der Wirtin ein Glas Wasser reichen läßt und mit mir plaudern will, nicht die Hand geben mag. Und dann, ein Jahr später, zieht Hedda von Willich als Frau hinaus auf den Ausbau.

Ich habe lange meinen Frieden gemacht mit Mama. Ich liebe meine Stiefgeschwister, die ich nur selten sehe. Vor allem der Älteste hat so viel von meines Vaters Wesen. Ich freue mich, daß es ihnen gut geht und sie ohne Sorgen, ihren Fähigkeiten gemäß, sich entwickeln können. Ich weiß heute, daß es eine Liebe gibt, der jene Hand fehlt, die nach oben greift und das Überirdische faßt, die an nichts glaubt, als an die Erde und an das, was sie in den Armen hat, die nichts will, als sich selbst genießen im anderen, hundertmal und tausendmal. Ich habe auch gelesen, daß man solche Frauen, die nur für den Mann und für ihre Kinder leben, rücksichtslos bis zum äußersten, gegen jeden anderen unduldsam und lieblos gegen den Fremden, solche Fanatikerinnen des eigenen Glücks, hochstellt und sie rühmt, als Frauen, die ganz in dem aufgehen können, was die Welt der Frauen begrenzt. Aber zum Glück hat sich doch die Zeit um mich her geklärt und gelichtet und uns mehr Platz gegeben. Ich weiß sehr wohl, daß dieses Ideal nicht das Frauenideal sein kann, und auch nicht das der Ehe; daß ein Frauenherz reich genug sein muß, um Mann und Kinder nie zu kurz kommen zu lassen, und doch darüber hinaus die Welt umfassen kann, gerade weil es glücklich ist. Aus der eifersüchtigen, engen Liebe meiner Stiefmutter habe ich den einzigen Beweis dafür gezogen, daß mein Vater ihr unterlegen ist wie ein erobertes Gut, nicht freiwillig; daß er sie im Grunde seines Herzens nie geliebt hat. Ich habe sie später um ihn werben sehen mit tausend Kleinigkeiten, Tag für Tag sich aufopfern für seine Bequemlichkeit. Mit den warmen Hausschuhen kam sie, wenn er von der Jagd zurückkehrte. Sie selbst bereitete die Leber des Rehs, sie selbst briet ihm das Rebhuhn zum Frühstück, wenn er auf den Anstand wollte. Ich habe gesehen, daß sie kein Wetter und keinen Wind scheute, daß keine Arbeit ihr zu viel war. Ich habe die stolze Hedda dienen sehen wie eine Magd. Mein Vater hat nie ein böses Wort mit ihr gesprochen und nie ein böses Wort über sie, er hat sie geachtet und ist ein lächelnder, glücklicher Mann gewesen bis an sein Ende. Aber ich brauchte nur auf jene helle Stelle an der Wand zu blicken, da, wo früher Mutters Bild hing, und ich wußte alles. Dies altmodische Bild mit dem ovalen, schwarzen Rahmen hatte Hedda eines Tages fortgenommen und ein viereckig gefaßtes ihres Vaters an seine Stelle gehängt. Oben und unten blieb ein kleines helles Kreissegment auf der dunklen Tapete, und wenn ich nach Hause kam, suchten meine Augen diese hellen Stellen, bis ich den Mut fand, jenes verpackte Bild zu erlösen. Doch das war erst viel später. –

Sieben Jahre war ich alt, da brachte mich Vater aus dem Ausbau in die Stadt in Pension. Ein Würmchen werde ich wohl gewesen sein. Ich weiß nicht, wie es gekommen, daß ich häßlich und leidenschaftlich geworden, ein böses, verstocktes Kind. Dieser Bezeichnung erinnere ich mich aus meiner frühesten Kindheit. Es gibt einen Brief meiner Mutter an meine Großtante, den ich später abschreiben will, in dem spricht sie davon, wie ihre kleine Franzine ganz Sonne ist. Aber Mama Hedda wollte mich ja gerade aus dem Hause haben, weil sie mich unmöglich erziehen könne, und weil ich so störrisch sei. Als ich mich in der Pension ganz fest an den Hals meines Vaters hing, wie eine Klette, und immer schrie, ich wollte nicht von ihm fort, da hat er seiner Frau recht gegeben und mich auch störrisch genannt und mich gescholten. Die Pensionsvorsteherin konnte nichts anderes tun als mich ins Bett legen, wo ich mich vor Schluchzen krampfhaft krümmte und das Abendbrot zurückstieß, daß der Topf mit Milch umfiel und einen großen häßlichen Fleck auf meine Bettdecke machte. Den mußte ich nun zur Strafe drei Wochen lang sehen. Ich bekam kein neues Deckbett, und die neue Herrscherin über meine Kinderseele war sehr unzufrieden mit mir.

Ich habe bisher noch gar nicht von meinem Bruder Gerhard gesprochen, der doch so viel in meinem Leben gewesen ist. Ich sagte nur, daß er sechs Jahre älter war als ich selber. Da hat er sich wohl nicht viel um das kleine Schwesterchen gekümmert. Und dann hatte er im Ausbau Stunden beim Pfarrer, und dann seine Spielkameraden aus dem Dorf, die mich die Prinzessin nannten und verhöhnten, wenn ich mich einmal an sie heranwagte. Gerhard war schon in Pension gekommen, als mein Vater Anna von Willich heiratete. Er hat mir dann selber erzählt, daß die neue Mama das gar nicht gewünscht habe, sondern daß er gehört hätte, wie sie einmal zu Vater sagte: »Solch ein wilder Junge, in dem so viel Glut steckt, der brauchte doppelt die Fürsorge der Mutter.« Vielleicht aber traute sich Vater die strenge Hand nicht zu, die wohl bei Gerhard die weiche hätte ergänzen müssen, und so war er schon in dem großen Knabenpensionat, als ich nach der Stadt kam.

Meine Mitpensionärinnen waren alle viel älter als ich, denn niemand gibt ein siebenjähriges Kind zu Fremden. Die Pensionate waren in ihrer ganzen Einrichtung auch für die Mädchen von 12–16 Jahren angelegt, und es hat viel guter Worte und Überredung bedurft, um Fräulein Streckfuß zu bewegen, mich aufzunehmen. Schon das Schlafen machte Schwierigkeiten. In ihrem eigenen Schlafzimmer wollte sie mich nicht unterbringen, weil ich sie da störte. Mit den großen Mädchen paßte ich nicht zusammen, und sie weigerten sich, die Kleine in ihrem Zimmer zu haben. So kam ich zu den beiden schwarzen Schafen der Pension, die so viel auf dem Kerbholz hatten, daß man ihre Wünsche nicht berücksichtigte. Fräulein Streckfuß wußte wahrscheinlich selbst nicht, welchen Quälgeistern sie mich damit auslieferte. Die beiden Mädchen, die gerade noch einmal so alt waren als ich, hatten eine Freude daran, Wutanfälle bei mir hervorzurufen. Sie umklammerten meine Handgelenke und befahlen mir, mich loszureißen, sie züchtigten mich, wenn ich ihren Aufträgen nicht Folge leistete, und sie nutzten mich aus mit einer Grausamkeit, wie sie nur Kinder füreinander haben können. Ich war sehr ängstlich und verschüchtert, und sie schickten mich heimlich nach Bonbons und Apfelkuchen, nach Gerstenzucker in die Apotheke, in die ich mich so wie so nicht getraute, weil der Herr hinter dem Ladentische immer so lächelte und sagte: »Bist Du aber leckerig, Kleine!« Ich durfte ihm doch nicht sagen, daß ich auch nicht ein Stückchen von dem abbekam, was ich meinen Peinigern ausliefern mußte. Nur wenn Fräulein Streckfuß einmal die Schränke revidierte, dann fand sie eine zerknüllte Düte in meinem Fach, und ich bekam Schelte und wurde ein verdorbenes Geschöpf genannt. Das Schlimmste aber war, daß ich zuweilen den großen Jungen, die an die Linde an der Kirche kamen, Zettelchen zustecken mußte und welche von ihnen nehmen und an die anderen Mädchen in der Pension abgeben. Dazu bekamen sie mich nur durch Drohungen. Und dann saßen sie zusammen, lachten und kicherten und stießen sich mit dem Ellbogen an. Des Abends ging die eine zur anderen ins Bett, und sie flüsterten lange, so daß ich nicht einschlafen konnte. Wenn ich sie aber bat, doch still zu sein, nannten sie mich eine dumme Gans und sagten, wenn ich es Fräulein Streckfuß petzte, dann sollte ich einmal sehen, wie es mir bekäme. Jeden Sonntag hatte man mir versprochen, sollte ich hinaus, heim, nach dem Ausbau. So sehnsüchtig hat nie jemand auf das Abendläuten am Sonnabend gewartet. Dann kam der Wagen, und Peter, unser Knecht – den Kutscher schickte man meinetwegen nie – fuhr mich hinaus. Vater freute sich immer so, mich zu sehen. Er stand in der Tür und hob mich vom Wagen und schwenkte mich ein wenig, daß ich sofort rote Backen bekam vor Freude. Erst am nächsten Tage, wenn es ihm auffiel, wie blaß ich doch eigentlich sei, und wie wenig ich wüchse, meinte er, er müßte doch wirklich einmal mit Fräulein Streckfuß reden. Aber Mama Hedda sagte, das sei Unsinn, es läge in den Jahren. Ach, die Sonntage waren herrlich. Vater ging mit mir hinunter zu den Wiesen, über denen manchmal der Nebel lag wie ein weites Meer, und wo im Frühherbst die Störche ihre Versammlungen hielten. Wir gingen dann ganz nahe aneinander auf dem Damm an der Warthe, auf der die großen Schiffe mit ihren Segeln vorübergezogen kamen und die langen, langen Holzflöße, die vorn ein lustig flatterndes Fähnchen zeigten und eine kleine Bude aus Stroh, in der die Flößer schliefen. Am Tage aber saßen sie um ein Feuerchen, das sie sich aus den Holzstäben gemacht hatten und das lustig flackerte; der Kartoffelkessel hing darüber. Ach, mußte das ein lustiges Leben sein, so auf einem Floß herunterzutreiben, den Strom entlang, und nachts in dem warmen Stroh der kleinen Hütte zu schlafen! »Wir wollen mit ihnen fahren, Vater, Du und ich, wir beide allein, ganz allein, hinaus in die Welt.«

Da hat er mich aufgenommen und mir in die Augen gesehen: »Ist meine Kleine unglücklich?« Und in seinen lachenden Augen stieg jenes Gewölk auf, und jener ängstliche Ausdruck legte sich über seine Züge, den ich so gut kannte, und der kam, wenn er hörte, wie Mutter in der Küche mit den Mädchen schalt oder die Rechnung mit der Wirtin machte. Ich mochte aber meinen schönen Vater nicht so sehen. Da schlang ich meine Ärmchen um seinen Hals und sagte: »Nein.« Ein solches Mitleid hatte ich damals mit dem starken Mann, daß ich alles, was mein kleines Herz fast brechen machte, zurückdrängte. Es war der erste Sieg über mich selbst, ich war ganz stolz darüber und bin an diesem Sonntag wirklich ein artiges Kind gewesen.

Aber die Sonntage glichen sich nicht. Öfter und öfter kam es vor, daß Vater nicht in der Gartentür stand, wenn Peter vorfuhr. Zuweilen hatte der es mir schon unterwegs gesagt: »Die Herrschaften sind aus, dahin oder dahin, und sie kommen erst des Abends zurück; aber Du sollst spielen und Dir Pflaumen schütteln und Nüsse suchen.«

War Gerhard mit, dann lachte er bitter und sagte: »Das hat sie wieder so eingerichtet, die Stiefmutter.« Er nannte sie niemals anders, und einmal sagte er mir: er hasse sie, mit der ganzen Kraft seines Herzens hasse er sie. An solchen Tagen gehörte der Ausbau uns allein. Dann schlenderten wir in den Wald oder auch hinunter zu den Wiesen, und Gerhard machte das Boot los und ruderte mich. Er hatte die Leidenschaft des Jägers im Blut; aber Vater hatte ihm eine Flinte nur für eine gute Zensur versprochen. Eine gute Zensur jedoch konnte Gerhard nie bringen. Er sagte, es ginge nicht, es sei unmöglich, und es sei auch nicht nötig, denn man brauche im Leben anderes, als Latein und Griechisch. Er wollte nicht studieren, sondern Oberförster werden. Der Wald hatte es ihm angetan, die märkische Heide. Wenn er glatt durch das Gymnasium käme, hatte Vater auch nichts dagegen. Er besuchte mich zuweilen in meiner Pension; aber da er in dem Alter war, in dem Jungen finden, daß Mädchen alberne Gänse sind, so kam er nicht oft, und sie spotteten über ihn und ließen mich's entgelten. Wenn wir uns einmal auf dem Schulweg trafen, so verabredeten wir wohl ein Zusammensein draußen auf der Schwedenschanze. Das war ein alter, baumbepflanzter Wall vor der Stadt. Ich fand es da unheimlich und schauerlich und ging immer mit klopfendem Herzen hin. Er lachte mich aber aus, und eines Abends, als ich hingekommen war, obgleich ich wußte, daß ich zum Abendbrot nicht wieder zurück sein konnte und Fräulein Streckfuß mich hungrig zu Bett schicken würde, erwachte das Beschützergefühl in ihm, und er ging mit mir in eine Konditorei und ließ mir von seinem knappen Taschengeld ein Stück Apfelkuchen geben. An dem Tage haben wir beide Freundschaft geschlossen. Er sagte, wir hätten ja doch niemand anders auf der weiten Welt, nicht einmal das Grab von unserer Mutter hätten wir – denn das lag auf dem Friedhof in Vaters Garnisonstadt –, und nicht einmal ihr Bild.

»Aber wir haben doch noch Vater,« sagte ich schüchtern.

Da schüttelte er den Kopf, daß seine Locken flogen. »Den hat sie uns weggenommen, die Stiefmutter. Sie will ihn für sich allein, merkst Du das nicht, Franzine? Aber Ihr Mädchen seid ja so dumm! Ich sehe das alles, mich betrügt sie nicht.«

An dem Abend sah ich zum ersten Male, wie schön mein Bruder Gerhard war. Seine blonden Haare standen lockig um seine hohe Stirn, und seine blauen Augen leuchteten. Sie lachten aber nicht wie Vaters Augen, sondern es funkelte darin wie von blauem Stahl.

Zwei Jahre war ich bei Fräulein Streckfuß, da kam wieder Weihnachten. Es wohnte ja freilich der alte General noch in der Stadt, der meiner Stiefmutter Vater war, aber ich kannte ihn kaum. Ich machte ihm einen tiefen Knicks, wenn ich ihn auf der Straße traf, und einmal hielt er mich an und fragte, wer ich wäre. Als ich es ihm aber sagte, winkte er fast unwillig mit der Hand und sagte: »Ich weiß schon, Dummheiten.« Er hat wohl die Heiraten seiner beiden Töchter nie begriffen und ist meinem Vater auch nie näher getreten. Ich besinne mich auch nicht, ihn zu Weihnachten draußen im Ausbau gesehen zu haben. Gerhard und ich freuten uns aber unglaublich auf diese vierzehn Tage Weihnachtsferien. Er meinte, diesmal sei sein Zeugnis für seine Verhältnisse ganz anständig und er dürfte sicher zur Treibjagd mit, die zwischen Weihnachten und Neujahr angesetzt war. Ich fühlte mich in diesen Tagen immer so müde, und meine Füße waren so schwer; ich sehnte mich so nach Vaters Zimmer, wo eine Bank um den Ofen ging, auf der die Diana und der Dackel lagen. Die machten mir aber immer Platz, wenn ich kam. Ich wollte auch ganz still sitzen und mich nicht rühren und nicht husten, wenn Vater seine Pfeife rauchte. An dem Tage vor dem Schulschluß hatten wir uns beide getroffen, draußen auf der Schwedenschanze, und verabredet, wir wollten gar nicht auf den Peter warten. Der könnte unser Gepäck nehmen, wenn er abends käme, wie Mutter geschrieben hatte. Wir wollten gleich nachmittags hinauswandern. Es waren ja nur drei Stunden, und zum Kaffee wären wir dann schon im Ausbau. Das haben wir denn auch getan. Hand in Hand sind wir beide, der große Junge und das kleine Mädchen, die Chaussee entlang gegangen. Sah sie schön aus! Die alten Bäume ganz mit Rauhreif bezogen, auf den Feldern dicker Schnee, und als wir weiter kamen, überall die Fährten von Hasen und zuweilen auch von einem Reh. Gerhard zitterte vor Jagdeifer und ging ganz schnell. Ich konnte kaum mit ihm mit und trabte zuweilen trotz meiner schweren Füße. Es war solch eine Freude auf Weihnachten in meinem Herzen. Und er erzählte mir etwas von unserer verstorbenen Mutter, und wie sie das Fest liebte; er war ja schon acht Jahre alt gewesen bei ihrem Tode.

»Weißt Du, ich besinne mich ja nicht mehr auf alles. Nur daß es immer so süß nach Maiglöckchen roch, weil Vater ihr immer welche schenkte, und daß sie immer das Christlied sang. Das letzte Mal hatte sie Dich auf dem Schoß, ich weiß es noch ganz genau.«

Aber es war doch viel, viel weiter, als ich gedacht hatte, und mein Kopf war so schwer. Wir sahen, wie die Sonne immer tiefer stieg. Jetzt wurden die Felder ganz rot, der Schnee leuchtete förmlich. Die kleinen Ansiedlungen zu beiden Seiten des Weges zeichneten sich so schwarz ab, wie die Bilder in meinem Bilderbuch, die aussahen, als wären sie mit der Schere aus Papier geschnitten, und die Krähen sammelten sich auf den Bäumen und schrieen. Gerhard tröstete mich, es sei nun nicht mehr weit, und wenn es auch dunkel würde, ich brauchte mich nicht zu fürchten. Zuletzt versuchte er sogar, mich ein Stückchen zu tragen, doch das ging nicht. Da setzte ich mich auf einen Chausseestein und weinte und sagte, ich käme nie nach Hause, das wüßte ich ganz genau.

»Das kommt davon, wenn man sich mit Mädchen einläßt,« antwortete er und trat von einem Fuß auf den anderen und schlenkerte mit den Armen, um sich warm zu machen. Da fuhr ein Bauer aus dem Ausbau an uns vorbei mit einem Strohschlitten, der hielt an, als er uns sah.

»Dem Herrn Rittmeister seine Kinder! Na, kommt man, ich fahre euch hin. Wißt ihr denn nicht, daß die Eltern nicht zu Hause sind?«

Wir krochen in das Stroh.

»Nicht zu Hause,« sagte Gerhard, »dann kommen sie doch heute abend zurück?«

»Weiß ich nicht,« sagte der Bauer, »sie sind abgefahren, und Koffer sind hinten drauf geschnallt gewesen. Das hat nicht ausgesehen wie von Zurückkommen.«

Ich saß ganz still und weinte vor mich hin. Aber als der gute Mann dann seine Fuhre ablud, kraute sich Peter verlegen den Kopf.

»Je, der Kutscher sollte euch doch den Brief bringen, wenn er von der Bahn käme. Ihr solltet ja gar nicht rauskommen diese Ferien. Die Gnädige hat ja an Fräulein Streckfuß geschrieben. Die Herrschaften sind nach Berlin für dieses Fest. Da treffen sie sich mit dem Herrn General und mit der Familie. Es ist Familientag von die Willichs, sagt der Kutscher.«

Ich entsinne mich nicht, was Gerhard getan hat. Ich lag noch an demselben Abend mit starkem Fieber oben in der Fremdenstube, in der mich die Wirtin in der Eile untergebracht hatte. Am nächsten Tage erklärte sie, es seien die Masern, und der Doktor kam.

Ich bin wohl sehr, sehr krank gewesen, und vielleicht hat die gute Frau, die mich pflegte, gedacht, es sei auch besser für mich, wenn ich stürbe. Allzuviel hat man sich wohl nicht um mich gekümmert. Aber als Neujahr vorbei war, ist mein Vater heraufgekommen. Das Zimmer mußte noch dunkel gehalten werden, und ich konnte ihn nicht sehen. Nur seine Stimme habe ich gehört. Die klang fast verlegen, als ich meine Hände um die seinen schloß und nichts klagte als immer wieder: »Vater, Vater.«

»Die Mutter ist noch in Berlin,« sagte er, »denn Du könntest ja anstecken, Kleine. Ich habe selbst gewollt, daß sie nicht mitkommt; aber ich will Dich pflegen.«

Das hat er denn auch getan, und es ist eine Zeit für mich gewesen, so gut und froh, wie nie zuvor, ob ich auch immer gefühlt habe, daß er mich lieb hatte. Er hat wirklich über meinen Kopf gestrichen und mich seine »olle Deern« genannt, seine brave Franzine, die solche Dummheit gemacht hätte und zu Fuß von der Stadt hergelaufen sei in ein dunkles Weihnachtshaus. So viel Liebe hat in seiner Stimme gelegen und so viel Schmerz. Ich habe eigentlich gar nicht gewollt, daß man dann hell machte und ich aufstehen sollte. Ich wäre so gern noch länger krank gewesen. Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, sind mir diese dunkeln Weihnachtstage da oben im Fremdenzimmer meines Vaterhauses immer wie ein Traum – die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich mich wirklich geborgen gefühlt habe.


Die Kinder haben mir ein Telegramm geschickt aus Southampton, solch einen Jubelruf, wie ihn die Vögel im Frühling ausstoßen, wenn sie sich im Singen üben. Es liegt auf meinem Schreibtisch, und zuweilen streiche ich darüber hin.

Ich habe mich eingelebt bei den Leuten im Torfhaus. Der Mann arbeitet draußen im Moor als Torfstecher, die Frau hilft ihm, und die junge Fiken besorgt das Hauswesen. Eine niedersächsische Schönheit, kräftig, ein wenig steif, mit gerstenblonden Zöpfen, die um den Kopf geschlungen sind, in der einfachen Tracht der Arbeitsmädchen. Nur am Sonntag sah ich sie im Staat. Aber auch der ist dunkel. Schwarze Bänder schließen breit über der weißen Mütze das junge, ernste Gesicht ein.

Fiken ist nicht liebenswürdig, sie hält aber mein Zimmer sauber und kocht schlecht und recht mit Hilfe der Konserven, die Ilse in ungeheurer Menge für mich hergeschickt hat, und deren Gebrauch ich ihr am ersten Tage zeigte. Denn ganz auf die einfache Kost des Torfhauses darf ich nicht angewiesen sein, dazu ist mein Magen zu schlecht, und ich habe zu sehr die Stubengewohnheiten der Lehrerinnen. Fiken spricht selten. Sie hat einen ernsten Zug um den jungen Mund, und wenn sie die Blumen unten im Gärtchen gießt, tut sie es mit so viel Würde, als sei es eine feierliche Handlung. Da stehen gelbe Gilken, die wie Sterne aussehen, und ein Busch hochroter Studentennelken, und ein großer Strauch mit roten Hundsrosen. Die Beete sind sauber eingelegt und mit gebrannten Ziegeln gefaßt. Der Kohlgarten hinter dem Häuschen ist nur von einer Strauchhecke umgeben. Das Torfhaus ist schon mehr als einmal von einem Worpsweder Künstler gemalt worden, mit dem Blick über das Moor und den weiten Himmel, wo ich tagüber die großen, weißen Sommerwolken sehen kann, wie sie langsam, ganz langsam heraufwandern, sich teilen und dehnen oder wie eine feste Wand am Horizont stehen bleiben, wo abends das große Feuer der untergehenden Sonne angesteckt wird. Durchs Moor geht eines dieser stillen Torfwasser mit schmalen Pfaden an beiden Seiten, hin und wieder ein Brett als Übergang, die ganz ruhig und unbewegt sind, mit dunklem Untergrund, der wie ein Spiegel ist für Himmel und Ufer. An diesem Torfwasser zieht sich eine lange Reihe von Birken hin. Nicht die schlanke, hängende Birke eines kräftigeren Bodens, sondern die steifere, fester gefügte Moorbirke, deren Äste mehr nach oben gehen. Im Frühling und im Spätherbst muß diese Birkenreihe wie ein grüner und ein goldener Faden durch das Moorwasser da unten laufen. Da mögen Dotterblumen zu beiden Seiten stehen. Jetzt blüht da unten Vergißmeinnicht, so dicht, daß es wie blaues Samtband den Wasserstreifen einfaßt. Am Morgen und auch am Abend gehe ich am Wasser entlang über das Moor hinaus bis dahin, wo dieser schmale Graben sich in einen der Kanäle ergießt, auf denen die flachen, großen Kähne, in denen der Torf fortgeschafft wird, hin und hergleiten. Es sind jetzt Hochsommertage voll köstlicher Klarheit. Mein Kind hat auch einen Teil meiner Bücher hergeschickt. In Rücksicht auf die Einsamkeit hat sie sonderbar gewählt, als ob sie wüßte, wieviel Rückschauen für mich in dieser ersten Zeit meines Alleinseins liegen würde. Den ganzen Storm habe ich aus der Kiste herausgenommen, und mir ist eingefallen, wie jung ich noch war, als ich den zum ersten Male in die Hand bekam, und wieviel Wasser auch hier durch das stille Moor gegangen sein mag, seit ich mich an Aquis Submersus und Immensee mit scheuer Sehnsucht erquickte. –

Ich war eine Leseratte als Kind. Es war das eine Zuflucht für mich. Bei Fräulein Streckfuß in dem kleinen Hinterzimmer, das ich mit meinen Peinigerinnen bewohnte, saß ich oft in die Fensterecke gedrückt und las noch im Dämmerlicht, wenn die Buchstaben auseinanderflossen wie Regentropfen an einer Scheibe, und hielt mir die Ohren zu, bis eines der Mädchen hereinstürzte und mit dem Rufe: »Die Leseratte, die Leseratte!« auf mich zusprang. Wütend habe ich dann mein Buch verteidigt und mit ihm den Aufenthalt in irgend einem fremden Wunderland, das ich mir wahllos genug suchte. In der Bibel, in den Backfischbüchern der Schülerinnen oder auch in den Romanen, die sie heimlich aus der Schule mit in die Pension schmuggelten und bei angestecktem Nachtlicht einander vorlasen. Jetzt habe ich erst einen Begriff davon, wie wahllos im ganzen die Lektüre der Kinder ist. Wie ein Strom, der alles mit treibt, Blumen und angefaulte Früchte und tote Katzen.

Aber in der Zeit nach meiner Krankheit hatte sich mein Verhältnis zu meinen Peinigerinnen bedeutend gebessert, ja ich habe sogar, freilich flüchtig nur, die Rolle einer vielbegehrten, vielumschmeichelten kleinen Person gespielt und ruhig meine Hände in die Zuckerdüten stecken können, die ich ihnen nach wie vor besorgen mußte. Der Grund dazu war mein Bruder Gerhard. Was ich damals auf der Schwedenschanze entdeckt hatte, daß er ein bildhübscher Junge sei, weshalb ich mich in meiner angekränkelten Kindlichkeit fast vor ihm schämte, das hatten die Mädels auch herausbekommen, und es war zusammengetroffen mit dem Übergang in Gerhards Charakter, der auf einmal fand, daß Mädchen doch nicht nur dumme Gänse seien, oder wenn er innerlich auch an dieser Meinung festhielt, doch solche dumme Gänse spaßig und possierlich genug achtete. Er kam jetzt öfter in die Pension, und alles drängte sich um ihn, und zuweilen, wenn wir beide allein waren, gab er mir ein Briefchen mit. Doch trug es fast nie eine bestimmte Überschrift, sondern er pflegte darüber zu schreiben: »Der Klügsten« oder »der Schönsten«, oder »der Dümmsten« und »der Schlechtesten«. Und wagte ich anfangs nicht, Briefchen mit Überschriften, wie die letzteren, den Mädchen abzugeben, so merkte ich bald, daß das sie nur noch mehr reizte und noch wilder auf ihn machte. Sie prügelten sich förmlich darum, die Dümmste oder die Schlechteste zu sein, nur um das Briefchen öffnen zu können. Sie steckten mir auch die Hände voll mit Antworten, und Gerhard las sie und sagte, sie seien albern und blieben albern; aber er lachte doch und freute sich darüber, und seine Augen leuchteten.

Er muß damals ein ganz tolles Leben getrieben haben, denn oft war er am Tage müde und reckte sich. Fragte ich dann, ob er so viel zu arbeiten hätte, lachte er und trällerte ein Studentenliedchen vor sich hin. Es war in dem Jahr vor seiner Versetzung nach Obersekunda. Er war nicht alt für seine Klasse, aber auch nicht jung, und als ich ihn einmal ängstlich fragte, ob er denn auch versetzt werden würde, weil ich gehört hatte, daß die Mädchen von einer Verbindung munkelten, die auf dem Gymnasium sein sollte, und von heimlichen Kneipereien und Gelagen, da zuckte er die Achseln und meinte: einmal sitzen zu bleiben sei auch noch keine Schande, dann mache er das Abiturium eben mit zwanzig. Ich hatte aber eine dumpfe Angst vor dem, was sie da zischelten, ob sie es auch selbst höchst interessant, mutig und studentenhaft zu finden schienen; und Gerhard noch mehr bewunderten und priesen; denn ich dachte daran, daß Mama die Ausgaben für uns immer mehr beschnitt, seit ein zweites Kind im Ausbau eingetroffen war, und daß Fräulein Streckfuß manchmal Bemerkungen darüber machte, wie die Pakete vom Lande, die Butter und die Eier, doch so bald ausgeblieben seien. Vaters Zorn fürchtete ich nicht, nur seinen Kummer, und einmal versuchte ich Gerhard klar zu machen, daß das mit den Mädchen ja Dummheit sei, und er könne doch nichts daran haben, wenn ich ihm von der Lina ein Taschentuch brächte oder ein Zopfband von der Grete. Er gab mir auch lachend zu, daß ich ganz recht hätte, das sei es aber eben, was locke, gerade die Dummheit.

Zu Ostern ist dann alles an den Tag gekommen. Die Zensur mag so schon auf schwachen Füßen gestanden haben, aber die heimliche Verbindung ist entdeckt worden, und das war das Ausschlaggebende. Wie das immer geht: einige haben nur eine Ermahnung bekommen, aber Gerhard, der der Rädelsführer war, bekam das Konsilium. Ganze Bände von Bierzeitungen wurden gefunden. Es waren meist dumme Witze, vielleicht auch gemeine; aber die Zeichnungen waren genial, und die hatte fast alle Gerhard gemacht und stolz seinen Namen darunter geschrieben. Es waren Karikaturen der Lehrer und der Schüler, so geistreich, daß sie das Lachen herausforderten, aber auch beißend wie Pfeffer. Es war den Herren nicht zu verdenken, daß sie für diese Form des Talents kein Verständnis hatten, und als Peter diesmal kam, um uns nach dem Ausbau zu bringen, war doch der Mut, mit dem Gerhard zurückfuhr, ein gespielter. Es gab dann auch eine fürchterliche Szene, und der Schluß war, daß ihm die gewünschte Laufbahn verschlossen wurde und der Vater ihm sagte, daß er das Gymnasium verlassen und irgendwo in eine Lehre eintreten würde. Ich weiß wohl, daß das nicht aus Vaters eigenem Herzen kam, sondern daß die Stiefmutter es ihm eingegeben hatte, wie immer, wenn sie etwas wünschte, so daß er nachher darauf schwur, es wäre sein eigener Gedanke gewesen; aber ich begriff natürlich noch nicht, daß der Eindruck auf Gerhard so tief sein konnte.

