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Es befand sich zu jener Zeit in dem Senat der Vereinigten Staaten ein außerordentlich begabter, hochangesehener Mann, der gebildet, friedfertig, ehrenwerth und radical gesinnt, der geeignete Repräsentant einer gebildeten, friedfertigen, ehrenwerthen und radical-gesinnten Republik war. Seit vielen Jahren verwaltete derselbe das ihm anvertraute Amt mit bewußter Rechtlichkeit und ohne auch nur den geringsten Werth auf seine anderen Verdienste zu legen. Und während dieses langen Zeitraumes hatte ihm seine Wählerschaft mit dem nämlichen Stolz auf ihre Rechtschaffenheit und mit der nämlichen Geringschätzung ihrer anderen Tugenden regelmäßig zu seinem Sitz zurückgesandt. Da er in Folge seiner Naturanlage dem Bereich gewisser Versuchungen entzogen und in Folge günstiger Verhältnisse viele andere nicht einmal kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hatte, so war sein socialer und politischer Ruf makellos. Als Redner und geübter Disputant hatte er Dank seinem geläuterten Geschmack stets nur die Sache und nie die Person im Auge; und die öffentliche Anerkennung der vollständigen Selbstlosigkeit seiner Motive und die Erhabenheit seiner Grundsätze schützten ihn vor jeder niederen Verunglimpfung. Niemals ward der Versuch gewagt, seine Grundsätze zu erschüttern; auch war er kaum jemals von einer Gefühlsaufwallung beeinflußt worden.
Als ein in künstlerischer und literarischer Beziehung fein durchbildeter Mann hatte er, da er die Mittel besaß, seine Neigungen zu befriedigen, sein elegant ausgestattetes Daheim mit selbstgesammelten Kunstschätzen angefüllt, deren Werth dadurch erhöht ward, daß er ihnen den Stempel seiner Anerkennung aufdrückte. Sein Studirzimmer besaß nicht nur eine seinem Schönheitssinn und seinem Reichthum entsprechende Ausschmückung, sondern auch die durch die tägliche Benutzung hervorgerufene vornehme Nachlässigkeit und die behagenerweckende Unordnung einer Künstlerwerkstatt. Dies Alles ward mit raschem Blick von einem jungen Mädchen bemerkt, das am Abend eines trüben Januartages auf der Schwelle des Gemaches stand.
Die Visitenkarte, welche dem Senator überbracht worden war, trug den Namen »Carmen de Haro« und in der Ecke rechter Hand befand sich zur näheren Bezeichnung ihrer Persönlichkeit, das in fast mikroskopischer Schrift geschriebene Wort »Malerin«. Vielleicht erweckte das Pittoreske des Namens und die sich an denselben knüpfenden historischen Reminiscenzen das Interesse des gelehrten Mannes, denn als Carmen auf sein durch den Diener ihr mitgetheiltes Ersuchen, sie möge die Güte haben, ihm den Zweck ihres Besuches anzugeben, mit der nämlichen Offenheit erwiderte: sie wünsche ihm persönlich ihr Anliegen vorzutragen, so gab er den Befehl, sie vorzulassen. Doch gleichzeitig flüchtete er sich hinter seinen Arbeitstisch, woselbst er über einem Bollwerk von Büchern und einer Brustwehr von Flugschriften und Acten hervorsah, und gab seiner Stirn und seinen Augen einen Ausdruck, als sei er völlig unfähig, sein Sinnen und Denken auf einen außergeschäftlichen Gegenstand zu richten. Nunmehr erwartete er in Ruhe die Ankunft des Eindringlings.
