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Noch am Abend seiner Ankunft in Neapel ging der französische Artillerieleutnant François Renaudet zur Hafenkommandantur, um sich zu melden und Instruktionen über die Hafenbefestigungen entgegenzunehmen, die er hier leiten sollte, wie bisher in Gaeta. Er traf keinen Diensttuenden mehr, nur eine Gesellschaft von Infanterieoffizieren, die im Zimmer der Planzeichner müßig rauchten und plauderten, alles Franzosen. Seine erste Frage war, wie die Aussichten der neuen Neapolitaner Republik beschaffen seien und ob man den Feldzug heute als abgeschlossen betrachten könne. Die augenblickliche Lage, erfuhr er, könne als ruhig bezeichnet werden. Das während der ersten Okkupationstage vergossene Blut sei erstaunlich schnell verschmerzt worden. Aber alle Augenblicke stieße man wieder auf Anzeichen fortgesetzter Gärung, auf Umtriebe des Klerus und der ehemaligen königlichen Soldaten. Das Schwierige sei, daß niemand sagen könne, wem die eigentliche Masse des Volkes anhinge, jenen Verschwörern oder den Republikanern. Diese seien freilich gefügige Werkzeuge in der Hand Frankreichs, liebenswerte Idealisten, angenehme Gastfreunde, die ganze neapolitanische Intelligenz gehöre dazu, vor allem die zahlreichen Rechtsanwälte, dann die Kaufmannschaft, die Stadtnobilität und auch viele Personen vom hohen Adel, blendende, hochgebildete Frauen, edel-bescheidene Jünglinge; in Frankreich habe man so etwas nur auf der Guillotine sehen können. Leider könnten sie aber der französischen Kriegführung nur wenig Kapital zur Verfügung stellen, und, wie gesagt, man wisse nicht, ob sie das Vertrauen des Volkes besäßen. Renaudet brachte das Gespräch auf die neuesten Erfolge des Kardinals Ruffo in Calabrien und die überall ausbrechenden Aufstände. Hier äußerte man wirkliche Bedenken. Die Opfer, die der Besitz des südlichen Italiens Frankreich koste, stünden in keinem Verhältnis zu dem aus diesen heruntergekommenen Provinzen zu ziehenden Gewinn, man müsse doch auf ein allmähliches Desinteressement des Direktoriums und auf ein freundschaftliches Abschiednehmen der beiden Nationen hoffen.
Renaudet verabschiedete sich. Man empfahl ihm noch das Theater und die patriotischen Zirkel, dort ließen sich im Nu wertvolle Bekanntschaften machen. Er beschloß, noch diesen Abend, nachdem er das Heraufschaffen und Auspacken seiner Meßgeräte durchgeführt, einer Opernvorstellung beizuwohnen. –
Es war nach neun Uhr abends, als er sich von seinen Hausleuten den Weg zu dem ganz in der Nähe gelegenen San-Carlo-Theater beschreiben ließ. Die seltsame Ode des Opernplatzes fiel ihm auf und der Kontrast, den dazu die Anzahl der aufgefahrenen Karossen bildete, von denen viele ein Adelswappen trugen. Nur die Lakaien hatten sich zu irgendeinem volkstümlichen Glücksspiel unter den Arkaden versammelt.
François betrat eine Loge. Man gab eine beliebte Oper. Die Aufführung war schon beim vorletzten Akte angelangt, was François herzlich begrüßte, da ihm gewisse langatmige Wiederholungen bisher regelmäßig die von einzelnen Stellen verursachte Rührung aufgetrocknet hatten. Seine Loge war, im Gegensatz zu den anderen, wo Uniformen, gestickte Fracke, blitzende Degen und prächtige Abendtoiletten sich lebhaft durcheinanderneigten, Lorgnons und Fächer unermüdlich arbeiteten, ziemlich leer. Nur ein Paar saß in der ersten Reihe. Der Herr, klein und ziemlich beleibt, war schon im Mantel und drängte wohl auf vorzeitigen Aufbruch; seine Begleiterin dagegen schien von der Aufführung gefesselt, rutschte erregt auf ihrem Sessel und machte, obwohl eine hohe stattliche Person, einen fast mädchenhaft ungebändigten Eindruck. Eine lange beklatschte Arie fand ein doppeltes Dacapo. François bemerkte, daß die Dame öfters den Kopf herumwarf, kein Zweifel, daß sie ihn fixierte. Mit leichtem Unbehagen wendete er sich ebenfalls, als sei an der Tür irgend etwas Störendes. Jetzt machte sie ihm kleine Zeichen, nach vorn zu kommen, was er dann auch zögernd befolgte.
»Dort hinten sehen Sie ja gar nichts«, flüsterte sie französisch, als er sich leicht gebückt, stiefelknarrend neben sie postierte. »Sie wollen sich nicht setzen?« Sogleich ging ein geflüstertes Verhör los. In welchem Regiment er stünde, wie ihm Neapel gefiele, ob er erst heute eingetroffen. Oh, man beglückwünsche sich hier zu jedem neuangekommenen Franzosen. Carini habe heute keinen guten Tag. Was er von dem Stück hielte? Ob er schon in einen patriotischen Zirkel eingeführt worden sei; er könne sich dort auf sie berufen. – Sie schwatzte lustig darauflos, gleichsam mit vollen Backen, aus einer sonderbar wegwerfenden, kunstlosen Nüchternheit heraus, wie einer ohne viel Genuß an seiner Pfeife zieht. Von ihrem Gesicht konnte der Offizier in der Dunkelheit keinen rechten Eindruck gewinnen, denn sie schaute ihn während der Konversation kaum noch an, als sei ihr der Partner bereits geläufig. Mit Augäpfeln, die etwas Insektenhaftes an sich hatten und deren Feuer gleichsam ohne Asche zu brennen schien, folgte sie dem Bühnenvorgang. Oder sie zauste und raufte auch mit schwerem Blick an ihren vollen Armen und an der gepolsterten Brüstung. Ihr Kavalier schien nun nicht länger warten zu wollen. Er legte ihr den Arm um die Schulter und begann, sich entschlossen zu erheben. Die Dame stand auf und strich sich das Kleid glatt. Ihr Seufzen ging in dem Fortissimo des Zwischenspiels unter, aber François sah auch so, daß der Mann vor ihr war wie ein trauriger, doch unumgänglicher Weg, der all ihr Stampfen, Trödeln und Tanzen auswendig kannte und dampfend auffing. »Kommen Sie doch nachher ein Stündchen zu mir«, sagte sie im Gehen zu dem Offizier und nannte eine Adresse, die er nachsprechen mußte.
Der letzte Akt ging rasch zu Ende. Nach der Vorstellung blieb der Vorhang weiter offen. Die Musik ließ dem Schlußchor, mit dem sie den Triumph des Helden begleitet und die Oper beschlossen hatte, nach einer Pause allerlei leichte Weisen folgen, wie man sie bei großen Empfängen aus einem Nebenzimmer erschallen läßt. Niemand schickte sich an, den Zuschauerraum zu verlassen, eine Anzahl französischer Offiziere erstieg die Bühne, wohin man inzwischen allerlei Sitzgelegenheiten geschafft hatte, um sich mit den Darstellern zu unterhalten. François sah dort auch die Damen, die heute abend nicht mitgewirkt hatten, sowie Angehörige eines Balletts, das wohl die Aufführung eröffnet hatte, noch in reichlich geschürztem Kostüm, die phrygische Mütze überm Ohr. Unter den durcheinandergeschobenen Stuhlreihen des Parketts hatten sich Gruppen Neapolitaner Patrizier zusammengefunden, zwischen denen der ältliche und aufgeschwemmte Carini mit verrutschter Perücke hin und her stolzierte. Junge Männer, auf die Rampe gelagert, sangen sich gegenseitig etwas vor, eine besonders ausgelassene Gesellschaft ließ sich in der Loge den Kaffee servieren – neuartige Sitte, dachte sich François Er hatte fest damit gerechnet, einige Bekannte anzutreffen, konnte aber niemand entdecken. Etwas ärgerlich hierüber, denn er hätte sich heute abend im Kasino einführen lassen müssen, fragte er den eingetretenen Logenschließer nach den Namen der Personen, die in der ersten Reihe gesessen, und ob er den Weg zum Hause der Herrschaften – er nannte die Adresse – beschreiben könne. »Das wird die Wohnung des Fräuleins sein«, gab etwas betreten der Mann zur Antwort »Herr von Castaldi bewohnt ein Landhaus an der Mergellina« Seine Mätresse also, dachte sich François, er hatte es gleich vermutet. Aber abweichend, wie es schien, von der hier landläufigen Sorte! Zwar war es auf diesen Feldzügen schon manchem französischen Offizier, ja diesem und jenem Bauernkerl von Feldwebel passiert, von Damen der ersten Gesellschaft angesprochen und ins Haus bestellt zu werden, wo dann oft statt des Bedienten die Kammerfrau empfangen und den Gast geradewegs ins Boudoir der gnädigen Frau geleitet hatte, während im Salon der Hausherr mit Freunden auf das Wohl der französischen Armee anstieß. – Bekannt war die Geschichte von einem jungen Ehemann aus der Provinz, der, als ihm der Fehltritt seiner Frau hinterbracht worden, dem Verführer mit einer Pistole aufpaßte; dieser hatte sich daraufhin französische Kleider angelegt und war bei seinen täglichen Visiten in keiner Weise mehr belästigt worden, während ein sich in der Tür irrender coiffeur eine Kugel ins Bein bekam. Doch diese Theaterbesucherin – das hatte ihre etwas schroffe und burschikose Art gezeigt – war offenbar gewohnt, den Mann, auch wenn er im gallischen Kriegsschmuck und im Fieber des Pariser Umsturzes erschien, rasch auf sein natürliches Größenmaß zurückzuführen.
Ob er den Wagen nach dem Kasino herbeirufen solle, unterbrach der Logenschließer diese Erwägungen. François beschloß, den Mann auszufragen. Wie der Name des Fräuleins sei: »Della Valle.« Die Stimme des Antwortenden schien noch immer etwas belegt. »Die Mätresse jenes Brummbären?« »Sein Mündel«. Nun, das eine schließt das andere nicht aus, fand François. »Man sieht die beiden immer zusammen?« »Seit mehreren Jahren! Er saß hier in der Ministerloge und sah sie in einem Ballett auftreten, nachher am Arme eines jungen Sekretärs von der spanischen Gesandtschaft. Gleich während der Vorstellung stand er auf und setzte sich neben die beiden. Bei der Regatta wollte er sie entführen lassen, doch seine Leute liefen vor dem Spanier davon. Es gab ein Duell, er wurde schwer verwundet. Die della Valle hörte davon, kam an sein Krankenlager und blieb bei ihm. – Neapolitanerinnen, Herr Leutnant!« schloß der Diener mit einem entschuldigenden Lächeln. »Der Fremde hört mit Mißbilligung derartige Geschichten von den Unseren. Jahre hindurch sind sie einem Gebieter ergeben mit kindlicher Anhänglichkeit, und dann in Sekundenfrist vollkommen umgestimmt, doch das bekennen sie dann wieder mit der Standhaftigkeit der heiligen Blutzeugen.«
François ließ sich von dem inzwischen etwas aufgetauten Manne noch erzählen, daß Castaldi jetzt Republikaner sei, Lieferant der Nationalgarde und von großem Einfluß. Als einziger von der ehemaligen Regierung besuche er noch das Theater; die Kollegen seien nach Palermo geflohen oder auf ihre Landsitze. »Er ist Junggeselle, der kuriose Silberfuchs?« »Witwer, Herr Leutnant. Seine Frau war ein Hoffräulein, er wurde anläßlich der Heirat geadelt. Nach ihrem Tode lebte er lange Zeit bei den Kartäusern. Ein sehr mildtätiger Mann und in verschiedenen Laienbruderschaften eingeschrieben.« »Und läßt Damen vom Ballett entfuhren, immerhin ein vielseitiger Charakter. Im Falle des Fräuleins della Valle ist übrigens sein Geschmack ganz der meine.«
Der Logenschließer schien noch weitere Einzelheiten, Hinweise und Bedenken auf der Zunge zu wagen, als er aber sah, daß François gehen wollte, sagte er resigniert und zeremoniös, wie ein Unterhändler, dessen Andeutungen vom Partner meist mißverstanden oder überhört worden sind: »Ich bin stolz ob des Lobes, das der Herr Leutnant den Neapolitaner Mädchen erteilt.« Ein Trinkgeld lehnte er ab, gleichsam mit Bedauern über diesen neuen diplomatischen Mißgriff. Er war ein kleiner Mann, den man in bürgerliches Kostüm gesteckt hatte, er schien aber noch die Livree wie ein Korsett darunter zu tragen, langjährige Vertrauensbedienung der Ministerloge, voll Ablehnung gegen das schamlose Völkergemisch des Revolutionstheaters. Wie alle Portiers wußte er Bescheid, aber seine Mitteilungsfreudigkeit hatte nicht das Servile vieler südländischer Domestiken. –
Als der Offizier unter den Arkaden hervortrat, rollte ein Wagen an. Der Kutscher rief vom Bock »Nach San Pietro a Maiella?« So fest hatte sich François noch gar nicht entschlossen, der Einladung der Signorina Folge zu leisten. Aber der Logenschließer hatte ja wohl den Eindruck gewonnen und danach disponiert. Warum schließlich auch nicht? François spürte keine Lust, sich schon jetzt in sein Logis zu begeben.