Leichenblaß ist er hinausgestürmt in die Heide, und erst am nächsten Morgen ist der Förster gekommen und hat uns gesagt, daß er ihn in sein Haus genommen habe. Es war aber eine Nacht, in der alle auf den Beinen waren, suchten und riefen. Der arme Peter ist mit seinen schlimmen Füßen mit der Laterne zwischen den Kiefernstämmen umhergelaufen und hat sie angeleuchtet, als könne er den jungen Herrn in jedem Stamm finden. Denn bei den Leuten war Gerhard beliebt. Sie steckten immer mit ihm zusammen, und wo sie ihm helfen konnten, da taten sie es. Vater hat sich fürchterlich geängstigt, das sah ich wohl, als ich morgens herunterkam, denn mich hatten sie in meinem Zimmer eingeschlossen; aber er war so böse, daß er nun erst recht auf seinen Entschluß bestand.

Am Nachmittag, als Gerhard ausgeschlafen hatte und im Garten unter den jungen Haselnußsträuchern saß und immer an die Zweige stieß, daß der Blütenstaub der Kätzchen auf ihn herunterrieselte, schlich ich mich zu ihm und fragte ihn, was es denn so Schlimmes sei, in eine Lehre gehen? Da traf ich zum ersten Male bei ihm auf einen unbändigen Stolz, auf den Familienstolz des alten Geschlechts, das vor Jahrhunderten auf seinen Gütern in dem kleinen Feudalstaate gesessen hatte, wo der Adel von den Bürgerlichen getrennt war durch unüberwindliche Schranken. Der Schaum trat auf seine Lippen, und seine Augen funkelten.

»Als ob er mich nicht auf ein anderes Gymnasium geben kann für die paar Jahre! Nicht einmal mehr kosten würde es ihn, denn auf die Ferien hier verzichte ich mit Freuden. Aber sie hat es ihm eingegeben, sie allein, weil sie die Ausgaben fürchtet für ein langes Studium.«

»Haben wir denn so wenig Geld?« fragte ich ihn.

Er zuckte nur die Achseln.

»Ist schon nicht viel geblieben, als der Großvater starb, und mehr ist's auch nicht geworden, das kannst Du mir glauben. Sie hält das Ihrige zusammen und gibt nicht einen Groschen in die Wirtschaft, das sagt die Mamsell auch, und jeder Pfennig, den Vater ausgibt für uns, ist ihr ein Greuel. Und dann, warum soll ich nicht auch den grünen Rock tragen und mein eigener Herr sein draußen im freien Walde? Das paßt ihr nicht, denn ich bin ja der Sohn von der, die die erste bei Vater gewesen ist. So seid ihr Frauen, das könnt ihr nicht vergessen.«

Ich weiß, daß ich mich bei dieser Verallgemeinerung ein wenig stolz fühlte; aber zugleich war doch so viel Erschreckendes in den Worten, daß Vater nicht viel Geld habe, und sie ihm nichts gäbe, und daß mein Bruder kein freier Mann werden sollte! Es war alles so wirr in mir nach der Nacht, in der ich oben in meinem Bett aufrecht gesessen hatte und immer in den Wald hinausgelauscht, ob sie Gerhard vielleicht brächten, und ob er sich vielleicht wirklich ein Leid angetan? Aber das hatte ich nicht geglaubt, als die Sonne aufgegangen war. Ich kannte ihn zu gut und wußte, daß er war wie einer, der immer dürstet. Nur im Dunkeln, da hatte ich daran denken müssen. Und jetzt sagte Gerhard, es sei noch nicht aller Tage Abend, und er wisse wohl, was kommen würde.

Es kam auch etwas ganz Überraschendes. In die dumpfe, gedrückte Stimmung, die vielleicht auf meinem Vater noch mehr lastete als auf dem Jungen, kam ein Brief von Großtante Meta, meines Großvaters einziger Schwester, in dem stand, daß sie uns besuchen wolle, weil, wie sie schrieb, die Angelegenheiten des Hauses nach ihr zugegangenen Mitteilungen ihr Eingreifen im Interesse der Kinder notwendig zu machen schienen. Meine Stiefmutter, die alle Privatbriefe meines Vaters öffnete, hatte den Brief gelesen, während Vater am Morgen auf der Schnepfensuche war. Sie las diese Worte laut und sah dabei zu Gerhard herüber. Der warf den Kopf zurück und sagte, er hätte an Großtante Meta geschrieben. Ich weiß nicht, was die Eltern dann verabredeten, ich merkte nur, daß das ganze Haus durchgesehen und in feierliche Ordnung gebracht wurde. Von Großtante Meta war wenig gesprochen worden. Es steckte ein Bild von ihr im Album, da war sie noch ein junges Mädchen, hager und schmalbrüstig, mit einer spitzen Nase. Ich wußte, daß sie unverheiratet war, sonst wußte ich nichts von ihr. Der Kutscher holte sie ab, und mein Vater war mit zur Bahn gefahren. Die Stiefmutter stand in der Haustür und hatte das kleine Mädchen, das dann später gestorben ist, auf dem Arm und den zweijährigen Jungen an der Hand. Ich glaube, daß sie sehr stolz und sehr schön aussah und daß sie wahrscheinlich der Fremden imponieren wollte, wenigstens sagte das Gerhard, der mit mir auf dem Boden war und durch ein Bodenfenster die Eintrittsszene beobachtete. Dann, vielleicht eine Stunde später, wurden wir heruntergerufen.

»Jetzt ist unser Sündenregister aufgerollt worden,« sagte Gerhard trotzig, »aber es hilft nichts, Franzine, Großtante Meta ist unsere allerletzte Hilfe, die einzige, die sich um uns kümmern muß, verstehst Du? Ich habe ihr ein Licht ausgesteckt in meinem Brief, das kannst Du mir glauben.«

Wir drückten die Türklinke auf und traten in das Gartenzimmer, wo nur bei feierlichen Gelegenheiten gespeist wurde. Es roch nach frischen Waffeln, und auf dem Tisch glänzte das Silber. Großtante Meta saß steif in der Mitte und musterte uns genau durch eine Brille. Sie trug kein Lorgnon, sondern eine richtige Brille, in schwarzes Horn gefaßt, was ihren Augen etwas Eulenartiges gab. Vater winkte uns heran und sah etwas verlegen aus, fast wie ein Schuljunge, mußte ich denken. Später habe ich erfahren, daß Großtante Meta immer sein Aufsichtsrat gewesen ist, seine ganze Kinderzeit hindurch, und stets prophezeit hat, es würde nichts aus ihm werden, und er würde ganz sicher irgendwie einmal schmählich zugrunde gehen. Sie hatte auch seine erste Ehe mit der armen Künstlertochter für einen romantischen Zug und eine Verrücktheit gehalten und sich ganz von meinem Vater zurückgezogen, was meiner Mutter viel Kummer machte, die sich immer wieder bemühte, durch Briefe das spröde Herz der Großtante zu gewinnen.

Sie schien auch meinen Vater wieder gemaßregelt zu haben; aber offenbar hatte die reiche geborene von Willich Gnade vor ihren Augen gefunden. Großtante Meta hatte die Ablegung des Adels für ihre Person niemals angenommen und nannte sich ruhig Meta von Wahrenburg, indem sie erklärte, die Abhängigkeit von Geld und Gut wäre lächerlich und ein Zeichen der Schwäche. Es käme allein auf das Blut an, und das ihre sei Gott sei Dank so blau wie möglich.

Ich sah Mama, wie wir sie nennen mußten, nie so strahlend wie an diesem Tage, als sie uns freundlich näher winkte und ganz unter der Hand Großtante Meta mit unseren hauptsächlichsten Charakterschwächen bekannt machte. Über Gerhard war nicht viel zu sagen, da sprachen die Tatsachen; aber bei mir bedauerte sie so zärtlich mein störrisches, unkindliches Wesen, meine Abneigung gegen Puppen, mit denen ich nie gespielt hatte, meine Verschlossenheit und meine Wildheit, daß Vater ganz traurig zu mir herübersah und fast zaghaft seine Hand auf meinen Kopf legte. Ich aber war so erbittert über ihre Worte, daß ich Vaters Hand abschüttelte und einen Schritt zurücktrat.

»Also das ist aus Franzine geworden,« sagte Großtante Meta, »aus Franzine, die ihre Mutter den ›strahlenden Sonnenschein‹ zu nennen beliebte. Noch kurz vor ihrem Tode hat sie mir einen Brief geschrieben, in dem sie sagt, daß sie dem armen Robert wenigstens etwas zurücklassen könne, was sein dunkles Leben erhellen würde, die sonnige, weiche Natur ihrer kleinen Franzine.«

Mama wurde bei diesen Worten dunkelrot, während Vater unruhig hin und herrückte. Und ich weiß nicht warum, oder vielmehr ich wußte damals nicht warum, ich brach plötzlich in ein langgezogenes Klagegeheul aus, fing an mit den Füßen zu stampfen und kam erst wieder zu mir, als mich Vater rasch aufgehoben und in sein Zimmer getragen hatte. Wie dann allmählich das Schluchzen ebbte und die Hand von meinen Augen sank, sah ich zu meinem Erstaunen, daß das Bild des alten Generals von der Wand verschwunden war, und daß Mutters Bild da hing. Mutter, die ich jahrelang nicht gesehen und die den hellen Fleck auf der Tapete nun vollständig ausfüllte. Zitternd vor Freude ging ich, kletterte auf einen Stuhl, kniete nieder, stützte meine tränennassen Wangen in meine Hände und starrte unverwandt nach dem Bilde der Frau, die da gesagt hatte, ich würde ein strahlender Sonnenschein werden. Die Sonne stand schon tief, und durch die Fenster fiel ein schräger Strahl gerade auf die alte Photographie, auf die junge Frau mit dem schwermütigen Gesicht und den großen Augen. Bisher war die Sehnsucht nach meiner Mutter ganz unbewußt gewesen. Ich hatte es nicht gut, darum dachte ich an sie. Jetzt wurde mir mit zehn Jahren klar, was ich verloren hatte, und ich verstand vollständig, was sie gemeint hatte mit dem strahlenden Sonnenschein, und warum ich das nicht geworden war und nie und niemals werden konnte. Meine Tränen fingen wieder an zu fließen, aber anders, sanfter und stiller. So fand mich Gerhard. Er war mir nachgekommen.

»Ach,« sagte er, »das Bild! Das hat sie doch nicht gewagt, für diese Tage zu unterschlagen.«

Er stellte sich neben mich. War es der Sonnenstrahl, war's mein leises Weinen, plötzlich fühlte ich, wie seine Arme mich umschlangen und er mich fest an sich preßte.

»Es wird nicht gut mit mir, Franzine, glaube, es wird nicht gut. Ich kann nichts dafür, denn es ist etwas in mir, das ist stärker als sie alle. Großtante Meta hilft nicht, das weiß ich schon, und dann laufe ich ihnen davon.«

»Mir auch?« schrie ich verzweifelt. »Und kommst Du dann niemals mehr auf die Schwedenschanze? Was werden sie sagen, Grete und Lina!«

Wie aus der Verzweiflung heraus hatte ich nach diesen Namen gegriffen. Aber da schüttelte er mich, daß mir fast die Sinne vergingen.

»Laß die Dummheiten,« sagte er rauh, »jetzt ist es Ernst, verstehst Du!« Und damit war er hinaus.

An dem Abend ist er auch nicht wieder heruntergekommen, und Großtante Meta hat am Tisch gesessen und sehr liebenswürdig mit Mama gesprochen, und Vater hat mir ganz heimlich und verstohlen von den eingekochten Hagebutten auf meinen Teller gelegt, aber froh ist er an diesem Abend nicht geworden.

Sie mußten sich immer mehr gefunden haben, Hedda Wahrenburg geborene von Willich und Großtante Meta, die in einem Stift in einer größeren Stadt eine Stelle hatte. Großvater hatte sie dort einmal eingekauft, als er die wahrhaft »unmögliche Häßlichkeit« dieser Wahrenburg sah, die, wie er gesagt haben soll, allen Familientraditionen widerspräche. Nur zuweilen nahm Großtante Meta mich ins Verhör, erkundigte sich nach den Verhältnissen bei Fräulein Streckfuß, besah meine Zeugnisse, fragte mich aus, seufzte und schüttelte den Kopf. Ich hörte, wie sie einmal zu meiner Mutter sagte:

»Sie haben ganz recht, liebe Hedda, eigentlich müßte man sich vollständig auf ihre Erziehung konzentrieren. Das ist von keiner bezahlten Persönlichkeit zu verlangen, da muß Familieninteresse mitsprechen. Ich wäre nicht abgeneigt, in der Tat, ich wäre nicht abgeneigt. Ich würde mich bemühen, Ihr Vertrauen zu verdienen.«

Ich bekam eine dumpfe Ahnung, daß nicht nur Gerhards, sondern auch mein Leben sich wandeln sollte, und des Abends, als wir herabgelaufen waren zu den Warthewiesen, bestätigte mir mein Bruder das.

»Sie soll Dich in Pension bekommen,« sagte er, »sie machen das zusammen ab. Sie hat gesagt, sie ist zufrieden mit dem Gelde, das Fräulein Streckfuß bekommt, und sie hätte sich schon längst einen Lebenszweck gewünscht. Na, ich denke, Du kannst Dir gratulieren.«

»Und Du?« fragte ich ängstlich.

»Pah – ich? Für mich ist schon gesorgt. – Ich komme in ein Kontor.« Er schien ganz ausgesöhnt mit seinem Schicksal zu sein.

»Und?« fragte ich erstaunt.

»In die Großstadt, weißt Du, das ist etwas anderes, das habe ich vorhin nicht gewußt,« sagte er so obenhin.

Ich hatte aber doch ein beklommenes Gefühl, als wir von den Warthewiesen heraufstiegen zur Höhe, an der Grenze, wo der Ausbau lag. Dichter Frühlingsnebel hing über uns, und wir ließen ihn zurück, als wir den Fußweg zur Höhe nahmen. Wir sahen uns dann beide noch einmal um, es wogte und brauste hinter uns wie das Meer. Der Kanal war nicht mehr zu erkennen, an dem wir eben die Wildenten beobachtet hatten. Wir kannten das Nest der einen, und es machte uns Freude, zu sehen, wie sie dicht am Wasser saß, in einem Pfahl, der dort zum Anlegen der Schiffe einmal eingetrieben sein mochte und nun ausgehöhlt war, daß das zusammengeduckte Tier mit seinen bräunlich gefleckten Federn kaum von dem welken Gras des Vorjahrs zu unterscheiden war.

Im Ausbau war in einem Fenster Licht. Es kam aus Vaters Stube, wo das Bild von Mutter hing. Es lag etwas Trauliches in dem Lichtschein, dem wir beide folgten. Vielleicht hatten wir das Gefühl, daß es doch trotz allem unser Vaterhaus sei. Bisher hatte es noch immer in erreichbarer Nähe gelegen. Seit jenem Weihnachtstage wußte ich, daß ich auch zu Fuß hinlaufen konnte, würde es einmal gar zu schlimm. Aber von der fernen Großstadt und dem Stift wußte ich nichts. Da ging ich schnell in meines Vaters Stube, wo er an seinem Schreibtisch saß und Briefe durchsah.

»Vater,« sagte ich, »wenn ich nun fortgehen soll, weil ich so böse bin, dann gib mir Mutters Bild mit; sie legt es doch nur in die Kommode, und es ist meine Mutter, und ich will es haben.«

Ich weiß gar nicht, wo ich den Mut dazu hernahm. Er hatte die Feder hingelegt und die Brille in die Höhe geschoben.

»Oll Deern,« sagte er, »oll Deern, bist Du denn wirklich so böse?« Es lag so viel Kummer in seinen Augen, und er sah gedrückt aus. Ich wußte auf einmal, daß mein Vater kein junger Mann mehr war.

»Ja,« sagte ich und nickte mit dem Kopf, »ich bin schlecht und böse; aber das Bild von Mutter will ich haben.«


Fiken ist nicht das Kind der Alten, habe ich erfahren, sie haben sie nur aus Gnade und Barmherzigkeit bei sich aufgenommen, und sie arbeitet ihr Essen ab. Das tut sie gründlich, denn sie hat es nicht leicht. Die beiden Alten sind schon stumpf, ihre Kinder drüben in Amerika. Vielleicht haben sie auch in früheren Jahren nicht viel geredet, es ist das der ernste, verschlossene Schlag dieser Gegend hier. Wenn der Mann des Abends nach Hause kommt und am Weg steht und seine Pfeife raucht, könnte man ihn im Dämmer gut für einen alten, knorrigen Baumstumpf nehmen. Zwischen der Frau und Fiken geht es hin und her wie unausgesprochener, unterdrückter Haß, wie ein Feuer aus den schwelenden braunen Torfstücken, das unterwärts glüht und oben tot aussieht. Ich weiß noch nicht warum, denn auch Fiken öffnet den Mund nur für das Notwendige, und meine Gedanken gehören so ganz der Vergangenheit und der Zukunft, meiner eigenen Vergangenheit und der Zukunft meines Kindes, daß ich das lösende Wort für die trotzigen Mädchenlippen noch nicht gefunden habe. Ich weiß nur, daß es auch hier der Mann ist und die Liebe, denn eines Abends traf ich Fiken mit einem jungen Menschen am Birkenweg. Sie kamen von dem großem Graben her und hatten sich angefaßt. Sie ging so schwerfällig und langsam wie die Menschen dieser Gegend, und ihr Gesicht war ganz still und verschlossen. Ich mußte daran denken, wie viel mehr Haltung die Leute dieses Schlages haben als wir, die wir gewöhnt sind, jede Erregung unserer Seele wie ein Zittern über unsere Züge laufen zu lassen, als ginge bei uns alles äußerlich, wie die Leitung der Telegraphen- und Telephondrähte und wie die Schienenstränge der Elektrischen. Bei den Bauern und Landbewohnern der Fläche, hier vor allem im Moor, geht alles unterwärts, wie die gute geheime Kraft der Erde, die das Getreide wachsen läßt, oder gar wie jenes langsame, jahrhundertelange Wachsen der Torfkrume unter dem Spiegel im stillen Moor.

Ich hatte mir ein Sträußchen Parnassus gepflückt, von der weißen, feinädrigen Blume, die überall im Feuchten wächst. Wie eine Anemone sieht sie aus, nur daß die Blätter fest und hart sind und daß das goldene Samenkrönchen von einer kleinen, weißen Kapsel ersetzt wird. Sonderbarer Name, den diese Sumpfpflanze trägt: Parnassus. Hübsch ist sie mit ihrem bläulichen Geäder, und ich stellte den Strauß unter die Bilder von Ilse und ihrem Gatten. Ich muß noch warten, bis ich Nachricht von den Kindern haben kann, und es ist gut, daß meine Schreiberei mich ableitet. Da wandern meine Gedanken, wenn ich abends in dem kleinen Garten des Torfhauses sitze oder bei der einfachen Petroleumlampe in meinem Zimmer und die großen Nachtschmetterlinge zu mir hereinkommen, wie die Erinnerungen aus meiner Kinderzeit.

Meine Kindheit war eigentlich vorbei, damals, als ich mit Großtante Meta den Ausbau verließ. Ich war freilich erst zehn Jahre alt, aber in dem stillen Stift, in dem ich dann acht Jahre lang wohnte, wurde wenig Rücksicht darauf genommen, daß es ein zartes, junges Herz war, das das alte Fräulein von Wahrenburg mit sich mitgebracht hatte, um es zu hüten. Vielleicht war das auch gar nicht der Grund gewesen. Ich habe mir dann später oft den Kopf darüber zerbrochen, warum sie mich bei sich hatte? Sie litt nicht an der Überfülle unbenutzter weiblicher Empfindungen. Sie hatte niemals einen Hund gehabt oder einen Kanarienvogel, und ihre Wohltätigkeit beschränkte sich darauf, in Listen zu zeichnen, um ihren Namen zu geben, auf den sie so stolz war; denn der persönliche Verkehr mit dem Plebs, wie sie sagte, war ihr widerwärtig. Sie saß in einem altadligen Stift, das verdankte sie ihrem Namen. Jede Dame, die hier Wohnung bekam, war ihresgleichen, und es war selbstverständlich, daß man sich zu Kaffeevisiten besuchte. Näher stand sie mit keiner. Sie nahm aber auch nicht teil an dem Klatsch, der wie auf Filzsohlen durch die Räume eines Hauses geht, in dem schließlich doch nur die wohnen, die sich vom Leben benachteiligt dünken oder die die Segel vor ihm gestrichen haben. Nein, die Gerechtigkeit muß ich Großtante Meta lassen, sie mengte sich nie in die Handel der anderen, ich glaube aus Hochmut nicht. Am unleidlichsten war sie gegen den Stiftshauptmann, der zu vorgeschriebenen Zeiten die Runde bei den Damen machte. Ich habe da erfahren, daß sie eine Männerfeindin war, und vielleicht entsprang auch die Verachtung, die sie bei jeder möglichen Gelegenheit für meinen Vater zeigte, dieser sonderbaren Gefühlsregung eines Herzens, das wohl einmal in warmer Mädchenbrust vertrocknet war; ob durch einen zu heißen Brand oder wirklich aus dem Mangel an natürlicher Kraft, weiß ich nicht. Ich war nicht ihr Spielzeug, und ich war auch nicht einmal eine Ablenkung ihrer Gedanken. Ich hatte mein eigenes, kleines Zimmer, das ehe ich kam ein Vorratsraum gewesen war und in dem noch ein paar eichene Truhen mit alten Beschlägen standen, Überbleibsel von den Heiratsgütern verschiedener Wahrenburgs, deren Hochzeitsdaten in dem Holz eingegraben waren. Eine alte Magd bediente uns und sorgte für die Notwendigkeiten meines Lebens. Ich ging in die Stadtschule, und es war von vornherein ausgemacht worden, daß ich dort auch das Seminar besuchen sollte, denn natürlich mußte ich etwas lernen.

»Nicht ein Pfennig,« pflegte die Großtante zu sagen, »wird einmal übrig sein für Euch, und Hedda von Willich,« sonderbarerweise nannte sie die Stiefmutter immer mit ihrem Mädchennamen, »Hedda von Willich wird nur für die Ihren sorgen, so klug ist sie. Sie ist das vernünftigste Frauenzimmer, das ich je getroffen habe.« Wenn ich heute an das Leben in der hohen, weiß getünchten kleinen Stube denke, in der das Bild meiner Mutter über meinem Bett hing, so kommt es mir seltsam vor. Als hätte sich ein Vogel verflogen und sein Nest gebaut in einem alten, verlassenen Turm. Zum Stift gehörte ein Garten, der stieß an die Stadtmauer. Jede der Damen hatte ihren eigenen Platz und ihre eigenen Beete. Ein breiter Gang in der Mitte gehörte ihnen allen zu gemeinsamem Auf- und Abgehen. Da aber die eine Hälfte fast immer mit der anderen verzankt war, so wurde dieser Gang wenig benutzt. Die alten Damen saßen in ihren Lauben, machten ihre Handarbeit und beobachteten einander. Die Großtante hatte mir verboten, von einer zur anderen zu gehen, weil sie sagte, das gäbe nur Zwischenträgereien, und so wurde mir die Möglichkeit genommen, der Liebling eines Kreises alter Frauen zu werden, die in mir ihre eigenen getäuschten Hoffnungen gesehen hätten. Vielleicht eignete ich mich auch nicht dazu, und daß sich wirklich keine Hand nach mir ausgestreckt hat, anders als im Vorübergehen, ist mir der beste Beweis, daß ich nicht unrecht hatte, wenn ich mich schlecht und böse nannte. Nur in meinem Winkel im Garten, in der Ecke unter dem Holunderbusch, fühlte ich mich sicher, nur in meinem kahlen Zimmer atmete ich auf. Ich war ein krankhaft einsames Kind geworden, das auch in der Schule jeden Verkehr mit Altersgenossinnen scheute. Ich kam aber gut vorwärts, ich war immer die Erste, und jedesmal, wenn ich eine so glänzende Zensur nach Hause schickte an meinen Vater, bekam ich einen Brief von ihm, in dem er mir versprach, mir Geld zu schicken und mich gelegentlich einmal zu besuchen. Anfangs hoffte ich dann immer. Es blieb aber bei den Versprechungen. Es hieß dann, ich solle zu den großen Ferien nach Hause, oder zu Weihnachten, und ein paarmal ist das ja auch in diesen langen Jahren in Erfüllung gegangen, obgleich meine Stiefmutter dann später ihre Sommerreisen anfing und mit den Kindern – im Laufe der Zeit waren vier Kinder im Ausbau geboren worden – an die See ging. Sie legte das immer in die Zeit der großen Ferien, und immer mußte sie Vater begleiten. Nur zwei- oder dreimal bin ich so im Ausbau gewesen. Da war ich eine Fremde geworden.

Mein Bruder hatte nur sehr kurze Zeit in dem Kontor ausgehalten und war dann verschwunden. Verschollen, nannten es Großtante Meta und die Stiefmama. Das war aber nicht der Fall, denn wir hörten später, daß er sein Talent zum Karikaturenzeichnen ausgebildet hatte, und es kamen in Witzblättern oft Zeichnungen von ihm heraus. Die Mama nannte das verächtlich. Mein Vater wollte ihn oft verteidigen; aber er war allmählich ganz unter den Einfluß seiner Frau gekommen, und da Gerhard hauptsächlich für freisinnige Blätter zeichnete, so galt er als ein Verlorener. Großtante Meta hatte mir sogar verboten, seinen Namen auszusprechen. Im stillen aber schwärmte ich für meinen Bruder, der ein freier Mann war und draußen in der weiten Welt lebte. Ich wünschte mir glühend, seine Zeichnungen in die Hände zu bekommen.

Zur Einsegnung kamen meine Eltern in die Stadt. Ich hatte noch einmal die kurz aufflammende Hoffnung einer Aussprache, eines Zusammenseins mit meinem Vater, obgleich ich kaum wußte, worüber ich mich mit ihm aussprechen wollte. Es war dann aber eine stille würdige Feier, die mir nichts weiter von ihm gab als eine warme Umarmung und einen herzlichen Kuß. Er hatte eigentlich mit mir am Nachmittag einen Spaziergang machen wollen; aber die Großtante hatte einen Wagen bestellt, und wir waren alle vier hinausgefahren auf das Land, weil das an einem solchen Tage schicklich sei, wie sie behauptete. Da waren meine Hoffnungen wieder herabgesunken. Dann hatte ich an seiner Seite auf dem Rücksitz gesessen, meiner schönen Mama gegenüber – denn jetzt wußte ich, daß sie schön war – und nur still meine Hand in die Seine geschoben. Die hatte er ganz fest und heimlich umschlossen, wie in einem Bündnis. Es kam mir aber beinahe vor, daß ich der stärkere Teil war.

Die Großtante sprach über meine Zukunft, daß sie mich schon im Seminar angemeldet habe, und daß der Direktor über meine Fähigkeiten ein sehr günstiges Urteil abgegeben hätte. »Wenn sie nur einen anderen Charakter hätte,« hatte er gesagt, »niemand kann ihr etwas vorwerfen; aber keiner spricht mit Liebe von ihr.«

Als die Großtante das sagte, fühlte ich, wie mein Vater meine Hand scheu drückte, während mich die stolzen, blauen Augen meiner Stiefmama musterten. »Du bist doch dankbar?« fragte sie. »Du erkennst doch, was die Großtante für Dich getan hat?«

Ich beugte meinen Kopf.

Als der Wagen vorfuhr, der sie zur Bahn brachte, war ich froh, daß auch das vorüber war. Nur eins hatte mir meine Einsegnung gebracht: zu dem Bilde meiner Mutter besaß ich nun ihren Brief, jenes alte Schreiben an Tante Meta, das kurz vor ihrem Tode datiert war. Es war ein letzter Versuch, die Tante für mich, für das kaum zweijährige Kind zu erwärmen und ein warmer Herzensdank für das Glück, das sie an meines Vaters Seite gefunden. Da las ich auch die Worte von dem »kleinen Sonnenschein«. Bitter stieg es in mir auf. Aber ich würgte das Schluchzen herunter. Ich war damals hart mit mir selber, eine Knospe, die auf der Nordseite des Lebens stand. Wulf und Ilse, mein Geliebter und mein Kind, sind dann meine Helfer geworden. –

Mir vergingen die beiden Jahre im Seminar schneller noch als die Schuljahre. Jetzt hatte ich wirklich keine Zeit mehr für mich und war froh genug, wenn ich von der frühen Stunde des Morgens bis zum späten Abend über meinen Büchern sitzen konnte. Immer dachte ich nur daran, daß ich ein gutes Examen machen müßte, und daß ich dann frei werde. Was ich mit dieser meiner Freiheit sollte, wie das Leben sich gestalten würde, davon wußte ich nichts.

Dann kam das Examen. Ich hatte keine Furcht, als ich den Schulräten antwortete. Ich hatte aber auch keine Freude, als ich hörte, daß ich vorzüglich bestanden hätte, nur ein unendliches Gefühl der Erleichterung. Die Jüngeren, die im nächsten Jahre herankamen, hatten uns Älteren rote Fuchsmützen besorgt. Die Fremdeste unter ihnen war mir als Fuchs zugeteilt worden, denn da mein Leben im Stift es von selbst ausschloß, daß Freundinnen mich besuchten, und ich zu stolz war, um Einladungen anzunehmen, die ich nicht erwidern konnte, so hatte ich auch keine Freundin. Es verband mich nichts mit dem armen Wurm, der Tochter eines Dorfschullehrers, die von den anderen übel gelitten wurde, auch viel älter war als wir, und ich nahm gleichgültig das rote Mützchen aus ihrer Hand. Ich setzte es mir auch nicht auf und wunderte mich nicht, daß die Großtante dann eine Bemerkung über die Albernheiten der Mädchen machte, die den Männern nachäfften. Ich war nur unendlich müde, als sei ein Wanderer viele Jahre einen steilen Weg hinaufgestiegen, und wie er endlich oben ist, läßt die Kraft nach, und anstatt die freie Aussicht zu genießen, die sich ihm von der Höhe öffnet, sinkt er nieder und schläft. Dreißig Stunden, ohne Unterbrechung, habe ich nach dem Examen geschlafen, und dieser tiefe, traumlose Schlaf liegt wie ein Abgrund zwischen dem unbewußten Leben meiner Jugend und dem Erwachen zu eigenem Leid und eigenem Glück.