Carmen de Haro kam und schien, da sie einen Augenblick zögernd auf der Schwelle stehen blieb, ein von der Thür umrahmtes Bild. Frau Hopkinson hatte Recht; sie besaß keinen Anstand, wenn nicht eine ihr angeborene und zum Theil fremdländische Art des Auftretens diese Bezeichnung verdiente. Vollständig verfehlt war freilich der Versuch, einem amerikanischen Shawl die Eigenschaften einer »Mantilla« zu verleihen; das Tuch glitt ihr leider unausgesetzt von den Schultern herab, und diese verriethen durch ihre Geschmeidigkeit und Beweglichkeit, daß ihnen niemals die segensreichen Wirkungen einer Schnürbrust zu Theil geworden waren. Ein Kranz schwarzer Löckchen begrenzten die niedrige Stirn und schmiegten sich so dicht an dieselbe an, daß sie einen Theil des schwarzen Pelzmützchens zu bilden schienen, welches ihre Toilette vervollständigte. Einmal versuchte sie, durch die Macht der Gewohnheit beeinflußt, ihren Shawl über den Kopf zu ziehen und durch die unter dem Kinn zusammengehaltenen Falten zu sprechen, allein ein erstaunter Blick des Senators that ihrem Bestreben Einhalt. Dieser fühlte sich übrigens dessenungeachtet sichtlich erleichtert; er erhob sich und wies ihr mit solcher Herzlichkeit einen Stuhl an, wie er es wol schwerlich einer Pariser Modendame gegenüber gethan haben würde. Und als sie mit zwei, drei raschen, großen Schritten auf ihn zuging und ihm ein offenes, unschuldiges aber strenges und entschlossenes Gesichtchen zeigte, in dem nur das blitzende Auge und die schöne Wölbung des Kinnes und der Lippen weiblich zu nennen waren, legte er die Broschüre, die er auffälliger Weise in die Hand genommen hatte, nieder und fragte sie freundlich nach ihrem Begehr. –
Ich glaube, ich habe schon früher einmal von Carmens Stimme gesprochen, jenem Instrument, das meine Landsmänninnen mehr zum Singen, als zum Sprechen auszubilden pflegen und das also von ihnen in Anbetracht der Thatsache, daß der größte Theil unseres Verkehrs mit dem weiblichen Geschlechte ohne Hilfe von Opern-Arien vor sich geht, offenbar falsch angewandt wird – und von ihrem Wohllaut, ihrem sanften Schmelz und ihrem melodischen Tonfall gesprochen. Das junge Mädchen hatte den Vortheil, unter dem Einfluß einer musikalischen Sprache aufgewachsen zu sein und von einem Volke zu stammen, bei welchem Erkältungen und Halsleiden eine Seltenheit sind. Und so gelang es ihr nach wenigen Worten, den Senator in eine wohlwollende Stimmung zu versetzen und ihm ein Ja zu entlocken, als sie ihm den Zweck ihres Besuches mittheilte, das heißt den Wunsch aussprach: »einige seiner werthvollen Holzschnitte zu sehen.«
Nun aber waren diese Holzschnitte gewisse Radirungen, welche von den großen Zöglingen der ältesten Malerschulen angefertigt waren – und wie ich gern zugeben will – außerordentlich selten sind. Meinem ungeschulten Auge erschienen sie ausnehmend häßlich, da sie die Anfangsstufen einer seitdem vervollkommneten Kunst darthaten; – dem Herzen eines echten Sammlers waren sie jedoch natürlich unendlich theuer. Ich kann mir nicht denken, daß Carmen sie wirklich bewunderte. Doch wußte die Sirene, daß der Senator stolz darauf war, die einzigen »Jugendstudien« des großen A. oder die »ersten künstlerischen Versuche« des berühmten B. zu besitzen. Ich überlasse es den Kunstkennern, diese Buchstaben durch die rechten Namen zu ergänzen. Das Interesse des Senators erwachte. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatten mehrere dieser abscheulichen Bilder in seinem Studierzimmer gehangen, ohne auch nur die Aufmerksamkeit eines einzigen der vielen Menschen zu erregen, welche das Zimmer betraten. Jetzt endlich fanden sie die verdiente Anerkennung! Sie sei, sagte Carmen, nur eine arme junge Malerin und nicht im Stande, sich solche Schätze zu kaufen, aber noch weniger sei sie im Stande, Washington zu verlassen, ohne dieselbe gesehen zu haben, und deshalb habe sie es gewagt, hierher zu kommen, und sei es auch auf die Gefahr hin, allzu kühn zu erscheinen oder einen großen Mann in seiner Arbeit zu stören u. s. w. u. s. w.