Der Weg ging immer leicht bergan. Lange, unerleuchtete Straßenzeilen, flüchtig ausgehobene, ungenügend verschalte Abzugsgräben für Menschenmassen, keine Plätze, keine Monumente, nur häufig Kirchen als verkalkte Drainagen. Unglaublich viel Volk war in beiden Richtungen unterwegs, trotzdem ließ der Kutscher scharf traben, unmittelbar vor den Pferdeköpfen riß die Menge ruckweis auf, unter dem Rückfenster sah sie François schon wieder heckendicht geschlossen. Nur manchmal schienen die Gäule plötzlich zu erlahmen. Dann marschierte ein Trupp Lazzaroni durch, zerlumpte Männer, die, den Kopf zwischen den Schultern, sich hinter einem wildblickenden Anführer drängten, seine Witzworte belachend, wirr durcheinander schwatzend. François in seinem Wagen kam sich vor wie Louis XVI., nach gescheitertem Fluchtversuch vom Volke nach Paris eingebracht. Er mußte einen gewissen Ekel überwinden, bevor er rechts und links die Erdgeschosse der Häuser genau in Augenschein nahm, welche durch offene Ladengewölbe und Werkstätten, Kellereingänge und wuchtige Portale ihr entblößtes, fett-wucherndes Innere auf die Straße stülpten. Einmal lagen die Leute wie gefällt und niedergeweht, dann um einen Herd auseinandergespritzt, als habe eine Bombe eingeschlagen, drüben wand sich eine Schlange von Halbnackten eine Treppe hinauf unter der gelben Distelblüte einer eisernen Laterne. François lehnte sich gähnend zurück. Bisweilen klatschte die lange Peitschenschnur des Kutschers gegen die Scheiben, das Straßenpflaster mußte aus großen gebuckelten Steinplatten bestehen. Man überholte auch eine französische Patrouille, ältere, bärtige Männer, die schläfrig vor sich hinmarschierten; lächerlich wackelten die paar Bajonette über dem Gewühl. Altertümlicher Eigensinn, dachte François – die bethlehemitischen Hirten in Babylon verirrt! Die Hafenkommandantur, das enthusiastische Theaterpublikum, das Offizierskasino, alles nur ein verlorenes, widerwillig gespeistes Reis an diesem Urwaldbaum von ganz unerforschter Natur. Auf hundert solcher Straßen kommt eine der Karossen, die vor dem Theater gewartet hatten.
Endlich schien Kutscher und Pferd die Lust auszugehen Man ließ den Offizier aussteigen, das letzte Stück müsse er zu Fuß gehen, da oben die Straße zu steil sei und durch einen Neubau versperrt. Der Kutscher wollte François rasch einen Führer werben, die Männer lehnten düster starrend ab, doch war bei den Frauen und Kindern lärmende Bereitschaft. Verschiedenen Ansichten über die genannte Adresse entsprechend, zogen mehrere Parteien los. François folgte einer, nachdem er bezahlt und unter allgemeinem Gewitzel die Pferde getätschelt hatte. Die Weiber traten alle hinter sich, die Gesichter dem schlanken Manne zugedreht, der mit leicht erzwungener Forschheit hinter ihnen heranklomm. Er nannte einer Person mit gewaltigem Gesäß den Namen della Valle. »Die Kurtisane?« fragte sie ernsthaft, den Finger an die Nase legend. »Die ehemalige Schauspielerin«, brummelte François befremdet. Als darob wieder ein lustiger Meinungsstreit ausbrach, in den sich auch von den Balkonen – die oberen Stockwerke wurden anscheinend von wohlhabenderen Leuten bewohnt – deklamatorische Ausrufe schon ein wenig schläfriger Frauenlippen einmischten, verstummte der Offizier, ließ sich weiterführen.
Dies war endlich das gesuchte Haus! Ursprünglich ein vornehmer Patrizierpalast aus kostbarem Kalkstein, nur sehr verwahrlost, an vielen Fenstern fehlten Scheiben und Rahmen. Im Torweg stand, Bremsklötze unter den Rädern, ein verdeckter Reisewagen, zwei mächtige Rappen davor, die ihnen die Köpfe entgegenhoben. Sie trugen tief herabhängende Decken wie bei einem Prachtbegräbnis, in den Ecken war das Monogramm L. C. Wohl wieder jener Castaldi, dachte François. Seine Begleiterinnen blieben in respektvollem Abstand um die schnaufenden, klirrenden Tiere stehen, er zwängte sich an dem Gefährt vorbei durch die Einfahrt. Vor der Portiersloge saß jemand auf einer Bank; er nahm Reißaus, als François mit angehobenem Degen hinter dem großen Wagenrad hervorgeturnt kam, und riß im Hof an einem Seil. Fern schlug ein Glöckchen an.
Leutnant Renaudet mußte hoch hinaufsteigen, die Etagentür stand angelehnt. Er klopfte, räusperte sich, trat ein. Als er auf dem Fliesenboden des dunklen Vorplatzes stand, wurde irgendwo eine Schublade aufgerissen. Eine weibliche Stimme, er wußte nicht, ob es die der della Valle war, rief ein »Wer ist da?« Er nannte Namen und Dienstrang. »Sehr schön«, kam es wohlklingend, nicht besonders eifrig, zurück; eine neue Schublade wurde aufgerissen. François bemerkte hinten eine schwache Helligkeit und ging darauf zu – durch kahle Räume ohne besondere Bestimmung, deren Türen fehlten. Einmal verengten Säcke mit Lebensmitteln die Passage wie in einem Magazin. In Paris haben die Kurtisanen weniger Platz, ging es ihm durch den Kopf, Tabaksrauch, Papageien krakeelen, Hündchen fahren dem Besucher an die Beine, und die Dienerin reißt ihm schnatternd den Mantel von den Schultern. Doch hier dieser ländliche Geruch nach Stein und Holzfeuer, diese Zimmer, die daliegen wie Weideplätze von Nomaden, auf denen allerlei Gerät zurückgelassen! In Neapel mußten die Verhältnisse völlig besondere sein oder die Revolution hatte auch gesellschaftlich alles durcheinandergeworfen. Wie war es sonst möglich, daß dies Mädchen in der früheren Ministerloge des Theaters anzutreffen war und gleichzeitig von den Leuten der Gasse ganz schlicht als Kurtisane bezeichnet wurde?
Die Helligkeit kam von dem Lämpchen vor einem Heiligenbild. Nebenan ging jemand mit großen Schritten taktmäßig auf und ab. Am Boden bemerkte François einen Zwerg mit einem Schiffsmodell auf den Knien. Sein Kopf war übergroß, Flocken dünnen, rotbraunen Haares darauf, das Nußknackerkinn lud mächtig aus. Ein spitzer Buckel stach unter der linken Schulter heraus, wie das Ende eines eng unter die Achsel geklemmten Gegenstandes. Es mochte ein fünfzehnjähriger Bursche sein, trug aber einen Kleinkinderkittel und eine Serviette um den Hals, was läppisch und ekelhaft aussah. »Bitte, die Meldung«, zischelte der Kleine. François' Uniform schien in seinem Schädel etwas einzufädeln. »Von welchem Schiff? Ohne Zweifel ein Feuerwerker aus dem türkischen Hilfskorps! – tut mir aufrichtig leid.« Noch obendrein blödsinnig, militärische Wahnideen, stellte François fest – »Division Macdonald«, grinste er, nachlässig salutierend. »Oh, das müßte ich mir noch gründlich überlegen. Da hat der Testamentsvollstrecker schließlich auch ein Wörtchen mitzureden. Hat er die schamlose Gallionsfigur auch gehörig bestrafen lassen? Im übrigen wurden die nötigen Vollmachten dem Ritter von Castaldi übertragen, Salvatore Lodovico von Castaldi, unser tapferer, gottesfürchtiger Lehnsmann.« Darauf versank der Kleine wieder in Schweigen, stieß das Schiff vor sich her, fing es kriechend mit den Schenkeln ein, es schwänzelte am hohen Hinterteil mit einem bourbonischen Lilienbanner. Der Mensch im Nebenzimmer ging immer noch auf und ab, hieb die Absätze auf die Fliesen, die Sohlen lagerten sich gemächlich davor.
Nun kam durch die Räume, die auch er hatte durchqueren müssen, die Signorina della Valle mit einem Leuchter schnell, fast stürmisch herbei unter Entschuldigungen. Sie sei überzeugt gewesen, Castaldi befände sich bei ihm, deswegen habe sie sich noch etwas Zeit an der Kaffeemaschine gelassen. Hinter ihr kam ihr Bruder herangeschlurft, ungekämmt, mit heruntergerutschten Strümpfen, noch vor der Begrüßung die Schwester feindlich anfauchend. »Castaldi noch nicht hier?« Er schien nach seinem Fronvogt, seinem verhaßten Quälgeist, zu fragen, den er knechtisch doch nicht mehr missen konnte oder dessen Ausbleiben besonderes Unheil bedeutete. Der Silberfuchs muß ja eine furchtbare Fuchtel schwingen, dachte François. Es war ihm unangenehm, ohne große Jagdbegier in ein so ausdrücklich abgegrenztes, mit Wall und Palisaden befestigtes Revier hineingeraten zu sein. Zum Überfluß erblickte er im Schein der Kerzen noch ein Porträt Castaldis. Er war an einem Pult mit Pergamenten, Geldrollen und Federkielen sitzend dargestellt, in schwarzer Amtstracht, eine hagere Dame – sollte es wirklich, und an diesem Orte, seine verstorbene Frau sein? – ließ ihre blau geäderte Hand grifflos auf seiner Schulter lasten. Dicht daneben hing ein Bild in Querformat, das die della Valle in nymphenhafter Gewandung schilderte, wie sie Kopf und Hals mit kräftigem Ruck dem Beschauer zuwandte; die volle Wange bebte förmlich im Zug der Halsmuskeln. Sie zechte mit einem Faun oder Bauern, Gelächter hatte Tränen in ihre hilflosen Augen geschüttelt. Durchs Fenster sah man Laubwälder in weißem Mittagslicht, dahinter die Meeresfläche und einen zierlich zerklüfteten Vesuv mit feiner Rauchfahne. Beide Gemälde waren von seltener Meisterschaft.
Nun häuften sich plötzlich die Schritte des einsam durchs Haus Marschierenden vor der Tür. Castaldi trat ein, begrüßte den Gast mit steifem Zeremoniell. Er war in Reisekleidung, und bald wußte der Offizier, daß der Hausherr noch diese Nacht nach Salerno werde abgehen müssen, und zwar dienstlich in seiner Eigenschaft als Kornkommissar. Erst jetzt begann die Konversation, meist in französischer Sprache geführt. Man bedauerte die langwierige Wagenfahrt, die François hatte unternehmen müssen, und ließ ihn dabei einige Verwunderung über sein Kommen spüren, belästigte Überraschung, Andeutung, daß man ihm hier weiter nichts bieten könne, und Ironie über ein zwar schneidiges, doch etwas unkluges Unternehmen. Diese Südländer konnten es nicht fassen, wie das, was sie gleich einem Federball dem zufälligen Gegenüber zuspielten, damit er es artig zurückschlüge – Versprechungen, Einladungen, Komplimente – von diesem Gallier ernsthaft aufgefangen und ihnen wie ein zu unterschreibender Vertrag ins Haus gebracht wurde. Bei der della Valle kam zeitweise ein Nachgrübeln hinzu über die eigentlichen Beweggründe des Gastes, geschmeichelter Stolz schmeidigte ihre Stimme, sie bemitleidete und befeuerte zugleich. Man sprach von der politischen Lage, von Bonaparte in Ägypten, von der Verspätung des Sommers in diesem Jahre; man fragte den Gast nach Heimat und Schule sowie nach den Feldzügen, an denen er teilgenommen. Zwischendurch brachte das Fräulein della Valle Konfekt und winzige Tassen ausgezeichneten Kaffees. Etliche Male richtete sich der Blödsinnige auf, näherte sich, Furcht und Mißtrauen in der Miene, der gerade sprechenden Person, riß sie an der Schulter oder am Handgelenk. Immer wurde dann die Unterhaltung unterbrochen, aufmerksam gewartet, bis das ineinandergeschobene Treibgut in seinem Kopf wieder frei geworden war und geschwind hinaustrieb in den stehenden See, er mußte verzagen, es dort draußen wieder zu bergen, und schlich beschämt in seinen Winkel zurück. – Castaldi war nicht sehr gesprächig. Wurde er gefragt, so war seine Antwort derartig wohl erwogen und fertig, daß der Partner nirgends anknüpfen konnte und der Gesprächsfaden regelmäßig abriß. Er äußerte keinerlei persönliche Überzeugungen, auch außerhalb des politischen Gebietes. Seinerseits erkundigte er sich höchstens nach allerlei Personalverhältnissen bei dem französischen Armeekorps, versuchte ungeduldig, ob sich gemeinsame Bekanntschaften herausstellen würden, dann noch, ob François literarische, künstlerische, archäologische Neigungen besäße. Dagegen entfaltete der Bruder eine reiche Beredsamkeit. Ein schöner Feuerkopf! Doch schien er nur für seltene Augenblicke dem Badewasser des Müßiggangs, der naschhaften und tückischen Einfälle zu entsteigen, um einmal mit der unvermuteten Geschmeidigkeit seiner Glieder in Erstaunen zu setzen. Er hatte ein wenig den Advokaten studiert und ereiferte sich gleich mit Freiheit und Brüderlichkeit, stellte die frühere Adels- und Pfaffenwirtschaft an den Pranger, gab krasse Einzelheiten aus dem Klosterleben preis, verherrlichte die Lauterkeit der neuen Regierung und die patriotischen Tugenden des Mannes aus dem Volke: jeder Fischer ein Brutus, jeder Landmann ein Marius! Ein Kindermädchen hatte auf die Entdeckung, daß ihr Brotgeber an einer monarchistischen Verschwörung beteiligt war, mit Hilfe ihres Bräutigams und einiger von der Straße heraufgerufener junger Burschen die ganze pistolenstarrende Adelsclique bei einer Zusammenkunft verhaftet und entwaffnet. Meist schwangen die Hände des Redners die Fackel der Aufklärung, behüteten und nährten die Opferflamme der Bruderliebe, krallten sich in Mauerfugen von Inquisitionskerkern, rissen der schleichenden Reaktion die Larve herunter und deuteten den Bürgern das pfäffische Rattengesicht, das räuberische Gebiß und die weiten Backentaschen. Aber manchmal, beim Einatmen, schielte er argwöhnisch und bettelnd zu Castaldi hinüber – wie ein Hund, da der Herr der anwesenden Gäste wegen nicht einschreiten mag, eine Wurst vom Teller stiehlt, dann aber zögert, ob das Verspeisen derselben auch die späteren Prügel aufwiegt. Da François dieselbe Saat vor zwanzig Jahren in Paris hatte aufgehen sehen und Zeuge geworden war, wie rasch die wenigen starken Spieße herausschossen und die mit der Morgenluft rauschenden Fluren verdorrten, folgte er den Tiraden des Bruders ohne große Teilnahme, ließ ihn lächelnd recht haben und betrachtete lieber die gefesselt zuhörende della Valle. Sie gefiel ihm ausnehmend gut. In der Figur unterschied sie sich sehr von dem, was er bis jetzt unter einer Neapolitanerin begriffen hatte, sie war viel größer, hochschenkeliger, in den Formen von einer mädchenhaften Straffheit. Dafür war das Gesicht ganz nach Landesart verschlafene Rundung des Tuffes, Rosenglut des Tiefenmagmas, das gerade ans Sternenlicht emporgerissen und Farbe und Gestalt anzunehmen genötigt worden ist. Sie trug das Haar äußerst kunstvoll, mit langen Schläfenlocken, Ohrringe und ein schlichtes Goldkreuz um den Hals. Ihr Kleid, grüne Seide, das ursprünglich wohl mit einer Krinoline getragen wurde, kam François reichlich altmodisch vor, wirkte aber irgendwie rührend, treuherzig. Wieder fiel ihm die ungestüme Beschleunigung aller ihrer Bewegungen auf.