Heuernte! Der Alte hat das hohe Gras im Bruch bis dicht an die schwarzen Torfausstiche gemäht, und all der zarte, feine Parnassus ist mit umgesunken unter der Sense. Sonderbar sah er aus, wie er so zwischen seinen Schwaden stand und die Sense regelmäßig im Takt herunterschlug, so recht ein Bild des mähenden Todes. Wenn er dann seine gebeugte Gestalt aufrichtete und die Sense dengelte, klang es weit vom Moor her zu meinem offenen Fenster, an dem ich saß und träumte. Schwer geht die Luft über das weite Moor, weiche warme Sommerluft, in die sich der süße Heuduft mischt. Fiken hat gewendet und die Haufen aufgerichtet. Ich weiß jetzt, wie ungern sie hier ist, und wie hart und böse sie von den Alten betrachtet wird. Die Liebe: immer dasselbe, bei den Reichen, wie bei den Armen.

Der jüngste Sohn drüben in Amerika ist noch frei. Nun will die Mutter, sie solle hin und ihn heiraten, sonst nähme er eine von drüben, d. h. in der Phantasie der Alten wohl soviel wie eine Schwarze, Wilde. Fiken aber hat ihren Schatz hier, ist auch eine von den Wurzelständigen, die sich nicht verpflanzen lassen. Das gibt Streit. Mich läßt der Heuduft nicht schlafen, und wenn ich dann aufstehe und unruhig in meinem Zimmer auf- und abgehe, bleibe ich wohl am Fenster stehen. Die ganze Luft füllt der silberne Glanz des Mondes. Er geht in vollen, ungemessenen Breiten über die norddeutsche Ebene und liegt förmlich schwer über dem Moor mit seinen dunklen Wasserlöchern und den schwarzen kleinen Torf-Pyramiden, die mich immer noch an Totendenkmäler gemahnen, selbst jetzt, wo all die Süße der Sommernacht um sie her zittert. Dann sehe ich die Fiken und ihren Schatz vom großen Graben herkommen, Nacht für Nacht. Die Alten schlafen und hören es nicht, wenn sie die Tür aufklinkt, eine von den geteilten Türen, wie sie hierzulande üblich sind, und leise über dem verschlossenen unteren Teil hineinsteigt in das Haus. Der Bursch ist Knecht bei den Schiffern, die die Torfladungen herunterbringen. Für Fiken ist er die Jugend und das Glück. –

Diese Sommernächte und diesen süßen, schweren Duft fürchte ich immer. Auch für mich steht dann alles an meinem Lager, was je von Sehnsucht in meinem Herzen gewohnt hat, und auch ich lebe dann immer noch einmal durch, was da kam und blieb. Denn in meiner einfachen Geschichte ist vielleicht nur das anders, als bei anderen, daß die Zeit nichts geändert hat und nichts genommen, daß es noch heute, nach zwanzig Jahren, gerade so ist wie am ersten Tage. Das Leben ist gekommen und hat mich wahrlich geschüttelt und gerüttelt. Wäre es der äußere Gang der Ereignisse, der bestimmend für uns ist, so würde ich mich eine moderne Frau nennen können, selbständig, im Kampf des Lebens Siegerin geblieben. Vielleicht ist gerade der Zwiespalt zwischen meinem Äußeren und meinem Inneren dasjenige, was mich doch zerbrochen hat, und während ich das aufschrieb, was mir von meiner Kindheit in Erinnerung geblieben ist, wenig genug, nicht viel mehr als ein paar wechselnde Stimmungen von Luft und Licht, ward es mir so klar, was mich durchzittert, seit Ilse die Worte zu mir gesagt hat: ich habe den Mut zum Glück!

Die duldende Kraft zum Leben hatte ich – die jubelnde Kraft zum Glück nicht. –

Damals, als ich mein Examen gemacht hatte, sollte ich für einige Zeit nach Hause. Mein Vater wünschte es, und er hatte schriftlich bei mir angefragt, schon um die Osterzeit desselben Jahres, ob ich die Erziehung meiner beiden Brüder Herbert und Hans, die jetzt neun und sechs Jahre alt waren, übernehmen wollte. Dann wollte er sie bis zum Herbst, wenn ich fertig sein würde, vom Dorfschullehrer unterrichten lassen. Ich hatte ihm sofort mit einem »Nein« geantwortet. Ich wollte nicht in meines Vaters Hause bleiben, das doch nicht mein Vaterhaus war, und ich wollte nicht ihre Kinder unterrichten, so lieb sie mir dann später geworden sind. Ich wollte mir mein Brot verdienen, aber selbständig. Sie hatten dann einen Kandidaten genommen. Vater hatte trotzdem gewünscht, mich erst bei sich zu haben. Meine Sachen waren vorausgeschickt, der Tag meiner Ankunft bestimmt. Da Tante aber plötzlich verreisen mußte, brach ich einen Tag früher auf. Daher war der Wagen nicht an der Bahn. Um zu depeschieren hatte ich kein Geld. Zudem war es ein prachtvoller Septembertag, so ein funkelnd klarer, wie er der norddeutschen Ebene oft beschieden ist, mit einer heiligen Stille und einem goldigen Glanze. Ich ging die Allee entlang und sah auf die Blätter, die von den Linden fielen. Jedes ein Herz. All diese Herzen lagen vor mir auf dem breiten Wege, und der sanfte Wind trug die langen Fäden des Weibersommers und wickelte sie um meine Finger und legte sie auf meinen leichten, dunkeln Mantel. Die Leute nahmen Kartoffeln aus. In langen Reihen sah ich sie wie schwarze Silhouetten gegen den Himmel stehen, gebückt und eifrig wühlend. Der eigene Odem der märkischen Erde umfing mich.

So bin ich durch die Marienfäden gegangen, umtanzt von den fallenden Herzblättern der Linden, und meine ganze Kindheit ist neben mir einhergezogen dieses Stück Weges, so daß ich mich umsah, ob nicht Bruder Gerhard neben mir ginge und mir zunickte. Und es war doch Freude in meinem Herzen, als das Dach des Ausbaues auftauchte und ich an meinen Vater dachte. Es war so viel Liebe für ihn in meinem Herzen, so viel Liebe und so viel Mitleid, und ich freute mich, daß es noch nicht ganz dunkel war, als ich den Ausbau erreicht hatte. Ich hörte Stimmen von dem Platz unter der Kastanie, und ich ging durch den Nußgang auf den Baum zu, unter dem meine Eltern, wie es schien, mit Gästen saßen. Die Jungen mußten mich bemerkt haben und riefen etwas, und dann sah sich mein Vater um und stieß einen markerschütternden Schrei aus.

»Franzine!« rief er. Ich wußte aber gleich, daß er nicht mich meinte, sondern meine Mutter, und es wurde mir so zur Gewißheit: ich glich ihr, deren Bild zu oberst in meinem Koffer lag.

Ich stand da, in meinem dunkeln Mäntelchen und dem kleinen Filzhut, und sah auf die, die die Meinen sein sollten. Herbert und Hans hatten sich angefaßt, fast erschrocken, meine Mutter kam mir entgegen. Es waren noch zwei Herren da, die sie mir vorstellte. Der Kandidat, der, wie sie sagte, »freundlich genug Deine Stelle vertritt,« und ein Offizier, »mein Vetter Wulf von Willich, unser Hausgast.«

»Aber Dein Zimmer ist bereit, Franzine,« sagte mein Vater eifrig, »Du brauchst nur hinaufzugehen, es ist alles beim alten geblieben, und Gott zum Gruß in der Heimat, Kind.«

Er brachte mich selbst die Treppe hinauf. Ich merkte, daß er schwerfälliger ging als früher und das verletzte Bein mehr nachzog. Er war auch stärker geworden und leicht ergraut. Als er mit mir oben stand, nahm er mich in die Arme und küßte mich. »Min oll Deern.« Das klang mir so süß und vertraut, daß ich lachte wie lange nicht, hell und glücklich, glaube ich, und ich trat mit ihm zum Fenster. Da kam Mutter mit den beiden Herren den Steg herauf. Der eine ging zu ihrer Rechten, der andere zu ihrer Linken. Sie war größer als beide, und sie sah herauf, wo ich neben meinem Vater stand und auf sie herniederlachte.

»Komm herunter, Robert,« rief sie, »Franzine muß sich zurecht machen, ihre Haare sind ganz unordentlich.«

Ich trat zurück und brachte Vater nach der Tür. Ich lachte schon nicht mehr. Aber meine Haare konnte ich schwer in Ordnung bringen, so gern ich's auch getan hätte. Sie waren so lose und schaumig, wenn sie auch nicht schwer waren, daß ich sie nur immer zusammenfassen konnte und acht geben, daß sie den Nadeln nicht entschlüpften. Ich hätte mich auch gern zum Abendessen etwas zurecht gemacht, der Gäste wegen und um Vaters Hause Ehre zu tun, aber meine Sachen waren noch nicht da, und so konnte ich nichts tun, als in den Garten schlüpfen und mir eine Ranke roten Weines holen; von der steckte ich ein paar Blätter an mein glattes, dunkelblaues Kleid. Ich war sehr müde an diesem Abend und hatte nichts dagegen, daß man mich früh nach oben schickte, damit ich ausschlafe. Aber seit langer Zeit sah ich zum ersten Male wieder, daß Menschen mich beachteten. Der Kandidat tat das unverhohlen und glotzte mich so an, daß es mich verlegen machte. Wulf von Willich aber, der Vetter meiner Mutter, und wie es schien an sie gebannt und von ihr als Adjutant benutzt, hatte seine Augen nur einmal auf mich gerichtet, mit einem seltsam glänzenden Blick. Den hatte ich aufgefangen und von dem habe ich geträumt, als ich zum ersten Male wieder in meinem Elternhause schlief.

Die Menschen sagen immer: »das ist die Liebe,« und es scheint dann so, als sei die Liebe immer dasselbe, nur verschieden nach dem Temperament und dem Wesen des Menschen, und wenn sich zwei bekommen haben, so ist das eine glückliche Liebe, und im anderen Fall eine unglückliche. Ich aber glaube doch, daß die Liebe von der Frau zum Mann so verschieden ist, wie die Herzen der Menschen und noch darüber hinaus, verschieden nach dem Reichtum und Glück, den das Leben über den einen ausschüttet und dem anderen versagt. Und man ist auch nicht immer unglücklich, wenn man das nicht bekommt, was man geliebt hat, und nur im Märchen denke ich, oder im Kätchen von Heilbronn vielleicht, ist so eine Hochzeit der Schluß. Ich habe viel Glück gesehen im Leben, und ich denke an meines Kindes großen, kühnen Wagemut; aber dennoch scheint es mir immer, als hätte niemals eine Frau einen Mann so geliebt, wie ich Wulf von Willich geliebt habe und noch liebe. Er war mir ja alles, was das Leben anderen gibt. Elternhaus und Familie, Freude an der Welt und am Leben, mein einziger Freund, mein einziger Vertrauter, mein Bruder und selbst mein Kind. Denn seit ich einmal in einer unvergeßlichen Stunde in seinen Augen diesen selben Blick sah, wie er so oft in Vaters Augen trat, wußte ich, daß ich diese beiden Männer gleichzeitig hingebend und schützend liebte, weil keiner von ihnen beiden die Kraft haben würde, mich selbst zu schützen.

Ich könnte heute, nach zwanzig Jahren, noch immer sagen, ich sei Wulf von Willichs Braut, ob er auch schon lange tot ist. Es sind wohl Jahre der Bitterkeit gekommen, und es hat sich gerächt, was an Glück und Glauben in meiner Jugend in mir zerbrochen wurde; aber meine Liebe zu ihm ist sich immer gleich gewesen.

Er war so etwas Strahlendes, in unserem Hause ein Gast aus einer fremden Welt. Ich hörte, daß er bei der Garde in Berlin gestanden hätte, Schulden gemacht und leichtsinnig gewesen sei und nun nach der kleinen Garnison in der Nachbarschaft versetzt worden sei, nicht viel anders, als wie man einen Kranken nach einem Kurort schickt. Zu spät vielleicht schon, denn die Verhältnisse waren so geworden, daß er mit eigenem guten Willen nicht mehr dagegen ankonnte. Er hatte diesen guten Willen auch nur ruckweise. Dazwischen kam immer wieder ein Rückfall in Laschheit, in Mutlosigkeit. Das waren Zeiten, in denen er sich ganz von den Menschen zurückzog. Sie wurden gelöst durch tolle Krisen der Lebenslust, und in einer solchen lernte ich ihn kennen. Er kam fast täglich zu uns herausgeritten. Meine Mutter empfing in ihm den Namen von Willich und die Erinnerung an ihre Jugend, die sie stolz machte, und der sie gern nachgab.

Sie war glücklich in ihrer Ehe; aber der erste Rausch ihrer leidenschaftlichen Natur war lange befriedigt, und wenn sie noch eifersüchtig über meinen Vater wachte, so entsprang das mehr ihrem Stolz als ihrer Liebe. Sie ist die stolzeste Frau, die ich kannte, ehe Marianne in mein Leben trat. Was ihr gehörte, sollte vollständig ihr gehören, daher war meine Gegenwart ihr eine beständige Pein. Wulf von Willich hatte sie ganz zu sich gezogen, mit der Gebärde einer Herrscherin, die einen Untertanen fesselt. Ich glaube, daß sie gelitten hat wie eine Liebende, als sie sein Interesse für mich bemerkte, obgleich sie nichts von Leidenschaft für ihn empfand, denn sie gehörte wirklich meinem Vater und ihren Kindern, mit jenem ausschließlichen Fanatismus der Familienegoistin.

Jene weiten herbstlichen Wiesen an der Warthe sind der Zeuge jener stillen Stunden meines Erwachens. Wieder wie einst mit meinem Vater, sah ich mit ihm, dem mein Herz gehörte, die großen Schiffe vorübergleiten und die Flöße mit der deutschen Fahne und den kleinen Strohhütten, in denen zu wohnen das phantastische Glück meiner Kindheit gewesen wäre. Jene ganze Zeit einer unausgesprochenen Liebe, die doch unseren Schritt beflügelt und unseren Blick beseelt, liegt für mich in der Erinnerung an das herbstlich gelbe Gras und die großen, roten Disteln, die auf dem Treideldamm wuchsen, wo schwer und gebeugt die Menschen vorübergingen, die die Schiffe stromaufwärts zogen. Zuweilen traten wir, zur Seite, der elegante Offizier und das Mädchen, von dem jene Enterbten vielleicht dachten, daß es reich und glücklich sei, und sahen ihnen zu, wie sich ihre Brust gegen den Riemen stemmte und der Schweiß von der Stirne lief, und sie langsam und keuchend in gleichmäßigem Trott auf dem Damm dahingingen. Dann zog sich mein Herz zusammen. Es lag so etwas Unabwendbares in dieser Arbeit, die die endlos lange Linie des Dammes und das Glitzern des Wassers zu einer ewigen Fron zu machen schien, daß man ganz vergaß, es gäbe für diese Leute auch ein Ziel und eine Rast, das Mahl und den Schlaf. Es schien, als müßten sie immer weiter so gehen, immer weiter, endlos, in ein unbekanntes Land. Auch als Fiken gestern in der Mondnacht mit ihrem Schatz am Deich entlang kam, unter den Birken hin, und er den Arm um ihren Leib geschlungen hatte, mußte ich an jene Treidler denken, die ich damals so oft gesehen habe. Die Fron des Lebens! Uns Frauen legt die Liebe den Treidelriemen über die Brust. – Gingen wir dann nach Hause, den Weg zur Höhe hinauf, so waren wir beide ganz still geworden. Wir sprachen überhaupt nicht viel in dieser ersten Zeit. Es war, als würde es dem vornehmen Offizier, der eben erst Berlin verlassen hatte, schwer, den rechten Ton mit dem kleinen Pensionsmädchen zu finden, das sich Weisheit genug geholt hatte, um Menschen erziehen zu wollen, und das doch nichts vom Leben wußte. Später habe ich mich oft gefragt, was er denn so an mir geliebt hat – denn an seiner Liebe ist mir nie ein Zweifel gekommen. Er hat wohl gesehen, beim ersten Blick, wie ich damals so unerwartet und unbeachtet in mein Elternhaus zurückkehrte, ich käme aus dem Schattenleben heraus, mit aller Sehnsucht nach der Sonne in meinem Herzen. So eine weiße Blume muß ich gewesen sein, wie der kleine Parnassus hier im Moor mit weißen Blütenblättern und weißen Staubfäden und einem weißen, festen Herzen.

Ich erfuhr dann, daß er ein Frauenmann gewesen ist, lange ehe ich verstand, was das heißt. Da wird er sich nicht sehr gewundert haben, wie leicht es ihm wurde, das weiße Herz zu erobern.

Das ist natürlich alles nicht so plötzlich gekommen. Wenn's wohl auch da war im ersten Augenblick, da ich ihn sah, so war's mir doch nicht bewußt geworden, und meine Umgebung hatte alles getan, es mir auch nicht zum Bewußtsein kommen Zu lassen. Und dann war der Kandidat da. Käsebier, der gute große Junge mit der überschwenglichen Begeisterung und den hervorquellenden Augen. Die hingen an mir, seit ich im Hause war. Käsebier war aus gutem Hause, sein Vater Superintendent in Westpreußen. Einer Verbindung stand nach einer Reihe von Jahren nichts im Wege, ja, Käsebier war sogar nicht einmal unbemittelt, nicht der typische Hungerkandidat, sondern die Pädagogik reizte ihn. Er hatte wirklich viel Interesse für den Unterricht und wollte sich von Grund auf darin betätigen.

Mama sah offenbar die Partie für ein unbemitteltes Mädchen als glänzend an, und sie begriff nicht, warum ich mich so ablehnend verhielt. Das tat ich aber gar nicht. Ich konnte dem guten Jungen, der wie ein Schatten hinter mir her war, nicht böse sein in dieser Zeit seltsamer Weichheit, und ich mochte ihn auch nicht fortscheuchen; aber freilich, ich konnte ihn nicht locken.

Vater kümmerte sich um das alles nicht. Als ich drei Wochen im Hause war, konnte ich mich ja darüber beruhigen, daß er wirklich ein glücklicher Mann sei. Jener Herzensschrei »Franzine«, mit dem er mich empfangen hatte, mußte aus dunklen Tiefen gequollen sein, wo all das schlummerte, was sich anders entwickelt hätte, wenn jene Frau, der der Ruf der Sehnsucht galt, leben geblieben wäre. Aber unsere Unterströmungen steigen nur selten, wie heiße Springquellen, in das Bewußtsein der Gegenwart. Die Ergriffenheit jener ersten Stunde kam nicht wieder. Er liebte die Kinder, die um ihn herum aufwuchsen, und liebte auch die Frau, die sie ihm geboren hatte. Er fügte sich ihren Ansprüchen um des lieben Friedens willen, hatte seine Jagd und seine Freunde, und nun, wie er sagte, noch seine olle Deern. Mein Vater war ein glücklicher Mann! Vielleicht dachte er auch, daß sein Mädchen noch viele Freier haben würde und es nicht nötig sei, mich an den ersten besten zu ketten, denn er behandelte die ganze Angelegenheit trotz der beständigen Anspielungen Mamas ganz von oben herab, jovial, als ein Mann, der für jedes seiner Kinder mindestens eine Million hat.

Dazwischen sprach Mama zuweilen von ihrem Vetter Wulf, wieviel Sorgen er der Familie gemacht hätte, wie man gehofft hätte, er würde sich in der kleinen Garnison bessern, und doch gar keine Aussicht dazu sei, denn selbst dort, in dem Rest mit der Kirchturmsperspektive, mache er Schulden über Schulden. Sie sprach davon, wie wünschenswert es sei, daß er eine reiche Heirat mache, und wie sehr sie hoffe, schon in nächster Zeit das passende Mädchen zu finden. Auf einem Ball in der Nachbarschaft sollte ein reiches Mädchen erscheinen, eine wirkliche Millionärin, eine Seltenheit auf dem armen Kartoffelboden der Mark, und noch dazu jung und schön und gebildet, ein reines Wunder. Freilich eine Bürgerliche, deren Vater den goldenen Hintergrund aus dunklen Tiefen gehoben hätten aber das wäre in diesem Fall gleich, denn er wäre so rücksichtsvoll gewesen, früh zu sterben. Verwandte führten sie ein mit der offenbaren Absicht, sie zu verheiraten, so zwar am liebsten, daß der Zukünftige im Kreise ansässig würde, wo Marianne in der entlegensten Ecke ein altes, ehemaliges Jagdschloß gekauft hatte. Mama meinte, daß da, wo Wulf von Willich als Bewerber auftrete, keine Konkurrenz möglich sei. Ich weiß nicht, wie ich das anhörte, halb im Traum. Es waren nur Worte, die gar keinen Sinn für mich hatten, denn ich dachte noch gar nicht an ihn als den Mann, dem mein Herz gehörte, und diese Marianne war mir nicht viel mehr als irgend eine Romanfigur.

Die Einladung zu dem Ball bei Amtsrats kam auch an mich. Mama meinte sogleich, ich müßte ablehnen, ich hätte ja kein Kleid für solche Gelegenheiten, und da es standesgemäß sein müsse, wäre es doch zu teuer, denn als Erzieherin später würde ich ein Ballkleid doch nicht. gebrauchen können. Aber auch da war Vater anderer Meinung, ja er sagte sogar, er selbst würde das Kleid kaufen und allein mit mir in der Stadt aussuchen. Mama wurde dunkelrot; aber sie sagte nichts.

In dem Laden der Stadt war wirklich ordentlich eine kleine Aufregung, als Herr Rittmeister Wahrenburg ein Ballkleid aussuchte, denn schließlich verstand er noch mehr davon als ich, nur daß ihm nichts gut genug war. Aber auch diesen Dingen gegenüber war ich eigentlich so gleichgültig wie gegen meine Romanheldinnen. Nachher freilich hat sich jenes erste Ballkleid doch fest in mein Gedächtnis eingeprägt. Der Rock von weißem Tarlatan mit hundert schmalen Strichelchen und einer wirklichen Schleppe, und die feste lange Taille aus weißem, spiegelndem Atlas, die mit einem dichten Kranze von Heckenrosen am Ausschnitt schloß. Eine Küraßtaille nannte man das, und ich höre noch Vaters Lachen über den Ausdruck. Mama warf kaum einen Blick auf die Herrlichkeit; aber sie hatte die große Klugheit da zu schweigen, wo sie nichts ändern konnte. Und so fuhren wir denn in dem großen geschlossenen Wagen alle fünf hinaus, denn auch Wulf und der Kandidat kamen mit.

Das war ein Ball bei Amtsrats in dem alten einstöckigen Hause, das noch aus der Zeit Hans von Schwedts stammte und auf dessen Boden es sogar umgehen sollte! Da lagen in langer Reihe zwischen das Gebälk geschoben die Fremdenzimmer, in denen man sich aus seinen Umhüllungen herausschälte, und in denen vorsichtige Gäste, die ihren Staat im Koffer mitgenommen hatten, sich erst umzogen. Über die wurmstichige alte Eichentreppe ging es dann hinab in große, behagliche Räume, in denen ein guter Geist waltete, der des Frohsinns und der Tüchtigkeit. Bei Amtsrats war immer eine Schar junger Mädchen. Die Töchter waren wie Magnete, die alle Jugend der Umgegend wie lose Eisenspäne anzogen, und diesmal war sogar ein Goldfasan unter den Rebhühnern, die reiche Marianne. Nicht daß Amtsrats sie besonders in den Vordergrund geschoben hätten. Aber in den Landkreisen wiegt der Besitz an und für sich so schwer wie die Erde, die man an nassen Tagen an den Schuhen mit nach Hause bringt. Marianne wußte das, sie hielt ordentlich einen kleinen Hof, und die Leutnants standen im Kreise um sie herum.

Es war ein ganz fashionables Fest, und dann war es mein erster Ball. Ich hatte noch nie getanzt. Ich hatte nie geglaubt, das meine schmalen Füße es so leicht lernen würden, aber er lehrte es mich gleich im ersten Walzer, und dann verstand ich es so gut, daß ich meine Kunst sogar an dem armen Kandidaten versuchte. Ich bekam auch einen dumpfen Begriff von dem, was ein »Frauenmann« ist, wie man ihn immer nannte. Ich sah, daß sich alle nach ihm umsahen und die Kameraden Platz machten, da er der Tanzordner war; aber das fand ich alles ganz natürlich! Es schien mir selbstverständlich und mußte so sein. Es mußte wohl auch so sein, daß er mich so fest im Arm hielt und meine Hand so warm drückte. Marianne war die Schönste von allen, und an ihrem Kleid konnte ich sehen, wie die Herrlichkeiten der kleinen Stadt doch nicht Schritt hielten mit dem, was Berlin ihr geliefert hatte, und was laut von allen bewundert wurde, mit einer Ungeniertheit, die ich gar nicht begreifen konnte. Wenn er mit Marianne tanzte, so hielt ich das auch für ganz natürlich, und wenn sich das reiche, schöne Mädchen noch an diesem Abend mit ihm verlobt hätte, ich würde mich nicht gewundert haben. Wahrscheinlich wäre mein Herz auch nicht gebrochen, denn ich hatte gar nicht Zeit, an die anderen zu denken. Mein Vater, der mit den Herren L'hombre spielte, trat manchmal in die Tür und sah sich nach mir um. Dann nickte ich ihm zu. Ich hatte all die Menschen lieb, die da waren, und begriff doch nicht, daß ich, die so einsam und so traurig gelebt hatte, so viel Wärme für die Menschen übrig hatte. Und als der Kandidat, wie ich spät die Treppe herunterkam und die Wagen vorgefahren waren, mir plötzlich feurig die Hand küßte, ließ ich sie ihm und sagte: »Lieber Käsebier.« Ich höre es noch ganz deutlich, weil ich immer bei dem Namen lachen mußte, den Mama mir so eifrig empfahl. Sein Gesicht strahlte. Eine lange Reihe von Wagen stand vor dem alten Hause, und die Diener liefen mit Laternen hin und her und suchten die rechten; es dauerte schrecklich lange, bis wir eingepackt waren. Ich dachte, wir müßten alle so guter Stimmung sein wie Vater und ich; aber schon unterwegs sah ich, daß das nicht der Fall war, und daß Mama verstimmt war. Und das ist denn auch der letzte gute Tag gewesen, den ich zu Hause verbrachte.

Denn am nächsten Tage hatte der Kandidat feierlich um mich angehalten, wie Mama ausdrücklich betonte, durch mein Benehmen ermutigt. Und als ich nicht wußte, was sie damit meinte, sagte sie, sie hätte selbst gesehen, wie er mir die Hand geküßt habe, und wie ich ihm etwas zugeflüstert hätte. Ich sagte aber: nein, ich wollte ihn nicht, ganz entschieden nicht. Da brach es los. Ein häßliches Unwetter und zum Schluß die Frage, was ich mir denn einbildete, und ob ich glaubte, ich könnte einem Mann, wie Wulf von Willich es sei, sein Leben ruinieren? Da bin ich ganz blaß geworden und habe Mama gefragt, was sie damit meine? Aber sie hat mich ausgelacht. Das hätte doch ein jeder gesehen, wie ich mit ihm kokettiert habe. Marianne, die reiche Marianne hätte es auch gesehen, darum sei sie im Kotillon so intim mit dem jungen Leutnant Golz gewesen, den sie noch nie angesehen habe. Wenn aber Wulf diese Gelegenheit verpasse, könne es schlimm werden, denn die Familie tue nichts mehr für ihn, das wisse sie.

»Weiß das Vater?« fragte ich.

»Was denn?« sagte sie. »Du weißt wie Vater ist, ein Kind, nicht mehr; und es ist doch nicht seine Familie, sondern meine, die es angeht. Wenn Du Käsebier nicht willst, magst Du es ihm selber sagen. Aber daß Du es nun weißt: zum ersten Januar mußt Du Dir eine Stelle suchen, zur Prinzessin geboren bist Du nicht.«

Ich habe es denn Käsebier gesagt. Ich habe ihn gebeten, mir nicht böse zu sein, und wie er geweint hat, habe ich ihm die Tränen abgetrocknet und gesagt: Früher, als ich noch klein gewesen, hätte ich auch geweint, und vielleicht würde ich das später wieder lernen, aber jetzt könne ich es nicht.

Dann ist ein Brief gekommen von Frau von Dittmar. Die war auch auf dem Fest bei Amtsrats und hatte mich gesehen. Sie brauchte zu Neujahr eine Erzieherin für ihre beiden Kinder, und da Mama ihr gesagt hätte, daß ich bereit sei, eine Stelle anzunehmen, so erkundige sie sich jetzt. Vater fragte mich und sagte, er möchte es eigentlich nicht gern, es fände sich gewiß noch etwas Besseres. Dittmars seien zwar sehr reich, aber der Mann sei ein Trinker und die Frau ...

Da schnitt ihm Mama das Wort ab. »Der Mann geht sie nichts an, Robert, und die Frau ist ein wenig von oben herab; es dürfte gerade das Rechte sein für die Bäume, die absolut in den Himmel wachsen wollen.«

»Es ist schwer,« sagte er, »aber Du weißt, man sagt ...«

»Ach, Klatsch und nichts weiter. Wenn eine Frau schöner ist als ihre Umgebung, sagt man bald etwas. Ich meine, sie nimmt an.«

Ich nahm an. Ich hatte von Frau von Dittmar die Erinnerung, daß sie etwas wunderbar Strahlendes, Verführerisches sei. Ich hatte sie viel schöner gefunden als die reiche Marianne, wenn sie an mir vorbeitanzte und ihre lange Mondscheinschleppe hinter ihr herrieselte. Und dann wollte ich fort.

Seitdem mir Mama die Vorwürfe gemacht hatte, sah ich alles anders an. Ich begriff nun mich selber. Des Abends saß ich oft in meinem Zimmer und behauptete, ich präparierte mich auf meine Stelle, wenn ich Wulfs Pferd in den Stall führen sah. Ich wich ihm aus wo ich konnte, und er ließ es auch geschehen und sah scheinbar über mich fort, bis er mich eines Tages im Walde allein traf. Der erste Schnee war gefallen, er lag so leise und lose auf wie Watte. Hundert Spuren gingen hindurch, Hasenspuren und Vogelspuren, und hin und wieder der feine Tritt eines Rehs. Ich war in den Wald gegangen und hatte mir Tannenzweige geholt für Mutters Bild, da kam er. Er machte auch gar keine Einleitung oder Umschweife, er hielt mich einfach an und fragte: »Franzine, weißt Du, daß ich Dich liebe?«

Da sah ich gerade in seine Augen und sagte: »Ja.«

Und dann nahm er mich in die Arme und küßte mich und sagte: »Du kleines Mädchen Du, Du erfrorenes kleines Mädchen. Wahrhaftig, das Leben hätte es besser machen können. Es hätte Dich nicht gerade zu mir führen brauchen, als ich wirklich den Entschluß gefaßt hatte, meine Verhältnisse zu ordnen. Die Marianne kann sich bei Dir bedanken, daß sie nicht einen Mann bekommt, der ihr Geld nimmt und sie als eine lästige Zugabe. Denn ich weiß nicht einmal, ob ich immer Rücksicht genug hätte für so ein aufgezwungenes Geschöpf. Aber was sollen wir beide nun tun?«

Ich sah ihn nur an durch meine Tränen. »Das weiß ich nicht, Wulf.«

»Ich auch nicht,« sagte er, halb selig, halb verzweifelnd, »ich weiß nur, daß ich Dich liebe, und daß ich Dir's sagen mußte, ehe sie Dich fortschicken zu dieser Frau von Dittmar, die nicht wert ist, daß sie der Schemel Deiner Füße ist. Nie ließe ich es zu, niemals, wenn ich etwas anderes mein eigen nennte als die Leutnantsstube. Die ist kahl genug, wenn ich die Photographien hinauswerfe, die noch darin stehen aus all den tollen Jahren. Aber das verstehst Du noch nicht, Franzine, und das kannst Du noch nicht begreifen, daß nur Du diese Macht über mich hast, Du allein auf der ganzen Welt. Gerade weil Du so bist wie der junge Schnee. Bei Gott! Aber was werden soll, das weiß ich nicht. Und das sage ich Dir hier, ich kann Dir nichts versprechen, als daß ich Dich liebe.«

Er wußte wohl, was er damit sagte, denn er hatte ja genug in meinem Elternhause gesehen. Nur wie tief ich das alles empfunden, das wußte er nicht. Seine Worte waren wie ein goldener Nachen über einer abgrundtiefen, stürmischen See, und es konnte mir niemand verdenken, daß ich mein Herz in jenes Schifflein legte und dahintreiben ließ, ohne Ruder und ohne Steuer. Wir sind unter den beschneiten Tannenzweigen einhergegangen, bis es dunkelte. Sein Pferd stand vorn in der Schonung, und als er sich von mir trennte, sah ich ihm nach, wie er dahinritt. Ich wußte, er gehörte mir, und doch nicht mir. Was da auf meine Schultern herniedergesunken ist, schien mir so leicht, als wären Flügel an meine Füße gebunden: und war doch eine Last, die ich mit mir tragen sollte durch mein ganzes Leben. Es sind viele Stunden gekommen, da hat sie mich so zu Boden gedrückt, daß ich geschrien habe in meinem Herzen, sie solle mich zermalmen, damit es zu Ende käme.