Der Senator nahm diese Huldigung, die er als ein falsches Goldstück zurückgewiesen haben würde, falls sie ihm in der gewöhnlichen, landesüblichen Münzsorte gezollt worden wäre, jetzt, wo sie ihm mit fremdem Accent und einem Anflug von tropischer Glut dargebracht ward, als ein unverfälschtes Metall an. Geben doch diese Kinder der Sonne jeder Regung Ausdruck! Wir blicken natürlich mit einer Art von Bedauern auf sie herab, wenn sie in dieser Weise die Grenzlinien des guten Geschmackes überschreiten und gegen den conventionellen Canon sündigen – doch stehen sie in dem Rufe der Aufrichtigkeit. Und daher fand der zurückhaltende Neu-Engländer durchaus nichts Verletzendes in diesen zwei, drei offenkundigen und übertriebenen Complimenten, die jedenfalls die frühzeitige Entlassung seines Gastes zur Folge gehabt haben würden, wenn ihm dieselben in den abgegriffenen hohltönenden Redensarten der von ihm vertretenen Republik ausgezahlt worden wären. Und so geschah es, daß sich nach einigen Minuten der schwarze Krauskopf der kleinen Malerin und die weißen, wallenden Locken des Senators dicht nebeneinander über die Mappe beugten, welche die Holzschnitte enthielt. Und in diesem Augenblick war es, wo Carmen, der lebensvollen Schilderung der ersten Blüte der niederländischen Kunst lauschend, sich vergaß, und ihren Shawl über den Kopf ziehend, die Falten desselben mit ihrer kleinen braunen Hand festhielt. In dieser Stellung wurden sie während der nächsten zwei Stunden nacheinander von fünf Congreßmitgliedern, drei Senatoren, einem Cabinetsbeamten und einem Obertribunalsrichter unterbrochen und alle diese Herren wurden höflich, aber schleunigst entlassen. Der allgemeine Unwille kam jedoch auf dem Corridor zum Ausbruch.
»Wahrhaftig, ich bin kugelfest, aber dies wirft mich denn doch um!« (Der Sprechende war ein Territorial-Abgeordneter.)
»Und noch dazu in seinen Jahren Bilder mit einem jungen Mädchen zu besehen, das seine Enkelin sein könnte!« (Dies waren die Worte eines bejahrten Beamten, den die Liebe seitdem auf höchst bedenkliche Abwege geführt haben soll.)
»Schön ist sie nicht die Spur!« (Der ehrenwerthe Abgeordnete von Dakota.)
»Ah, nun weiß ich mir sein beharrliches Schweigen im Congreß zu erklären!« (Ein scharfsinniger Landsmann und Berufsgenosse des Senators.)
»Hol' der Teufel die ganze Geschichte!« (Alle.)
Vier der Herren gingen nach Hause, um diese Kunde ihren Gattinnen mitzutheilen. In dem Bunde, der Mann und Frau vereint, gibt es kaum einen einzigen Punkt, der so tiefbewegend ist, als die unbedingte Freimüthigkeit, mit der sich beide Theile gegenseitig über die Schwächen und Fehler ihrer Freunde und Freundinnen aussprechen. Und gerade diese geheiligten, vertraulichen Eröffnungen bilden die Steine, auf denen die festen Grundlagen der ehelichen Gemeinschaft unerschütterlich ruhen.
Natürlich hatten die beiden, den Mittelpunkt dieser Klatschereien bildenden Personen, wenigstens die eine derselben, keine Ahnung hiervon. »Hoffentlich entziehe ich Sie nicht Ihren großen Freunden,« sagte Carmen schüchtern, nachdem sie im Verein mit dem Senator zum vierten Mal die verunglückte Leistung irgend eines niederländischen Holzaushackers mit Entzücken angestaunt hatte. »Ich würde mir das nie verzeihen!« fügte sie dann, ihre hübschen Augenlider in banger Besorgniß niederschlagend, hinzu. »Vielleicht haben die Herren ein wichtiges Staatsgeschäft Ihnen vorzutragen?«
»O, nein! im Gegentheil! Sie werden sammt und sonders nicht verfehlen, sich wieder einzustellen, denn es treibt sie nur ihr eigener Vortheil.«
Der Senator wollte hiermit eine freundliche Anerkennung aussprechen. Dieselbe streifte das gefährliche Grenzgebiet eines Complimentes, ein Terrain, welches ein aus den ersten Kreisen von Boston stammender Mann nur in sehr vereinzelten Fällen zu betreten wagt. Carmen fühlte sich nach Frauenart schmerzlich getroffen.