Zusammenfahrend bemerkte der Franzose plötzlich, daß das Gespräch mittlerweile gänzlich ins Stocken geraten war. Castaldi hatte, als man ihm wieder einschenken wollte, die Tasse heftig zurückgezogen, ein angewidertes Mundwinkelzucken – worauf der Bruder in Schweigen versunken war. Er glich jetzt einem berühmten Dirigenten, der sich von einem minderwertigen Orchester einige Takte hat vorfiedeln lassen, dann kurz abgeklopft hat und finster an fragenden Mienen vorbeisieht. François wußte nicht, ob er diese Gereiztheit als politische Gegnerschaft – denn daß Castaldi heimlicher Royalist war, stand jetzt fest –, als uneingestandene Eifersucht oder als Reisenervosität auslegen sollte. Er zerrte seine Gedanken ans Abschiednehmen, an die Beschaffung eines Wagens. Freilich machten ihm die eigenartige Schönheit und das drollige Wesen der Hausherrin das Gehen schwer, aber was hatte er bei dem inquisitorischen Regiment dieses Castaldi hier für Aussichten – er, obendrein seit über einer Woche auf Halbsold! Bei dem letzten englischen Bombardement in Gaeta war im brennenden Gasthof seine ganze Wäscheausstattung verlorengegangen, und es galt jetzt, das wenige Geld zusammenzuhalten. Fräulein della Valle stieß ihm gebieterisch seinen Stuhl ein Stück nach, als er heftig aufgestanden war und um Verzeihung gebeten hatte, wenn er jetzt schon aufbräche. Er mußte sich wieder setzen. Es wurde weiter geschwiegen, aber allmählich schien das Schweigen den dreien keine Lücke, kein Versagen mehr zu sein, sondern ein inbrünstiges Tun. François ahnte, daß sie plötzlich entschlossen waren, anläßlich seiner Dazwischenkunft ihre jahrelange Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen, die der eine mit seinem Geld, seiner Zähigkeit und Gewaltsamkeit erzwungen, die anderen in ihrer Armut bewilligt und mit viel Rebellion und bitterem Hinunterschlucken doch wie eine Art Religion ertragen hatten. In wenigen Augenblicken mußte eine Entscheidung fallen. Sie warteten, wer zuerst zum Zuge kommen sollte, der Bruder blind dem Kommenden ausgeliefert, die Schwester fieberhaft herbeisehnend, Castaldi ein Beleidigter, der die Forderung erwartet.
Castaldi wollte es dann überstürzen. Plötzlich ergriff er den Leuchter und fuhr auf das Sekretär los, öffnete, riß an den Schubladen, räumte Fächer aus mit schaufelnden Handbewegungen. Vor seiner Abreise müsse Giovanna noch mit ihm abrechnen, jawohl, jetzt auf der Stelle! Widerreden wurden als Eingeständnis erneuter Verschwendung und Ungenauigkeit aufgefaßt. Die della Valle trat hinter ihn, legte ihm mitleidig gelangweilt die Hand auf die Glatze, fischte mit der anderen, die blaue Äderung an der Innenseite des Ellenbogens studierend, nach einem steckenden Schlüssel. Doch Castaldi machte sich in diesem Augenblick an demselben Schloß zu schaffen, und als er dort an die handschuhverzärtelten, etwas fetten Frauenfinger rührte, wirbelte er sie fluchend beiseite, so daß sie gegen die Ebenholzkante schlugen. Das Mädchen bekam Tränen in die Augen, er hatte ihr die spitzen Fingernägel alle zerbrochen. Sie wollte sich einen Sessel heranholen. »Bleib stehen in Teufels Namen«, brüllte Castaldi, »ich werde dich durch deinen Hamsterbau jagen auf und ab, vom Keller bis zum Dach, mit meinen Augen will ich sehen, mit meinen Händen greifen, was da von meinem Geld angeblich angeschafft worden ist für Wohnung und Küche. Von jedem Ei will ich die Schale, von jedem Huhn die Knochen sehen. Hier die drei Meter Samt für die Portiere, hole sie mir augenblicklich her und das Bandmaß dazu zum Abmessen – oder soll ich erst den Antrag stellen bei dem Herrn Vertrauensmann des stellvertretenden, beratenden Senats-Kommissions-Ausschuß-Büros? Bei mir gibt es keine Gewaltenteilung! Mein Gutdünken, Citoyenne, ist Rechtsprechung, Exekutive ist meine dreschende Faust, wenn du nicht gleich wieder zurück bist, du anbetungswürdige Philanthropin, gemeine Betrügerin!« Während dieser Szene erschien Castaldis Gesicht nicht wutverzerrt, nur von schmerzlichem Ernst blutleer gepreßt, die Bewegung blieb streng auf den Mund beschränkt, zwei tiefe kurze Falten klammerten ihn ein, wie Kriegsknechte auf alten Darstellungen des bethlehemitischen Kindermordes sie zeigen, wenn sie mit der gepanzerten Hand den Müttern die zappelnden Knäblein entgegenhalten, um sie alsbald an einer Wand zu zerschmettern
Das Verhör dauerte fort, Castaldi schien mit zwei Stimmen gleichzeitig zu sprechen. Am Gaumen schöpfte, mischte er Zahlenreihen, während die platzenden flatternden Lippen das Lärmfeuerwerk der Fragen, Flüche und Drohungen fortsetzten. Von Haushaltsdingen sprang er rasch zu den mannigfachsten anderen Geschäften über, stets schien die della Valle unterrichtet, mit bestimmten Kommissionen beauftragt, mit eigenem Gelde beteiligt. Sie widersprach ihm manchmal hitzig, er überschrie sie, sie sog verstummend an der verletzten Hand und sah zu dem wie gelähmt dasitzenden François hinüber mit der starren Verschmitztheit des Belagerten, der das Entsatzheer in Eilmärschen heranrücken sieht. Es ging vor allem um die Stundung eines Pachtzinses, dazwischen stritt man sich über die einem Kupferstecher auszubezahlende Summe und über den Verkauf der Weinernte dieses Jahres. Damit eng verknüpft war sonderbarerweise ein dem Besitzer einer Pulvermühle zu gewährender Kredit. Diese Angelegenheit stimmte Castaldi plötzlich heiter. Er klappte sein Kontobuch behaglich zu und wisperte zu François hinüber: Apropos diese Pulvermühle, Herr Leutnant! Wissen Sie, ich habe eine merkwürdige Eigenschaft. Sie macht mich manchmal ganz ängstlich, ist ja auch in keinem republikanischen Tugendregister genannt. Ich sehe nämlich viele Dinge, Menschen, Einrichtungen, einmal so, wie das Regierungsbulletin sie bezeichnet mit ausgestrecktem Statuenfinger und wie sie in den Spalten der Statistik figurieren. Aber dann sehe ich noch einen Augenblick länger in derselben Richtung und dann, passen Sie auf, Herr Leutnant, dann scheinen die Dinge mich plötzlich mit den Augen anzuzwinkern oder schlagartig zu erröten, rote Geheimtinte wird unter den Drucklettern flüssig. Da trägt der Frieden Pistolen im Busen und die Nationalgarde Tabak im Pulverhorn. Da lese ich von den Opfern, die Frankreich die Erkämpfung unserer Freiheit gekostet hat, und plötzlich, was meinen Sie, sehe ich einen Transport neapolitanischen Kirchensilbers in Paris eintreffen. So geht es mir auch bei dieser Pulvermühle: Erst sehe ich, was ich gelesen habe, wie ein französisches Kommando durch den jungen Kastanienwald hinreitet und feststellt, es ist ein feuchtes Gemäuer, keine Vorrichtungen, keine Vorräte darin. Die Landleute haben einige Handwagen untergestellt. Und gleich danach sehe ich das Gemäuer nachts, es ist Licht da, es wird geschaufelt und geschüttelt, Karren werden schwer beladen von Bewaffneten fortgeschafft. In einer Fensternische lehnt ein kleines verkohltes Muttergottesbild, das stand bei den Mägden von Avellino, die von französischen Soldaten geschändet und auf dem Bettstroh verbrannt wurden. Jeder der Männer küßt das Bild und behält die Asche auf den Lippen. Ja, Herr Leutnant, Sie haben eben eine schlechte Nase, sonst hätten Sie aus dem Kaffeedampf, dem Parfüm dieser Dame und der Stinkfaulheit ihres fratellino den Brandgeruch herausriechen müssen! Dann könnten Sie der parthenopäischen Republik einen ähnlichen Dienst erweisen wie jenes Dienstmädchen, von dem uns so spannend erzählt wurde, wie es die Verschwörung aufdeckte.«
François stand auf und kam, die Hand am Degengriff, auf Castaldi zu. Die della Valle war neben ihm und rief. »Castaldi, du hast unseren Gast beleidigt. Du wirst gleich alle deine infamen Drohungen zurücknehmen!« »Ich werde nach Salerno fahren, von dort zu Ruffo, zur Landung des Königspaares bin ich wieder bei euch!«
Der Bruder hatte mit dunkelrotem Kopf und schwitzender Stirn hinter Zeitungen gesessen. Jetzt riß er sich den Rock herunter – beim Südländer das sicherste Zeichen, daß man es auf eine Rauferei ankommen lassen will – weit bauschte sich das Hemd über dem Gürtel. Mit geballten Fäusten drang er auf Castaldi ein. »Willst du dich entschuldigen, willst du alles zurücknehmen!« Er wiederholte es mehrere Male, zwischendurch wölbte er schluckend den Kiefer vor, leckte wild mit der Zunge. Der Blödsinnige lief aufheulend hinzu, schmiegte sich an Castaldi und wurde von dessen Angreifer mit einem Fußtritt, einem bösen Hufschlag beiseite geräumt. Castaldi fing den Stürzenden auf, stellte ihn behutsam wieder auf die Füße und ohrfeigte dann den Bruder frisch aus dem Handgelenk, wie man Karten nach rechts und links austeilt. Der ließ nun seine weitherschwingenden Fäuste dem Gegner rechts und links gegen die Rippen krachen, doch rasch wurden die Bewegungen stumpfer, hastiger – schon waren es die aufgebrochenen Hände, die entsetzt anpochten, verzweifelt mit dem Spitzenjabot rangen. Denn Herr Castaldi hatte ihn gleich an der Kehle gepackt und drängte ihn nun mit zierlichen Stampfschritten gegen die Wand. Er mußte fürchterlich zugegriffen haben, denn nach kurzer Zeit begann der Gewürgte in den Knien einzuknicken, röchelnd hintenüber wegzusinken. Seine Schwester rankte sich mit tausend dornigen Kratzern und kletternden Saugwurzeln dazwischen, schäumte, kochte an Castaldi hinauf, wurde aber machtlos in die verschränkten Glieder hineingeschnürt und beschleunigte mit ihrem Gewicht nur das Rückwartstaumeln des einen. Endlich ließ Castaldi los, spuckte den Bruder gleichsam von sich mit dem Ausruf: »Jämmerlicher Meuterer!« Damit hatte er den letzten Tropfen aus der Giftblase gespritzt, er erschien wie einer, der, nach des Herbstes scharfen Jagdritten vom Pferde steigend, den im ersten Frost erstarrten Boden unterm Schuh aufklingen hört und davon froh wird. Also ist das Jahr dem Winter sicher verfallen, er weiß, was er jetzt zu tun hat. Für die Minute hatte sich Castaldi behauptet, den Raufbold von Bruder gezüchtigt wie schon oft, aber die Stunde war nicht mehr sein, die Kerzen verzehrten sich schon nach anderem Gesetz, nur damit sie der andere funkeln sähe, funkelte Giovanna ihn an. Er ging hinaus und begann dort wieder seinen Pendelgang, gefolgt von dem Zwerge. An dessen Stelle keuchte jetzt, mit einem Kissen die mißhandelte Kehle betupfend, der Bruder auf dem Diwan. Doch da es mit rauhem Brokat und Glasperlen bestickt war, brachte das Kissen der Haut keine Linderung; er schleuderte es von sich und brachte dadurch den Leuchter zu Fall. Die Kerzenflammen erloschen. François hatte noch gesehen, wie die della Valle, eine Schleife ihres Gewandes zurechtziehend, dem Bruder zuschaute, ohne ihm weiter beizustehen, und hatte ihr zugerufen, daß man ihn ans Fenster bringen müsse. Jetzt im Dunkeln tastete er sich nach ihr hin. Sie war ihm schon ein Stück entgegengekommen, unschlüssig, wie von einer Menschenmenge vorgeschoben. François zog sie an sich, sie zwängte ihre Hände nachlässig unter seine, um den Griff zu lockern, erntete aber damit nur einen komisch verrenkten, feurig jovialen Händedruck ihres Verehrers – und hielt nun, ein wenig ratlos und begossen, seinen ungestümen Küssen still. Der Zorn wegen des voraufgegangenen Handgemenges wühlte noch unbesänftigt auf und nieder in Brust und Hals, doch ihre Haut war kühl und trocken wie ein Zinnkrug der Schnitter im Schatten. Sie küßte François beherzt wieder, blieb dann aber mit voneinandergesprengten, verdursteten Lippen an seiner Wange lehnen. »Du mußt Castaldi stellen, du wirst ihm verbieten, meine Wohnung noch einmal zu betreten.« Das war das Begehren des vorgestellten Volksauflaufes hinter ihr, das vorbringen zu müssen sie keine Sekunde vergessen hatte. Sie war ein Revolutionsgenie, die einen kleinmütig vor der Barrikade Zögernden an ihrem Busen ausruhen läßt, ihm liebkosend durchs Haar fährt, aber blitzenden Auges den Kühnen Beifall ruft, mit Zähneknirschen die Gefallenen zählt. –
Castaldi war wieder eingetreten und wartete auf der Türschwelle. Aus dem finsteren Zimmer, wo das raschelnde Seidenkleid, die erknarrenden Militärstiefel und gefräßigen Küsse ein merkwürdiges Schilf- und Weihergeräusch hervorbrachten, bellte ihn die Stimme des Mädchens an: »Bring Licht und laß den Kutscher die Pferde abdecken!« Er kam nach einigen Minuten mit einem Windlicht wieder, welches er, das Kaffeegeschirr sorgfältig auseinanderräumend, auf den Tisch abstellte. Man wechselte keine Worte, der auf François' Schulter liegengebliebene Arm der della Valle sagte alles. Er brauchte gar nicht herauszukommen mit seiner nachdrücklichen Bitte, Castaldi möge unverzüglich und endgültig das Haus verlassen, denn er habe mit seiner unerträglichen Roheit der Hausherrin Gunst für immer verscherzt. Als er den verzückten, lechzenden Haß wahrnahm, mit dem die Blicke der Geschwister in Castaldi badeten, versuchte auch er nachträglich seinem geschwollenen Stirnkamm einige Falten abzupressen, um schicksalskundig, geistesabwesend die Kapitulation seines Rivalen entgegenzunehmen. Aber er wirkte doch nur wie ein zwischen Statuen geratener Spaziergänger. Castaldi faltete einige auf dem Schreibtisch ausgebreitete Papiere zusammen und steckte sie zu sich. Etwas klimperte am Boden. Goldkreuz und Kette, die sich die della Valle mit heftiger Kraftanstrengung vom Halse gerissen hatte. Er suchte gemächlich danach, bekam das Geschmeide zu fassen und ging mit wohltönendem Gutnachtgruß hinaus.