Es blieb alles beim alten, solange ich noch in meinem Elternhaus war. Nur der Kandidat schien etwas zu merken, so traurig sahen seine Augen mich an, und als er in die Weihnachtsferien ging, um nicht mehr zurückzukehren, denn seine Zeit war um, da traf er mich noch im Garten, wo ich Buchsbaum aus dem Schnee hervorholte, um ihn mit Tannen zusammen an die Körbe zu stecken, die ich ein paar armen Leuten im Dorfe brachte. Da nahm er meine Hand und sagte: »Ich bin unglücklich, Franzine, aber Sie werden es auch sein, glauben Sie mir. Nur eins vergessen Sie nie, da wo Johannes Käsebier ist, da haben Sie einen Freund fürs Leben.«

»Es kommt nicht darauf an, daß man glücklich ist,« antwortete ich. »Ich habe nicht viel Weltweisheit und habe sie nur aus Büchern; aber das fühle ich, daß das Glück nicht das Ende ist.«

Da lächelte der arme Junge. »Sie fangen mit dem Ende an, Franzine, das ist es –;« und dann ging er.

Wulf war zum Fest fort, bei Verwandten, wie er sagte. Er konnte auch nicht schreiben, solange ich in meinem Elternhaus war. Wir hatten uns noch ein paarmal getroffen, im Walde oder unten an den Warthewiesen, die jetzt ganz still und weiß lagen, und auf denen die Sonne am Abend wie ein Feuerball stand. Es war ein schlechtes Stelldichein für Liebende, wo eine Saatkrähe, die auf dem Weidenbusch saß, ungeheuer groß schien in der Entfernung, und alles seine Umrisse verlor und ins Riesenhafte wuchs. Ich wußte aber, daß ich meinem Vater nichts sagen durfte; deshalb fürchtete ich mich auch im Walde, wo ich ihn leicht treffen konnte. Vater hätte das nicht tragen können. Es wäre ein Schatten in seinem Leben gewesen und eine Unruhe. In diesem Vierteljahr hatte ich ihm hundert kleine Unannehmlichkeiten aus dem Wege räumen dürfen, und immer mehr war er mir ein großes Kind geworden.

Als aber Neujahr gekommen war und Wulf zurück war, da trafen wir uns einmal in der Tannenschonung, und da habe ich in seinen Augen denselben Blick gesehen wie in Vaters, ebenso schwankend und unsicher, als er mir sagte, er hätte noch einmal alles aufgeboten, um Hilfe zu bekommen, und er glaube, Ostern würde es zu Ende sein. Da wußte ich, daß es dasselbe sein würde wie mit Vater, daß auch er immer nur den nächsten Tag sehen würde und nie die Zukunft. Als wir dann nebeneinander aus der Schonung heraustraten, fühlte ich die Last schon, aber ich fühlte auch, daß meine Kraft gewachsen war. Nicht die Kraft zum Siege. Die hatte man in mir zerbrochen. Aber die Kraft zum Dulden.

Dittmarshof war ein großer, vornehmer Herrensitz, eines von den Gütern, die ihren Besitzer noch nicht gewechselt haben im Laufe der Zeiten. Die waren schwer gewesen, auch für Dittmarshof, und der Boden schien zuweilen zu schwanken. Aber immer war dann durch glückliche Heiraten das Gleichgewicht wieder hergestellt worden. Auch Frau von Dittmar war eine dieser reichen Erbinnen, und weil sie schön und verwöhnt war, hatte sie bald nach ihrer Hochzeit darauf bestanden, daß das alte märkische Adelshaus, das sie immer nur die vornehme Räuberhöhle genannt hatte, niedergerissen wurde und ein stattliches Schloß im neuen Stil aufgeführt. Ein wahrer Prunksitz, einer der wenigen neuen Herrensitze in diesem Teil der Mark. Dittmarshof hatte Türme und Zinnen, eine riesige Halle, in der ein paar Ritterrüstungen standen, und Kronleuchter von Geweihen herabhingen, während die Wände mit Rehgehörnen und mächtigen Hirschgeweihen geschmückt waren. Es hatte eine Trinkstube und ein Billardzimmer, einen Tanzsaal, einen großen und einen kleinen Eßsaal. Kurz, es war vorbildlich für die Gegend und das Gegenstück zu Neu-Bellin, dem alten Jagdschlößchen, das Marianne in nächster Nähe bewohnte, und das gerade nur äußerlich instand gehalten wurde, um seine Vornehmheit zu schonen.

Dittmarshof verwirrte mich anfangs. Seine Bewohner trugen nicht wenig dazu bei. Meine Stellung war so wenig umgrenzt, daß ich mir selbst einen Stundenplan einrichtete. Frau von Dittmar hatte schon eine zwölfjährige Tochter, Bettina. Das konnte ich anfangs gar nicht begreifen, denn sie war für mich wie der Inbegriff der Jugend und Schönheit; wie eine Nixe, mußte ich immer denken. Sie hatte große, schillernde Augen, die zuweilen einen überirdisch strahlenden Glanz hatten, oft freilich auch stumpf und apathisch blicken konnten; ihre bräunlichen Haare lagen weich und lockig um ein schmales Kindergesicht, das einen eigenwilligen Mund hatte, der dunkelrot war, üppig und aufgeworfen. Ihre Hände und Füße waren kinderklein und ihre Gestalt so weich und biegsam, daß sie in den langen, schleppenden Kleidern zu gleiten schien. Ich konnte gar nicht verstehen, daß sie jemals den rohen, plumpen Herrn von Dittmar geheiratet hatte, der freilich gutmütig genug war, sich aber fast jeden Abend mit seiner Flasche Rotwein allein vergnügte. Dabei waren die beiden offenbar glücklich. Denn wenn sie ihn auch nur ihren John Falstaff nannte, so war sie doch oft ostentativ zärtlich mit ihm, halb wie ein Kind und halb wie eine Katze. Es schien, daß sie ihren Mann viel mehr liebte als Bettina, ihre Tochter, die so große Augen hatte wie die Mutter, nur mit einem unsagbar traurigen Ausdruck, der dem ganzen Gesichtchen das Kindliche nahm. Dafür verhätschelte sie ihren Buben, der fünf Jahre alt war, den Stammhalter von Schloß Dittmarshof. Ich konnte nie den Blick von ihr abwenden, wenn ich sie sah, sie fesselte mich förmlich. Zuweilen war ich erschrocken, wenn sie in ihrem Boudoir lag, ganz schwach und hilflos zusammengerollt, als könne sie sich kaum regen auf ihren weißen Pelzen und unter ihren dichten, warmen Decken. Kam sie dann aber abends zu Tische, zu dem späten Mittag, so leuchtete und strahlte sie wie ein Stern – oder nein, wie ein Irrlicht, denn sie hatte nie das Sichere, Zuverlässige eines Sterns. Es war, als verliefen die Umrisse ihres Wesens, als wäre nichts, woran man sie festhalten könnte, wenn man nach ihr griff. Sie war auch sonderbar in ihrem Wesen zu mir.

»Ich habe mir lange eine Erzieherin gewünscht wie Sie es sind, liebes Kind,« sagte sie, »denn sie sind ja noch ein Kind. Ich kann diese spionierenden Augen nicht vertragen. Als ob eine Erzieherin immer in ihrem Berufe sein müßte, auch außer ihren Stunden. Ich glaube wirklich, ihre Vorgängerinnen wollten mich selber erziehen. Aber Sie sind ein weißes Blatt. Ich habe noch nie so etwas gesehen in Ihren Jahren, ein reines Wunder. Ihre Frau Mama sagt, Sie wären im Stift erzogen. Die Augen, die Sie haben, bringt man nicht aus einer Genfer Pension, das weiß ich. Es stand gleich bei mir fest, daß Sie zu mir müßten, als Ihre Mama betonte. Sie würden eine Stelle annehmen.« Sie lachte wie ein Kobold, ich konnte mir wohl denken, warum.

»Bettina werde ich verheiraten, sowie sie achtzehn Jahre ist. Eine erwachsene Tochter neben einer jungen Mutter ist ein Unding,« sagte sie ein andermal.

»Sie werden es gut haben bei mir, Herzchen, wenn Sie einigermaßen vernünftig sind. Der Vetter Ihrer Mutter kann auch zu uns auf Besuch kommen. Ja, ja, werden Sie nur nicht rot, ich habe alles gesehen neulich bei Amtsrats. Ich habe gewiß nichts dagegen, denn unser Volontär, Herr von Scheel, dürfte Sie kaum interessieren.« Und als ich eine erschrockene Bewegung machte und mich zur Tür wandte, als wollte ich gehen, ängstlich in meinem Herzen, nahm sie mich in die Arme und gab mir einen Kuß, und ihre Augen funkelten gefährlich dicht über den meinen.

»Noch eins, Sie fürchten sich doch nicht?«

»Wovor?« fragte ich erstaunt.

»Ja, es soll hier spuken, sagt man. In einem neuen Haus, das erst sechs Jahre steht! Die alten Quitzows, behaupte ich, die ärgerlich sind, daß die alte Spelunke niedergerissen ist. Ich habe nie etwas gehört, aber die Dienerschaft munkelt. Also wundern Sie sich nicht, wenn Sie einen leisen Schlaf haben sollten, es tut keinem etwas.« Wieder kicherte sie seltsam vor sich hin, und ich war ganz froh, als ich aus dem Boudoir heraus war und oben in dem elegant eingerichteten Zimmer stand, das mir gehörte und durch das Schulzimmer von dem Schlafraum Bettinas getrennt war. Ich nahm auch nur drei Tage an den gemeinsamen späten Mittagsmahlzeiten teil. Herr von Scheel gefiel mir wirklich nicht. Er war ein junger, eleganter Mann, der sich in Dittmarshof aufhielt, ehe er sich ein eigenes Gut kaufen wollte. Das Diner war reich, es wurde viel getrunken, auch wenn einmal keine Gäste da waren, und je nach der Stimmung der Hausfrau herrschte laute Heiterkeit oder gedrückte Apathie. Herr von Dittmar kümmerte sich um keines von beiden. Er trank seinen Rotwein und beurteilte jede Schüssel. Bettina nahm noch nicht teil am Diner. Sie bekam um die Zeit des Lunch eine etwas kräftigere Mahlzeit, und ich wendete mich an Frau von Dittmar mit der Bitte, diese teilen zu dürfen, was sie mit einiger Verwunderung gern gestattete.

»Bettina ist bisher in der Gesellschaft der Jungfer ganz zufrieden gewesen. Nun richten wir das natürlich anders ein. Sie und Bettina und Bubi essen zusammen. Mir tun Sie ja einen Gefallen damit, aber ich wünsche nicht, daß Sie Opfer bringen, ich liebe das nicht.«

Ich erklärte ihr, daß es kein Opfer sei, sondern daß ich mich herzlich zu Bettina hingezogen fühle, und sie sagte lachend: »Ihr seid eben beide Heilige. Na meinetwegen.«

Damit hatte ich mein eigenes Tagewerk ziemlich säuberlich von dem Leben und Treiben in dem Hause Dittmarshof geschieden und fühlte mich wohl dabei. Bettina war ein liebes scheues Kind. Ihre traurigen Augen begriff ich gar nicht, denn Mutter und Vater waren ja gut zu ihr, und sie hatte ein Heim und eine Mutter. Warum sprang sie nicht singend und lachend durch die Gänge, und warum zuckte sie immer zusammen, wenn gelegentlich von dem Hausspuk gesprochen wurde, was ziemlich oft vorkam? Einmal sah ich bei solch einer Gelegenheit, wie sie dem alten Diener einen scheuen Blick zuwarf, aber sie sprach sich nie aus. Sie faßte nur eine leidenschaftliche Zärtlichkeit für mich und umklammerte mich abends zuweilen so fest, als wollte sie mich gar nicht wieder loslassen.

Es war ein reger Verkehr mit der Nachbarschaft in dieser Gegend, die viel reicher war als die meiner Heimat. Das Leben war hier auf einem ganz anderen Fuß eingerichtet. Ich konnte mich von Anfang an mit meinen Pflichten entschuldigen, und ich fuhr niemals mit, nur an der Geselligkeit im Hause nahm ich selbstverständlich teil. Da sah ich gelegentlich auch, wieviel liebenswürdiger Frau von Dittmar gegen mich war, als die übrigen Damen ihren Erzieherinnen gegenüber, daß sie es sogar zu wünschen schien, unser Verhältnis als möglichst intim absichtlich zu betonen. Wir waren in Wirklichkeit gar nicht Freundinnen. Ich hätte mich wohl schlecht dazu geeignet. Aber es machte ihr Spaß, meinen Arm zu nehmen, oder mir etwas zuzuflüstern, und sie schien fast eine Absicht damit zu verfolgen.

Bei diesen Gelegenheiten sah ich auch Marianne öfters. Sie war wirklich schön und stolz, trotz ihrer dunklen Herkunft, unendlich viel vornehmer als Frau von Dittmar. Eine strengere Schönheit, das, was sich mit dem Begriff »Sportsdame« deckt. Gertenhaft geschmeidig, immer in knappen englischen Kleidern, wenn sie für ein paar Stunden herüberkam. Oft ritt sie auch, nur von ihrem Reitknecht begleitet, vorüber. Sie hatte einen tadellosen Sitz zu Pferde; Kraft und Kühnheit sprachen aus ihren Zügen; Herren gegenüber hatte sie etwas sehr Souveränes, während Frau von Dittmar eigentlich immer das Kind blieb. Die beiden kamen nicht besonders gut aus, obgleich Marianne den Verkehr in dem vornehmen Hause bevorzugte. Ihre Gesellschafterin war das unglaublichste Nichts, ein wahrer Dekorationsgegenstand und von ihr auch so behandelt. Mich sah sie oft seltsam forschend an, vor allem, wenn ich neben Frau von Dittmar stand und diese einige ihrer Vertraulichkeiten über mich ausschüttete. Es schien fast, als prüften mich die großen grauen Augen des Mädchens. Sie machte keinen glücklichen Eindruck. Sie schien mir wie eines jener Geschöpfe, die überhaupt nicht zum Glück geschaffen sind. Frau von Dittmar hatte ein seltsames Vergnügen daran, in ihrer Gegenwart das Gespräch auf den Vetter meiner Mutter zu bringen, und einmal sagte sie triumphierend:

»Herr von Willich kommt für acht Tage zur Jagd, er hat es mir versprochen. Was sagen Sie dazu, Franzine?« Denn sie nannte mich mit meinem Vornamen.

Da sah ich, daß es in Mariannens Augen aufblitzte, und ich begriff; daß Frau von Dittmar sie quälen wollte. Sie rächte sich vielleicht an ihr, denn Marianne hatte ihren Kreis wie sie selber, ihre Bewunderer und Anbeter. Auch Herr von Scheel machte dem schönen Mädchen mit Ostentation den Hof. Es fiel mir überhaupt auf, daß er der einzige war, der unempfindlich für Frau von Dittmar zu sein schien. Ich glaube, von all denen, die damals in Dittmarshof ein- und ausgingen, war es Marianne allein, die die Dinge klar sah; die anderen ließen sich täuschen oder waren bequem genug, als gegebene Tatsachen zu nehmen, was sie im Grunde nichts anging, und nur ich war vielleicht die wirklich Ahnungslose, deshalb, weil mein Herz noch nichts begriff von dem Lug und Trug des Lebens, so gut ich seine Härte auch kannte. Und dann: ich hatte ja meine Briefe. Wulf schrieb nicht viel, aber er schrieb doch. Heiße, liebe Zettel, auf die er oft seine Zärtlichkeiten für mich hinwarf, wie sie in fröhlichen und traurigen Stunden gleich einem Sonnenstrahl oder wie ein Hagelschauer aus seinem Herzen brachen. Wunderbare Liebesbriefe, die keine Verheißung hatten, über denen keine Zukunft stand, Liebesbriefe, in denen nie das Wort Treue vorkam, sondern nur das Wort Liebe, die nichts nahmen und nichts gaben als ein warmes quellendes Gefühl.

Als Frau von Dittmar sagte, daß er käme, hatte ich die Nachricht schon längst in Händen. Er müsse mich sprechen, sagte er. Von Frauen nehme man immer, was sie geben, und wenn Frau von Dittmar es wolle, so könne es ihm recht sein. Er müsse sich auch nach mir umsehen, denn manchmal fürchte er für seine kleine Heilige. So nannte er mich meist in seinen Briefen; aber eine Heilige mit warmem Herzen, eine Heilige, die küssen könne. Das seien gefährliche Heilige, viel, viel gefährlicher, als die auf den Altären in der Kirche.

Ich freute mich unendlich, als er kam. Es war selbstverständlich, daß ich nun an dem Diner teilnahm. Ich hatte nur gebeten, daß Bettina es auch dürfe. Trotz meiner Liebe beobachtete ich das Kind doch, und sah, daß es mit scheuen Augen zu Scheel hinübersah und jeder seiner Bewegungen folgte. Es waren sonst heitere Mahlzeiten. Die Herren waren meistens tagüber auf Jagd gewesen, Herr von Scheel und Wulf, und auch Herr von Dittmar hatte sie oft begleitet. Die Stimmung war angeregt und lustig, und nach Tisch saßen wir in der Halle, wo ein mächtiges Feuer im Kamin loderte, oder im Boudoir bei Frau von Dittmar, tranken Kaffee und plauderten. Ich lernte Wulf hier von einer neuen Seite kennen. Er war ein unermüdlicher Plauderer, hatte tausend kleine Geschichten aus der Hauptstadt, aus den Kreisen der Hofgesellschaft, deren Pointen ich oft nicht verstand, und für die er mir dann abbittend die Hände küßte, wenn wir einen Augenblick allein waren. Er entzückte Frau von Dittmar, und nur Marianne, die an diesen Tagen öfters wie sonst vorbeigeritten kam, hatte eine strenge Falte in ihrem ernsten Gesicht, wenn sie zuhörte. Sie ging sogar mit auf Jagd in einem kurzen, grünen Lodenkostüm mit einer Lederjacke und einer Mütze, die ihr prachtvoll stand, und unter der ihre schweren blonden Haare in mächtigem Knoten hervorquollen.

»Sind Sie nicht eifersüchtig, Kleine?« fragte mich Frau von Dittmar einmal, als Wulf und Marianne über den Hof gingen, sie die Flinte über die Schulter genommen und einen ihrer prächtigen Hunde an der Leine. »Finden Sie nicht, daß es ein schönes Paar ist?«

»Gewiß,« sagte ich, »aber wie sollte ich eifersüchtig sein? Es wäre ja ein großes Glück für Herrn von Millich.«

Da wurde sie einen Augenblick ernst. »Sagen Sie ihm das, Kleine, vielleicht ist es noch Zeit.«

»Warum?« fragte ich erschrocken.

»Es steht schlecht, sehr schlecht. Und es wäre schade um ihn.«

An diesem Abend waren wir ein paar Stunden allein. Dittmars waren ausgefahren, und Frau von Dittmar hatte mich ostentativ ihrem Gast gegenüber mit der Vertretung ihrer häuslichen Pflichten betraut. »Mein Boudoir steht Ihnen zur Verfügung.«

Ich mochte den weichen Raum nicht leiden, und so hatte ich ein Feuer in der Halle anzünden lassen, und wir saßen in den großen Lehnstühlen. Ich hatte meine Füße auf das Gitter gestellt und sah in die Glut. Er nahm sich dann einen der niedrigen Schemel, setzte sich halb zu meinen Füßen und griff nach meinen Händen.

»Wulf,« sagte ich, »ich muß Dir etwas erzählen,« und ich sagte ihm alles, was mir Frau von Dittmar gesagt hatte. »Du hast mir nie versprochen, daß Du mich heiraten willst, Wulf, Du kannst es ja auch gar nicht, denn ich glaube nicht, daß Du den Kampf mit dem Leben aufnehmen kannst. Und siehst Du, Marianne gefällt mir gut. Sie ist so ernst, ich mag sie viel besser leiden als Frau von Dittmar, und ich weiß wohl, warum sie immer so über mich hinwegsieht. Du könntest sehr glücklich mit ihr werden, Wulf. Dann hättest Du das große Gut, oder wenn Du willst, kannst Du wieder nach Berlin zurück. Sie würde alles tun für Dich, ich weiß es wohl.« Ich strich über seine blonden Haare, während ich sprach und dachte daran, wie lieb ich ihn hätte; aber ich fühlte doch, daß ich ihn abgeben könnte, und daß ich niemals sein Leben für meines verlangte – damals. Meine Sinne schliefen noch ganz, und meine Liebe wohnte nur in meinem Herzen. Es war nur die unterdrückte Kinderzärtlichkeit, die sich da einen Weg bahnte. Er hat das auch wohl verstanden.

»Ja, kleine Heilige,« sagte er, »Du würdest mich nie hindern, und wenn Du damals nicht dazwischen gekommen wärest, es wäre auch alles so gekommen. Nur freilich, ob's gut wäre, das weiß ich nicht. Denn siehst Du, ich kenne die Frauen, und ich kenne auch meine Art mit ihnen. Ich würde mich nicht ändern, ob mit oder ohne Trauring. Und Marianne ist nicht mein Genre; als Kamerad freilich, aber als Frau nicht. Ich will mich aber auch nicht verkaufen. Ich habe das Leben immer so leicht genommen, so, als schlüge ich einen Tennisball. Irgendwie wird's ja werden, obgleich ich noch nicht weiß, wie. Und den bunten Rock auszuziehen, wird mir gar nicht einmal so schwer. Es ist jetzt nicht halb so schlimm, wie die Versetzung damals aus Berlin nach dem kleinen Ort, in das rauchige Kasino und zu den Kameraden von der hohen Nummer. Das war doch das Schlimmste. Aber Dich gebe ich nicht auf; Dich hat mir gerade der Himmel als Ersatz geschickt. Möglich, daß ich schrecklich leichtsinnig bin und Dir im Wege stehe, oder sage, hättest Du den Käsebier genommen ohne mich?«

Da mußte ich lachen; aber ich konnte es doch nicht hindern, daß die Tränen aus meinen Augen auf sein Gesicht fielen. Ich begriff, daß es ein großer Leichtsinn war, was er da sagte, nicht nur in seinem, sondern auch in meinem Sinn; aber ich fühlte, daß ich ihn gerade um dieses Leichtsinns willen liebte. Ich hatte jedoch eine schreckhafte Ahnung, das würde wohl immer dasselbe bleiben, nur daß ich ihm nie würde helfen können, und das sagte ich ihm auch.

»Noch schöner,« rief er und faßte mich um und zog mich zu sich nieder, »solch eine kleine Heilige, die hilft nur mit Gebet.«

»Das tue ich auch,« beteuerte ich ernst.

Da lachte er wieder sein frisches, helles Lachen, und ich sah, wie die Flammen im Kamin ihren Widerschein auf sein schönes Gesicht warfen. »Warte nur,« rief er, »ich muß schon einen Schatz der Gnade da oben haben, wenn's was helfen soll. Aber das ist so recht was für euch weiße Seelen, so ein schwarzes Lämmchen weich und schützend in die Arme zu nehmen, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht,« sagte ich müde, denn das Gespräch hatte mich angegriffen. Er sah auch die Veränderung in meinem Gesicht.

»Bist Du denn hier glücklich, Kleine?« fragte er. »Es ist ein tolles Haus, und ich will nicht Willich heißen und meine Hand hundertmal in solchen Affären gehabt haben, wenn's nicht mit einem argen Krach zu Ende geht. John Falstaff hat zwar auch das Seinige auf dem Kerbholz; aber schließlich wird er doch einmal die Hand ausstrecken und ein Wort reden müssen.«

»Was meinst Du, Wulf,« sagte ich, »ich verstehe Dich nicht.«

Wir hatten den Platz gewechselt, er hielt mich in den Armen, und ich lag so still und gut an seinem Herzen und dachte nur wieder einmal, wie zuweilen in meinem Leben, wenn ich meiner Mutter Bild ansah, daß ich wünschte, ich würde nicht alt. Es war eine fixe Idee von mir, etwas, womit ich immer heimlich spielte, woran ich mit Freuden dachte, und worüber ich das Licht gleiten ließ wie über einen Edelstein, den ich dann wieder versteckte und verbarg. Ich hatte es ihm noch nie gesagt, aber es war mit der Grund, weshalb ich so dankbar das nahm, was Wulf mir gab. Und ich freute mich, wie dünn meine Finger waren, wenn sich die seinen so warm und kräftig darüber schlossen, und wie leicht das Blut in mein Gesicht kam und ging, und wie rasch ich den Atem verlor, wenn ich die Treppen hinaufging.

»Ich verstehe Dich nicht, Wulf. Herr von Dittmar ist gut, aber ich mag ihn nicht, denn er trinkt. Und weißt Du, wenn er so recht getrunken hat, dann spukt es unten.«

Da lachte er, daß er sich schüttelte, zog mich ganz fest an sich heran und küßte mich auf die Ohren und auf den Haaransatz wie toll. »O kleine Heilige, kleine Heilige! Ja, ja, die alten Quitzows, das waren noch Gesellen! Gott bewahre Dir Deine Unschuld, die ist Dein bester Schutz.«

Wir saßen noch lange an dem Kamin, bis die Flammen zusammenfielen, bis es allmählich ganz dunkel um uns wurde und nur der Kronleuchter von der Decke herableuchtete.

Es war so eine schöne, stille Stunde, die beste, die wir gehabt haben zusammen, und wir warteten wirklich, bis Dittmars zurückkamen, und Wulf küßte ihr feurig die Hand aus Dankbarkeit.

Bald danach fuhr er ab, und Ostern schrieb er mir, daß er seinen Abschied eingereicht habe und nach Berlin gehe, denn da würde er am ersten etwas finden, womit er sich über Wasser halten könne. »Zum Ertrinken habe ich keine Lust, Liebling; Amerika lockt mich nicht, ich habe mich immer lieber bedienen lassen, als daß ich selber diene; bis zum Revolver ist's noch weit. Vielleicht kann ich etwas finden, viel wird's nicht sein, na – va banque


Als Wulf fortgegangen war, fing Marianne an, sich mir mehr zu nähern als bisher. Sie tat das in ihrer souveränen Art, die immer annahm, daß Menschen und Dinge ihr zur Verfügung ständen, und vor der ich mich scheu zurückzuziehen gewohnt war. Nicht, daß sie viel mit mir sprach, aber sie beachtete mich mehr, lud mich nach Neu-Bellin ein und war weniger herablassend in ihrem Ton. Ich glaubte damals nicht, daß sie Wulf liebte, nur daß sie ihn zu heiraten wünschte wegen seines Namens und wegen seiner glänzenden Erscheinung, die ihr den letzten Rest der selbstgeschaffenen Position erobern sollte. Darum machte ich ihr jene Annäherung schwer. Desto toller war in diesen Tagen Herr von Scheel hinter ihr her, so auffällig, daß man anfing, davon zu sprechen und meinte, da ihr der Täuberich entflogen, würde sie vielleicht mit dem Sperling vorlieb nehmen. Jetzt weiß ich, daß alle diese Gerüchte von Frau von Dittmar selbst ausgingen, die Herrn von Scheel wie eine Schachfigur dirigierte; aber damals merkte ich kaum, daß die beiden Frauen Todfeindinnen waren. Das Terrain, auf dem ich mich bewegte, war für meine graden Füße viel zu uneben; es spielte sich in dem vergessenen Winkel in der Mark eines jener Stücke ab, die ich dann später oft genug im Vaudevilletheater in Paris sah.

Ich kam öfter zu Marianne in das kleine alte Jagdschloß. Es war die einzige Schwäche, die ich je an Marianne bemerkte, daß alles Feudale sie anzog. So hatte sie auch die Einrichtung des alten Schlößchens, das, eigentlich nur ein viereckiger Kasten mit hohem Dach und einem erkerartigen Türmchen war, möglichst mittelalterlich gehalten und allerlei echten Kram in ihm zusammengetragen, wurmstichig, verschossene Farben und vergilbte Gewebe. Es war eine seltsam modrige Umgebung für die frische, starke Kraft des Mädchens, die nur durch einen unbändigen Stolz gezügelt wurde. Sie schien gar nicht zu ihr zu passen, und erst als ich einmal zufällig ihr Schlafzimmer betrat, einen großen Raum im schlichtesten Stil, mit mächtigem Messingbett, Wanne und Duscheapparaten, mit Hanteln und Turngeräten, erkannte ich sie selbst. Das andere war Schein, mit dem sie sich und ihre Umgebung zu täuschen pflegte, und sie sah auch nie steifer aus in ihrer so merkwürdigen rassigen Schönheit, als in einem der hohen geschnitzten Stühle, von deren Samtbezug das verblichene Wappen eines untergegangenen Geschlechtes herüberdämmerte.