»Und ich fürchte, daß Sie lieber sehen würden, wenn auch ich Sie nicht wieder belästigte.«
»Es wird mir eine Freude sein, Ihnen meine Mappe stets zur Verfügung zu stellen. Gebieten Sie über mich, wann und so oft Sie wollen,« entgegnete der Senator zuvorkommend.
»Sie sind freundlich; Sie sind gut!« sagte Carmen, »und ich, ich bin nur – sehen Sie – ich bin nur ein armes Mädchen, aus Californien, einem Lande, das Sie nicht kennen.«
»Verzeihen Sie, ich kenne Ihr Vaterland sehr wohl.« Und in der That hätte er ihr genau angeben können: wie viel Scheffel Weizen ein Morgen Landes in ihrem heimatlichen Bezirke Monterey einbrachte, wie stark die wahlfähige Bevölkerung des Ortes sei und welcher politischen Partei sich dieselbe zuneigte. Allein von dem vor ihm stehenden ungleich wichtigeren Product war ihm, nach der Art der Büchergelehrten, nichts bekannt.
Carmen war erstaunt und von Bewunderung überwältigt. Es ergab sich nunmehr, daß sie nichts davon ahnte, daß in letzter Zeit die Zucht der Seidenraupe in ihrem Vaterlande bedeutend zugenommen habe, daß sie ferner keinen Einblick in den Stand der chinesischen Frage gethan hatte und nur eine ganz oberflächliche Kenntniß von den amerikanischen Minengesetzen besaß. Der Senator klärte sie in Betreff dieser Punkte vollständig auf. »Ihr Name ist, nebenbei bemerkt, von historischem Interesse,« sagte er galant. »Ein Ritter von Alcantara, ein de Haro, befand sich unter den mit Las Casas eingewanderten Emigranten.«
Carmen nickte freundlich: »Ja, das war mein Ur-ur-ur-Großvater.«
Der Senator stutzte.
»O, ja, ich bin eine Nichte von dem Victor Garcia, der meines Vaters Schwester heirathete.«
»Dem Victor Garcia der Blue-Mass-Mine?« fragte der Senator.
»Ja,« sagte sie gelassen.
Hätte der Senator dem Typus entsprochen, den Gashwiler veranschaulichte, so würde er seinen Gefühlen durch ein langgedehntes Pfeifen Ausdruck gegeben haben. Da das aber nicht der Fall war, so trat die Ueberraschung und der Argwohn, die plötzlich in seinem Gemüthe aufstiegen, nur durch den Umstand zu Tage, daß der gesellschaftliche Thermometer des Zimmers so tief sank, daß die arme Carmen erschrocken emporschaute, fröstelte und ihren Shawl dichter um die Schultern zog.
»Ich habe noch eine Bitte auf dem Herzen,« sagte sie, das Köpfchen senkend, »es ist eine Gunst – o, eine sehr, sehr große Gunst.«
Der Senator hatte sich wieder hinter seine Bücherbarrikade zurückgezogen und bereitete sich offenbar auf einen Angriff vor. Er durchschaute jetzt die ganze Sachlage. In unerhörter Weise hatte man ihn in eine Falle zu locken gewußt. Er hatte, ohne daß er es wollte, der Nichte eines der vor dem Congreß erschienenen Minenbewerber eine vertrauliche Audienz ertheilt. Der unvermeidliche Hammer war also auf den Ambos niedergefallen! Was konnte dieses Mädchen ihm nicht alles abzuschmeicheln versuchen! Er mußte um so mehr auf seiner Hut sein, da er bereits ein günstiges Vorurtheil und zwar in arglosester Weise für sie gefaßt hatte. Er grollte ihr, weil sie ihm gefiel.