Der Blödsinnige durchforschte jetzt, sich an Kinn und Nacken kratzend, den Raum, pflanzte sich dann vor Giovanna della Valle auf und zwickte sie in die Backe. »Ist mein Bett abgedeckt?« – »Ja, auf der Treppe, mein Schatz.« Sie schickte ihn mit Hohngelächter Castaldi nach. Die nächsten Minuten erfüllte ein närrischer Verbrüderungsjubel der drei. Sie nannten sich ihre Vornamen: Giovanna, Vittorio, François. Giovanna begann ausgelassen zu erzählen, von der Tyrannei Castaldis, von seinen royalistischen Intrigen, seiner blinden Verehrung des Königshauses und der Kirche. Dabei habe er sich persönlich als Freigeist bezeichnet und die kirchlichen Dogmen nur mit Vorbehalten, jedoch den buntesten Aberglauben bedenkenlos akzeptiert. Jetzt erfuhr der Offizier auch, was für eine Bewandtnis es mit dem blödsinnigen Verwachsenen hatte. Das sei so recht das Zentrum von Castaldis weitverzweigten Hirngespinsten gewesen. Das Balg sei das Unterpfand einer mit geheimer kirchlicher Billigung eingegangenen Verbindung Castaldis mit einer Person königlichen Geblütes – der Irrsinn des Sprößlings spräche ja zumindest nicht dagegen –, ihm sei später wenigstens ein Kardinalshut sicher. Dieser Zwerg sei ein noch viel ärgerer Plagegeist gewesen als Castaldi selbst und habe seine verkehrtesten und verworfensten Einfälle durchzusetzen gewußt. Gottlob sei er für gewöhnlich in einem Kloster am Vesuv in Wohnung und Kost gegeben und nur manchmal unter lächerlichen Vorsichtsmaßregeln, damit er nicht den Franzosen in die Hände fiele, in die Stadt geführt worden, um sich einigen bigotten alten Jungfern nächtlicherweile in Grüften und Sakristeien zu zeigen. –
Oft richtete sich der noch immer leichenblasse Bruder von dem Diwan auf, um mit heiser pfeifender Stimme die Schwester in irgend etwas zu verbessern oder zu ergänzen, und sank dann mit geisterhafter Lache wieder zurück. François war in Kirmeslaune, bewieherte jeden Satz bis zu Tränen, hieb sich und Giovanna soldatisch auf die Schenkel. Er sang die Marseillaise, in welche die Neapolitanerin einfiel mit der Stimme eines jungen Engels, der trunken heilige Marterwerkzeuge zum Gerümpel wirft. Aber dann beruhigte sie sich merkwürdig schnell. Sie plapperte noch weiter, fing nun aber an zu schwindeln und ließ den aufs Eis geführten François dann mit tückischer Pause draußen stehen, so daß er Wasser glucksen und die Möwen lachen hörte. Von ihr selbst war alle Lustigkeit gewichen, komisch war nur noch, wie regelmäßig der siegestrunkene Franzose sein Bravo hervorprustete. Er, eben noch der Held der häuslichen Revolte, war plötzlich nur noch ein Tanzbär, und die Aufständischen, ohne Reue, aber auch ohne Zuversicht aus der Nachtkälte an die wärmende Brandstätte zurückgekehrt, foppten ihn, taten ihm weh. Er, der geglaubt hatte, daß sich ihm in wenigen Augenblicken die Tür zu Giovannas Schlafzimmer öffnen würde, wollte nun, nachdem er auch den neuen Stimmungswechsel gemerkt hatte, plötzlich festgestellt haben, wieviel Uhr es geschlagen. Mitternacht sei doch gewiß schon längst vorüber, und wo er noch einen Wagen bekommen könne? Man ließ ihn fragen, sich selbst antworten und ganz ausreden, bis er einen jähen Punkt machte – Anker werfend in der unvermutet zur schwarzen, reißenden Meerenge gewordenen Landungsbucht, ohne zu wissen, ob er Grund finden würde. Schließlich antwortete Giovanna, und am Ende wußte François, daß er den Rest der Nacht im Hause verbringen dürfe. Aber er mußte fast selber darum bitten, Giovanna begnügte sich damit, ihn die Richtigkeit einer theoretischen Erörterung, was im allgemeinen einem Fremden im nächtlichen Neapel und im besonderen einem einzelnen französischen Offizier bei der gegenwärtigen Lage zustoßen konnte, Satz für Satz bestätigen zu lassen. Besonders ließ sie ins Gewicht fallen, daß Castaldi, der viele geheime Anhänger in der Straße besitze, ihn einigen messergewandten Lazzaronis empfohlen haben konnte. Dann ging sie mit leichtem Kopfnicken hinaus, nachdem sie den Bruder gebeten hatte, dem Gast das Zimmer zu zeigen. Vittorio, sich schwerfällig auf die Füße stellend, trödelte in der Art eines invaliden Nachtportiers mit François durch die Wohnung, öffnete schließlich eine kleine Schlafkammer. Das Bettzeug war gebraucht. Zwei leere Vogelkäfige standen am Fenster.
François saß lange mit aufgehaktem Rock und abgelegtem Degen auf dem Bettrand und fluchte vor sich hin. Was fiel denn diesem Frauenzimmer ein, sich erst von ihm abküssen zu lassen, vor seinen Augen einen anderen Liebhaber abzudanken und ihn nun wie einen mißglückten Pudding in dieser Dienstbotenkoje zu verstauen. Dies ewige Aprilwetter war ja zum Närrischwerden. Erst grauer Regen, dann stechende Sonne und rüttelnder Föhn, und wenn man hierauf seinen Mai forderte, wurde wieder ein Nachtfrost eingeschoben. Man hatte ihm Hoffnungen gemacht, seine Versuche, diese reichlich mißglückte Visite noch vor Castaldis Wutausbruch abzubrechen, mit Stillschweigen übergangen. Oder war das alles nur ein Übereinkommen zwischen den Geschwistern, voreinander den Schein des Wohlanstandes zu wahren? Der Bruder sollte nicht zuhälterisch das Paar unterhalten, um sich plötzlich grinsend hinauszustehlen. Diese Vermutung erschien François einleuchtend. Er glaubte schon, man warte vor der Tür mit leise klappernden Pantöffelchen, eilte, den Riegel aufzustoßen. Doch mußte er einsehen, sich getäuscht zu haben. Lauschend strich er den Gang hinauf. Ganz fern war ein Gespräch, ein steigender, sinkender Springquell fiel auf Marmorfels, von dem das Wasser sofort abströmt. Giovannas Stimme musizierte mit der noch immer etwas belegten des Bruders. François fand das Zimmer, es war verschlossen. Der Bruder mußte in der Kammer nebenan schlafen; die beiden unterhielten sich durch die offenstehende Verbindungstür. Es war eine sorgenvolle Beratung meist im Neapolitaner Dialekt, vielleicht galt sie der durch Castaldis Abgang entstandenen Lage, wieder wurde von dem Pachtzins eines Landgutes gesprochen. Der Bruder schien dann einige Namen aus der Gedächtnistiefe heraufzufördern, ein Bankier, ein Baron, Verehrer Giovannas – der eine hatte vor Jahren einmal ihr Betpult in San Pietro mit Geschmeiden vollgestopft. François schlich wieder zurück. Er stieß an etwas, das Schiff des Blödsinnigen zerkrachte ihm unterm Stiefel. Hähne krähten, Esel schrien. Im Norden, auf den Höhen, wurden Trommeln gerührt.
Nach wenigen Stunden Schlafes wurde François durch das Geschrei der Straßenverkäufer wach. Weißglut des Tages verzehrte schon das Gittermuster der Jalousien. Lange lag er ohne deutliches Bewußtsein des Ortes und der Stunde, doch der Lärm bröckelte ihn, wie der Hammer das Petrefakt, langsam aus dem Kreideberg des Schlafes heraus. Dann stieß er hinter dem Schrank ganz unvermutet auf ein zierliches Lavabo. Gefüllte Karaffe, Serviette, alles war vorhanden. Auch die Stube wirkte, wennschon das Licht alle Verwahrlosung nur stärker hervorhob, freundlicher als am Vorabend, Morgenluft spülte über die Fensterbank und ließ die Tapetenfetzen mit leisem Schaben vibrieren. François hörte jetzt auch Schritte über den Fliesenboden der Wohnung klingen, man war anscheinend, ganz entgegen der italienischen Gewohnheit, schon früh auf und am Wirtschaften. Noch ehe er zu irgendeinem Entschluß über sein Bleiben und Gehen und über sein Verhalten zu Giovanna gekommen war – sollte er sich enttäuscht und bitter zeigen oder unverdrossen weiter werben? –, klopfte diese schon an seine Tür und trat mit einem Frühstückstablett ein. Sie war verblüffenderweise in ländlichem Kostüm, stak in hohen türkisch-balkanesisch anmutenden Schnabelschuhen und war in ein Mieder von schwerer Goldborde geschnürt, dem an den Schultern die weiten Ärmel eines Musselinhemdes entblühten. Dazu hätte nun das bunte Kopftuch der Bauernfrau oder eine bis auf die Augenbrauen drückende Brautkrone gehört, aber Giovanna war ohne Kopfbedeckung und trug das Haar noch auf echt parthenopäisch »alla greca« nach hinten gekämmt in einem kleinen Knoten und langen Locken im Nacken. Mit strengem Scheitel und edel natürlichem Mähnenfall, wohl vom zeitknappen Coiffeur, gefeierter Primadonnen für einen maßlosen Preis zurechtgekünstlert, bildete der Kopf einen seltsamen Kontrast zu der bunten Volkstracht, trug sich chimärenhaft fremd über der geschnürten verbrämten Brust. Giovanna blieb im Türrahmen stehen und redete den Gast ohne Fragebetonung an, ob er gut geschlafen habe, ob ihm nichts abgegangen sei. Dann, sein Erstaunen über ihre Kleidung beantwortend: Ja, sie führe heute aufs Land, auf ihre Vigna am Vesuv, er habe vielleicht schon bei den gestrigen Wortwechseln davon erfahren. Nach dem Bruch mit Castaldi sei ihre Gegenwart dort vonnöten, denn die Besitzverhältnisse seien juristisch nicht eindeutig festgestellt. All die Zänkerei des Vorabends habe ihr die Wohnung auch gründlich verleidet. Sie sehne sich nach Garten und Seeluft, nach einigen Tagen des Ausruhens im Hause des Pächters, wo ihr einige mit städtischen Bequemlichkeiten eingerichtete Zimmer zur Verfügung stünden. Ob er etwas dagegen habe, sie zu begleiten. Die Schönheit Campaniens würde ihn gewiß glücklicher stimmen als die heiße Etagenwohnung und deren allzu temperamentvolle Bewohner.