Mit den Frühlingsstürmen, die durch den Wald brausten und nachts an mein Fenster schlugen, als verlangten sie Einlaß, ging es ärger um in Dittmarshof als je. Ich schlief schlecht und hörte zuweilen wohl, wie Türen gingen und Treppenstufen knackten, aber ich hätte mich nicht gefürchtet, wenn mir nicht Bettina bange gemacht hätte. Das Kind war krankhaft aufgeregt, zitternd und außer sich. Ich blieb jeden Abend bei ihr sitzen, bis sie einschlief. Dann warf sie sich unruhig hin und her auf ihrem Kissen. »Fürchte Dich doch nicht, Bettina,« sagte ich, »wer denkt denn an die alten Quitzows? Die haben längst Ruhe. Es sind Mäuse, oder vielleicht eines von den Mädchen.«

Dann sah sie mich so scheu an mit ihren großen traurigen Augen und nickte, aber ich merkte wohl, daß sie nicht beruhigt war, und oft, wenn sie endlich eingeschlafen, sann ich über das sonderbare Kind nach, und ihre Unruhe teilte sich mir mit, Frau von Dittmar hatte immer öfter jene Zeiten vollständiger Apathie und Zerschlagenheit und war ein paarmal nicht bei Tisch erschienen, und dazwischen funkelten ihre Augen immer irrwischartiger, das langsame Gleiten ihrer Bewegungen löste sich in eine wilde, übermütige Lustigkeit. Scheel bekam beständig Anspielungen auf sein Verhältnis zu Marianne, die er fast trotzig erwiderte. Herr von Dittmar sah dann von einem zum anderen mit einem seltsam müden Ausdruck in den Augen, aus denen der Wein sprach, und einmal hob sich seine zitternde Hand, als ob er etwas sagen wollte, aber dann fiel sie kraftlos auf den Tisch zurück. Es war mir oft unheimlich, und nach Tisch saß ich oben an meinem Schreibtisch und schrieb lange, weiche Briefe an Wulf. Briefe, in denen noch der Friede jener Kaminstunden nachzitterte, und in die doch vielleicht schon etwas hineindrang von dem neuen Frühlingsodem da vor meinem Fenster. Die Antworten trug ich dann mit mir herum, und wenn ich das Knistern des Papiers fühlte, dachte ich mich geborgen, wie wirr es auch äußerlich um mich wurde.

Eines Tages hatte mich Frau von Dittmar zu Marianne geschickt mit einer Besorgung. Es führte ein Fußweg durch den Wald unter den Kiefern hin durch eine Tannenschonung und ein Stückchen märkische Heide nach Neu-Bellin. Es war ein schöner Gang, und ich hatte ihn auch im Winter öfters gemacht. Jetzt war es köstlich dahinzugehen und zu sehen, wie sich über der Heide, deren trocknes Kraut noch einen blaß violetten Ton hatte, die überständigen Kiefern bogen, daß es in ihrem Holz knackte und krachte. Sie standen so blaugrün gegen den Himmel mit seinen ziehenden Wolken, und der See von Neu-Bellin, ein kleiner, märkischer Waldsee, um den Wacholderbüsche wuchsen, schlug ordentlich Wellen. Ich ging in das Schlößchen durch die kleine Halle, in der eine alte, zerschossene und zerfetzte Fahne hing, deren Farben kaum zu erkennen waren, und stieg die Treppe empor. Da hörte ich, wie oben rasch die Tür geöffnet wurde und wie Marianne sagte:

»Wie einen Hund, das merken Sie sich!«

Und dann stürzte Scheel an mir vorbei, die Treppe herunter, und sie stand oben und hatte die Nilpferdpeitsche in ihrer Hand, die sie mitnahm, wenn sie ihre große Dogge führte. Sie bebte am ganzen Körper, und ihre Augen blitzten.

Scheel sah mich gar nicht einmal; aber sie wurde seltsam ruhig, als sie mich bei der Hand nahm und in das Zimmer zog. Da drückte sie mich auf einen der großen Wappensessel, öffnete das Fenster mit den kleinen Butzenscheiben, als wäre ihr die stickende Museumsluft selbst zu viel, und hatte es nicht einmal ein, daß der Wind es nahm und hin- und herwarf, bis ich es befestigte. Dann ging sie auf und ab, hielt die Peitsche noch in der Hand und reckte sich. »Kind,« sagte sie, »wie ertragen Sie das? Reine Luft, das ist das erste, was meine Brust verlangt. Und Sie blasse Heilige dort – aber er kommt mir nicht wieder, der Hund, der!«

Ich war so ängstlich und sah sie an und fragte sie, wie sie das meine? Da strich sie sich über die Stirn, als besänne sie sich: »Vielleicht ist es ja auch besser so, und im übrigen – Sie wissen natürlich, daß Frau von Dittmar morphiumsüchtig ist.«

»Nein,« sagte ich, und es war mir wie eine Erleichterung, »dann kann ich mir vieles erklären.«

»Nicht wahr,« meinte sie so obenhin, »das ist so die landläufige Erklärung, und hier stimmt's auch wirklich.«

Dann warf sie die Peitsche weg und lachte, legte ihre schmalen, schlanken Hände auf die Armlehnen des alten Stuhles, daß er erzitterte, und sah zu mir nieder, Tränen in den klugen, grauen Augen.

»Wenn wir beide anders wären, Sie, Franzine, und ich, dann müßten wir Freundinnen werden; aber ich glaube, wir haben beide nicht viel Talent dazu, wie verschieden auch die Gründe dafür sind. Sie aus ihrer Sanftmut heraus, und ich aus meinem Selbstwillen. Nein, wir wollen nicht anfangen mit Vertrauen und schönen Geständnissen und der Enthüllung unserer Seelen. Aber eins sagen Sie mir, Kind, Sie, die er seine kleine Heilige nennt, wissen Sie, daß Sie Ihr ganzes Leben wegwerfen? Wissen Sie, daß er Sie nie heiraten wird? Kennen Sie das Opfer, das Sie bringen? Sie, die Sie so hilflos sind wie ein Kitzchen, das die Mutter verlassen hat, wenn die Hand eines Menschen es berührte, und die Sie eine Last auf sich genommen haben, wie sie stärkere Schultern niederziehen würde?«

Ich sah sie an und wollte aufstehen und mich wehren; aber sie stand über den Stuhl gebeugt, fest und biegsam wie aus Stahl, und dann nahmen ihre starken Hände die meinen und umschlossen sie und drückten mich zurück, wie einst in der Pension die Hände meiner Peinigerinnen, nur daß ein sicheres Gefühl aus diesen schlanken Fingern in mich hinüberging, so kräftigend wie noch nie vorher eine Hand auf mich gewirkt hatte. Und ich lehnte mich zurück, schloß die Augen und sagte nur: »Ich weiß alles, Marianne. Ich werde niemals seine Frau werden; aber ich werde ihn immer lieb haben. Mag er doch andere haben da draußen, das tut mir nichts.«

Da ließ sie mich los, reckte ihre Arme hoch und bog sich zum Fenster hinaus, um den Wind einzuatmen, der kühl und frisch in das Zimmer strich. Dann ging sie nach dem Tisch, auf dem die neuesten englischen und Wiener Modeblätter lagen, und blätterte achtlos in ihnen. »Nein,« sagte sie, »kleine Heilige, noch tut Ihnen das nichts; aber warten Sie, das kommt.« Und wieder zu mir herantretend, rauh und heftig, als würfe sie dem ganzen Geschlecht den Handschuh hin: »Verstehen Sie es, warum wir unsere Herzen an diese Männer geben müssen, Sie und ich, die alte Zeit und die neue? An einen Mann, der nichts denkt als an sich selbst, und kein Ziel hat und keinen Gott? Der da über die Erde geht, als sei sie für ihn geschaffen wie ein Garten? Der keine Pflicht kennt? Der zu einem Hund freundlich ist und wohl weiß, daß man einem Pferd alle Achtung und Liebe erzeigt, und der zu den Menschen grausam und hart ist, wenn seine Eigenliebe nicht befriedigt wird? Begreifen Sie das, Kleine?«

»Aber,« rief ich, »das ist doch nicht ...«

»Freilich, das ist Wulf von Willich! Für sich alles, was ihn reizt, auch dieses kleine Mädchen hier, die ihr eigenes Herz noch nicht kennt. Wissen Sie, daß ich gedacht habe, Sie seien seine Geliebte? Ich glaube, Sie wissen nicht einmal, was ich meine, so rot Sie auch werden. Ich weiß, es ist nicht wahr, es ist noch etwas in ihm, ein Rest von edler Art. Und doch, so wie er da ist, ist er Zug für Zug der Mann, den wir Frauen von heute hassen sollten, als den Verderber unserer Seelen! Wir wissen das auch sehr wohl – und zum Dank für das alles – lieben wir ihn!«

Ich ging ganz benommen an diesem Abend aus dem Schlößchen und blieb lange an dem See stehen, der einen ordentlichen kleinen Schaumstreifen am Rande hatte. Die Kiefern knarrten und ächzten über der Heide, das rotgelbe Gras, die verblaßten, vertrockneten Büschel Erika lagen darnieder wie unter einer Bürste, die über sie dahinstrich. Ich dachte daran, daß es jemand in der Welt gäbe, der sich um mich kümmerte, wirklich kümmerte, und daß noch kein Mensch so ernst zu mir gesprochen hatte, wie Marianne. Und es tat mir leid, daß Wulf sie nicht liebte und nicht glücklich werden konnte mit ihr. Ja, in diesen Tagen konnte mir das noch leid tun.

Am Brunnen im Park, wo die Buchen standen und die Anemonen, überall zitterte es weiß unter den Sträuchern und Hecken, und im Kiefernwald auf dem Moosteppich standen hin und wieder ganze Büsche von blauen Leberblümchen mit ihren dreiteiligen Blätterrosetten, und die Drossel sang so kinderrein und froh vom Abend bis zum Morgen, und der Wind war nicht mehr aufreizend und heiß trotz seiner Kälte, sondern sanft und beruhigend wie eine große, große Zuversicht. Der Gärtner brachte zur Dekoration der Tafel Sträuße von gelben Osterlilien, und eines Tages durchdufteten das ganze Haus die ersten weißen Narzissen, und auch ich bekam einen Strauß in mein Zimmer, denn der alte Mann wußte, daß ich die Blumen liebte.

Es war wundervoll draußen; wie ein beständiges, goldenes Leuchten lag es über der Erde.

Um diese Zeit kam ich zum ersten Male in das Kantorhaus.

Um den wissenschaftlichen Unterricht kümmerte sich Frau von Dittmar gar nicht und überließ ihn mir und meiner jungen Weisheit vollständig. Dagegen besuchte sie öfters meine Klavierstunden. Ich hatte sie selbst darum gebeten, denn wenn mein spärliches Können auch vorläufig für Bettina noch ausreichend war, so machte ich gar kein Hehl daraus, daß ich hier die Verantwortung gern in geübtere Hände legen würde. Und eines Tages kam ich selbst darauf, Kantor Volckmann vorzuschlagen, dessen Orgelspiel in der Kirche mir aufgefallen war. Frau von Dittmar, die gerade eine ihrer unruhigen Zeiten hatte, schickte mich wegen der Verhandlungen in das Dorf.

Es war ein Tag im Mai. Die Obstbäume blühten, und das Kantorhaus, das zugleich das Schulhaus war, wie der Kantor auch der Dorfschullehrer, lag ganz eingerahmt von rosigen Apfel- und weißen Birnblüten. Der Garten ging ziemlich tief nach einem Bach herunter, in den ein Steg gebaut war, wo die Gießkannen gefüllt werden konnten. Ein Baumgarten, denn der Kantor war zugleich Bienenzüchter und Obstbauer, und zog Gravensteiner, mit denen seine Frau im Herbst ein gutes Geschäft machte. Die kurze Grasnarbe stand voll gelben Löwenzahns, und auf dem kleinen Idyll, über das der spitze Schieferturm der Dorfkirche sah, lag Glanz und Sonne.

Ich war durch das Gartentor eingetreten, von wo fröhliche Stimmen klangen. Kantor Volckmann hatte acht Kinder, und ein paar Mädchen, die schon konfirmiert waren, mochten in den Winterstunden das Garn zu dem Leinen gesponnen haben, das jetzt hier unter den Obstbäumen gebleicht wurde. Es war an Pflöcke gespannt, und Anna und Minna gingen mit Gießkannen hin und her und gossen. Frische gesunde Gestalten in hellen Leinenkleidern, barfuß bei ihrer einfachen Beschäftigung und mit einem offenen Blick der blauen Augen. Sie sagten mir, der Vater sei drinnen, und wirklich hörte ich jetzt, als ich unter den rieselnden Baumblüten auf das weiß gestrichene Haus zuging, den Ton eines dünnen Klaviers, auf dem das Mozartsche A-B-C mit Variationen gespielt wurde. Ich blieb in der offenen Tür stehen.

Ich kannte Volckmann von der Kirche her. Ein Mann in mittleren Jahren, mit einem bartlosen Gesicht, das fein geschnitten und geistig belebt war, weit über seinen Stand hinaus. Er trug immer einen weichen Hemdkragen und ein Halstuch mit flatternden Enden. Sein Kopf saß frei auf den Schultern, und man sah die Linie, die von dem gemeißelten Kinn zum Halse ging.

So stand er auch jetzt neben dem offenen Flügel, und auf dem Klavierstuhl saß ein fünf- oder sechsjähriger Junge. Ein bildhübscher Knabe, glühend vor Eifer und in Feierlichkeit getränkt, spielte er mit den kleinen Händen den Satz der Mozartschen Kindersonate. Keiner von beiden bemerkte mich. Ich wartete ruhig bis zum Schlußakkord. Dann sah der Kantor auf, begrüßte mich und bat mich einzutreten. »Das ist der Nikolas,« erklärte er. »Mein Jüngster, mein Kuckucksei, sagen die Großen, weil sie behaupten, er wird ihnen einmal alle Liebe wegnehmen bei der Mutter und mir. Hat aber gar keine Neigung, sich mausig zu machen, der kleine Kerl. Nur am Klavier, das ist freilich etwas anderes.«

»Ja,« sagte ich erstaunt, »wie alt ist er denn?«

Da richtete sich Volckmann etwas höher auf. »Fünfeinhalb, gnädiges Fräulein,« und dann sah er nach dem Sofa hinüber.

In dem Zimmer, das offenbar der Festraum der Familie war, stand nämlich wirklich ein Sofa mit einem großblumigen Bezug und weißen gehäkelten Schutzdecken, und darüber hing ein Holzschnitt, der den kleinen Mozart vorstellte, wie er vor der Kaiserin Maria Theresia spielte. Der Blick des Vaters aber, der von dem Kinde zu diesem Bilde gegangen war, sprach mehr als Worte.

Wir wurden rasch einig. Es war ja eine erfreuliche Nebeneinnahme für ihn, wenn er Bettina Stunden geben konnte. Und er begriff meine eigene Unruhe, auf einem Gebiete lehren zu sollen, wo ich mich noch ganz als Schülerin fühlte, ohne jede Anwartschaft auf einstige Meisterschaft. Denn ich war ziemlich unmusikalisch.

»Ja, nur nichts Halbes, vor allem nicht in der Kunst. Dann geht man zugrunde.« Dabei hatte sich sein Gesicht so verändert; und es war ein so ernster Ausdruck in seine Augen gekommen, daß ich, die schon an der Tür stand, noch einmal zögerte. Er nickte mir freundlich zu. Er hatte etwas Souveränes, Freies, wie seine Kinder draußen bei der Wäsche.

»Ich weiß es wohl. Ich habe auch einmal den Traum geträumt von dem Bachschen Kantorhaus, wo der Gottessegen des Genies weitererbt aus einer Generation in die andere. Habe ihn begraben, ausgerissen aus dem Herzen mit Stumpf und Stiel. Und wenn jetzt meine Jungen ihre Volkslieder singen und die Gemeinde in der Kirche den Choral reiner herausbringt als auf den anderen Dörfern ringsum, so freue ich mich daran. Und vielleicht, wer weiß,« er sah auf den Klavierstuhl, von dem der kleine Nikolas längst hinweggeschlüpft war, »vielleicht« – er schüttelte den Kopf und hob abwehrend, wie über sich selbst spottend die Hand, – »genug davon.«

Das war mein erster Gang nach dem kleinen Kantorhaus, und so sind mir die Leute dort in der Erinnerung geblieben. Ihr Heim voll Sonnenschein und blauer schillernder Frühlingslust und Schwalben. Den kleinen Nikolas hatte ich dann noch im Hinausgehen gesehen. Er war von dem Klavier zu den Gösselchen geflüchtet, die wie gelbe Federbälle in einer Ecke des Grasgartens um den Wassernapf duckten. Er mußte auf sie aufpassen, denn in diesen Tagen, da die Leinwand gebleicht wurde, hatten sie eine Art Quarantäne. Ich nickte ihm noch zu und seinen Schwestern und nahm nach Dittmarshof herüber ein Bild tiefen Friedens.

Gerade jetzt, wo so viel Häßliches in die Zeit meines Lebens in Dittmarshof kam, wurde mir jede Berührung mit der Familie Volckmann zum Trost. Auf Wunsch von Frau von Dittmar kam Volckmann zu den Stunden ins Schloß. Aber es war doch hin und wieder etwas zu bestellen, und so bestand eine Art von Verbindung zwischen mir und dieser Woge jungen kräftigen Lebens da unten im Dorf. Ich lernte auch die Mutter kennen. Eine schlichte Frau, die es möglich gemacht hatte, daß sich die Schnäbel der acht Kinder nie vergeblich geöffnet hatten, und für die all die Flicken auf den sauberen Kleidern wie Ehrenzeichen waren.

Im Schloß aber ging allerlei vor, und nun spukte es auch am Tage. Die Dienerschaft machte sonderbare Gesichter und sah besonders Bettina mitleidig an. Sie war so verängstigt, daß sie meine Hand kaum mehr losließ. Beständig fuhren Wagen vor, auch Logierbesuch kam, und eines Tages erschien Herrn von Dittmars Mutter, eine steife, alte Frau, nahm Bettina in die Arme und befahl mir, Zimmer und Park nicht zu verlassen. Dann kam eines Tages mein Vater, der sagte mir alles.

Frau von Dittmar hatte ein Verhältnis mit Herrn von Scheel, schon lange. Man hatte wohl gemunkelt, aber dann hatte man es wieder für Klatsch genommen, weil man nicht glaubte, daß der gute Dittmar sich so düpieren ließe in seinem eigenen Hause. Es war aber schlimmer und schlimmer geworden, die Dienstboten hatten angefangen zu reden, der Respekt löste sich. Die beiden waren wie von einem Dämon getrieben immer weiter und weiter gegangen.

Darauf trat ein Familienrat zusammen, und Frau von Dittmar ist vor ihm erschienen, nicht wie eine Angeklagte, nein, in ihrem schönsten Kleide und mit ihren funkelndsten Augen. Ihre Verwandten sagten, sie müsse sich scheiden lassen und Herrn von Scheel heiraten. Der hatte auch dagestanden, und sie hatte sich umgedreht, ihn angesehen und hatte angefangen zu lachen: »Den dummen Jungen, – nein, den heirate ich nicht.«

Dann ist Frau von Dittmar von den Ihrigen fortgeführt worden. Nur von ihrem Sohn hat sie Abschied genommen, von Bettina nicht. Die hat bitterlich geweint und sich wieder an mich geklammert und ist nicht aus dem Zimmer zu bringen gewesen. Aber das war erst ein paar Tage später, nachdem Vater mit mir gesprochen hatte. Damals, als er kam und mir alles sagte, bat er mich, meine Sachen zu packen, er könne mich nicht in dem Hause lassen.

»Vater,« sagte ich und sah ihn an und strich zum ersten Male so über sein Gesicht, als wolle man ein Kind beruhigen, »Du sagst, ihr habt schon darüber gesprochen, schon damals auf der Gesellschaft bei Amtsrats und noch früher, und Du hast mich hierher gehen lassen in dieses Haus; dann laß mich jetzt auch hier bleiben. Ich will bei Bettina bleiben; über mich wird keiner reden.«

Da nahm er meinen Kopf zwischen seine Hände und meinte ängstlich: »Aber sie reden ja schon, weißt Du das nicht? Mama sagt ...«

Doch schnell schloß ich ihm den Mund. »Was Mama sagt, geht mich nichts an, das weißt Du wohl, wenn ich auch nie darüber zu Dir spreche. Siehst Du, ich habe zum ersten Male in meinem Leben eine Pflicht, Vater, die ist hier. Es wird ja jemand kommen und bei Herrn von Dittmar bleiben, wenn seine Frau fort ist. Seine Mutter, denke ich.«

Er hielt mich ein wenig von sich ab und schüttelte den Kopf. »Was Du klug wirst, Kind; aber recht magst Du haben. Die alte Frau von Dittmar bleibt hier. Meine Passion ist sie nicht, aber schlimmer wie Großtante Meta wird sie wohl nicht sein. Es ist eine scheußliche Geschichte, und das Scheußlichste daran ist, daß man zu so einem jungen Kind davon sprechen muß.«

In den hellen, sonnigen Frühlingstagen ging all dies düstere Unheil seinen Weg, daß das kleine Kinderherz Bettinas fast zerbrach. Aber gerade jetzt war der Musikunterricht bei Kantor Volckmann eine glückliche Ablenkung für sie, und die reine Luft, die aus dem einfachen Haus strömte, tat uns beiden wohl.

Ich habe Frau von Dittmar nicht wiedergesehen. Sie schrieb mir ein Briefchen und bat mich, wenigstens vorläufig zu bleiben, und ich antwortete ihr, daß ich schon selbst so entschieden hätte. Man sagte, sie sei von ihren Verwandten in eine Heilanstalt gebracht worden. Sie hat es aber da nicht ausgehalten und ist eines Tages auf und davongegangen, und dann hat niemand mehr von ihr gehört, obgleich sie natürlich die Fama der Gegend wurde, und bald der eine sie in Monte Carlo oder der andere in Spa gesehen haben wollte. Und auch ich bilde mir ein, daß sie einmal wie eine Vision an mir vorbeigeglitten ist, bei einem meiner häufigen Besuche in Paris, im Bois, auf den Atlaskissen einer jener Equipagen, die die Halbwelt benutzt.

Die alte Frau von Dittmar war wirklich wie Großtante Meta, und das Leben wäre ganz ähnlich gewesen wie im Stift, wenn nicht meine Liebe zu dem Kinde gewesen wäre und meine Liebe zu Wulf. Die wurde seltsam anders in diesem Sommer und unter dem Eindruck der Ereignisse.

Als der Jasmin im Garten blühte und die Rosen, lag ich oft schlaflos in meinem Zimmer, dessen Fenster offen waren, und sonderbare Gedanken und Träume zogen durch mich hin, und was der Frühlingssturm nicht erreicht hatte, das taten die Nächte des Sommers. Sie machten mich matt und welk, und Marianne, die öfters herüberkam, ehe sie auf Reisen ging, sah mich forschend an.

»Ich glaube, Sie fiebern, Kind,« sagte sie, »Sie sollten ausspannen, es ist zu viel gewesen für Sie.«

Aber ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht nach Hause für die Ferien. Ich wollte nicht, daß Mamas Augen auf mir ruhten. Es war mir recht, daß sich niemand um mich kümmerte als Bettina. Nicht die stolze, alte Frau von Dittmar, die das, was sie die Schande ihres Geschlechts nannte, noch verbitterter machte, nicht der arme Mann, der kaum aus seiner Stube herauskam und mit seiner Umgebung zerfallen war. Selbst Mariannens kluge Augen taten mir weh, und ich war froh, als die Koffer gepackt wurden und im Schloß Neu-Bellin die Fensterläden vorlagen, während seine Herrin in der weiten Welt umherzog.

»Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme,« hatte sie zu mir gesagt, als sie mich am letzten Tage, da ich bei ihr gewesen, nach Hause brachte und wir an dem kleinen Heidesee entlang gingen. »Und ich weiß nicht, ob ich allein komme. Die Schule der Ehe, die ich hier durchgemacht habe, ist nicht gerade ermutigend, und doch habe ich nichts Neues in ihr gelernt. Ich würde Ihnen sagen, Sie sollen mir schreiben, Franzine; aber ich weiß, daß das keinen Zweck hat. Nur eins, Sie wissen, daß Sie immer auf mich zählen können, wie es auch kommt. Ich meine nicht nur so, daß ich Ihnen einen guten Rat geben könnte, Franzine. Ich weiß nicht, ob ich das kann; aber die Menschen würden ja sagen, daß ich mehr kann, weil das Geld da ist; dieses verachtete Geld. Nicht daß ich es selbst verachte. Ich weiß es wohl zu schätzen, und auch Sie sollen es schätzen, Franzine. Wenn Sie es brauchen, für sich oder für andere, dann wenden Sie sich an mich.«

Ja, ich war froh, als sie fort war. Ich habe mich nicht gewehrt gegen die Träume, die dieser Sommer bereit hatte, und ich habe still gehalten in all den Versuchungen, die die Rosendüfte an mein Lager schickten, ganz still.

Das ging so eine Zeitlang, ich weiß nicht wie. Mit der alten Frau von Dittmar hatte ich kaum Berührungspunkte. Ich fühlte mich scharf überwacht, doch konnte mir das gleichgültig sein. Mit der Nachbarschaft wurde der Verkehr äußerlich aufrecht erhalten. Dabei erfuhr ich wenigstens immer, wo Marianne war. Von den Bergen war sie nach der Nordsee gegangen und beabsichtigte nun, da die Wälder anfingen sich herbstlich zu färben, die Zeit bis Weihnachten an der Riviera zu verbringen. Wunderbarerweise, wie die Damen immer betonten, kam keine Verlobungsanzeige. Das alte Jagdschlößchen, an dem mich meine Spazierwege zuweilen vorbeiführten, behielt seine geschlossenen Fensteraugen, und die wilden Enten konnten sich ungestört auf dem kleinen See zur herbstlichen Reise sammeln.

Im Spätherbst kam in dieses sonderbar dumpfe Leben eine Unterbrechung. Bettina zeigte wie viele Mädchen im Übergangsalter eine Neigung, die Schulter hängen zu lassen, was eine leichte Krümmung des Rückgrats zur Folge hatte. Ich sprach mit Frau von Dittmar darüber, die sofort anordnete, daß wir nach Berlin in das Sanatorium eines berühmten Orthopäden sollten. Sie wollte uns hinbringen, und ich sollte Bettina während der Zeit ihrer Kur beaufsichtigen. Ich zitterte, denn immer noch stand ich mit Wulf im Briefwechsel. Sonderbar gequälte, gezwungene Schreiben wechselten wir. Nie kam von ihm ein sicheres Wort, nie einen Vorschlag, eine Änderung seiner Lage oder eine ernste Beschäftigung betreffend. Ich wußte gar nicht wie sein Leben war. Nun würde ich sehen. Mit einer wunderbaren Mischung von Furcht und Freude verließ ich Dittmarshof. Wir waren ein paar Tage in einem großen Hotel, und ich siedelte dann mit Bettina in das Sanatorium über, da der Arzt eine Kur von mindestens zwei Monaten für notwendig hielt und ich das Turnen und die Massage beaufsichtigen sollte.

Vielleicht, daß ich diesem Kinde in jenen Monaten innerlicher Herzenseinsamkeit nicht genug Wärme gegeben habe. Vielleicht, daß ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt war. Ich weiß wohl, wie ihre Augen mir folgten, wenn ich während ihrer Arbeitsstunden ruhelos durch das Schulzimmer ging. Es waren aber in dem Sanatorium noch andere Mädchen in ihrem Alter, zum ersten Male konnte sie sich an Kinder anschließen, und die gemeinsamen kleinen Unbequemlichkeiten, die die Kur ihnen allen auferlegte, der verschiedene Grad ihrer Schwäche und Hilflosigkeit beförderte das bei ihrem scheuen Wesen. Sie hatte bald einen Kreis von kleinen Freundinnen und so lebhafte Farben und so viel Frohsinn in den Augen, wie nie vorher. Es war rührend, wie sie sich mit den ganz Jungen mühte. Damals schon legte sie den Grund für das große Liebeswerk ihres Lebens.

Nach acht Tagen konnte ich Wulf schreiben, daß ich da sei und es für möglich hielte, ihn zu sehen. Bisher hatte ich mich nicht gemeldet, aus Furcht vor einer Unüberlegtheit von seiner Seite. Ich bekam sofort Antwort. Er schlug mir vor, mit mir zusammen irgendwo zu essen. Ich solle einen Theaterbesuch vorschützen. So trafen wir uns um acht Uhr an der Korneliusbrücke, da mein Sanatorium im äußersten Westen lag.

Es war ein seltsames Wiedersehen. Ich war ein wenig später gekommen, denn ich fürchtete mich zu warten, und er stand schon und sah die Straße entlang, die Hände in den Taschen seines leichten Sommerüberziehers. Denn es war noch warm in Berlin, obgleich es Mitte Oktober war. Wir wechselten nur einen Händedruck, ehe ich mich in seinen Arm hängte und neben ihm das Ufer entlang nach der Stadt zu ging. Ich war zu aufgeregt, um zu sprechen, und auch er schwieg. Nur meinen Arm preßte er fest an den seinen, und erst als wir den Lützowplatz hinter uns hatten und durch die stillen Anlagen des Augustaufers gingen, hielten wir fast gleichzeitig vor einer Bank unter einer mächtigen Trauerweide, die ihre Zweige weit über uns herüberhing, und wollten reden. Es war mir, als stünde etwas zwischen uns. Aber als er einen Augenblick benutzte, in dem wir allein waren, und mich an sich zog und küßte, war der Bann gebrochen.

»Du fürchtest Dich ja vor mir, kleine Heilige. Seit wann denn?«

Ich konnte nicht viel sagen, nahm nur seine Hand und hielt meine Wange daran. »Ja, ich fürchte mich vor Dir, und für Dich und für uns beide.«

»Siehst Du,« sagte er, »so ist das Leben. Weißt Du noch, wie wenig Du von ihm wußtest, als wir vor dem Kamin saßen? Ein gutes Stück hast Du nun kennen gelernt.« »Aber Du, Wulf, Du?«

»Ich glaube, Du denkst, ich hungere, Liebchen. Du wirst in diesen Tagen zu mir kommen und sehen, daß das nicht so schlimm ist. Nein, heute noch nicht, zucke nicht so zusammen. Aber das mußt Du nicht glauben, daß die Manichäer hier in Berlin einen Kerl, der so aussieht wie ich, hungern lassen. Ich bin ihnen noch immer Goldes wert, solange ich mir kein Glied breche und nicht die Pocken bekomme. Vorläufig rechnen sie noch mit meiner Anziehungskraft auf die Millionen reich gewordener Schlächtertöchter, – vielleicht taxieren sie mich auch noch höher. Und nun komm, wir wollen uns endlich einmal wieder einen vergnügten Abend machen.«

Er brachte mich zu Hiller in eines der kleinen Zimmer und ließ ein Abendessen servieren, von dem ich kaum einen Bissen anrührte. Man schien ihn gut zu kennen und behandelte ihn mit großem Respekt. Als er die Speisenfolge zusammenstellte, hörte ich, wie Worte fielen: »Das Ragout von damals,« »aber der letzte Kaviar war nicht auf der Höhe,« »und die grünen Spargelspitzen diesmal mit einer anderen Sauce.« Da merkte ich, daß er wirklich nicht hungerte. Ich sah es auch an seinem ganzen Wesen. Er war eleganter denn je und lebhafter und lustiger, nur ein wenig zerfahren und mit einem anderen Ausdruck in den Augen. Er wollte mich auf den Schoß nehmen und küssen, aber ich ließ es nicht zu und war scheu und ängstlich. Da wurde er plötzlich ernst und sagte, ich hätte auch recht, ich sollte ihm verzeihen, und küßte meine Hände.