Ohne sich durch sein Benehmen beeinflussen zu lassen, fuhr Carmen mit herzgewinnender Ungezwungenheit, die sich in ihren Worten, ihren Geberden und ihrer ganzen Art des Seins kund gab, fort: »Sie wissen also, daß spanisches Blut in mir fließt und daß das Motto, welches wir in unserm Adoptivvaterlande annahmen, »Gott und die Freiheit« lautet. Und schon als Kind erzählte man mir von Ihnen, dem großen Volksfreunde, dem Apostel dieser Freiheit, dem Beschützer der Zertretenen und Beladenen. Aus dem Geschichtswerken dieses großen Landes habe ich erfahren, was Sie vollbrachten und Ihre Reden habe ich gelesen. Ich habe mich danach gesehnt, Sie von der Tribüne herab jenes Glaubensbekenntniß meiner Väter verkünden zu hören. Was würde ich darum geben, wenn ich aus Ihrem eigenen Munde – Oh! Madre de Dios! – wie soll ich mich ausdrücken? – die großartige Standrede vornehmen dürfte und Ihnen lauschen könnte, wenn Sie, wie Sie es nennen, eine Debatte halten! Darauf habe ich so lange gehofft. O, verzeihen Sie mir; Ich erscheine Ihnen thöricht – und wild – und – sicherlich – wie ein kleines Kind. O!«
In Folge ihrer Erregung ward ihre Sprache von Minute zu Minute dialektischer; plötzlich sagte sie: »Ich habe Ihnen gewiß von mir selbst weh gethan. Sie sind außer sich über mich, weil ich ein unbescheidenes, schlechtes Kind bin. Ist es nicht so?«
Der Senator, welcher – das unterlag keinem Zweifel – hinter seinen Verschanzungen wiederum matt und kraftlos ward, stammelte: »O, nein!« und dann »wirklich!« und schließlich »danke Ihnen!«
»Ich bleibe hier nur eine kleine Zeit, gleichsam nur einen Tag. Ich kehre, ehe die Woche sich neigt, nach Kalifornien zurück und ach! ich werde nie, niemals zugegen sein, wenn Sie im Capitol dieses großen Staates zu Ihrem Volke reden!«
Der Senator entgegnete rasch, er fürchte allerdings ihrem Wunsche nicht entsprechen zu können; seine Pflicht fessele ihn während dieser Session an den Schreibtisch; er glaube schwerlich, daß er Zeit zu einer Rede finden werde u. s. w.
»Ach!« sagte Carmen traurig, »so ist Alles wahr, was ich gehört habe. Es ist wahr, was man mir gesagt hat, daß Sie die Sache der Gerechtigkeit aufgegeben haben und daß Ihre Stimme nicht mehr gehört wird, um das letzte Wort in der – wie nennen Sie es doch? – der Discussion zu sprechen.«
»Derjenige, der Ihnen das sagte, Fräulein de Haro,« erwiderte der Senator mit schneidigem Tone, »war sehr thöricht. Man hat Sie irrig berichtet. Darf ich fragen, wer...«
»O!« sagte Carmen. »Ich weiß es nicht. Es liegt in der Luft. Ich bin eine Fremde. Es ist sehr wohl möglich, daß ich mich habe täuschen lassen. Doch hört man es überall. Ich frage die Leute, wann werde ich ihn sprechen hören? Tag für Tag gehe ich in das Capitol; ich beobachte ihn – den großen Volksfreund – aber es wird immer nur von Staatsgeschäften gesprochen – und von dem Antrag, den Dieser oder Jener macht – und von der Steuer, – ja – und vom Zoll – und von der Post – aber die gewaltige Rede von den Menschenrechten, die höre ich nie – niemals. Ich frage, wie kommt das? Und Einige schütteln den Kopf und antworten mir: er wird keine Rede mehr halten. Er hat – wie sie es nennen, gespielt, – ganz recht, so sagten sie – er hat ausgespielt. Ich kenne das Wort nicht – ich glaube, es kommt von Boston. Und dann sagten sie – seine Partei hat ihn – ich verstehe die englische Sprache nicht gut – seine Partei hat ihn fallen lassen, nein – er hat seine Partei fallen lassen. Ja, so war es, – das sind die Worte, die man in Boston gebraucht.«
»Ich muß Ihnen mittheilen, Fräulein de Haro,« entgegnete der Senator, sich erhebend, und sie mit einem strengen Blick anschauend, »daß Sie offenbar sehr unglücklich in der Wahl Ihrer Bekannten und noch unglücklicher in den Versuchen gewesen sind, den Entstehungsort der betreffenden englischen Provinzialismen zu erforschen. Die – die Ausdrücke, die Sie angeführt, – stammen nicht aus Boston – sondern verdanken ihren Ursprung dem Westen der Vereinigten Staaten.«
Zerknirscht bedeckte Carmen de Haro ihr Gesicht mit dem Shawl, so daß nur ihre schwarzen Augen sichtbar blieben.