François' schluckende Kehle ließ einige Hms hervor, seine Augen blieben hartnäckig am Boden haften. Dann meinte er, ihr einen unverblümt klarstellenden Blick beibringend, das sei eine sehr schöne Einladung – und eine Verheißung, wie er bitte hoffen zu dürfen. Sie wandte sich errötend zum Gehen und war eine Sekunde darauf zurück, einen bürgerlichen Anzug überm Arm und mit dem Ersuchen, François möge für heute seine Uniform zu Hause lassen und Zivil anlegen. Man könne sonst im reaktionären paesello Skandal hervorrufen. Hoffentlich finde dies hier seine Billigung. Der Bruder habe darin bei einem berühmten Rechtsgelehrten als Bibliothekarius gearbeitet, der Statur nach müsse es einigermaßen passen. François, alleine geblieben, entschloß sich, der Aufforderung Folge zu leisten. Als er Giovanna reisefertig abholte, fand sie sein Aussehen überaus bieder und vertrauenerweckend. Die Bauern würden gewiß Rechtsgutachten bei ihm einholen wollen und Neugeborene anmelden. Auf der Treppe bemerkte der Offizier mit Befremden, wie sie eine Pistole zu sich steckte. Die habe sie dem Pächter schon lange versprochen, um damit im Sommer die Vögel von den Weintrauben zu scheuchen – wurde ihm erklärt. »Dafür wäre eine alte Knarre gut gewesen«, meinte er, »für solch eine moderne Waffe ist es zu schade.« Es schien ihm ein Terzerol englischen Fabrikats zu sein. Während sie zusammen die Salita hinuntergingen, Giovanna mit Arm und Täschchen balancierend, um nicht ins Rennen zu kommen bei dem steilen Bergab, kam es François zum Bewußtsein, wie merkwürdig sich auch das Wesen seiner Begleiterin verwandelt hatte über Nacht. Noch gestern abend dieser närrische Schwatz, dies Lästern und Schelten und dieser übergangslose Wechsel von knechtischer Unterwerfung und blinder Auflehnung. Heute nichts mehr davon, wie es schien. François gewahrte nur eine leidenschaftliche Bürgerin, die ihre eigenmächtigen Pläne mutig verfolgt durch die verworrenen Zeiten.
Unten erwartete sie ein munterer Zweispänner, der Kutscher in der landesüblichen Berufstracht. Der Tag blieb klar, auch war eine leichte Brise zu spüren. Sie fuhren eine der langen, mit ärmlichen zweistöckigen Wohnhäusern bebauten Ausfallstraßen, die aus der Stadt zu den Weinbergen, Landhäusern, Manufakturen am Fuße des Vesuvs führen. Ihnen entgegen schellte und trabte es ununterbrochen stadtwärts; reichgeschirrte Esel und Karren, die zum Obst- und Gemüsemarkt fuhren, Gruppen von Bäuerinnen wie abgerichtete Vögel auf dem geneigten Wagenboden hockend, während ein Bengel ausschweifend kutschierte. François erwarb für seine Begleiterin einen Armvoll blühender Zitronenzweige, ließ auch an einem mit Eßkastanien bestandenen Grundstück halten und durch einen Haufen faulenzender Kinder die ersten Veilchen unter den zusammengerollten Schiffchen der welken Blätter hervorlesen. Er war in diesen Vororten völlig fremd und gewöhnlich recht scheu, unlustig, fast geizig auf solchen Ausfahrten, aber jetzt tat er wie ein Gutsherr, der für seine aus der Stadt heimgeführte junge Frau alle Leute springen macht, an allen Bäumen und Hecken, den Zins herunterschütteln will und die wirkende Natur allerorten prahlerisch zur Ader läßt. In dem Wagen entstand bald von all den unterwegs aufgekauften Beutestücken ein lustiges Durcheinander. Der Kutscher fuhr wie der Teufel, der Luftzug schleuderte ihnen die Gardine des einen Wagenfensters ins Gesicht, die andere ließen sie wie eine Fahne herausflattern
Hinter Gärten lief jetzt der Meereshorizont mit. Erst wirkte das Wasser wie die spröde Wandung eines Kristallreifens hinter der Vegetation, doch dann, als sich die Straße senkte, tat sich die vielfältig bewegte und buntstrahlende Wasserfläche weit auseinander – man übersah, wie Land und Wasser sich einander bescherten. Ein schönes Stück Archipelagus, wie sich deren viele François ins Gedächtnis eingeschnitten hatten zwischen Rom und Gaeta. Er wußte auswendig, wie mit steigender Sonne die Schatten in den Felstälern zusammenschrumpfen, vertrockneten Bächen gleich, wie die Inseln im Mittagsdunst hinter ihre eigene Strahlung zurücktreten, wie die Gipfel sich zornig mit Wolken zusammenpacken, um sie abends abzustoßen wie eine erkaltete Gußform. Hinter ihnen rückte Neapel, das lehmfarbene Völkerlager, gleichsam mit knirschenden Grundmauern in die Fernansicht. Auf dem Kastell Sant' Elmo wehte die Trikolore.
Der Wagen hielt, man bezahlte den Kutscher. Sich gegenseitig umschlingend entwandelte das Paar auf der Sohle tiefausgeschnittener Hohlwege. Dem Bambusrohr entbrausten Vögel, Eidechsen zuckten über den Ascheboden, kleine Staubsäulen aufwerfend. Am Wegrain starrte in ganzen Chören das fruchtbare Volk der Kakteen, ungeschlachte Landkorallen. Der Morgenwind hatte sich gelegt, die Wärme begann schlagartig von Stein und Erde aufzublühen. François zwang seine Gefährtin stillzustehen, knüpfte ihr das Mieder auf, das weite Hemd fiel bei jeder Bewegung von den Schultern und gab die Brust frei. Aus dem einen Ärmel schlüpfte sie heraus und ging wie ein antiker Diskuswerfer, den einen Arm entblößt, am anderen das Gewand aufgehängt. Das Mieder trug sie an den Schnürbändern wie eine Schulmappe, ungeschickt damit hin und her schwenkend.
Eine steinalte Bäuerin kam ihnen entgegen, einen Knotenstock schwingend und rüstig ausschreitend wie ein Landbriefträger. Dem Offizier streckte sie die Zunge heraus und machte die Gebärde zur Abwehr des bösen Blicks, wandte sich dann mit gräßlichem Schelten gegen die Kurtisane, wollte sie wieder ankleiden. Jene entfloh mit komischem Angstschrei, die Alte verfolgte sie mit erhobenem Stecken, verlor dabei aber ihre Fußlappen. Noch einige Male kräftig vor dem Offizier ausspuckend, trat sie dann den Weitermarsch an, mit Verwünschungen gegen das verderbte Neapel, in dessen Bordellen der Platz nicht mehr ausreiche, so daß man schon vor den Toren der Stadt Unzucht treibe und damit die anständigen Dorfmädchen besudele. Giovanna huschte der Schimpfenden nach, um Segen und Verzeihung bettelnd, erhielt aber zur Antwort nur einige Steinwürfe hinter der Wegbiegung hervor. Dieser Auftritt löste bei ihr dieselbe fanatische Lustigkeit aus wie am Vorabend nach Castaldis Niederlage. Sie schürzte ihre Röcke und marschierte im Stechschritt, sang auch wieder Marseillaise und Carmagnole.
Eine kleine Meereseinbuchtung wurde sichtbar, wo auf einer rundgewaschenen, gleichsam von der Zeit niedergetretenen Felsrampe von schwarzem Basalt ein halbes Dutzend nackter Jungens schlafend lagen, sich nach dem Bade sonnend. Mit Händeklatschen und prustendem Gelächter wurden sie von Giovanna geweckt. Die meisten nahmen ihre Kleider und stiegen nervös, Geringschätzung vortäuschend, mit langen Beinen über die Klippen davon, andere blieben, sich verlegen bedeckend, am Flecke sitzen und äugten zu der halbnackten Städterin herüber, einige Entschlossene aber pirschten sich mit allerlei Pfiffen und Geheul an die seltsame Erscheinung heran. Die Kurtisane amüsierte sich königlich über das verschiedene Verhalten der Halbwüchsigen. »Die Feinen und Gescheiten, die ich gerne möchte, ziehen sich indigniert zurück, die Dicken bleiben sitzen, weil ich später doch zu ihnen muß, wenn ich alt und gepfändet bin; die Dummen und Gemeinen allein greifen an und nehmen die Festung«, erklärte sie, etwas furchtsam wegen der nun ganz nah zwischen den Rebstöcken herumkletternden Horde. Ihr Kavalier zog sie ungeduldig weiter, sich erkundigend, wie weit das Pächterhaus noch entfernt sei.
Plötzlich klopfte ganz nah eine Pauke – fast unter ihren Füßen, wie es ihnen wegen des schalleitenden vulkanischen Gesteins schien. Trompeten, immer dieselbe Fanfare, verzückt und peinigend scharf, zeterten darein. Eine ländliche Prozession zog hinter ihnen herauf wie ein Mittagsgewitter. Da das Heiligenbild, das voraufgetragen wurde, anscheinend sehr schwer war, stolperten die Träger, die Stirnen kraus vor Anstrengung, mit letzter Kraft eilig vorwärts; hinter ihnen hastete die Prozession, erbittert bemüht, den langsamen Takt des Kirchenliedes durchzuhalten. Um nicht überrannt zu werden, mußten die beiden sich flink die Wegböschung hinaufschwingen, wo sie mit unsicherem Stand die Prozession unten vorbei ließen. Das Augenweiße der Trägerköpfe drehte sich nach ihnen, dann kamen Dominikanermönche mit Kerzen und einem Banner. Alle warfen haßvolle Blicke nach ihnen ab und schlugen darauf verstockt die Augen zu Boden, ihre Backen aufblasend. Wie die Leute von der Begräbnisbruderschaft dreinsahen, war nicht festzustellen, da sie über das Gesicht hängende Kapuzen mit schmalen Augenschlitzen trugen. Aber am Schluß kam ein Trupp Weiber. Ihnen verschlug es fast den Atem, als ihre, gleich schlaffen Netzen in das Grün der Gärten ausgehängten Blicke plötzlich den blanken Fisch zappeln fühlten, das weiße Mädchen und den auffallenden Fremden. Als müßten sie einer übermäßigen Anfechtung, einer unsäglichen Teufelsfratze standhalten, stemmten sie, ein Wutgeheul ausstoßend, ihre nackten Füße gegen den Boden, wandten sich dann, ihren Kindern die Augen zuhaltend, als schnarche dort oben ein Basilisk, gebückt, mit zusammengebissenen Zähnen vorbei. –
François machte einen Luftfußtritt hinter ihnen her. Giovanna stand, die Hände vor das Gesicht gepreßt, scheinbar ein Gelächter verhaltend. Aber es glänzte über ihre Fäuste hin; wie bei einem zu Tode gehetzten, zusammengebrochenen Wild, über das die Hunde kommen, zitterte der Hals. Beim Scirocco scheinen die weißen Gebäude, die bunten Kähne und funkelnden Obstgärten in einer giftigen Säure gewaschen zu zergehen, mit dem Qualm oxydierend. So war das sonst in tausend Spannungen und Frätzchen spielende Gesicht der Kurtisane hinter einem plötzlich ausgetretenen Tränenstrom zerlost, verwest. Sie weinte ohne einen Ausdruck des Schmerzes, des Zornes, der Beschämung, sie heulte besinnungslos, blutete Tränen. François wollte sie besorgt unterstützen, eine jähe Erkrankung befürchtend. Aber da war sie schon, plötzlich den Namen des Heiligen wissend, mit dem Ruf »San Ciro, San Ciro!« der Prozession nachgestürzt. Als der erwachte Basilisk in ihrem Rücken klirrend angerast kam, wichen die Weiber entsetzt in die Reihen der Mönche hinein. Doch sie drängte sich flehend, wie eine Ausgesetzte den abziehenden Schergen nacheilt, zwischen sie, und nun nahmen die Bäuerinnen sie mit plötzlichem Entschluß in ihre Mitte.
François folgte langsam in dem von der Prozession aufgewirbelten Staub. Er betrachtete ein wenig den Vesuv, der kuriose Berg war bis oben hin grün von Gärten und jungen Gehölzen, wie sonst ein vereinzeltes Vorgebirge; aber oben, wo sich sonst die nackte Kuppe abwettern läßt, war das Mundstück des Kraterrandes eingebacken, dem beinahe taktmäßig die Dampfpakete entwichen. Ihm graute ein wenig vor dieser selbsttätigen vulkanischen Natur; alle Gegenstände traten da unversehens wie unter Explosionen auf, überrumpelten einander, hielten sich gegenseitig in Schach! Es kam nicht zur Entwicklung großzügiger Geländeformen, hier hielt ein Trupp festungsartiger Steinhäuser die Höhe, denen sich ein schwarzer Lavastrom verwüstend in die Besitzungen ergossen hatte, dort zogen Steineichen in eine Schlucht, auf deren Sohle ein Meeresarm aufblitzte. Ein Glück, dachte François, daß ich meine Batterie auf den Feldern der Lombardei und nicht auf diesem brodelnden Asphalt habe auffahren müssen. Die Kriegführung muß hier ein ekelhaftes Geschäft sein. Man kann sich nicht einfach an die Straße halten wie beim Gebirgskrieg, wird aber in Linie vorgegangen, stockt und schleppt es gleich allerorten – immer wieder kann der feindliche Plänkler vorstoßen, der ortskundige Heckenschütze sich einnisten. Jetzt war ja Frieden, doch hatten die Menschen, denen er bis jetzt begegnet, keinen sehr befriedeten Eindruck gemacht. Der Leutnant war froh, dem Rat seiner Freundin gefolgt und die Uniform abgelegt zu haben; so konnte er alle weiteren Intermezzi und Szenenwechsel überdauern, ohne selbst mit in die Handlung verwickelt zu werden – um schließlich Giovanna behutsam weiterzuführen, als habe sie sich von einer Ohnmacht noch nicht ganz erholt.
Denn so viel hatte François schon gemerkt, daß es hierzulande auf Beharrlichkeit und langen Atem ankam! Nur wer sich von keiner der Proteusgestalten ganz hinreißen oder abschrecken ließ, wer jedem Jauchzen mißtraute, keinen Aufruhr ernst nahm, nur dem wurden am Ende die Schlüssel bedingungslos ausgehändigt. So hatten die fremden Despoten Neapel beherrscht und genossen. Freilich, er konnte Giovanna die Art, wie sie ihn neuerlich im Stich gelassen, kaum verzeihen, jeder andere wäre jetzt spornstreichs umgekehrt und hätte der Fahnenflüchtigen vielleicht mit einer Denunziation vergolten, ihr Staatspolizei und Einquartierung auf den Hals geschickt!