An jenem ersten Abend, als die Theaterstunde ungefähr vorüber sein konnte, hatte er mich in eine Droschke gesetzt und nach dem Sanatorium zurückgefahren. Da habe ich ihm denn auch ruhig gewährt, daß er mich geküßt hat, bis ihm der Atem verging. Der Wagen flog nur so über den Asphalt der Großstadt. Die Lichter glitten vorbei, und das Leben in den Straßen rauschte noch ununterbrochen, und ich fühlte mich durch das alles so entrückt und so ganz bei ihm, daß mir meine Befürchtungen lächerlich vorkamen. Als wir dann in unsere stille Straße einbogen, sagte er: »Siehst Du, kleine Heilige, nun bist Du endlich aus Deinem Glasschrein herausgestiegen. Nun bin ich zufrieden.«

Ich war seltsam beunruhigt durch dieses Zusammentreffen, in dem wir, wenn ich's recht bedachte, nichts gesprochen hatten von all dem, was ich auf dem Herzen hatte, von all dem, was ich wissen wollte. Es machte sich so, daß ich in der nächsten Zeit nicht gut fort konnte, denn die Kur griff Bettina an. Sie wurde müde und mußte viel liegen, so daß unsere Spaziergänge zeitweise unterbrochen wurden. Dann überhäufte mich Frau von Dittmar mit Besorgungen, die viel Zeit in Anspruch nahmen. Nur flüchtig konnte ich Wulf sehen, sei es, daß er mich auf meinen Gängen begleitete, sei es, daß er mich auf einem meiner kurzen Spaziergänge traf, die der Arzt mir verordnet hatte, und die ich einhalten mußte. Aber zu einem stundenlangen Zusammensein kam es erst gegen Ende meines Aufenthalts. Wir waren nun schon wieder so vertraut miteinander wie früher. Sein alter Zauber über mich war noch verstärkt, und als ich an einem der letzten Abende die Treppe zu seiner Wohnung heraufstieg – er hatte mich unten erwartet und führte mich – wunderte ich mich darüber, daß noch immer in mir die Ruhe nicht wieder eingekehrt war, die den Anfang unserer Beziehungen begleitet hatte, als mein Herz so sternensicher ihn zu der Lebenssonne gemacht hatte, um die seine Bahn gehen sollte. Im Vorraum nahm er mir den Mantel ab. Es war jetzt Anfang Dezember, eine Mischung von Schnee und Regen hatte mir die Flocken ins Gesicht getrieben und meine Haare, die sich leicht kräuselten, wenn sie naß wurden, hingen ein wenig wirr um meine Stirn.

»Warte,« sagte er, »Du kannst Dich zurecht machen.« Er öffnete die Tür und ließ mich in sein Schlafzimmer treten. Ich blieb aber an der Schwelle stehen und warf nur einen scheuen Blick hinein. Wie Frau von Dittmars Boudoir, mußte ich denken. Da ging er achselzuckend an die Toilette und brachte mir Kämmchen und Haarnadeln.

Dann trat ich in den eleganten Wohnraum, an den sich ein kleines Rauchzimmer anschloß, in dem große Lederstühle standen und ein Gewehrschrank und ein schwacher Ansatz zu einer Bibliothek. Er hatte ein paar Erfrischungen besorgt und Wein. Alles war hübsch und reich, nichts erinnerte an den Offizier, der schuldenhalber seinen Abschied genommen hatte. Das alles machte mich so besorgt und ängstlich, daß ich mich in seine Arme warf und rief:

»Was soll nur werden, Wulf, was soll nur aus Dir werden?« Es mag viel Todesangst in meinem Gesicht gewesen sein, denn er strich mir über die Haare und sagte zärtlich:

»Ich weiß nicht, Franzine, bei Gott, ich weiß es nicht. Siehst Du, ich nehme mir ja immer allerlei vor. Ich habe mich schon um hunderterlei beworben, um Agenturen und Vertretungen, um eine Stelle als Lotteriekollekteur, und es ist immer etwas dazwischen gekommen. Eine Weile geht es auch wirklich noch so, und wenn Du nicht wärst ...« Er schwieg.

»Ich,« rief ich verzweifelt, »was heißt das denn, Wulf? Hast Du mir jemals gesagt, daß Du mich heiraten wirst? Hast Du mir jemals etwas anderes versprochen, als mich lieb zu haben? Wie kann ich Dich denn hindern? Habe ich Dich nicht selbst gebeten, um Marianne zu werben, damals, als sie noch eingewilligt hätte?«

»Ja,« sagte er, »aber ein Mädchen wie Marianne heiratet man nicht, wenn man weiß, daß man in seinem ganzen Leben eine andere lieben wird. Da muß man schon ein wenig tiefer steigen, wenn man sich mit seinem Ehrgefühl abfinden will. Und siehst Du, das mag ich noch nicht. Da glaube ich eher noch an das große Los oder an den Onkel aus Amerika, den ich nicht habe, oder an sonst etwas.«

Ich weinte still vor mich hin. Ich wollte ihm gern von der Arbeit sprechen und von ihrem Segen, von der beseligenden Gewißheit der Pflichterfüllung; aber ich wußte, daß er mich ausgelacht hätte mit seinem geliebten, leichtsinnigen Lachen.

Ich weiß nicht, wie die Stunden vergangen sind. Aber es war schon spät, viel später, als ich mit dem vorgeschützten Besuch des Konzerts der berühmten Sängerin entschuldigen konnte, und ich konnte und konnte mich noch nicht von ihm trennen. Es war so, als wüßte ich, daß diese Stunden nie wieder kämen in meinem ganzen Leben, und ich fühlte auch, daß sie nicht wiederkommen durften, denn sie waren anders, ganz anders als jene am Kamin in Dittmarshof.

Da oben in der Junggesellenwohnung, wo kein Stück ihm gehörte und die Miete nicht bezahlt war, wo der Schreibtisch voll Rechnungen lag, die er nicht einmal öffnete, habe ich ein paar Stunden verlebt, die meine kleine Mädchenängstlichkeit Sünde nannte und die doch Glück waren. Ich habe die uneröffneten Rechnungen in den Händen gehabt und gelacht, die Rosen, die er mir ins Kleid steckte, zerrissen und ihre Blätter um mich hergestreut, und habe ihn geküßt, wie man nur einmal küßt im Leben. Und dann habe ich gewußt, daß ich gehen müßte, einen weiten, weiten Weg, immer allein, und daß ich ihn nie wiedersehen dürfte, bis ich wieder ruhig und freundlich als seine Heilige in meinem Glasschrein stehen könnte. Das würde lange dauern, ein Leben lang. Darum habe ich mich gewehrt gegen das Abschiednehmen und habe es ihm schwer gemacht, so schwer, wie nur eine Frau es dem Mann machen kann, der sie liebt und doch kein Schurke werden will. Und als ich unten im Wagen saß, meinen Mantel kaum zugemacht, meinen Hut verschoben, hatte ich mein Taschentuch oben vergessen und meine Handschuhe. Ich konnte meine Tränen nicht trocknen. Die fielen auf meine verzweifelt fest gefaltenen Hände wie warmes Blut. Da habe ich gedacht: es ist gut, daß es kein Morgen gibt und kein Wiedersehen. Es ist gut, daß du nicht den Weg gehen kannst, den Frau von Dittmar ging! Denn für mich hätte dieser Weg geendet in dem kleinen Waldsee bei Neu-Bellin, wo die Enten eingefallen waren im Herbst. Und ob mir wenig genug an meinem Leben lag, so wußte ich doch, daß ich das nicht durfte. Aber immer wieder hörte ich, wie seine Stimme an meinem Ohr flüsterte: »Wenn Du den Mut hättest, Franzine, den Mut zum Glück.«

Wie ich wieder zurückgekommen bin nach Dittmarshof, war der Winter schon in der Mark eingekehrt. Hoher Schnee lag, und das Wild bekam Futterplätze im Walde. Marianne kam zurück, ohne Mann, wie man sich zuflüsterte. Sie öffnete die Fenster ihres Jagdschlosses und gab eine Gesellschaft nach der anderen, und man sagte, sie sei noch herber und hochmütiger als je zuvor. Mich aber suchte sie eines Tages auf in meinem Schulzimmer, setzte sich in ihrem knappen englischen Kleid zu mir und sagte kurz: »Wenn Du meinen Auserwählten sehen willst, Franzine, so komm im Dezember, kurz vor Weihnachten, zum Jagdfrühstück herüber. Dann ist er da.«

»Du hast Dich verlobt, Marianne?« fragte ich mit stockendem Herzen.

»Wenn Du es so nennen willst, ja. Es wird eine ganz glückliche Ehe werden, denke ich, und insofern schlage ich allen hier ein Schnippchen, als mein Verlobter reich ist, viel reicher als ich selber. Er reitet ebensogut wie ich und schießt ebenso sicher, und dabei ist er noch vornehmer als alles, was hier in der Neumark sitzt.«

Ich wagte sie nicht zu fragen, ob sie glücklich sei; aber den Grafen sah ich mir auf dem Jagddiner an. Er war ein schöner Mann, und ich begriff, daß die Kälte, mit der sie ihn der neugierigen Nachbarschaft vorstellte, gemacht war. Ich begriff, daß ihr Stolz befriedigt war. Daß sie heimlich zu tragen hatte, erfuhr ich dann auch.

Er liebte nicht sie, sondern eine Frau, die er niemals besitzen konnte. Sie mußten sich irgendwo in der Welt getroffen haben und sich näher getreten sein. Es war eine Kameradschaft zwischen ihnen und ein Verständnis, das noch weitab lag von jeder Äußerung der Leidenschaft. Aber ich wußte, daß Marianne nur den Weg ging, der sie zu einem Ziel führen konnte, und als sie das Schlößchen verließ, da dankte ich Gott dafür.

Mariannens Hochzeit war schon im Februar in Berlin. Als sie Abschied von mir nahm, sagte sie:

»Das geht nicht so, Kind. Sie sehen so weiß aus, wie der Schnee, und wenn Sie eine Treppe ersteigen sollen, haben Sie Herzklopfen. Wenn Sie hier bleiben, werden Sie schwindsüchtig, wie es Ihre Mutter war, und wenn Sie sich das vielleicht auch poetisch vorstellen, und ein früher Tod des deutschen minnigen Mägdleins, des zufällig unglücklich verliebten, heftige Sehnsucht ist, so ist das Leben doch anders. Wissen Sie übrigens, daß man sagt, Sie werden Frau von Dittmars Platz einnehmen?«

Ich erschrak. In der Tat hatte die alte Frau von Dittmar einige Andeutungen gemacht über das freudlose Leben ihres Sohnes, und Herr von Dittmar hatte in seiner groben, bärenhaften Art mir ein paar Aufmerksamkeiten erwiesen.

»Nur das nicht, Marianne,« rief ich, »das könnte ich nicht ertragen.«

»So lassen Sie mich für Ihr Schicksal sorgen,« sagte sie energisch. »Wir werden genug Verbindungen haben im Süden und im Ausland. Gehen Sie fort aus Deutschland. Es ist jetzt kein Boden für Sie. Versprechen Sie es mir?«

»Ja,« sagte ich, »wenn Sie mir versprechen, Marianne, auf einen anderen achtzugeben. Sie werden ihn jetzt sehen in Berlin, und wenn Ihre Hand nun wirklich so viel weiter reicht, so finden Sie vielleicht auch für ihn das Rechte.«

Da ging sie auf und ab, und die Hundepeitsche, die sie wieder trug, denn ihre Dogge hatte sie begleitet, schlug erregt gegen ihr Kleid.

»Ich habe ihn gesprochen, als ich neulich wegen meiner Aussteuer in Berlin war. Ich traf ihn in einem Klub, in den mein Bräutigam mich zum Frühstück mitgenommen hatte. Sie wissen, daß ich keine verdeckten Karten liebe. Der Graf weiß alles. Es ist ja wenig genug. Es wird sich ein Vorwand finden lassen, die Verhältnisse zu ordnen. Ich wollte Ihnen das nicht sagen, Franzine; aber wenn Sie mir versprechen, fortzugehen und keine Torheiten zu machen, an Ihre Gesundheit zu denken und ein nützlicher Mensch zu werden, so sage ich schon jetzt, was noch nicht bestimmt ist, sich aber mit ein wenig Klugheit einrichten läßt. Der Graf hat einen Vetter, der kommt zu meiner Hochzeit. Ein Mensch – nun, gerade so wie Wulf von Willich, nur nicht so schön und nicht so begabt, und kein Frauenmann. Er verbraucht sein Vermögen draußen in der Welt, auf Reisen und Jagden, und nennt es quasi Forschung, wenn er hier einen Tiger schießt und da ein paar Zebras fängt. Er sucht schon lange einen Gefährten. Ich will ihn mit Willich zusammen bringen. Sagen die beiden einander zu, so ist Willich für sein Leben versorgt, und es wäre gerade das Rechte für ihn. Jetzt im Busch und zwischendurch ein paar Monate im internationalen Hotel-Palast, als höchste Beschäftigung die Beaufsichtigung der Jagdtrophäen für irgend eine Ausstellung. Es fragt sich nur,« sie spielte mit dem Griff ihrer Peitsche und sah mich an, »glauben Sie denn, daß er will?«

»Ja,« sagte ich, »das glaube ich. Ich glaube sogar, daß er froh sein wird.«

»Das wollen wir abwarten. Und nun leben Sie wohl. Ich möchte Ihnen sagen: vergessen Sie. Warten Sie nur noch bis Ostern, Sie werden von mir hören.«

Ich sah ihr nach, wie sie die Freitreppe herunter ging, durch den Park, nach der Pforte, die in den Wald führt. Sie war eine feste, bewußte Frau, und ich fühlte alles, was mir fehlte, als ich müde und zerbrochen auf meinen Stuhl zurückfiel und weinte.


Das Heu haben sie nun eingebracht draußen, aber der Duft ist geblieben und quillt aus dem Stall neben dem Torfhaus, einem einfachen Schuppen, hoch und schlecht gefügt, mit einem Moosdach, das herniedergeht bis fast zur Erde und so ernst und traurig aussieht, wie alles hier in der Gegend.

Die habe ich durchstrichen nach allen Seiten, sogar auf dem Weyersberg bin ich gewesen, dort zwischen Marsch und Moor, wo, wie man sagt, einmal die Möwen flogen, als hier noch Meereswogen brandeten. Vom Weyersberg kann man hinübersehen nach Worpswede, der Malerkolonie, und ich bin auch einmal hindurchgegangen. Ein sonderbares verstecktes Nest, dessen viereckiger Kirchturm auf dem dunkeln Unterbau über die Gebüsche von Kiefern und Birken und die spitzgiebligen moosgedeckten Häuser in die stille Landschaft strebt. Aber ich bin in keines der Ateliers getreten, so gern man sie vielleicht auch der Wandernden gezeigt hätte; denn was jene Künstler malen, sehe ich ja täglich vor mir, weit ausgebreitet. Wohne ich doch am Rande des berüchtigten Teufelsmoors, das einmal eine braune Einöde war, bis jener Mann, dem sie auf dem Weyersberg ein Denkmal errichteten, Jürgen Christian Findorff, anfing das Moor zu kolonisieren. Ich kenne nun die Moorkanäle und die Moorgräben, über die die Schiffe mit den seltsamen schwarzen Segeln gleiten. Ich kenne auch die stillen Menschen, den harten, innerlichen Schlag, mit ihren dunkeln Gewändern, die so gar nichts von der Bauern Lust am Putz zeigen.

Auch habe ich einmal eine Sonntagspredigt gesehen draußen im Freien, so wie sie die Künstler malen, und ich habe mich über die stillen Gesichter der Menschen gewundert, über die glatten Scheitel der Frauen unter den schwarzen Hauben mit den langen Bändern, und die tiefen Linien, die das Leben in die Gesichter der alten Moorkolonisten gegraben hat, von denen jeder ein Bild ist, wie das Schicksal eines jeden Menschen ein Buch wäre.

Es ist gut, daß Ilse mir meinen Storm mitgegeben hat, der paßt hierher, und den werde ich nicht müde zu lesen. Das Abendlied habe ich mehr als einmal still vor mich hingesagt, wenn ich den Birkenweg entlang gegangen bin:

Wenn 't Abend wart,
Un still de Welt un still dat Hart
Un möd uppt Knee di liggt de Hand –
Datt is so wat fört Minschenhart:
Wenn 't Abend wart!

Um diese Zeit kommt man vom Moor immer mit Blumengarben nach Haus. Wie das da blüht, und wie die Falter darüber fliegen! Und wie farbenfroh die Blumen sind an den stillen dunklen Wasserstellen. Da stehen die feurigen Büsche des Stolzen Heinrich zusammen mit der gelben Wasserlilie und spiegeln sich wie in dunklem Stahl, da nickt das Wollgras auf weiten Flächen flüchtig und freundlich, und dazwischen duckt sich das Vergißmeinnicht und kriecht bis an das Wasser heran; da klettert die weiße Winde über den Zaun aus morschen Schiffsbrettern, der um die armseligen Anwesen liegt, und sieht so traumverloren aus wie unschuldige Kinder.

Es ist schön, wunderschön hier im Moor, und es ist auch heimisch, wenn man die Tür öffnet und hineintritt auf die Diele, wo das Torffeuer schwelt, und an den Tisch, an dem auf einfachen Stühlen mit geflochtenem Stroh die Alten sitzen, schweigsam und ernst, und aus einer Schüssel essen mit der Jugend, die ebenso fest und ernst aussieht wie sie selber, nur noch trotziger. Denn während ich hier mein eigenes Leben aufschreibe zum Trost für mich selbst und wie um mich zu vergewissern, daß es reich war, reich an Freud und Leid, greift dieses selbe Leben mit festen Händen nach dem Herzen der Fiken.

Ich blieb auf meinem Morgengang bei ihr stehen. Draußen bei den Schafen, von denen die Leute hier die Milch trinken, saß sie auf dem niedrigen Melkschemel, die Arme auf die Knie gestützt. Ich wollte ihr so gern etwas sagen. Ich wußte aber, daß es schwer war, das Rechte zu treffen, und so strich ich nur über ihren Kopf, von dem das weiße Schutztuch heruntergeglitten war, und sagte nur die Worte, die mein Vater immer gebraucht hatte, »min oll Deern«. Da nahm sie meine Hand und hielt sie und schluchzte und erzählte mir alles.

Daß sie nichts hätte, nichts als den dunklen Friesrock und den besseren zum Sonntag. Und ihr Schatz hätte auch nichts, nur seinen Lohn, und der reichte grade aus der Hand in den Mund. Sie wolle aber nicht länger bei den Alten bleiben, die sie immer quälten, daß sie nach Amerika ginge. Da müsse sie sterben. Es war vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben, daß sie sich aussprach, und unbeholfen genug kamen die Worte; aber sie dachte wohl, ich verstünde sie, wenn ich auch nur über ihre Haare strich.

»Wann wollt ihr denn heiraten?« fragte ich endlich.

»Zum Winter, wenn die Arbeit im Moor zu Ende ist. Dann wollen wir nach Hamburg, oder herüber nach Lübeck, wo wir ankommen und Arbeit finden.«

Ich versprach, ihr zu helfen und mit den Alten zu sprechen. Denn sie war noch nicht mündig und brauchte ihre Einwilligung. Aber ich fürchtete die Leidenschaft dieser stillen Menschen, die so selten aus sich heraus gehen. Liegt das doch hier in der Luft und klingt mit dem Abendwind herüber wie der Schrei der Rohrdommel vom Kanal her.– – –

Kaum, daß ich sonst an diesen Blättern schreiben würde, von denen nun schon ein so dicker Stoß neben mir liegt; aber es ist mir eingefallen, daß sie Ilse einmal Freude machen werden, zu wissen, warum wir beide so anders werden mußten, sie und ich. Es ist nicht nur die Zeit, die zwischen uns liegt, und die neue kräftige Hoffnung im Frauendasein, die sie vielleicht mehr getragen hat als sie weiß, es ist noch etwas anderes. Denn damals, in jenem Sommer, der meinem Aufenthalt in Berlin folgte, und in dem Winter, in dem Marianne fortging, habe ich auch wohl gefühlt, daß die Leidenschaft uns nehmen kann und peitschen wie die unheimlichen Flagellanten des Mittelalters. Aber ich habe mich herausgefunden aus ihrem Gewirr, indem ich meinen eigenen Willen zum Glück zerbrochen habe. Nur an eins habe ich nie gedacht: daß ich je aufhören könnte, Wulf von Willich zu lieben. Je schwächer ich ihn fand, desto schrankenloser wurde meine Liebe zu ihm; und je hoffnungsloser ich selbst war, um so fester fühlte ich mich überzeugt, trotz allem sein Licht zu sein. So einverstanden er auch war, daß wir uns wenig schrieben, und daß unsere Briefe nach und nach ganz den Charakter von Liebesbriefen verloren, hätte ich mich doch von diesem letzten Zeichen der Zusammengehörigkeit nicht lossagen können und wäre vergangen ohne das.

Nach Mariannens Hochzeit teilte er mir mit, daß er an dem Feste teilgenommen habe. Er schrieb fast begeistert von der Großzügigkeit dieser Frau, die offenbar willens war, aus einer Ehe, zu der sie nur äußere Rücksichten gebracht hatten, das Beste zu machen, was daraus zu machen wäre, für beide.

»Sie hat nicht gut ausgesehen an ihrem Trauungstage. All das Milde, Weiche, das nun einmal zu Schleier und Spitzengeriesel gehört, fehlte ihr. Sie sah aus wie eine Birke im Schnee, und ihre Hand umklammerte den großen Gardenienstrauß so fest und energisch, als hielte sie ihre Reitpeitsche; aber sie hatte keine verweinten Augen, als sie mir nachher die Hand zum Kusse reichte. Irgend eine Null war meine Tischdame, denn auf das Weibliche scheint sie bei meiner Zukunft kein Gewicht zu legen und tut recht daran. Dafür hatte sie mir den Grafen Oldenburg gegenüber gesetzt, den Vetter ihres Mannes, mit dem in Berührung zu kommen sie mir in diesen Tagen öfters Gelegenheit gegeben hatte. Ein sonderbarer Mensch, dieser Oldenburg. Vielleicht mein Schicksal von Gräfin Mariannens Gnaden, denn welcher Narr kann nicht das Schicksal eines gescheiten Mannes werden, vor allem, wenn eine kluge Frau die Fäden lenkt? Übrigens scheint ihr Mann, so kühl er auch noch ist, doch schon einzusehen, daß hier die annehmbare Fassung einen echten Edelstein birgt, und ich weiß noch nicht, ob diese vernünftigste aller Vernunftehen nicht eines Tages in helle Leidenschaft umschlägt. Mein ›Graf Oldenburg‹ ist ein närrischer Kauz, der im besten Fall viereinhalb Sinne hat. Irgendwo fehlt's, vorläufig im Schwarm der guten Gesellschaft habe ich noch nicht entdecken können, wo. Er ist mehr wie Sonderling, was ihm seine Verhältnisse zum Glück erlauben. In die Kulturzentren kommt er nur wie der Seemann in die Hafenstädte – Du verstehst mich hoffentlich nicht ganz, kleine Heilige – und wenn er sich da ausgetobt hat, verschwindet er wieder für Jahre. Er ist Kavalier durch und durch und bildet sich ein, ein Forscher zu sein, eine Einbildung, die von seiner Familie eifrig unterstützt wird. Nur fürchtet sie die letzten Konsequenzen, und da will man ihm einen Reisebegleiter, respektive Aufpasser geben, der zugleich Berater, Freund, Reisemarschall sein soll.

Marianne hat mich dazu vorgeschlagen, und ich habe Gnade gefunden vor seinen Augen. Oldenburg hat eine dreifache Prüfung mit mir vorgenommen. Er hat mit mir eine Nacht hindurch getrunken, eine Nacht hindurch getollt, und einen Tag hindurch nach der Scheibe geschossen. Ich habe bestanden. Laß es Dir nicht schmerzlich sein, mein Lieb. Wahrscheinlich reisen wir in vierzehn Tagen ab, unbestimmt wohin, unbestimmt auf wie lange, vorläufiges Ziel: Neapel. Voraussichtlich von dort, wenn irgend ein ihm besonders sympathischer Dampfer fällig ist, nach Ceylon.

Wie ich mich in das alles finde? Im Grunde glaube ich, bin ich der rechte Mann am rechten Platz. Einziger Skrupel, einzige Sorge, einzige Leidenschaft, viel stärker als ich das hier auszudrücken für gut finde: Du selbst, Franzine! Ich habe mit Oldenburg noch nicht abgeschlossen und mir die letzte Entscheidung vorbehalten, bis Du diesen Brief hast und einen Tag und eine Nacht über ihn nachdenken kannst. Ich werde übermorgen in meinem Zimmer sein und auf Dich warten, vom Morgen bis zum Abend, Franzine. Es klingt sehr leichtsinnig, was ich Dir da geschrieben habe, ich weiß es wohl; aber unter dem allen braust immer derselbe Strom der Leidenschaft für Dich. Willst Du – ich sage es Dir noch einmal, wie ich es Dir gesagt habe, und es ist besser, daß meine Augen Dich nicht überreden können und daß Du ganz frei entscheidest, – willst Du mein sein, so komm. Frag' nicht nach dem Wie? Es wird sich eine Form finden. Mit Dir würde mir vielleicht das einfachste Dasein erträglich sein, und Polizeileutnant kann ich mit meinem Namen immer werden. Das alles habe ich nur im Spiel erwogen bisher, weil ich Deiner nicht sicher war. Ich rede Dir nicht zu, und ich verspreche Dir nicht, immer geduldig im Joch zu gehen und nie futterneidisch zu werden. Aber ich verspreche Dir, Dich immer lieb zu haben. Entscheide.«

Vielleicht hatte Wulf mich nie so gekränkt, wie mit diesem Brief, hinter dem doch sein Wille nur stand, solange er ihn schrieb, während mein ehrliches erbarmungsloses Herz es wohl wußte, daß er einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen würde, wenn die von ihm gesetzte Frist verlaufen war. Ich sah ihn schon mit vollen Segeln in einem Leben, dessen Proben er so gut bestanden hatte.

Und ich redete mir auch nicht vor, etwas Gutes zu tun, wenn ich ihn dem Abenteuerleben entfremdete und in eine bürgerliche Bahn brachte. Ich dachte nur daran, daß meine Liebe ein Zwang für ihn sei. Da habe ich ihm an dem Abend einen Brief geschrieben, in dem löste sich alles zwischen uns. Solch einen Brief nimmt ein Mann, der die Liebe kennt, für ein Ja und nicht für ein Nein. Aber ich wußte, daß er ihn für »nein« halten wollte und würde, und ich hatte mich nicht getäuscht.

Er schrieb mir erst von Bord des Schiffes, das ihn und den Grafen nach Ceylon brachte, und sagte, daß er mich immer lieben würde, und daß er mich mitnehme wie die alten Kreuzfahrer ihren Hausaltar mitgenommen haben, und daß ich seine Heilige sei und bleibe. Er wünsche mir nicht, daß ich ihn vergäße, denn er wüßte ja, daß das unmöglich sei, ich könnte nicht vergessen. Er aber auch nicht, das wolle er mir beweisen.

Unregelmäßig und oft in langen Pausen, aber doch immer wieder wie die Schneeflocken des Winters, die auch zuweilen ausbleiben für ein paar Jahre, sind dann später seine Briefe gekommen. Und aus meinen Antworten ist nie wieder die Bitterkeit hervorgebrochen, wenn sie auch zuweilen noch in meinem Herzen aufschwoll. Meist habe ich mich bemüht, die Heilige in dem Schrein zu bleiben, der man jetzt Kerzen anzündet und Rosen bringt, und jetzt Vorwürfe macht und die gestickten Kleider auszieht, wenn sie die Wünsche nicht erfüllt hat, die man an das Gebet knüpfte. Und vielleicht hat auch mein Äußeres etwas von dieser gesammelten stillen Art angenommen, und das nach innen Leben, Leiden und Verbluten hat mir das gegeben, was selbst Fiken Zutrauen gewinnen läßt, und was mein Kind, meine Ilse, so glücklich gemacht hat in den Jahren unseres Zusammenlebens. Darum paßt das, was ich hier schreibe, in den großen Frieden dieser Landschaft, die das Teufelsmoor heißt, und hinter der Jahrhunderte liegen, wo sie der Schrecken der Gegend war, ungangbar und gefährlich. Darum ist es gut für mich, am Abend den Birkenweg entlang zu wandern, oder von meinem Fenster nach den schwarzen Segeln der Moorkähne zu sehen, die so langsam durch die stille Luft gleiten wie ziehende Raben.

Marianne, diese Verkörperung des Willens, setzte auch mir gegenüber ihren Willen durch, und gerade zur rechten Zeit. Ich bekam im Laufe des Sommers von ihr die Nachricht, daß sie mich in dem Lehrerinnenheim von Paris angemeldet habe. Da sie meine schwache Entschlußkraft kenne, schriebe sie erst jetzt, wo ihr die Vorsteherin mitteile, daß im südlichen Frankreich in der Gegend der Vendöe in einer kleinen Stadt eine gute Stelle für mich frei sei, und ich mich nach den großen Ferien, die ja in Frankreich länger dauern als bei uns, dort hinzubegeben habe. In ihrer großen, kräftigen Handschrift, steil und energisch, füllten ihre Mitteilungen mehrere Bogen und enthielten doch kaum ein persönliches Wort, wenn nicht die Fürsorge selbst von ihrer Freundschaft für mich gesprochen hätte.

Sie schien eine Absage für ganz unmöglich zu halten, und die Verhältnisse in Dittmarshof hatten sich auch so zugespitzt, daß ich fast wie ein Ertrinkender nach dieser Aussicht griff, fern, möglichst fern von meiner Heimat ein neues Leben anzufangen. Nur für Bettina fürchtete ich. Aber auch da kam mir das Schicksal zu Hilfe. Denn eines der Kinder, die damals mit ihr zusammen in der Klinik gewesen waren, aus gleichen Verhältnissen wie sie selber, wurde um diese Zeit in Pension gegeben, und die Mutter wendete sich an mich, um zu fragen, ob es möglich wäre, daß Bettina ebenfalls dorthin käme, oder ob sie dauernd in der Einsamkeit erzogen werden sollte? Ich ging mit dem Brief zu Frau von Dittmar und besprach die Sachlage mit ihr. Keine leichte Aufgabe, denn über ihre Brille hinweg beobachteten mich die scharfen Augen. Ich kam aber zugleich mit der Bitte um meine Entlassung. Diese Lösung, selbstverständlich und für Bettina günstig, und dazu meine Entschiedenheit, ließen die kluge Frau wohl merken, hier sei nichts anderes zu machen, und sie zog sich vorsichtig zurück zu den nötigen Versicherungen von Dankbarkeit und liebevoller Erinnerung.

Es wurde mir leicht, in den Wochen, in denen ich noch in Dittmarshof blieb, Bettina mit dem Gedanken an die Pension zu befreunden, denn in der Tat hatte sie damals in Berlin eine große Liebe zu dem kleinen Mädchen gefaßt, mit der sie auch in Briefwechsel stand, und ich konnte sie schließlich selbst in das freundliche Erziehungsheim in Thüringen bringen, dessen Leiterin die Kinder vor allem zu frohem, bewußtem Leben und zu gesunden Menschen erziehen wollte.