»Niemand hat ein Recht,« fuhr er mit milderem Tone fort, indem er sich wieder setzte, »aus meiner Vergangenheit zu folgern, was ich in Zukunft thun werde oder die Mittel zu bezeichnen, die ich zur Aufrechterhaltung, der von mir anerkannten Grundsätze, oder zur Vertretung meiner Partei für nothwendig erachte. Das ist meine Sorge. Sollte sich übrigens ein Anlaß, oder eine Gelegenheit finden, obgleich die Session bereits nach wenigen Tagen geschlossen wird, so...«
»Ja,« fiel ihm Carmen niedergeschlagen ins Wort. »Ich weiß schon im Voraus, wie es gehen wird, es wird wieder nur von Staatsgeschäften die Rede sein oder von einem Anspruch, den irgend Jemand erhebt – aber – Madre de Dios! Sie werden nicht sprechen und ich –«
»Wann gedenken Sie heimzureisen?« fragte der Senator mit ernster Höflichkeit. »Wie lange haben wir noch die Freude, Sie bei uns zu sehen?«
»Ich werde bis zum letzten Augenblick, bis zum Schluß der Session bleiben,« sagte Carmen. »Und jetzt ist es hohe Zeit, daß ich Sie verlasse.« Sie stand auf und zog sich den Shawl mit unwirrscher Bewegung und reizendem Schmollen fester um die Schultern. Es war dies vielleicht die weiblichste Handlung, die sie an diesem Abend gethan. Jedenfalls war dieselbe ungekünstelt.
Der Senator lächelte gütig. »Sie verdienen weder in dem einen noch in dem andern Fall getäuscht zu werden. Deshalb möchte ich Ihnen mittheilen, daß es später ist, als Sie denken. Erlauben Sie, daß ich Sie den kleinen Weg bis zu meinem Wagen geleite; derselbe steht vor der Thür.«
Er führte sie mit ernster Höflichkeit bis zu seiner Equipage. Als dieselbe mit ihr von dannen rollte, vergrub sie ihre kleine Gestalt in die schwellenden Kissen und brach in ein leises, aber etwas hysterisches Lachen aus. Als sie ihren Bestimmungsort erreichte, bemerkte sie zu ihrem Verdruß, daß sie Thränen in den Augen hatte. Sobald der Wagen vor der Thür ihrer Wohnung anhielt, trocknete sie dieselben hastig.
»Nun haben Sie Ihren Zweck erreicht?« fragte Herr Harlowe, Royal Thatchers Rechtsanwalt, indem er ihr dienstfertig die Hand reichte, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein: Ich warte hier schon seit zwei Stunden. Ihre Unterredung hat sich offenbar sehr in die Länge gezogen. Das ist sicherlich ein gutes Zeichen.«
»Fragen Sie mich jetzt nicht,« sagte Carmen ein wenig heftig. »Ich bin müde und abgespannt.«
Herr Harlowe verbeugte sich. »Hoffentlich werden Sie sich morgen ungleich wohler befinden, denn wir erwarten unsern Freund Thatcher.«
Carmens braune Wange färbte sich mit einem leichten Roth. »Er hätte schon früher hier sein sollen! – Wo mag er nur gesteckt haben? Und was hat er inzwischen gethan?«
»Er ward auf der Hochebene durch einen heftigen Schneesturm aufgehalten. Doch naht er jetzt mit Dampfesschnelle. Aber vielleicht kommt er trotzdem zu spät.«
Carmen gab keine Antwort.
Der Rechtsanwalt verweilte zögernd. »Was sagen Sie von unserm großen Senator?« fragte er mit jener äußeren Gelassenheit, die dem Juristen eigen zu sein pflegt.
Carmen war matt; Carmen empfand eine Anwandlung von Reue; auch wußte sie, daß sie gar leicht in Wallung gerieth. In Folge dessen erwiderte sie mit eisigem Tone:
»Ich sage, er ist ein echter Mann!«