Aus nahem Glockenklang schloß François, daß eine Kirche, das Ziel der Prozession, nicht mehr weit entfernt sein konnte. Dort würde gewiß ein Meßamt stattfinden, im Gedränge ließ sich dann Giovanna leicht beiseite führen, das Pächterhaus war wohl auch in der Nähe. Er bemerkte, daß er noch Giovannas Mieder trug. Das würde in der Kirche nicht eben passend wirken, und so hängte er es seitwärts in einen Ölbaum. Doch der Weg sollte François recht lang werden, er fühlte sich durstig, matt in den Knien; der versäumte Schlaf hatte ihn eingeholt. Endlich begann Erd- und Steinfarbe hier und da die Baumgründe abzuriegeln, Pflaster aus mächtigen Lavaplatten hob sich unter der Wegasche empor – der irdene Boden des Kruges, dessen Wein schon zur Neige geht. Mauern, Verschläge – schon schachtelte sich um ihn eine ärmliche Ortschaft zusammen. Tuffbrocken, kein Mensch war zu sehen, Hühner rannten flüchtend, Ziegen, über ihm standbildhaft auf Treppen spähend, unten in Gruben rupfend, fuhren ruckweise nach ihm herum. Ein Platz empfing ihn leer, viele heruntergelassene Fensterläden, François beschritt ihn wie ein Gladiator seine Arena, von der er nicht weiß, wo die Zuschauer sitzen, was für ein Gegner ihm gegenübertreten wird. Vor den Wirtschaften standen die Stühle behaglich durcheinandergeschoben, so daß man das plötzlich abgebrochene Dorfgespräch noch meinte ablesen zu können. Im Schatten der Kirche warteten gesattelte Maultiere, er trat durch das mit rotem Samt ausgeschlagene Portal ein.
Drinnen war Gottesdienst und die ganze Gemeinde versammelt. Beim Eintreten des Fremden verbreitete sich Bewegung. François stieg, einem hochmütigen Einfall folgend, die Wendeltreppe zur Sängertribüne hinauf und erging sich dort auf den knarrenden Dielen. Erst nach längerer Zeit lüftete er den Hut, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und begann dann Stück für Stück seines Gesichtes in dem winzigen Taschenspiegel abzubilden, den er in der Rocktasche vorgefunden hatte. Giovanna sah er vorne an den Altarschranken kniend, wo der Prozessionsheilige, die Hand im Blute der martervoll durchbohrten Brust netzend, dem Knicksen, Knien, Räuchern der kleinen Priester hingegeben zuzuschauen schien. Jetzt flatterte Trompetengeschmetter auf, wurden Flintenschüsse abgegeben, alles zerbrach im Gewölbe wie ein steckengebliebener Säbel. Der Heilige taumelte wieder hoch, von seinen Trägern aufgenommen, die hinter dem Altar hervorkommenden Mönche drängten mit ihm in die Sakristei und viel Volk ihm nach. Sehr rasch, als stünden Saugpumpen an den Türen, leerte sich die Kirche. Kurz noch, vom Gewölbe zu rauhen Seufzern gedehnt, das Wispern von Kindern, die den fremden Mann beobachteten, dann war auch das hinausgeschlungen.
François wußte nicht, wo sich Giovanna hingewandt hatte, aber sie mußte ihn jedenfalls hier oben auf seiner Tribüne gesehen haben. Ihm war kläglich zumute, sein Verlangen jammerte säuglingshaft nach ihr, in seinem müden Kopf braute der Tiefsinn des Abgesetzten. Jetzt ist es Mittag, phantasierte er, die Sonne verharrt im Zenit. Am Morgen ist sie dahin aufgestiegen, da darf jeder mit bergauf laufen, auseinanderschwärmen, seinen Platz wechseln. Aber am Mittag, wie um Mitternacht, muß alles wieder Stellung bezogen haben, da muß im Schatten beieinander sein, was zusammengehört, der Trinker beim Wein, das Kind in der Wiege, der Liebende bei der Geliebten. Ihm stand plötzlich das Gemälde aus dem Salon vor Augen, Giovanna mit erhobenem Weinglas, der Faun, sich mit einer Korbflasche einschenkend. Dann sah er den Faun Giovanna davontragen, er eilte mit großen Sätzen seiner Höhle zu. Der Höhleneingang war sehr schmal, er mußte sie auf die Füße setzen, und sie trat vor ihm ein, ohne umzublicken, mit stracken, geschäftigen Schritten. –
Das Kircheninnere war wie ein Seuchenlazarett dick mit Kalk getüncht, allerlei Pflanzen- und Insektenleben schien unter der Farbschicht mit süßlichem Geruch zu verwesen. Plötzlich lief Giovanna unten kreuz und quer durchs Kirchenschiff, mit gesenktem Haupt vor sich hinredend. François klatschte in die Hände, um sie aufblicken zu machen, hing gleich winkend und beschwörend über der Brüstung. Wie einer, der bei Windstille schwimmend sich zu weit von seinem Schiff entfernt hat: er kann es in der blendenden Sonnenspiegelung nicht mehr erblicken, plötzlich hat er es wieder entdeckt, winkt – da kommt es, obgleich kein Lüftchen weht, wohl mit vollen Segeln auf ihn zugebraust, rennt ihn fast in den Grund. Es war der fliegende Holländer, den er anrief! Giovannas Gesicht war immer noch tränenüberströmt, in tödlicher Enttäuschung und Bitterkeit biß sie sich auf die Lippen und schüttelte mit irrem Eifer den Kopf »Sie lassen mich nicht an den Heiligen. Der Bursche hat mich hinausweisen lassen!«
»Welcher Bursche?« fragte François von oben. »Er rächt sich für gestern nacht. Alles hat er verstanden, nichts vergessen. Den nennst du schwachsinnig? Jetzt hast du es erfahren! Eine hinterlistige, grausame Schlange ist er!«
François wußte nicht, was sie meinte. Er stolperte die Stiege hinunter, näherte sich ihr mit tröstendem Gebrummel und väterlichen Luftküßchen, wie man ein gefallenes Kind aufheben geht. Doch gleich wurde seine Stimme schartig, er machte ihr Vorwürfe wegen ihres Davonlaufens. Gestern abend noch habe sie sich auf die Seite der vernünftigen Bildung gestellt, knechtischer Abgötterei die Tür gewiesen, der hoffende Jüngling, der Soldat der Befreiungsarmee an ihrer Seite empfinde es als Schmach und Schimpf, wenn sie in seiner Gegenwart die alten Götzen aus der Schublade nehme und damit Staat mache, wie eine Dirne mit ihren Amuletten. Den Tempel der Liebe und das Pfühl der Priesterin habe sie ihm zugesagt, nun sei eine ungelüftete Dorfkapelle daraus geworden.
Sie hatte ihm kaum zugehört und schnob ihn mit fremder Verachtung an. Sie wolle gar nicht aus den Backen blasen, um diese Kartenhäuser niederzuwerfen, der kleine, widerwillige Hauch ihrer gequälten Brust genüge. Anstatt sie zu beklagen oder Rat zu schaffen, wolle er sie noch stirnrunzelnd zur Rede stellen? Er komme ihr vor wie ein herzloser Pedant, der einem armen Bankrotteur nachträglich Rechenfehler und Widersprüche in seinen Büchern nachweist und kaum Zeit hat aufzublicken, wenn der andere in den Schuldturm geholt wird. Heilige Madonna, es sei doch einerlei, von welchem der beiden miteinander verfeindeten Handelshäuser man zuletzt gekauft habe, ob vom Direktorium prämiiertes Nationalerzeugnis oder königliche Manufaktur. Wesentlich sei nur, daß plötzlich die Lieferung eingestellt, die Verträge gekündigt wurden und der Ruin hereinbräche. Das sei der einzige, wirklich verzweiflungsvolle Augenblick im Leben, dies Zurück und Hinaus jetzt. Sonst, wenn man irgendwo gescheitert sei, habe es immer Leute gegeben, denen noch mehr ersoffen war. Jederzeit habe man auch mehrere Eisen im Feuer gehabt, dieser unvermutete Treffer ließ jenen Verlust verschmerzen, man war nie um Mittel und Gegenmittel verlegen. Verdacht, Zwist, Eifersucht, vorteilhafte Versöhnung – eins gab das andere, nirgends war Stillstand. So hatte sie gestern François begehrt und Castaldis Widerstand gebrochen, sie waren drei gegen einen, alles glückte. Aber heute stand ihr der Heilige im Sinn, und da war das Unglück geschehen. Zu spät bemerkt hatte sich ein Komplott gegen sie gebildet, schmerzhaft war sie zurückgeschleudert worden, mußte mit unbewaffneten Händen vergeblich betteln und dann ins Gestern zurückkrebsen, die abgelegten Kleider auf neu umarbeiten. Alles war nur noch langweilige, abgekürzte Wiederholung, friedlose Zeitvertilgung.
Plötzlich schien sie auf einen neuen Einfall zu kommen. Sie machte einen Satz auf François zu, packte ihn an den Schultern. Sofort müsse er in die Sakristei, eine Andacht vor dem Heiligen verrichten, die fratres ehrerbietig grüßen, ein Almosen, eine Kerze. Sie sei sicher, dann zu San Ciro gelassen zu werden. Höchst wahrscheinlich habe man sie nur seinetwegen, ihres Begleiters wegen, abgewiesen. Man sehe ihm ja trotz des einheimischen Kostüms den fremden Soldaten an, den Libertin, der sich, nachdem er ein schönes Mädchen herausgeschnappt, frech über das Land und besonders über die dörflichen Gebräuche mokiere. Doch mit solch einem kleinen Pilgerauftritt würde er wohl das Gedächtnis des Bürschchens betrügen, den Grimm der Kleriker fortzaubern und seiner Giovanna Wunsch durchsetzen.
Sie sprach plötzlich mit der Rhetorik ihres Bruders, nur noch mit einem leichten Tränenschnupfen in der Stimme. »Und nachher«, fragte François, »dann geht es wohl ans Haarabscheren, und ich bekomme zum Abschied die Fingerspitzen durchs Sprechgitter gereicht?« »Dann gehen wir zum Pächter« wurde mit einem kurzen Wegblicken der Augen geantwortet.
François war bereit. Er bemerkte an Giovannas Hals über den Schlüsselbeinen einen feinen Nesselausschlag, an ihren Mundwinkeln trocknete Speichel.
Sie durchquerten die Sakristei. An den Wänden hingen in doppelter Reihe gedunkelte, gesprungene Männerbildnisse von bäuerlicher Hand. Es waren wohl die Mitglieder einer Laienbruderschaft, alle trugen einen kragenlosen weißen Mantel. Sie drückten die gefalteten Hände gegen die Brust, drehten an Siegelringen, nur einer hatte einen Teller mit einer halbierten Zitrone vor sich und hantierte darüber zierlich mit Messer und Gabel. François sah an einem Bild hinauf, schmerzlich aufgerissene Augen, der Mund dagegen wie mit Zwirn zugenäht, das Kinn eine Faust auf einem Schwertknauf. »Das ist ja Castaldi«, rief er aus »Er ist recht ähnlich geworden«, nickte sie und blies den Staub vom Rahmen, »obwohl er von einem halblahmen Porzellanarbeiter mit der linken Hand gemalt worden ist. Castaldi hat viel für diese Klosterkirche getan, weil sein Bourbonenbastard bei den Mönchen in Pflege ist.«
»Das ist also der böse Bube, der dich hat hinauswerfen lassen, und wir befinden uns wieder auf Castaldis Krongut? Die Palastrevolution ist hiermit schon abgeschlossen, Unterwerfung auf Gnade und Ungnade?« »Was redest du für Unverstand«, sagte Giovanna, ihn weiterziehend; »sei versichert, Castaldi wird seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten, mich nie mehr zu sehen. Mit mir magst du allerdings recht haben. Mir werden gewiß einmal die Sohlen bluten von breitbeinigem Stehen und hastigen Gängen, dann werde ich mich vor ihm auf die Knie lassen, doch er wird sich bekreuzigen und sich verwundert nach dem Altar umsehen. So ist es, nur dort kann ich noch niederknien, nur dem Heiligen meine Freiheit ausliefern. Sie heben einen nicht auf, sie schlagen einen nicht zu Boden, man weiß nicht, ob sie annehmen oder ausschlagen, nur, daß sie schon viele Unterwerfungen entgegengenommen haben.«
Über der Tür, durch die sie die Sakristei verließen, war aufgemalt Silentium, Clausura. Sie betraten also das Mönchskloster, das sich an die Kirche anschloß. Menschenleere, niedrige Gänge, auf die sich von beiden Seiten Zellen öffneten, wurden durchmessen; eine Tür stürzte sie über Stufen hinab unter die Reblauben des Kreuzgartens in Sonnenblitze und Scherbenfunken und die Schatten aufflatternder Tauben. Drüben fing sie eine andere Pforte wieder ein, weiter erstreckten sich Gänge in die Tiefe des Gebäudes, auf der Furt eines Läufers aus Strohgeflecht durcheilten sie geduckt die Refektoriumshalle, hinten schwebten, winzige Mönchsgestalten an den Zipfeln, riesige Tafeltücher im Dämmer, sanken auf die Tische. Dann hörte man Gemurmel und Geschlürfe, die säuerliche Luft strömte verdichtet, sie betraten die Kapelle des Heiligen. Giovanna druckte sich mit wie ausgezehrt zitternden Knien und doch sprungbereit neben die Tür und schickte François vor. So führt ein bedrängter Feldherr seine barbarischen Hilfsvölker ins Gefecht, faule, unwissende Vertragspartner – und doch erhofft er alles von ihnen. In dem Raume waren viele Menschen beisammen, alles Leute, die vorhin mit der Prozession gegangen waren, die Mönche lehnten an den Wänden entlang, schweigend, nur wenige steckten die Köpfe zu unhörbarer Unterhaltung zusammen. Die Träger der Heiligenbilder befühlten ihre zerdrückten Schultern und ließen eine Korbflasche kreisen, ein Laienbruder fegte Palmzweige zusammen und leitete die raschelnden Schübe achtlos-geschickt zwischen den überall am Boden gegen das Heiligenbild knienden Frauen hindurch. François schaute sich gar nicht weiter um, schritt spornstreichs zwischen den Andächtigen hindurch auf eine Bank zu, machte dort mit dem rechten Bein einen Ausfall, als wolle er dem Heiligen zu Leibe, kniete auf das Möbel nieder, das morsch erkrachte. Eine Weile verharrte er so mit gefalteten Händen, es geschah nichts. Dann versuchte er rutschend, sich bequemer auf seinem Anstand einzurichten, und vergrub das Kinn im Jabot, um sein Gähnen zu verstecken. Und ganz in derselben Weise wechselten alle Anwesenden das Standbein und senkten ihr Haupt, sie schienen mit gekrauster Stirn und blöden Lippen schmerzlichen, zweideutigen Gedankengängen nachzuhängen, sich nie wieder aufheitern zu wollen. Das steckte François an. Er fühlte sich steinübel. Es war schon seit gestern abend so, als er Giovannas Wohnung betrat, dort hatten sie ihm gleich balsamierte Binden übergeworfen und ihn dann mit schwarzem Kaffee und schnell gebackenen Kußplätzchen über seine Mumifizierung wegtäuschen wollen. Aber nun war das alles wieder von innen her weggeätzt worden, auch das Blütenöl von heute morgen, und nur die faulende Zunge lag im Mund. Was waren denn das eigentlich für beladene Tröpfe rings umher? Auch sie alle in die Falle gegangen statt ins Spital, arme Mitkandidaten für den Leichenkeller. Er fühlte sich bis zu Tränen gerührt.