Dann war ich seit Jahren wieder einmal dauernder Gast im Elternhause. Herbert und Hans waren nun zwei große Jungen, wild und unbändig, aber lieb und von guter Art, und die beiden Kleinen auch so weit, daß Mama wieder mehr für ihren Mann leben konnte. Ich habe ihr in diesen Wochen manches abgebeten, was ich ihr früher zum Vorwurf machte. Denn ich verstand nun besser, was der Mann im Leben der Frau ist, besonders bei einer so energischen, stolzen Natur wie der ihrigen, und ich habe versucht, sie in dieser Zeit möglichst wenig zu kränken und doch von meinem Vater noch so viel Wärme und Freude in das neue Leben hineinzunehmen als irgend möglich. Nur eins konnte ich ihr nie vergeben: das Schicksal meines Bruders Gerhard; und ich versuchte in dieser Zeit meinen Vater zu bewegen, sich nach dem Aufenthaltsorte dieses verlorenen Kindes zu erkundigen. Es war mir unfaßlich, daß er das nicht von selbst getan hatte, daß er nach den ersten leichten Fehlschlägen diesen ältesten Sohn sich selbst überlassen hatte. Ich dachte, er müßte namenlos leiden bei dem Gedanken, da draußen in der Welt ein Kind zu haben, das vielleicht seine Hilfe brauchte. Aber das war nicht der Fall. Unter dem Einfluß seiner Frau hatten sich die kindlichen Fehler Gerhards so vergrößert, daß sie in seinen Augen wirklich zu Verbrechen geworden waren, und wenn er auch immer bereit gewesen wäre zu vergeben, falls der Sohn reuig in sein Haus zurückgekehrt wäre, so wurde es mir schwer, ihn zu den nötigen Schritten zu bewegen, die ihm Kunde über ihn bringen konnten. Ob Gerhard überhaupt noch zeichnerisch tätig war, wußten wir nicht, denn verschiedene Zeitungsredaktionen, bei denen wir anfragten, hatten alle Fühlung mit ihm verloren. Mama, der kein Brief verheimlicht werden konnte, der im Ausbau abgegeben wurde, spottete über unsere Bemühungen und sagte, mein Vater würde sich nur eine ewige Last auf den Hals laden, mehr nicht. Aber diesmal blieb ich fest. In dem alten Hause, über dessen Treppe meine Kinderfüße gegangen waren, war die Erinnerung an meinen Bruder zu mächtig geworden. Doch hatten unsere Bemühungen wirklich keinen Erfolg, und Mama triumphierte. –

Ich fuhr im August nach Paris und wohnte im Lehrerinnenheim. Ein paar Tage hielt ich mich in der großen Stadt auf, die leer und ausgestorben war, voll Sonnenglut und Hitze, so daß der Asphalt zu dampfen schien. Ich ging durch die Galerien des Louvre mit einer kalten Gewissenhaftigkeit, und ich begreife heute nicht, wie mir die Kunst damals noch so gar nichts zu sagen hatte, nicht einmal die Venus von Melos. Daran, an jener ersten Erinnerung an den Louvre, sehe ich, wie matt und müde meine Seele gewesen ist, wie unfähig, ihre Flügel zu regen, und wie gebunden. Ich sehe heute, daß ich damals nichts war als ein verliebtes Mädchen, das alles, Herz und Sinne, in den Strudel geworfen hatte, in dem seine Hoffnungen zugrunde gegangen waren.

Ich hatte mich in Paris über meine Tätigkeit unterrichtet, die darin bestand, daß ich in dem kleinen französischen Ort, der offenbar ein sehr gutes Publikum hatte, deutsche Privatlehrerin sein sollte. Meine Vorgängerin hatte damit eine halbe Tagesstellung in einer Familie verbunden, und man wartete bei Latours nur auf meine persönliche Vorstellung, um mir denselben Posten zu übertragen. Ich hatte dann die Vergünstigung, mich wenigstens nicht um meine Mahlzeiten zu kümmern, die ich in der Familie einnahm, während mir am Vormittag und am Abend Zeit genug für meine Schüler blieb. Denn in Frankreich wird das Erlernen der deutschen Sprache in den gebildeten Kreisen wirklich mit Ernst und Eifer betrieben, und der Kreis meiner Privatstunden setzte sich hauptsächlich aus Studenten und Offizieren zusammen.

Ich trat also ganz einfach nur in die Stelle meiner Vorgängerin, deren kleine Wohnung ich sogar mietete und die mir eine Liste der Besuche, die ich zu machen hatte, im Heim in Paris gelassen hatte. Ich tat das alles halb mechanisch, und die Schwierigkeit in der Beherrschung der fremden Sprache und in der Art und Weise meiner Stunden, die ganz anders waren als mein bisheriger Unterricht, half mir über die erste Zeit hinweg.

Der Herbst war wundervoll, von einer Milde und einem Glanz, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und wenn Marianne, als sie mir diese Stelle besorgt hatte, dabei in erster Linie an meine Gesundheit gedacht hatte, so fühlte ich nun selbst, wie nötig mir ein solches Aufatmen in linder Luft war. Wenn ich manchmal an den Abenden um die Zeit des Sonnenuntergangs meine dünnen Hände in die Sonne hielt, daß ich das Blut in ihnen kreisen sah, dann fragte ich mich zweifelnd, ob diese wärmere Luft mir wirklich neue Kraft geben würde, und mit bitterem Lächeln fügte ich hinzu: Weshalb denn? Um länger zu tragen?

Latours, bei denen ich einen Teil des Tages verbrachte, gehörten zu jenen Kreisen der Nichtstuer, die in Frankreich und England häufig sind, und vor denen Gott mein Vaterland in Gnaden bewahren möge. Herr Latour war einer der Menschen, die so reich waren, daß er es für selbstverständlich hielt, wenn der Staat auf seine Dienste verzichtete. Er war Rentier gewesen, solange er lebte, und er war es mit Anmut und Würde. Er hatte eine Frau, mit der er ein glückliches Leben führte, was mich anfangs fast verblüffte, denn ich kannte das französische Familienleben, so viel oder so wenig ich darüber wußte, nur aus Romanen. Sie hatten drei Kinder, einen Sohn, der in einem College war, und zwei Töchter, die ich zu unterrichten hatte. Die eine von ihnen war schon aus der Pension zurück und sollte sich nur noch im Deutschen vervollkommnen, die zweite, Marie-Louise, war vollständig meine Schülerin.

Nichts, aber auch nichts von dem, was als französische Sitte oder Unsitte bei uns für selbstverständlich angenommen wird, traf in diesem gut französischen Hause zu. Es herrschte kein Deutschenhaß in ihm, oder er wurde wenigstens in meiner Gegenwart nie gezeigt. Latours waren Hugenotten, die Religionsverschiedenheit kam also nicht in Frage. Da ich wenig Lust hatte, aus mir herauszutreten, und da mein Gefühl erfroren und erstarrt war, so konnte mir nichts angenehmer sein, als ihre gleichmäßige Liebenswürdigkeit.

Ich kam und ging und gab meine Stunden, und nicht einmal in meiner Toilette brauchte ich mich den Verhältnissen anzupassen, denn Dittmarshof war immer elegant gewesen, und den ein wenig spießbürgerlichen Zuschnitt hielt man hier bei der deutschen Erzieherin für notwendig.

Ebenso kalt gab ich mich in meinem Stundenkreis allen diesen jungen Leuten gegenüber, die das Deutsche zur Vervollständigung ihrer Studien brauchten, mit denen ich, je nach dem Grade ihrer Kenntnisse, Grammatik trieb oder Schiller las. Jener erste Winter in Frankreich hat mir nur in der Erinnerung gelassen, daß ich täglich am Tage die Fenster offen haben konnte, zum Wetterschutz nur einen Regenmantel brauchte, und sehr selten an dem großen Kamin im Latourschen Hause fror, an dem ich nach dem Diner aus Höflichkeit noch eine halbe Stunde zu sitzen pflegte.

Was mich wirklich erst aufraffte, war die Nachricht von dem Tode meines Vaters. Ein Schlaganfall hatte ihn getroffen. Er hatte noch acht Tage gelebt und war dann gestorben. Das rüttelte mich wieder auf. Ich hatte keinen Brief mehr von ihm bekommen, kein Abschiedswort, keine Zeile. Mama fragte an, ob ich wollte, daß sie ein paar Andenken für mich zurücklege, und schlug mir ein paar Bücher vor, zu denen ich sie bat, noch ein paar Rehgehörne zu tun; das alles sollte sie für mich bis zu einem gelegentlichen Ferienbesuch in einer Kiste auf den Boden stellen. Ein Erbe, hatte sie geschrieben, wäre selbstverständlich nicht da, da es ihr nur gelungen wäre, durch sparsames Wirtschaften und Hinzutun von dem Ihrigen die letzten Verpflichtungen aus alter Zeit zu tilgen. Ich hatte das immer angenommen und wunderte mich nicht. Ich wunderte mich nur, daß ich nicht heftiger trauerte. Ich erfuhr nun an mir selbst, daß mir mein Vater schon zu seinen Lebzeiten zur Erinnerung geworden war. Die leidenschaftliche Neigung meiner Kinderjahre war in dem Mitleid, das ich so oft für ihn empfunden, sanft und still geworden, wie wehmütiges Erinnern.

Da bekam ich noch im ersten Vierteljahr der Trauer einen Brief von meinem Bruder Gerhard aus Paris. Und wenn der Tod meines Vaters fast die letzten Wurzeln des Lebens der Vergangenheit aus meinem Herzen gerissen hatte, so setzte dieser Brief einen neuen, kräftigen Trieb ein, wenn ich auch noch nicht ahnen sollte, daß er mir den reichen Inhalt meines Lebens bringen würde.

Gerhard schrieb mir, daß er schon lange in Paris lebe und dort verheiratet sei. Die Nachricht vom Tode meines Vaters hatte ihn gefunden, und er hatte sich sofort nach dem Ausbau begeben, um sein Erbteil in Empfang zu nehmen. Es hätte ihn nicht gewundert, nichts zu finden als Vorwürfe und einen frischen Hügel. Es wäre ihm aber eine Erleichterung gewesen, die schließlich die Reise wert sei, der Mama einmal die Wahrheit zu sagen, und das hätte er auch gründlich besorgt. Ich scheine ja nichts anderes geworden zu sein, als ein ganz gefügiges Werkzeug in den Händen der Frau Stiefmama. Wenn ich aber Lust hätte, ihn einmal zu sehen, so solle ich die Weihnachtsferien bei ihm in Paris verleben. Er hätte erst in der Heimat gehört, daß ich in Frankreich sei, und er bäte mich, zu kommen. Die Adresse war angegeben, irgend eine kleine Straße im Quartier Montmartre.

Mit einem seltsamen Gefühl packte ich für die kurzen Ferien, die es über Weihnachten in Frankreich gibt, meinen Koffer. Wir hatten ein Erkennungszeichen verabredet, und Gerhard holte mich vom Bahnhof ab. Wir gaben uns die Hand, ohne viel miteinander zu reden. Lange, lange Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Damals vor dem kleinen Bilde der Mutter, das ich nach Paris mitgebracht hatte, ich wußte nicht weshalb, hatten wir voneinander Abschied genommen, der leidenschaftliche Junge und das verschüchterte, kleine Mädchen, und nun stand er vor mir, groß, Vaters Abbild, mit immer lachenden Augen, und kam mit irgend einem schlechten Witz über die Beklemmung des ersten Augenblicks hinweg.

»Du bist verheiratet?« fragte ich, als wir in der Droschke saßen.

»Ja,« sagte er, »seit drei Jahren. Na, Du wirst ja sehen.«

Wir stiegen vier Treppen, und er trug selbst mein Köfferchen, dann öffnete uns eine große blonde Frau die Tür, und dann – – – ja Ilse – dann bist Du mir entgegengelaufen, noch auf schwankenden Füßchen, aber mit ausgestreckten Armen, und dann habe ich in Deinem kleinen Kinderherzen eine Heimat und ein neues Leben gefunden.

Ein sonderbares Fest, das wir da feierten, hoch oben in den kleinen Mansarden, in einer der Bohêmewohnungen von Paris. Glitzernder Sonnenschein, und auf dem Berge die Gerüste der entstehenden Riesenkirche von Sacre coeur. Wenn nach den Mahlzeiten die Tür geöffnet wurde und ich hinaustrat auf den kleinen balkonartigen Ausbau, der vor jedem Fenster der Pariser Häuser ist, geschützt durch das Gitter, und hinuntersah auf die Stadt, dann schien sie mir schön, leuchtender und strahlender als damals im Sommer. Dann sah ich in dem klaren Frost ihren Dunst sich zu opalisierenden Wölkchen lösen und in den blauen Himmel steigen, und dann schien mir die Seine ein Band der Freude. Damals, von jenem Balkon der kleinen Wohnung aus, habe ich Paris lieben gelernt, auf dem Umweg durch ein tapferes deutsches Frauenherz, durch meine Schwägerin Ilse.

»Mine Fru, de Isebill,
Will nich so, as ick wohl will,«

pflegte mein Bruder lachend zu sagen, wenn sie in ihrer frischen, energischen Weise wieder einmal ihren Willen durchsetzte. Und wie alles dort in Paris und in Frankreich, als ich meine selbständigen Erfahrungen sammelte, anders war, als ich's bis dahin beurteilt hatte, so war auch Ilse oder Ilsebill, wie wir sie nannten, anders, als ich mir die kleine Schauspielerin einer Schmierenbühne vorgestellt hatte. Denn das war sie gewesen, als mein Bruder sie kennen lernte. In wunderlichen Übertreibungen konnte er sich nicht daran genug tun, die Niedrigkeit und Abscheulichkeit dieser Schmiere, in der er Studien für seine Zeichnungen gemacht hatte, auszumalen, bis er eines Tages dem armen Direktor noch seinen Stern entführt hatte.

»Wie sie dahin gekommen ist, die Ilsebill, mag sie Dir selber erzählen, Franzine,« sagte er. »Als sie fortkam, hatte sie eine herrliche Ausstattung. Ein weißes Atlaskleid, mit dem sie die Unschuld und den Liebreiz aller Ritterdamen bestritt, und eine wahrhafte Robe von schwarzem Samt mit einer Goldborte, in der die würdige Maria Stuart zum Schrecken der Bauern zum Schafott marschierte. Ja, das war alles, und damit haben wir wirklich unsere Ehe angefangen, und es ist gegangen. Sieh Dich um, jetzt nach drei Jahren, gehören uns sogar die Möbel, die Du hier siehst. Viel sind es nicht, aber wir sind nicht anspruchsvoll. Sogar ein Kind haben wir uns leisten können,« und er nahm die kleine Ilse in die Arme und hielt sie hoch.

Ich habe meine Schwägerin rasch lieb gewonnen in ihrer frischen, fröhlichen Art, und heimlich abends, wenn ich auf dem Sofa lag, dem einzigen ihrer Einrichtung, auf dem sie mir ein Bett einrichteten, habe ich über ihr Glück nachgedacht, über dieses sonnige, frische Glück der beiden, umstrahlt von ihrem Talent und von ihrem Fleiß. Denn Gerhard war fleißig. Auf seinem Zeichentisch, um den Klein-Ilse scheu in einem großen Bogen herumging, und der den besten, hellsten Platz in der kleinen Wohnung hatte, lagen immer Blätter voll lustiger Einfälle, voller Laune und Grazie, die ihren Weg fanden in illustrierte Zeitungen, in Bücher und Kataloge, und die gutes Geld in die kleine Wohnung brachten, so daß Ilsebill immer wieder den schüchternen Versuch machte, zu Ersparnissen zu mahnen, jetzt, wo die Schulden abgetragen waren.

»Es ist uns nicht leicht geworden, Franzine, das kannst Du Dir denken, denn wir hatten wirklich beide nichts, und meine beiden Staatsroben konnten uns nicht helfen. Warten aber wollten wir nicht,« – sie lachte – »wir haben's auch nicht getan, als wir uns einmal einig waren. Und dann das Anfangen, hier in Paris! Aber dahin hatte Gerhard eine Empfehlung, ich weiß nicht mehr durch wen. Und dann konnte er wirklich arbeiten, weil er so glücklich war, sagte er, und weil ich immer dabei saß und meine Augen seinen Fingern folgten.

»Weißt Du, eigentlich gehören all die Zeichnungen mir.« Sie legte ganz stolz ihre verarbeiteten, feinen Finger auf die Blätter. »Ich komme mir sehr großmütig vor, daß ich sie den anderen abgebe, und wenn ich mir mal auf der Straße ein Blatt kaufe, von dem ich weiß, daß etwas von ihm darin ist, dann lache ich. In unser Lachen haben wir uns verliebt, er in meins und ich in seins. Nach so einer Vorstellung bei unserer Schmiere, wo wir Don Juan aufführten, in einem kleinen Dörfchen in Süddeutschland, um die Zeit des jungen Weins, wenn die Leute alle in Gebelaune sind. Die Herrschaften von den umliegenden Schlössern waren zur Vorstellung gekommen, und Gerhard auch. Er sagt, man könnte einen Roman schreiben über diese Vorstellung des spanischen Ritters, und dann hat er Zeichnungen gemacht, eine ganze Reihe, von mir auch, denn ich war abwechselnd die Donna Elvira und die Donna Anna und das Zerlinchen. So haben wir uns kennen gelernt. Was er mir bot, war für mich geradezu eine Position, denn Du glaubst nicht, wie ich das Herumstreifen satt hatte mit all meinen zerbrochenen Illusionen über große Kunst, und er paßte auch zu mir, besser als irgend ein Angesessener mit einem regelrechten Beruf. Leichtes Blut haben wir beide in den Adern, darum kommen wir so gut aus, und nirgends besser vielleicht als hier auf dem Montmartre, wo es um uns herum von Künstlerklausen wimmelt und das Glück immer genommen wird, wie ein guter Fang.«

»Nehmt ihr es denn auch so, Ilsebill?«

Sie lachte. »Freilich wie einen guten Fang, nur daß wir es behalten wollen, Franzine, für immer. Darum haben wir unsere Ehe auch ordentlich verbrieft und versiegelt. Du brauchst Dich nicht zu fürchten, und unsere Ilse ist sogar getauft.«

»Ja,« sagte Gerhard, der in die Tür des Zimmers getreten war und zugehört hatte, »überrumpelt hat sie mich, die Ilsebill, und nun wächst sie sich allmählich zu einer spießbürgerlichen Hausfrau aus, die Vorräte anlegen will. Drei Pfund Zucker hat sie neulich gekauft auf einmal, ist das erhört, Franzine? Und meinen Sommeranzug hat sie verwahrt, anstatt ihn zu versetzen, was so viel praktischer und bequemer ist. Von meinen letzten Einnahmen hat sie wirklich fünfzig Franks zurückgehalten, und ohne daß ich in ihren Küchenschrank einbreche, bekomme ich sie nicht heraus.«

Ilse war auf ihn zugeflogen und hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen:

»Dafür bin ich Dine Fru de Ilsebill, das weißt Du. Warte nur, ob wir nicht herauskommen aus unserer Bohêmewohnung in ein Häuschen, für uns allein.«

»Hörst Du's, Franzine? Sie hat schon das Ideal des französischen Arbeiters: mit vierzig Jahren Rentner und seine eigenen Zwiebeln! Ich weiß nicht, wohin sie's noch mit mir treiben wird, denn die Verhandlungen mit den Verlegern hat sie allmählich auch in die Hand genommen.«

Ich kann nicht sagen, wie all das auf mich gewirkt hat in jener Zeit, was ich empfunden habe, als wir zum Fest einen wirklichen deutschen Tannenbaum ansteckten da oben in unserer kleinen Wohnung, und als Ilse auf den Armen ihres Vaters jubelnd nach den Lichtern griff.

Ich weiß nicht, aus welchen Kreisen meine Schwägerin war, sie sprach nicht davon, und ich fragte nicht; aber daß sie ein froher, starker Mensch war, das sah ich. Ich dachte an Wulf, während die Tanne brannte, und ich wußte, er dachte an mich, wo er auch an diesem Abend sein mochte, und ob auch kein Zeichen zu mir kam. Aber zwischen uns lagen Länder und Meere und Dinge, die uns noch viel stärker trennten. Ich kam mir reich vor, daß ich aus meiner großen Einsamkeit heraus diese Menschen hier gefunden hatte, die wie ein Stück von mir selbst waren, und nie habe ich so den Begriff der Heimat gehabt wie dort.

Wir setzten gleich fest, daß ich meine Ferien immer bei ihnen verleben solle, und Ilse sperrte sich nicht, als ich sie bat, eine kleine Pension von mir zu nehmen. So habe ich in den nächsten Jahren Paris lieben gelernt.

Gerhard war freilich auch ein Führer, mit dem es sich lohnte, in Kirchen und Museen zu gehen. Aber auch in mir mußte etwas anders geworden sein, daß ich ihm so willig folgte und die Sonne der Kunst mit ihren Strahlen wie durch breite, offene Fenster in mein Herz fallen konnte. An den Sonntagen aber zogen wir hinaus mit diesem lustigen Völkchen der Pariser kleinen Leute, das seine Sonntage im Grünen verbringen will, in Saint-Cloud, in Fontainebleau, in Sceaux, wo die kleinen Leute Hochzeit feiern und die Braut im weißen Schleppkleid, im Schleier und Orangenblütenkranz, laut jauchzend auf einem Esel umherreitet, wo man nachher zur Drehorgel tanzt, eine feierliche Française, als Visavis den Cousin in den roten Hosen, der Unteroffizier bei einem Linienregiment ist. Oder wir fuhren gar an dem Tage der großen Wasser nach Versailles, wir vier, denn die kleine Ilse nahmen wir mit. Da lagen wir denn auf dem grünen Rasen oder unter den Bäumen von Trianon, und Ilsebill packte die Vorräte aus und hatte immer eine kleine Überraschung und immer eine Freude und ein sonniges Wort für jeden.

Da habe ich gesehen, was die Sonntage dem Volke sind: ein Trunk aus einer frischen Quelle! Wenn überall zwischen den Bäumen die hellen Kleider der kleinen Mädchen hervorleuchteten, die mit ihrem Liebsten herausgezogen waren, meistens zu Rad, und dazwischen die behäbigen Familienmütter, und die Väter, die auf dem Rücken lagen und ihre Zigarette rauchten und mit ihren Kindern scherzten. Mit dem Sonnenschein durchdrang frohes Gelächter all diese Gruppen harmloser Menschen bis zu den verschnittenen Hecken des Schlosses hin. Später, wenn man sich in das Gedränge mischte, und Gerhard Klein-Ilse hoch hob, daß sie all die Wasserstrahlen aus dem Becken der Latona sah, selbst dann nie ein unerfreuliches Wort oder eine rohe Bemerkung. Freude, Lachen und Harmlosigkeit, als wollte man die Stunden durchkosten, bis morgen früh die Arbeit wieder in ihr Recht trat. Dafür waren wir aber Deutsche, die die Natur für sich allein liebten, daß wir immer wieder eine Gelegenheit fanden sie aufzusuchen, wo sie niemand gehörte als uns. Tief in die Wälder von Fontainebleau sind wir gegangen, und abwechselnd haben wir Klein-Ilse getragen, wenn sie müde wurde. Auf den moosigen Steinen haben wir gesessen und gewartet, ob Franz I. mit seinem Gefolge von Edelleuten dahersprengen würde, oder die schöne Diana von Poitiers im grünen sammetnen Jagdkleide, den Federhut auf den Locken. Denn wir beide, Gerhard und ich, waren Kinder der Kultur, daß wir uns zurückversetzen konnten in die Zeiten der Vergangenheit und aus ihnen erzählen, als erzählten wir Märchen. Dann saß Ilsebill uns gegenüber; den hübschen Hut, den sie sich selbst aufputzte, hatte sie von den schweren blonden Zöpfen genommen, das Kinn in die Hände gestützt und schaute bewundernd mit ihren nachdenklichen blauen Augen zu uns auf. Klein-Ilse aber war ganz still auf ihres Vaters Schoß.

Wie Märchen erzählten wir aus der Vergangenheit Frankreichs, wenn wir so zusammen dahingingen, um dann immer wieder zu der Geschichte des eigenen Landes zu kommen und zu den Märchen von der Heimat. Die hat Klein-Ilse gehört in dem Waldesschatten und bei den Fernblicken der Fremde, in der sie geboren ist, und darum ist sie so deutsch geworden, sie, die nun in ein anderes Land gegangen ist, ihren jungen Mut auch jenseits des Meeres zu erproben.

Not und Sorge kamen nicht in das kleine Heim. Ilse mit ihren seltsamen hausfraulichen Instinkten sorgte für alles und legte wirklich einen Sparpfennig zurück. Es war eine Freude für mich, mit ihr einkaufen zu gehen in den großen Kaufhäusern von Paris, nicht im Louvre oder im Bonmarché, wo die feinen Leute kaufen, sondern in der Samaritaine, wo für den Geschmack des kleinen Publikums gesorgt war, und auf dem Markte drüben auf der Insel. Da konnte sie so eifrig handeln und ihr Recht verfechten in ihrem hübschen Französisch, das immer einen fremden Akzent hatte, und so glücklich nach Hause kommen mit dem irdenen Topf voll Erdbeeren, die sie von dem Wagen in der Straße für ein paar Sous gekauft hatte, und mit dem Strauße Vergißmeinnicht oder früher Rosen. Dann wurde unter ihren Händen das kleine Wohnzimmer da oben so heimisch und doch so künstlerisch, daß Gerhard stolz war auf sein Atelier, und wirklich faßte er um diese Zeit den Plan, sich mit einer großen Verlagsbuchhandlung in Verbindung zu setzen für eine Illustrierung von Viktor Hugo, der in einer Prachtausgabe erscheinen sollte. Er trug auch den Preis davon und hielt die ersten Lieferungsfristen pünktlich ein.

Damals habe ich Ilsebill so recht unbeschreiblich lieb gewonnen; Freundin ist sie mir gewesen und Schwester in eins. Es waren glückliche Jahre, eine Zeit, in der ich nur für die Ferien lebte, und einmal sind wir sogar zusammen an die See gegangen, nach einem kleinen Fischerdörfchen in der Normandie. Schon wie Ilse alles vorbereitet hat, mit den paar hundert Franks rechnend, die sie sich für den Aufenthalt zusammengespart hatte, war eine Lust zu beobachten, und wie sie wieder saß und nähte, und unter ihren geschickten Fingern das Notwendige für sich selbst und für die kleine Ilse entstand, und Erinnerungen aus ihrer kurzen Theaterzeit in ihr erwachten, und sie plauderte und lachte. Wie sie mit ihren beiden Kleidern, ein paar Meter Goldband und ein paar Seidenbändern alles hatte bestreiten müssen, eine Jungfrau von Orleans ebenso gut wie ein Käthchen von Heilbronn. Denn Schmierentheater sind immer klassisch, weil in den Stücken der Gottbegnadeten etwas drin ist, was nicht zu töten ist, nicht durch die Umgebung einer Scheune, und nicht durch die mangelnde Dekoration, die einen Oleanderstrauch im Kübel einen Wald markieren läßt. Und so lustig plauderte sie von der bengalischen Flamme, in der Don Juan unterging, oder von Don Karlos, daß Gerhard von seinem Schreibtisch in ihr Lachen einstimmte, bis er aufsprang, ihren Kopf in seine Hände nahm und sie küßte.

Ilsebill gab etwas darauf, hübsch auszusehen mit ihrer blonden Frische, die sich in Augenblicken der Erregung noch auswuchs zu etwas Sieghaftem, lachend Fröhlichem, dem nicht zu widerstehen war, und Gerhard war eitel auf sie und gar nicht eifersüchtig, wenn die Blicke der Männer ihr folgten.

»Das ist sein Tribut, verstehst Du?« sagte sie zu mir. »So sind die Männer alle, und hier auf dem Montmartre kann er wahre Schätze der Eitelkeit einsammeln.«

Das große Haus auf dem Montmartre war wie ein Vogelbauer, in dem unzählige Pärchen untergebracht sind. Am Tage fliegen sie bunt durcheinander; aber am Abend sitzen sie eng nebeneinander auf ihrer Stange. Viel legitimes Glück war nicht darunter. Ilse war wie die Königin mit ihrem schlichten Trauring. Doch ihr Händedruck war gleich herzlich für alle, und nur strahlende Augen sah ich, wenn aus den offenen Türen des Ateliers ein herzliches oder neckisches Wort uns folgte. Wie große Kinder schienen mir alle.

Aber nicht nur auf dem Montmartre sahen die Männer wohlgefällig nach der blonden Ilse. Auch in dem kleinen Dörfchen an der Küste herrschte sie bald wie eine Königin. Es waren ein paar junge Männer da, einige in Gesellschaft ihrer Mädchen, und des Abends, wenn wir auf der hohen Klippe saßen und die Sonne untergehen sahen, fand sich oft ein wunderlicher Kreis von Menschen zusammen, die alle dem Augenblick lebten und ihre Schlösser da oben in die leuchtenden Wolken des Westens bauten. Sie waren alle gut zu mir, aber mich trennte doch eine unüberwindliche Schranke von ihnen, und ich fühlte wohl, daß ich auch hier in meinem Glasschrein saß. Sie nannten mich »die Deutsche« und machten da einen Unterschied zwischen meinem Bruder und mir oder auch sich selber, denn es waren Kinder aller Herren Länder, die sich da in der kleinen Künstlerkolonie zusammengefunden hatten. Ich muß wohl typisch die Deutsche gewesen sein in dem Begriff der Abgeschlossenheit der Frau, den man damals noch damit verband.

Ilse war hier die Herrscherin, vielleicht schon deshalb, weil sie die einzige legitime Frau war in all diesen Verhältnissen. Doch mochte das nur ein geheimer Grund sein, den sich die Mädchen selbst nicht eingestanden, und den Ilse nie betonte. Vielleicht auch, weil Klein-Ilse da war, die, nun schon sechs Jahre alt, mit ihren großen blauen Augen und ihrem blonden Lockenkopf das Spielzeug und der Liebling aller war. Sie war das einzige Kind in diesem Kreise, und mehr als einmal habe ich die lustigen Mädchen beobachtet, die so keck und froh durch das Leben zu tanzen schienen, wenn sie Klein-Ilse nahmen und herzten, oder wenn sie ihr etwas Gutes erwiesen oder auch nur, wenn ihre Augen ihr folgten, und wenn in ihrem Blick etwas von jener Sehnsucht auftauchte, die sie immer tief in sich zurückdrängten.

Des Morgens badeten wir. Wenn die Ebbe kam, suchten wir mit bloßen Füßen Muscheln und Seesterne, und den Schiffern, die mit der Flut ihre Boote anlegten, liefen wir weit entgegen und holten uns die Garneelen aus den Körben. So gesund waren die kleine und die große Ilse in jenen Wochen, so strahlend und leuchtend, ordentlich braun gebrannt unter ihren blonden Haaren. Gerhard zeichnete am Vormittag. Sein Skizzenbuch füllte sich, und er hoffte auf eine reiche Ernte, die die Ausgaben des Sommers wett machen würde. Ungern haben wir uns alle getrennt dort oben. So viel Freundschaften waren geschlossen, so viele Fäden angeknüpft, daß man meinte, das Garn hätte für ein ganzes Leben Spinnstoff gegeben.