Plötzlich stöhnte es von hinten. »San Ciro! Laßt mich zu San Ciro! Ihr werdet mich nicht wieder von San Ciro wegjagen!« – Giovanna, durch die drinnen nach François' Eintritt entstandene unerklärliche Pause noch qualvoller aufgebracht, hatte es nicht mehr hinter der Türe ausgehalten, rang nun vor den Mönchen die Hände. Sofort wurde es unruhig. Räuspern, halblaute Scheltrufe, feindseliges Auflachen. Niemand kniete mehr, die ganze Reihe der Mönche schob sich von der Wand gegen die Mitte der Kapelle, jetzt herrschte schon lärmende Empörung, die in der Folge rasch zum Geheul wurde. Eben hatte man noch grüblerisch beieinander geweilt, wie Bäche auf der Wasserscheide sich krause Betten nebeneinander hergraben. Doch auf die Dazwischenkunft Giovannas hin wandte sich alles mit jähem Winkel in Sturzfluten zu Tale, unten schwoll im Nu ein gewaltiger See auf, nur François' Rinnsal blieb weiter auf der zur Wüste gewordenen Hochebene. Leutnant Renaudet übersah die Lage. Giovannas Plan, durch das mit ihm aufgestellte Intermezzo die Feindschaft der Pfaffen und ihres Anhanges zu zerstreuen, war offenbar völlig gescheitert. Ja, man hatte sich nur noch entschlossener gegen das Mädchen verschworen. Daß sich dieser im Grunde ganz unverständliche Haß auch auf ihn persönlich beziehen konnte, nahm er nicht an. In jedem Falle aber war Gefahr im Verzuge, es schien ja, als wollte man seiner Begleiterin ans Leben. Er war auch aufgesprungen und tat einen Griff nach seinem Degen. Aber, verflucht, da faßte er in die Falten des Studentenflausches, an einen lächerlichen Stoffgürtel, auch die Pistole hatte er nicht mitgenommen. Außerdem zupfte, wühlte noch jemand anderes von hinten an seinen Kleidern. Nun ging alles sehr rasch.
François fuhr herum, wobei er die Betbank zu Fall brachte. Wie einem ausschlagenden Gaul wich ihm Castaldis Zwerg von gestern abend aus, um sich gleich wieder mit gefletschten Zähnen, doch mit einer gewissen grandezza an ihn heranzumachen. Statt des kniefreien, schmutzstarrenden Kinderkittels trug er heute Edelmannstracht, Schnallenschuhe, weiße Strümpfe, den Anzug schwarzseiden und auf den Buckel zugeschnitten. Vor der Brust baumelte ein nachgemachter Vliesorden. Erst jetzt begriff François, daß dieser vorgebliche Anwärter auf den Kardinalspurpur der Hauptakteur bei allem, was in der Kapelle mit Giovanna vorgefallen, gewesen war. Er hatte anscheinend den Abfall von seinem Herrgott Castaldi aufgefaßt und rächte sich nun, indem er Giovanna vom heiligen Cyrus fernhalten ließ. Diese Entdeckung bestärkte François' Besorgnis, um so mehr, als er sah, daß alles mit heißhungriger Aufmerksamkeit dem Gebaren des Zwerges folgte. Am Ende, fiel ihm ein, verkündet das Balg noch, daß ich ein französischer Offizier bin.
Der Zwerg schnurrte ihn an mit seinem Kanzlei- und Antichambrekauderwelsch. »Unsere Alliancen haben sich als die zuverlässigeren erwiesen, jawohl, und Sie dürften eher Ihre zweideutige Haltung rechtfertigen, statt uns Vermittlungsvorschläge aufzudrängen. Im übrigen bin ich ersucht worden, die Formalitäten innezuhalten und Ihrer Legation die Orangerie als Logis anzuweisen. Auch ich sehne mich ja nach den Manöverkriegen des vorigen Jahrhunderts zurück, eröffne ich Ihnen im Vertrauen, aber die historische Verantwortung, die Wiederherstellung des Jesuitenordens und der ehelichen Treue verbieten uns, das Wiedersehen mit Freunden festlich zu begehen. – So, nun bitte ich, die Inhaftierten in Augenschein zu nehmen, sich aber strengster Zurückhaltung befleißigen zu wollen!«
Wie auf Rädern rollte er zu Giovanna hinüber, ließ sie mit knappem Wink vortreten, versetzte ihr, als sie zögerte, einen plötzlichen Stoß in die Seite, die Gemessenheit der Amtsperson mit den heimlichen Tücken des Schergen vereinigend. Die Zuschauer jauchzten Beifall, nicht eigentlich, als fühlten sie sich wirklich befriedigt und gefesselt, sie schienen vielmehr irgendwelchen alten Vorbildern drolliger Teufeleien zu huldigen – vielleicht, daß man noch einmal etwas Derartiges erleben konnte. Das Öffnen und Schließen der Münder hatte etwas Taktmäßiges. »Das wäre nun die büßende Seerepublik«, begann der Verwachsene wieder, »aber Golgatha ist kein Bettvorleger für Barfüßige, und Christus wurde mit anderthalbpfündigen Nägeln angeheftet. An der wahren Zerknirschung läßt es unsere hochgegürtete Magdalena noch fehlen. Castaldi würde sich mit der moralischen Brandmarkung begnügen, ich muß ihm diesmal widersprechen, obwohl auch ich mich mit den Prinzipien der aufgeklärten Rechtspflege beschäftigt habe. Doch kann ich mich darüber jetzt nicht näher auslassen. Sie verzeihen, es ist über dieses Strafverfahren schon allzuviel durchgesickert.« –
In diesem Augenblick ließ sich François zu einer Unbesonnenheit hinreißen »Hör auf mit dem Unsinn«, fuhr er den Zwerg an, »komm hinaus, Giovanna, keinen Augenblick lasse ich dich mehr von diesem bösartigen Affen beschimpfen.«
Das sollte sein Verderben sein, denn Giovanna entschloß sich in diesem Augenblick, ihren Offizier dem Heiligen zu opfern. Riß sich kreischend die Pistole aus dem Mieder: »Rühr unseren Prinzen nicht an!«
Die Menge schoß um die drei zusammen. Der Bucklige zitterte und hielt sich die Augen zu. »Er hat Prinz Alfons einen Affen genannt!« Sie packte garbenweise Hände, rüttelte an Dutzenden von Schultern. Sie bückte und streckte sich zu jedem Ohr und wollte dem einzelnen noch vertraulich einschärfen, was sie doch durch den ganzen Raum gellte. Sie wiese man hinaus, doch diesen Menschen ließe man ungehindert durch Kloster und Kapelle streifen. Man hielte ihn für einen Ortskundigen, Zugereisten – zugereist wäre er wohl, aber nicht unter dem Schlagbaum hindurch, sondern über verbrannte Saaten und abgehauene Ölbäume! Ob man immer noch keinen Verdacht schöpfe? Er sei ein Franzose, ein Offizier der Besatzungsarmee, und zwar ein ganz besonderer Offizier. Er habe die Kompanie befehligt, die den Frevel von Avellino verübt, und noch Haarsträubenderes sei auf seinen Rat beim Verhör der Neapolitaner Königstreuen geschehen. Castaldi, den Patron dieses Klosters, einen Mann von beispielhafter Gottesfurcht und Friedliebe, habe er mit einem Pferdezaum im Munde von Sonnenaufgang bis zum Abendläuten den Toledo auf und ab kriechen lassen, vor ihm zwei Pfeifer, zwei Tambours hinterdrein ...
Noch während sie sprach, war es ganz still geworden. Die vordersten der Menge umstanden weiter die Gruppe der drei, aber dahinter war Gelaufe und Plätzewechsel nach lautloser Übereinkunft, Szenenwechsel bei offenem Vorhang, zusammengeraffte Komparserie sollte ihn verdecken. Die Menge hatte bis jetzt mit verschränkten Armen den Ereignissen beigewohnt und nur mit Geschrei und düsterem Verstummen über Giovannas und François' verschiedene Auftritte entschieden. Jetzt, nachdem die beiden um ihr Wohlwollen werbenden Tänzer sich plötzlich verfeindet hatten, die Kolombine dem Pierrot die Pistole vorhielt, ihn als Landesfeind anzeigte, der noch besondere Ruchlosigkeiten auf dem Gewissen hatte, wäre ein neues gründliches Aufbrüllen zu erwarten gewesen. Aber man hatte zu lebhaft und vollständig verstanden, wollte sich gar nicht mehr äußern. Beim jetzigen Stand der Sache ließ sich vortrefflich zuschlagen, jeder sah, wie und wo. Alle gingen sich flink und kaltblütig zur Hand, man schloß und verrammelte die Tür, die Frauen räumten die François benachbarte Wand, während ihn ein Haufe kräftiger Männer umringte. Der Zwerg bekam langsam seine Farbe wieder und nickte schweratmend zu diesen Vorgängen. Seine Gedanken schienen mit der Frau beschäftigt, er blickte sie kläglich-neckisch aus den Augenwinkeln an, ließ schon einen fetten Versöhnungskuß aus den Lippen lugen. Sie hatte sofort gefühlt, daß niemand mehr sie abzuwehren dachte, man war zum Angriff übergegangen. Zwischen den sich einzeln zum Kampfe Gürtenden konnte sie unangefochten hindurcheilen zum Heiligen. Nur beim Prinzen war vielleicht noch Widerstand. Sie kniete vor ihm, was er, zusammenfahrend, mit einer Verbeugung erwiderte. Beide erröteten und stammelten sich ein »Danke« entgegen. Dann nahm Giovanna ihre Röcke in die Hand und lief zum Heiligenaltar. Aber es war, wie wenn ein Verdurstender, im Augenblick, da er sich zur ersehnten Quelle niederbückt, auch die ersten Tropfen des wochenlang ausgebliebenen Regens auf den Schultern fühlt. Kaum hat er sich die Zunge befeuchtet, ist er außen bis auf die Haut durchnäßt; schon beginnt er zu frieren, der Boden wird zu Schlamm, jetzt steht ihm ein Herd und warme Kleidung im Sinn. So war der Durst der Kurtisane nach dem heiligen Cyrus im Nu gelöscht, die Waagschalen der Sehnsucht und Erfüllung standen schlagartig ausgeglichen. Sie häufte Küsse auf den Handteller, legte ihn der Bildsäule auf, schlürfte aus der hohl zurückkehrenden Hand und belud sie wieder aufs neue. Doch bald räkelten ihre Finger nackt und lustlos am Untersatz der Figur. Ärmliche Seegrassträucher schmückten den Altar, viel im Auftropfen breitgeschlagenes Wachs, nur wenige Kerzen brannten. Sie fühlte mit dem Rücken, daß der Zwerg kam, und stand schon. Er schnurrte verliebt an ihr herauf, sie bückte sich aus dem Kreuz, als habe sie am Grunde einer Truhe zu kramen. Der Verwachsene, wie der blühende Busen und die geschmückte Stirn, der losgezauste Locken voraneilten, gegen ihn herabtauchten, griff sie mit der grinsenden Vertrautheit des Blödsinnigen an, doch rupfte er gleichzeitig die Pistole heraus, die Giovanna wieder zu sich gesteckt hatte. Eng umschlungen kehrten beide unter die Menge, vor François' Angesicht zurück. Die Pistole in der Hand des Prinzen schien den Männern ein Wink, sich ihres Opfers endgültig zu versichern. Sie packten, rissen François die Arme auf den Rücken und hielten sie mit ehernem Griff nach oben durchgebogen. Er trat ihnen gegen die Beine, was mit einem Messerstich von hinten in die Schulter quittiert wurde.
Dem Offizier stieg gleich der Katzenjammer von vorhin auf, doch jetzt war es beißender Todesessig. Wie am Spieß schrie es im Gehörgang, er fühlte die Halswirbel aufeinander knirschen. Er wußte, daß es ihm in Sekundenfrist ans Leben gehen würde, und wohl möglich auf grausame Weise, wie sie in Mönchszellen ausgeklügelt wird, wie sie sich der einsame Maultierreiter ausmalt. Er wollte Giovanna anspucken, aber es leckte ihm greisenhaft ins Bärtchen. Diese Megäre! Sie ließ einen Mann schlachten – ein wenig in Ungeduld und Galle, weil sie nicht rasch genug zu ihrem Götzen gelassen wurde! Was hatte er ihr denn getan, was ging er sie an? Das vermag ja kein Tier: im Vorübertrotten mit einem Tatzenhieb seitwärts einen Gefährten niederstrecken, satten Bauches, unbelästigt, aus bloßer Mordlaune. Nie würde man daheim erfahren, wie es mit ihm ein Ende genommen. Als verschollen, entlaufen aus der Heeresliste gestrichen – die Leiche zerstückelt in eine Kloake, einen Schwefelspalt am Fuß des Vesuvs geworfen. Gleich würde man ihm mit einem hierzulande bei improvisierten Füsilierungen üblichen Henkertrick die Arme aus den Schultern renken, ihn nach hintenüber zu Boden schleudern, gleichzeitig drüben die Hand des Infanten über der Pistole zusammendrücken und, falls die Kugel nicht volle Arbeit tat, mit dem Messer nachhelfen.