Als wir im Zuge saßen, der uns nach Paris zurückführte, schien noch der Duft der Küste um uns zu wehen, wenn Klein-Ilse ihr Körbchen öffnete und mit den Muscheln spielte, und der eigentümlich scharfe Geruch des Tangs sich durch den Abteil verbreitete. Pläne für das kommende Jahr haben wir gemacht, und ich bin nach der Vendée zurückgefahren in dem festen Bewußtsein, eine Heimat zu haben, eine Heimat und einen Beruf, denn auch bei Latours hatten sich die Dinge mittlerweile vorwärts entwickelt. Die Älteste war schon seit einem Jahr verheiratet, eine Ehe, die die Eltern geschlossen hatten. Die Brautzeit hatte mir reichlich zu tun gegeben, denn nicht einen Augenblick durfte das Mädchen mit dem Verlobten allein bleiben. Sie hatten sich nur wenige Male gesehen, ehe das von den Familien geschlossene Bündnis veröffentlicht wurde. Ich hielt eine solche Vorsicht für ganz überflüssig und sprach mich einmal gegen Madame Latour darüber aus. Nun konnte ich das. War ich doch im Laufe der Jahre fast ein Familienmitglied geworden.

»Meinen Sie, Madame Latour, daß diese Beaufsichtigung des französischen Mädchens immer dieselbe bleiben wird?« fragte ich. »Wie soll denn jemals in Frankreich oder den romanischen Ländern eine Frau einen Beruf ausüben, wenn sich diese Grundsätze für das Mädchen der guten Familie nicht ändern, und man es nicht einen Augenblick mit einem Manne allein läßt?«

»Pekuniäre Notlage bringt allerdings eine Änderung hervor. Sie sehen, daß niemand es unterläßt, Ihnen selbst mit Achtung zu begegnen, obgleich Sie täglich in Ihrem Hause gerade Herren Stunden geben. Nun schützt es Sie allerdings, daß Sie eine Fremde sind. Im übrigen würde ich eine Änderung gar nicht wünschen. Meine Töchter werden als Frauen so viel Freiheiten haben, daß sie diese Beschränkung in der kurzen Zeit vor der Ehe ruhig ertragen können, und Sie sehen auch, daß Angelika absolut keine Versuche macht, sich gegen unsere Aufsicht zu wehren.«

Das sah ich in der Tat; ich hatte es aber bisher auf einen Mangel an Zuneigung geschoben, und eigentlich war ich recht froh, als am Tage der Eheschließung das junge Paar im Wagen saß, und damit die Last der Verantwortung von meinen Schultern fiel. – – –

Es war wieder um die Weihnachtszeit, und ich bereitete mich für meine Pariser Reise vor. In meinem Zimmer lagen die kleinen Gaben, die ich für die Meinigen besorgt hatte. Ich haßte das französische Weihnachtsfest, das so ohne Sang und Klang vorbeiging an den Leuten und dafür den Neujahrstag erhob, mit seinen Glückwünschen und den kleinen, nichtigen Etrennes. Ich hatte eine Puppe angezogen für die kleine Ilse, eine herrliche Puppe im Kostüm einer Spreewälderin, und ich wollte ihr erzählen von den Sitten der Heimat ihrer Großeltern; denn so oft Gerhard und Ilsebill auch von Deutschland sprachen, nie sprachen sie dem Kinde von dem Hause in der Mark. Gerhard hatte es mir bisher verboten. Sein Groll gegen den toten Vater hatte nicht nachgelassen. So hing Klein-Ilse nur an ihren Eltern und mir, denn das vierte Stockwerk in dem Hause auf dem Montmartre mit dem Blick auf die unzähligen Gerüste der riesenhaften Kirche war bisher ihre Welt gewesen.

Ich war schon überrascht, daß mich niemand auf dem Bahnhof abholte, als ich ankam. Oben in der kleinen Wohnung saß Ilse auf dem Schoß der jungen Freundin des Bildhauers Monsieur Bertouche, die auf demselben Stock wohnte. Sie streckte die Arme nach mir aus und lief mir entgegen. Das Mädchen aber sagte:

»Frau Wahrenburg liegt im Krankenhause, und Ihr Bruder ist bei ihr. Ich fürchte ...« Ihre Augen suchten über das Kind hinweg die meinen. Ich war so erschrocken und entsetzt, daß ich nur immer über Ilsens Lockenkopf streichen konnte.

»Typhus,« sagte die andere, »schon seit Wochen,« dann ging sie leise aus dem Zimmer.

Ich habe bei Ilse gesessen und sie getröstet und sie ins Bettchen gebracht. Spät in der Nacht ist Gerhard gekommen, ein anderer Mensch, bleich und verfallen, und am nächsten Tag hat er mich mitgenommen zu der Sterbenden. Sie hat mich noch sehen wollen. Sie hatte kein Zimmer für sich, das war zu teuer, und sie bestand ängstlich daraus, in dem gemeinsamen Saal zu liegen. Als ich bei ihr saß und in ihr verändertes Gesicht sah, auf dem schon die Schatten des Todes lagen, und ihre Hand hielt, winkte sie, daß Gerhard hinausging.

»Ich weiß, wie es werden wird, Franzine. Er wird es nicht tragen. Du weißt nicht, wie schwach er ist; aber ich habe es hundertmal gesehen. Er wird sich selbst verlieren, es wird alles zertrümmert werden und auseinandergehen, mein Nest, mein süßes, kleines Nest da oben auf dem Berge. Und Ilse – Franzine, ich kann nicht sterben, wenn Du mir nicht versprichst, daß Du für sie sorgen willst.«

»Er wird sie mir nicht geben,« flüsterte ich, »Du weißt, sie ist sein alles.«

Da ging ein Lächeln über ihr Gesicht, so ein trauriges Lächeln, und ich erkannte in ihm unser gemeinsames Schicksal. Die Männer, die es gemacht hatten, standen plötzlich vor meinen Augen, mein Vater und Wulf und Gerhard, und alle drei hatten denselben Blick, der den unserigen sucht und sucht, und dann schwach wird und abweicht, und alle drei hatten das Lachen, das unsere Herzen betört. Ich verstand Ilsebill.

»Ich will sie nehmen,« sagte ich, »»und ich will sie halten, als wäre sie mein eigenes Kind. Es wird sich auch ein Weg finden.«

Da drückte sie meine Hand und sah mich an, und dann kam Gerhard. Ich ging, denn ich wollte sie ihm lassen für diese letzten Stunden. –

In jenen Tagen vor und nach dem Begräbnis habe ich erkannt, wieviel Liebe und Freundschaft in den Herzen des leichten Völkchens da oben auf dem Montmartre wohnte, und auch wieviel Verständnis für fremdes Leid. So feinfühlig sind sie gewesen und so teilnahmsvoll, wenn sie in der Dämmerstunde in das kleine, verwaiste Zimmer traten und sich neben den Mann setzten, der mit aufgestütztem Kopf in einer dunkeln Ecke kauerte, und ihn streichelten, und ihm ein paar liebe Worte über sie sagten. Die Mädchen aber versorgten mich mit dem ganzen Essen. Fast keine kochte selbst. Sie gingen um die Mittagstunde in die Garküche, mit ihren runden Schälchen für die Suppe und mit den Netzen, in die sie das gekochte Fleisch und das gekochte Gemüse taten, und dann brachten sie mir einen Teil davon, ein paar Orangen dazu, und ein wenig Kuchen für das Kind. Ich hatte nur abzuwehren. Die Art der Wirtschaft war mir. fremd, denn Ilse hatte alles selbst besorgt im Hause, auf dem kleinen Gasofen, und sich kaum die Finger schmutzig gemacht dabei. Aber ich ging dann mit in die Garküche, wo viele gleich aßen an den sauberen Tischen, und wo ein lustiges Hinundher war, und das Schwirren von Witzworten. Ich beredete auch Gerhard mitzugehen, ehe ich wieder abfuhr, denn ich wußte mir keinen Rat. Ein Mädchen konnte er sich nicht nehmen, und immer auf die Freundschaft der anderen angewiesen konnte er nicht bleiben. Ich sagte, er müsse sich fügen, wenigstens bis Ostern, bis ich wiederkäme, und ich sprach ihm immer von dem Kind, daß er für das doch sorgen müsse. Ich könne ja sonst nicht abfahren, und meine Zeit sei kurz. Aber er hat mir kaum Antwort gegeben in jenen Tagen und mich rauh beiseite geschoben. Da war ich froh, daß die kleine Grisette, die ich bei Ilse gefunden hatte, als ich kam, das Kind ganz zu sich und Bertouche herübernahm. Ich sprach mit ihr und sagte, daß bis Ostern sich alles geändert haben würde, und wir einen Plan machen könnten. Aber sie weinte und lachte in einem Atem und sagte, es sei ja ein Glück für sie, ich wisse gar nicht wie groß, und ihr Freund sei ganz damit einverstanden, daß sie eine Zeitlang für Ilse sorgen würden, denn die blonde Frau hier oben sei der Engel von ihnen allen gewesen. »Der gute Stern,« fügte sie abergläubisch hinzu, »keines von uns hat den anderen verlassen hier im Hause, solange sie hier oben wohnte. Wie unser Schicksal war sie, und Sie wissen nicht, wieviel Tränen geflossen sind bei uns, als sie gestorben ist. Alle werden mich beneiden, daß ich für ihr Kind sorgen darf ein paar Monate lang.«

Da habe ich denn selbst Ilse, die ganz verstört war und nur ihre große Puppe krampfhaft im Arm hielt, herübergebracht in das Atelier des Bildhauers. Er arbeitete an einer großen Gruppe, die hieß »Die Treue«, und sein Mädchen stand ihm Modell dazu. Wir haben für die Kleine einen Winkel eingerichtet, der ihr gehörte tagüber, und ihr Spielzeug herübergebracht, und drüben habe ich ihr Lebewohl gesagt. Gerhard war an dem Tage meiner Abreise nicht zu finden. Ich bin auch auf den Friedhof gegangen. Aber ich fror immer auf diesen sonderbaren Kirchhöfen von Paris, die wie Städte von Grabdenkmälern sind. Stein, Stein und wieder Stein, und kein grüner Hügel, um den sich der Efeu schlingt. Überall aber fährt der Wind über die kalten Immortellen und über die Perlenkränze und über den Prunk eines fremden Glaubens und einer fremden Sitte.

Das hat mir für Ilse am meisten leid getan, daß sie da in dieser kalten Totenstadt liegen muß, und fast hat es mich gefreut, daß Gerhard ihr kein Einzelgrab besorgen konnte, sondern sie beigesetzt ist in einem jener Massengräber der Armen, die nicht einmal einen eigenen Namenszug tragen, sondern nur eine Nummer. Da auf dem Friedhof habe ich Gerhard auch gefunden. Er lief zwischen den kalten Denkmälern hin und her und trug die Hand voll frischer Veilchen. Vielleicht, daß er vergessen hatte, daß es nicht einmal einen Hügel gab, wo er sie niederlegen konnte, denn als er mich sah, reckte er sich, warf die Veilchen auf die Erde und zertrat sie.

Ich faßte ihn um. »Besinnst Du Dich,« sagte ich leise, »damals, als wir als Kinder voneinander Abschied nahmen, vor Mutters Bild, und Du schon den Plan in Deinem Knabenherzen hattest, fortzugehen in die weite Welt –«

Er nickte.

»Ich muß fortgehen, und Du mußt hier bleiben. Aber das eine versprich mir in ihrem Namen, daß ich Dich Ostern noch finde.«

Das hat er mir denn auch versprochen.


Es waren ein paar trübe Wintermonate, die auch für diese südliche Gegend besonders rauh waren. Ich war nun sechs Jahre in der kleinen Stadt gewesen und hatte lange vergessen, daß ich sie einmal meiner Gesundheit wegen aufgesucht. Ich war viel kräftiger, und so oft ich auch Mutters Bild ansah, glaubte ich doch nicht mehr, ihr früh in jenes Land folgen zu dürfen, in dem es keine Sorgen mehr gibt. Eigentliche Sorgen hatte ich auch hier in Frankreich nicht gefunden. Durch meine vielen Privatstunden war ich so gestellt, daß ich mir in jedem Jahr fast tausend Franks zurücklegte, so daß ich jetzt über ein kleines Vermögen von fünftausend Mark verfügte, den ersten kümmerlichen Anfang einer Sicherheit, die über den Augenblick hinausging. Ich hatte nicht daran gedacht, meine Stellung hier aufzugeben. Zwar im Hause Latour endigte sie mit Marie-Louises Erziehung zu Ostern. Aber mehr wie eine Anfrage um eine ähnliche Tätigkeit wie die in diesem Hause war bei mir eingelaufen, und mein Schülerkreis vermehrte sich beständig. Es fing wirklich an, zum guten Ton zu gehören, deutsch zu lernen, und da ich die einzige deutsche Lehrerin im Ort blieb, so wendete man sich in erster Linie an mich. Ich habe vornehmen Französinnen Stunde gegeben, die mich noch in ihrem großen Himmelbett liegend empfingen, in seidenen Kissen, und die ihre Schokolade tranken, während sie mit mir den Faust radebrechten, und junge Offiziere sind bei mir gewesen und Kaufleute und Studenten. Ich habe das Liebenswürdige, Sympathische dieses Volkes kennen gelernt und immer tiefer bedauert, daß Rassenhaß überhaupt auf der Erde Platz gefunden hat; aber sonderbarerweise bin ich trotz meiner Sanftmut nie ein Friedensapostel im letzten Sinne gewesen, denn neben der Gleichheit habe ich doch auch die Verschiedenheit der Nationalität greifbar deutlich gefühlt.

So freundlich man mich auch dort behandelt hat, so habe ich mich doch nicht gewundert, als Herr Latour mir eines Tages in einer jener politischen Spannungen, die das Gespenst eines Krieges in jenen Jahren ja öfter heraufbeschwor, ernsthaft versicherte, daß er mich beim Ausbruch der Feindseligkeiten nur bis La Rochelle bringen könnte und sich für nichts weiter verpflichten, denn er hatte nur zu wohl die Wut des erregten Pöbels im Andenken, der 1870 einen französischen Bürger, der im Verdacht der Deutschenbegünstigung stand, einfach lynchte. So sah ich auch hier wieder, wie alles balanziert über einem ungewissen Untergrund und wie wir uns auf nichts verlassen können als auf die Sterne in unserer eigenen Brust.

Ich überlegte aber beständig eine Lösung meiner hiesigen Beziehungen und eine Rückkehr nach Deutschland, denn ich erhielt von Gerhard nur kurze zerstreute Nachrichten und hin und wieder ein flüchtiges Zettelchen von Ilsens junger Ziehmutter. Ich war fest entschlossen, mein der Verstorbenen gegebenes Versprechen in vollem Umfange zu halten. Aber das Wie machte mir Schwierigkeiten, die furchtbare Verantwortung, die ich übernahm. Dabei zog es mich mit unwiderstehlicher Gewalt zu Ilse. Die Mutterinstinkte waren erwacht, und so schrieb ich an Marianne und holte mir Rat.

Ich stand nur in flüchtigem Zusammenhang mit ihr, hatte sie aber in Paris in dieser Zeit ein- oder zweimal gesehen. Dann war ich aus der Glückseligkeit meiner Dachwohnung auf dem Montmartre in das Hotel Continental gegangen, wo die Gräfin Oldenburg mit ihrem Gatten wohnte, und ich hatte mein zierliches Seidenfähnchen zwischen die rauschenden Schleppen der Damen der großen Welt gemischt, war mit Oldenburgs in die große Oper gefahren und am Nachmittag ins Bois.

Marianne war ganz die Alte geblieben, eine vornehme Frau in jeder Linie, aber streng und abgeschlossen. Das Verhältnis der Eheleute schien ausgezeichnet zu sein; aber die Liebe, die so warm zwischen Gerhard und Ilse hin- und herflog in jedem heimlichen Grüßen der Augen, in jedem Streifen des Kleides, fehlte hier offenbar noch immer. Ich hatte das letzte Mal auch die Bemerkung gemacht, daß beide sich heimlich zu beobachten schienen, daß sie fremder miteinander waren wie zu Beginn. Marianne sagte mir in dem kurzen Alleinsein, die Frau, die der Graf geliebt habe, und von der er sich zu ihr und in die Ehe gerettet habe, sei gestorben. Ich wußte nicht, ob sie glücklich oder unglücklich darüber sei und fragte sie nicht danach. Sie besprach lieber meine Verhältnisse als ihre eigenen. Nur das fühlte ich, daß sie wirklich gleichgültig nach Wulf fragte, von dem sie übrigens durch die Familienbeziehungen mehr wußte, als ich selber. Seine Briefe an mich waren nicht viel mehr als das gelegentliche sentimentale Heimdenken eines Soldaten am Lagerfeuer oder eines Jägers in einer Mondnacht, wenn er auf Anstand liegt. Er hatte mich nun offenbar fest eingefügt als Sammelpunkt alles Weichen und Guten in seinem Leben. Ich mochte da wirklich in einem Heiligenschrein stehen, und er mir gelegentlich die Blumen des Feldes oder auch seine Jagdtrophäen bringen, vielleicht auch die Haarlocke dieser oder jener Frau, zu der ihn die Leidenschaft trieb.

Er war dem Grafen Oldenburg unentbehrlich geworden, und die Familie schien mit dieser Lösung der Dinge aufs höchste einverstanden, denn die Tollheiten und Sonderbarkeiten des Grafen traten nun nicht mehr so zutage. Man dankte das Wulf von Willich. Wenigstens die Gespenster der Sorge und Einschränkung, denen er nicht gewachsen war, waren so gewichen.

Als Marianne das letzte Mal so ruhig von ihm gesprochen hatte, sagte sie, indem sie mir über die Haare strich: »Du trägst ihn natürlich noch in Deinem Herzen, wie Du den kleinen Ring mit seinem Haar an Deinem Finger trägst. So wirst Du eine ewige Braut sein, was nur für eine Deutsche möglich ist; denn ich möchte darauf wetten, daß Du eine Rückkehr immer noch für möglich hältst.«

Ich sah sie ganz ruhig an. »Ich bin darum eine ewige Braut, Marianne, weil es mir ganz unmöglich wäre, zweimal das wegzugeben, was mein Herz einmal bewegt hat. Das ist mein Schicksal. Aber ich verlange das von niemand anders, und ich würde es auch nicht einmal gut heißen, wenn es mir von einem anderen erzählt würde. Unerfüllte Liebe ist doch nur wie eine taube Blüte, und es ist gut, wenn sie von der Pflanze abfällt und einer anderen Platz macht. Und dann – die Jahre der Liebe und Leidenschaft liegen hinter mir.«

»Das sagst Du so,« entgegnete sie, und ein heißes Rot stieg plötzlich bis unter ihre blonden Haare, »und dabei sind wir beide noch nicht dreißig.«

»Es tun nicht die Jahre, Marianne, es tut's das innerliche Erleben. Ich komme mir oft vor, als ob ich hundert Jahre alt sei.«

»Ja,« sagte sie fast heftig, »hundert Jahre hast Du in einem gläsernen Berg geschlafen. Komm heraus und sieh, wie die Sonne scheint, dann wirst Du wissen, daß es nur ein Augenblick war.« Nun wußte ich, aus jedem ihrer Worte, daß sie an sich dachte und den Grafen. Aber den beiden konnte niemand helfen.

Dann kam Ilsebills Tod und meine große Not, in der ich mich an sie wendete. Sie antwortete mir sofort, ganz in meinem Sinn. Sie schlug mir vor, in Berlin Sprachlehrerin zu werden. »Denn an einem kleinen Orte denken sie schon, Dir eine Wohltat zu erweisen, wenn sie Dir eine Mark fünfzig für die Stunde bieten, und nebenbei würden sie klatschen und sagen, Ilse sei Dein Kind, und Du würdest tausend Unannehmlichkeiten haben. Zudem können Dir in Berlin meine Beziehungen helfen. Selbstverständlich steht Dir meine Kasse und Neu-Bellin jederzeit zur Verfügung, ohne Redensarten. Übrigens denke ich Ostern in Paris zu sein. Hier am Kap St. Martin ist es unerträglich langweilig. Der Graf schlug Granada vor. Ich bin aber reisemüde. In Paris ist man doch wenigstens einigermaßen zu Hause.«

So schob ich alles auf und dachte, Ostern würde die Entscheidung bringen. Da schrieb mir Marianne im Februar plötzlich, ich möchte meine Tätigkeit unterbrechen und sofort nach Paris kommen. Sie müsse mich sprechen. Ich fuhr sofort und ging direkt zu ihr. Sie hatte mich erwartet. Als sie mich in meinem schwarzen Kleid sah, das mich sehr blaß machte, fuhr sie zusammen. »Du weißt schon?«

»Was, Marianne?«

»Die Trauer – verzeih, ich vergaß, die gilt ja Deiner Schwägerin –«

»Wem denn sonst?« fragte ich, und eine heiße Unruhe stieg in meinem Herzen auf.

Sie war eine harte Natur und kam nicht mit dem zurecht, was sie mir zu sagen hatte. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen. Sie sah hin, als erwartete sie Hilfe. Und dann sagte sie, ganz plötzlich, als zerhaue sie den Knoten: »Verzeihe mir, Franzine, wenn ich Dir wehe tue. Wulf von Willich ist in Java am Fieber gestorben.« –

Ich saß dann in einem der Fauteuils. Don dem kleinen Tischchen daneben kam der strenge Duft der weißen Tazetten, in denen immer ein Hauch von Zersetzung weht. Der strömte durch alle meine Glieder und kroch in jeden Blutstropfen. Des Grafen Hand aber spreitete eine Decke um meine Knie, und des Grafen Stimme sprach zu mir, leise und freundlich. Wie Wulf so unendlich viel für seinen armen Vetter gewesen, und wie sehr sie alle trauerten. Soviel Gutes sagte er von dem Toten, den sie in der fremden, gefährlichen Erde begraben, den ich nie wiedersehen würde – nie –.

Meine Hände griffen in die Luft und stießen das Glas mit den Blumen um, die so betäubend dufteten. Mein Kopf suchte einen Halt, denn er war leer wie mein Herz, ganz leer. Da lehnte mich der Graf an seine Schulter, und seine tröstende Stimme schwieg. Und nun fing ich an zu begreifen, daß ich Wulf wirklich verloren hatte. –

»Nein, Du bleibst bei uns, Franzine,« sagte Marianne, als ich aufstand. »Ich lasse Dich nicht weg. Wo willst Du hin?«

»Zu Ilse.«

Sie widersprachen. Sie wollten mich begleiten. Aber ich bestand auf meinem Willen. In meinem armen, leeren Kopf stand wie mit Feuerbuchstaben das eine Wort: Ilse! Der Graf brachte mich in einen Wagen. Fast mit Gewalt mußte ich ihm wehren, mitzufahren. Ich wollte allein sein, ganz allein. Es gab nur noch einen Weg für meine Füße: den zum Montmartre. Und er gab nach.

Ich klopfte bei Bertouche an. Ich nahm Ilse, die allein in dem großen Raume saß, wo unter nassen Tüchern das Modell der »Treue« stand, und zog sie an das große Nordfenster in das nüchterne Licht. Unendlich melancholisch sah das Gesichtchen aus, und während sie mir immer wieder versicherte, wie gut die Tante Bertouche zu ihr sei, liefen die Tränen unaufhörlich über ihre Wangen.

»Und der Vater, Kind?« fragte ich.

»Der ist nie da, und es ist so leer drüben, Du glaubst gar nicht, wie leer. Mutters Sachen sind alle fort, und das Sofa, und ich weiß gar nicht, wo Du nun schlafen wirst, Tante Franzine. Nur Vaters Zeichentisch steht noch da, aber so unordentlich sieht es auf ihm aus, lauter weiße, schmutzige Blätter.«

Da wußte ich genug, und als das junge Paar zurückkam, erfuhr ich auch das übrige. Mein Bruder hatte zuerst ganz seinem Schmerz gelebt und das Kind mit Verzweiflungsausbrüchen überschüttet. Dann hatte er begonnen auszugehen, öfter und öfter. Ein Stück seiner Sachen nach dem anderen war zum Mont de Piété gewandert, und zuletzt hatte er eine wahre Scheu vor dem Kinde gezeigt. Jetzt ging die Kleine nicht mehr hinüber, so fürchtete sie sich, und die lustige Grisette hatte ihr ein Lager bei sich gemacht und sie ganz und gar behalten.

»Denn,« sagte sie mir mit leuchtenden Augen, »sie hat mir wirklich das Glück gebracht, die Tochter der schönen Deutschen, die unser guter Engel war. Vor vierzehn Tagen haben wir uns trauen lassen, François und ich. Ich bin nun ebensogut eine Frau, wie sie es war, und dies ist mein eigenes Haus.«

Sie nötigten mich, bei ihnen zu bleiben und bei ihnen zu wohnen. Aber ich dankte ihnen und quartierte mich in einem kleinen Hotel in der Nachbarschaft ein. Ilse ließ ich ihnen noch, denn es gab so viel zu überlegen in diesen Tagen.

Marianne und der Graf kamen immer wieder. Aber sie erreichten nichts. Nicht einmal Wulfs Namen kam in jenen Tagen noch einmal über meine Lippen. Nur von Ilse sprach ich.

Gerhard war gar nicht mach Hause gekommen. Aber am nächsten Tage, als ich bei Bertouches war, sagten sie mir, daß die Wohnung offen wäre. Da ging ich hinein und nahm Ilse mit.

Er war aus der Tür auf die kleine Terrasse getreten und sah herab auf das frühlingsfröhliche Paris.

Ich wagte gar nicht, ihn zu rufen, als ob er ein Nachtwandler wäre, den das Erwachen töten könnte. Ich zog ihn nur am Arm ins Zimmer und zeigte auf das Kind. Das sah er lange und nachdenklich an, und ich hatte Zeit, mein Entsetzen über den veränderten Ausdruck seines Gesichts und über die furchtbare Vernachlässigung seiner Kleider zu verbergen.

»Gerhard,« sagte ich, »was soll nur werden?«

Da setzte er sich an seinen Zeichentisch und fing an zu weinen. Es lagen Briefe auf dem Tisch, uneröffnet, die wie Rechnungen aussahen, und einer, der mitten durchgerissen war. Ich hielt die beiden Stücke zusammen und las, daß der Verleger des Viktor Hugo-Werkes ihm hiermit ein für allemal den gemachten Vertrag kündige, da die letzten Lieferungen zu unpünktlich und unbrauchbar gewesen wären. Dann sah ich an seinen Augen, an den leeren Räumen, an seiner verkommenen Erscheinung, daß der Strudel ihn erfaßt hatte, aus dem nur seine Frau ihn hatte retten können, nicht ich, und ich wunderte mich nicht, als er sagte: »Mit mir ist es zu Ende.«

Ilse stand noch immer und sah auf den Vater. Jetzt ging sie hin und schob ihr Köpfchen auf den Tisch über die schmutzigen Zeichenblätter, auf denen wilde Fratzen und widerliche Szenen mit leichtem Stift hingeworfen waren, schob sich so nahe zu ihm hin, daß ihr weiches Gesichtchen an seine Wange kam. Da streckte er die Arme aus und zog das Kind an sich. »Nicht wahr, Ilse, Du gehst zu Tante Franzine?«

Sie nickte ganz ernsthaft. »Wenn Mutter nicht wiederkommt?«

»Kannst Du denn das Erbe antreten, Franzine?«

»Ja,« sagte ich, »jetzt kann ich es. Ich kann für Ilse leben, wie kaum eine Mutter für ihr Kind. Nur für sie. Aber Du, Gerhard? Deine Pflichten sind doch hier.«

Da lachte er, so hart, wie er damals vor meinem Vater gelacht hatte, als er einen Wechsel des Gymnasiums verlangte. »Es ist nicht gut, mir von Pflichten zu reden. Niemand hat seine Pflichten gegen mich erfüllt auf der Welt, als eine, und der bin ich treu gewesen. Nun bin ich wieder einmal wie die Feder, die in der Luft dahinwirbelt. Ilses Hände sind noch zu klein, um mich zu halten.«

Ich teilte ihm dann meinen Plan mit, ungewiß und schwankend. Wir blieben in dem öden Zimmer. Schneidend zog der Februarwind durch die Fugen der Terrassentür. Herüber zu den Freunden wollte er nicht kommen. Ich fühlte, daß er sich schämte, hier, wo er einmal der Stolze, Glückliche gewesen war, und ich quälte ihn nicht.

Wir haben nicht einmal ordentlich Abschied genommen, und er war nicht zu bewegen, in die kalte, steinerne Totenstadt zu gehen, wo sie in dem Gemeindegrabe lag. Auch ich konnte es plötzlich nicht mehr. Ich wagte es nicht. Als ob ich mich dann nicht mehr aufrecht halten würde. Er versprach, von Zeit zu Zeit etwas von sich hören zu lassen. Aber ich fühlte wohl, er gab das Versprechen den Winden. Ich nahm Ilse mit, und die junge Frau Bertouche wehrte sich nicht. Der Talisman hatte seine Kraft geübt, sie war nun sicher in ihrem eigenen Glück und gab ihn von sich.

Es hatte sich viel geändert in der kurzen Zeit in dem großen Hause auf dem Montmartre, wo so viel Not und so viel Glück und so viel Leichtsinn in den kleinen Wohnungen versteckt waren. Als sich mir dann so ein Schicksal nach dem anderen aufgerollt hatte, habe auch ich denken müssen, daß der gute Geist mit Ilse davongegangen war, und vieles, was mir an der Küste der Normandie so heiter und selbstverständlich erschien, so schön und frei, ging nun nackt und häßlich vor meinen Augen. So nahm ich das Kind mit in die Vendée. Oldenburgs waren auf dem Bahnhof, und nicht mir, sondern Ilse gab der Graf den großen Strauß weißer Rosen.

Nicht mehr für lange kehrte ich zurück, nur noch bis zu den großen Ferien. Ich tat sofort Schritte, dem Städtchen eine neue deutsche Lehrerin zu besorgen, und ich selbst führte noch meine Nachfolgerin ein und legte mein angefangenes Werk in ihre Hände.

Dann packte ich meine Sachen. Ilse war da, Ilse half mir in ihrer kindischen Weise, um Ilse mußte ich mich kümmern. Meine Schüler wollten mir ihre Anhänglichkeit beweisen. Aber ich fühlte nichts, als daß da ein Wesen war, das konnte nicht leben ohne mich. Ich flog durch den Garten Frankreichs, wo die Leute die jungen Pflanzen mit Glasglocken bedeckten gegen die rauhe Nachtluft – und sah nur, ob Ilse auch keinen Zug bekam. Ich nahm sie auf, als der Kölner Dom zu sehen war, und zeigte ihr die mächtigen Türme im brauenden Morgennebel.

»Ist das Deutschland, Tante Franzine?«

»Das ist unsere neue Heimat, mein Kind.«


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