Drüben hatte ein Mann die Ladung der Waffe geprüft, der Zwerg beschrieb damit vage Figuren in der Luft, während seine andere Hand noch immer Giovannas Taille umfaßt hielt. Die schaute unverwandt auf François – sie hätte doch dem Blick des Verratenen ausweichen müssen – aber ohne Wahrnehmung, wie durch eine zu stark gekrümmte Linse. Zwischendurch sah sie mit leichtem Stirnrunzeln an sich herunter auf die Hand des Prinzen – wie die tapfere Prinzessin, die mit dem Froschkönig zu Bett geht; ihr Gefühl hat sie schon überwunden, nur die Augen sind noch nicht versöhnt.
Jetzt schoß dem Zwerge uralte Despotengewohnheit im Abknallen gestellten Tier- und Menschenwilds in die Finger. Er legte auf den Offizier an. Dann setzte er wieder ab, richtete die Waffe eine Sekunde gegen Giovanna. Sie drehte den Lauf zart verbessernd nach François zurück. Seine Armmuskeln schienen müde. Zerstreut ließ er für einen Augenblick die Hand sinken, zu Boden hängen – da ging mit einem Male der Schuß los, gefolgt von einem Schmerzensgeheul des Schützen. In einem plötzlichen Krampfe wohl hatte er abgedrückt und sich den eigenen Fuß zerschmettert. Alles stürzte wehklagend hinzu.
Diesen Moment benutzte François zu einem Fluchtversuch. Erst nur mit einem gequälten Wegdrängen – als er dann merkte, daß auch die ihn Haltenden vom Schrecken gelähmt standen, riß er sich wild los, brach zur Tür. Einige Weiber, die in Panik hinausgeflohen waren, hatten sie schon aufgestoßen. Wie durch ein Wunder fand er den Rückweg zum Refektorium, jagte quer durch den Garten. Bald waren ihm Verfolger auf den Fersen, eine Kugel pfiff, Kalk spritzte, aber François hatte einen großen Vorsprung, war schon in der Sakristei, in der Kirche.
Draußen schickte sich ein Gutsbesitzer schwerfällig an, zu Pferde zu steigen. Beim Anblick des blutüberströmt aus dem Portal Stürzenden nahm er Reißaus. François' ergriff die Zügel, saß auf, der Gaul stob unter ihm die Straße hinab. Im Galopp einen Hohlweg hinauf, zwischen Gärten weiter, schon gerettet. Die Stichwunde schmerzte schrecklich, François konnte sich kaum im Sattel halten. Staub, links entbrannte das Meer, nach viertelstündigem Ritt kam er auf die Provinzstraße. Am Schlosse von Portici parierte er das Pferd schon halb bewußtlos. Nationalgarden halfen ihm herunter und trugen ihn in die Wachtstube.
Beinahe drei Wochen hatte François Renaudet im französischen Militärlazarett von Sant' Elmo liegen müssen. Der Messerstich, den er von jenem verhängnisvollen Ausfluge mit der della Valle heimbrachte, war ihm doch gefährlicher geworden, als er sich im ersten Augenblick bewußt gewesen. Die Wunde heilte sehr langsam, noch auf Monate sollte der Offizier den Arm in der Binde tragen. Vielleicht würde dies überhaupt sein letzter Feldzug, würde seine Karriere also nach ein paar Jahren Zeichentisch und Geschützgießerei mit vorzeitiger Pensionierung abgeschlossen sein? Denn die wahrhaft immergrünen und selbsttätig weitertreibenden Lorbeeren waren doch nur vor dem Feinde zu pflücken.
Inzwischen hatte sich das Schicksal der parthenopäischen Republik und des französischen Besatzungsheeres unvermutet schnell entschieden. Die letzten zu dem jungen Freistaat gehörigen Provinzstädte waren gefallen, alle neapolitanischen Hilfstruppen aufgerieben oder in die Hauptstadt zurückgejagt. Die Sanfedisten des Kardinals Ruffo besetzten schon die Vororte – im Verein mit dem städtischen Mob, der ihnen täglich Hunderte des Jakobinertums verdächtige Bürger vor die Piken schleppte. Wer irgendwie ein republikanisches Staatsamt innegehabt oder mit solchen Personen verkehrt hatte, versuchte, als Freiwilliger der Patriotenlegion in Straßenkämpfen fallend, den bourbonischen Henkern zuvorzukommen oder sich nach Norden durchzuschlagen auf der französischen Rückzugsroute. Denn das Gros der Divisionen Macdonald war, nachdem der General schon vor einer Woche Verhandlungen mit dem Kardinal sowohl wie mit dem den Hafen blockierenden Admiral Nelson angeknüpft und seine Truppen aus dem Endkampfe zurückgezogen hatte, in Richtung Capua abgerückt, nur die Nachhut unter Méjan lag noch im Castell Sant' Elmo, jener mächtig ausgebauten Festung, die zusammen mit dem benachbarten Martinskloster auf einer Höhe unmittelbar über der Stadt liegt.
François hatte nach seiner Entlassung aus dem Lazarett meist oben auf der Plattform des Castells zu tun. Er war selten im Erdgeschoß und in den Höfen, wo lustiges Treiben von Train und Infanteristen herrschte, denn niemand glaubte mehr an eine mögliche Belagerung. Das Rauchen und Trinken im Offiziersraum ertrug seine Gesundheit noch nicht, so daß er sich abends meist früh entschuldigte und sein Bett aufsuchte zum leichten Schlummer des Rekonvaleszenten. Tagsüber suchte er mit dem Fernrohr in dem windigen Gehölz der britischen Schiffsmasten nach ausgesetzten Flaggensignalen. Er half Geschütze einstellen auf verschiedene Punkte der Stadt, zählte Feuersbrünste, die fallenden Schüsse. Das Gebell eines Hundes, der Sturz eines Eimers, das Krachen einer Füsilierung – alles schallte gleich laut zu ihm herauf und schien doch nur wie Kinderspektakel in dem ernsten Werkstättenlärm des eigentlichen Stadtlebens. Abends, wenn sich die Fledermäuse über die Bastionen aufschwangen, piepsend auf die mückenreichen Gräben herabschossen, waren natürlich viele Lichter im Umkreis zu sehen. Hirtenfeuer im Buschwald oder Höhen versenkt, Fanale auf Felsvorsprüngen hockend, Biwaks, steiler Raketen- und flacher Bombenflug.
Obwohl ihn immer wieder das nachträgliche Todesgrauen schüttelte, die Stirn noch lange dem krachenden Kuß des Pistolenmundes entgegenzuckte – er hatte schon öfters in Lebensgefahr geschwebt, doch nie wie ein Schlachtopfer einem mit irrem Zeremoniell in Szene gesetzten Tod stillhalten müssen – so bemühte sich der Offizier doch, mit dieser Geschichte, die seinem Körper wie seiner Seele so viel zu schaffen machte, innerlich fertig zu werden. Zunächst machte er sich gründlich selber den Prozeß, wozu bei seinem gegenwärtigen Leben viel Zeit war. Immer wieder warf er sich den herausfordernden Leichtsinn vor, die vertrauensselige Eselei, mit der er jener Unbekannten gefolgt war. Aber auch die ganze Art, wie er an diese Bekanntschaft überhaupt geraten, erschien ihm nachträglich geradezu tölpelhaft. Dabei hätte er in Neapel, wie aus den Erzählungen seiner Kameraden zu entnehmen war, ganz andere Frauen haben können, wenn er sich nur ein wenig geduldet und in den Salons hätte einfuhren lassen! Statt dessen mußte er sich im Finstern flugs in diese plebejische Silhouette vergaffen, von einem betrügerischen Burschen stundenlang durch Elends- und Verbrecherviertel kutschieren lassen, um dann nach allerlei passiv miterlebten Intermezzos nachts allein in einer Flohkoje deponiert zu werden. War dieses Weib denn im Grunde so recht sein Geschmack? Wie sah sie aus? Trotz ihrer Größe schien sie nicht ganz ausgewachsen, Gliederpracht ohne Rückgrat, ohne Blutkreislauf – das Herz ein einziger Erdbebenherd. Doch gut, solch eine Geschmacksverirrung konnte man der Unruhe des eben abgestiegenen Reisenden zugute halten, der keine Bekannten trifft und die frühe Rückkehr ins unaufgeräumte Zimmer scheut. Aber immer, das war der zweite Vorwurf, den François sich machte, hätte er Giovannas Stand bedenken müssen. Sie war eine Käufliche, die eben einen grimmigen Tyrannen losgeworden war und ihre Freiheit mit einem kleinen Leutnant teilte, gleichzeitig aber schon mit Unruhe nach einem neuen mächtigen Beschützer Ausschau hielt. Kaum daß sie damals die Stadt verlassen und wieder einmal den Wind der Landstraße um die Ohren hatte, als sie auch schon wußte, wie es um die Republik stand und daß sie mit jedem bourbonischen Pikenträger besser führe als mit dem ruhmreichsten französischen General. Eine derartige Witterung zu besitzen und dann auch entschlossen die Partei zu wechseln, das war das Grunderfordernis von Giovannas Beruf. Sie kam ihm pünktlich nach, nur etwas überstürzt und würdelos, indem sie meinte, dem Freund von vorhin gleich selber die Pistole vorhalten zu müssen. Wenn man von einem solchen Frauenzimmer Gunstbeweise erhält, soll man einen roten Strich in den Kalender machen und seine Abende freihalten, belehrte sich François, aber niemals an ihren Geschäften und Unternehmungen teilhaben. Indem er so das ganze Abenteuer immer mehr zu einer fetten persönlichen Blamage aufmästete, Giovanna ausnehmend, entschuldigend, um mit dem Haß die Liebe zu vergessen, sich selbst anklagend, weil man sich selbst auch am ehesten verzeiht, hatte er es ganz unterlassen, seiner Umgebung davon zu erzählen sowie nach militärischer Vergeltung an dem Kloster zu trachten. Es gab auch niemanden, der ihn weiter ausfragte und sich für die Veranlassung seines Krankenlagers interessierte, denn die Offiziere der aus den verschiedensten Truppenteilen zusammengestellten Nachhut kannten sich in den seltensten Fällen von früher her, viele waren in den letzten Straßentumulten verletzt worden und hatten wie François mit dem Feldscher zu tun.
Nicht immer halfen François solche inneren Räsonnements. Manchmal nachts wachte er schweißgebadet auf, mit verrutschtem Verband – dann wußte er nichts von siegreichen Royalisten und unterlegenen Republikanern, von der Sinnesart der Kurtisanen und von der Tölpelhaftigkeit französischer Leutnants, er sah nur das geliebte Mädchen, das zutraulich übermütige Zigeunerkind, wie es plötzlich aus dem von ihm geliebkosten Busen die Mordwaffe gerissen hatte, um ihn auszurotten, ihn allein und auf der Stelle! Vergiß nicht, daß sie eine Neapolitanerin ist, rief er sich dann zu –, nur eine von Neapel konnte so handeln. Du hörtest es schon erzählen und kannst es nun mit eigenen Narben bekräftigen, daß dies Volk der Inbegriff der heimtückischen Gemeinheit ist, daß man an keinem Fleck der Erde so viel Verräter und Spione, feile Halsabschneider, Falschmünzer und Spieler findet, daß Ehebruch und Hurerei nirgends so dreist betrieben werden wie an diesem Golf! Dies war die letzte Empfindung, die François aus dem Handel mit Giovanna erwuchs. Sie wurde rasch zu unbändiger Besessenheit. Seinen Kameraden hielt er, ohne sie über seine persönlichen Motive aufzuklären, Haßpredigten wie ein bekehrungswütiges Weib. Er haßte die Lieder, wie sie trotz Schafott und Plünderung in den Vorortgassen um die Festung noch die Kehlen schwellten, er haßte dies breiige Sprechen und verschlingende Lachen, diese träge lauernden Burschen, die Mädchen, wie sie einen frech fixierten, oder dies blöde Mutterglück der Frauen.
François wurde krank vor Heimweh. Obwohl die Postbeförderung sehr unsicher war, schrieb er fast jeden Tag nach Hause und legte den Briefen manches Blatt an ehemalige Freunde bei, mit denen er nie korrespondiert hatte und deren gegenwärtige Adresse und Umstände er nicht kannte. Ihm wurde schwach und schwindlig bei Vorstellungen, wie daß er in Brabant durch ein erntereifes Kornfeld reite; die äußersten Kronen der Ähren fegen ihm die Sohlen, er hebt eine barfüßige Schnitterin vor sich aufs Pferd, ihre langen staubigen Beine liegen vor seinen Stiefeln, die auch ganz mehlweiß überpulvert sind, mit den Stößen der Hufe schüttern die Waden. Keine Macht der Erde würde ihn wieder an diesen verruchten Golf bringen, und sollte man ihn als Gesandten, von Geld und Vollmachten strotzend, hinbeordern wollen. Seltsamerweise hatte Neapel auch für seine Kameraden plötzlich jedes Interesse verloren. Vielen war es verleidet, ein Ärgernis, obwohl niemand ähnliche düstere Erfahrungen gemacht hatte. Obgleich selbst nicht eben sehr salongewandt – man entstammte ja meistens kleinbürgerlichen Verhältnissen und hatte in dem Offizierskorps der Revolutionsarmee keinerlei gesellschaftliche Tradition vorgefunden –, wußte jeder plötzlich Peinliches und Lächerliches von der Unfeinheit, provinziellen Hausbackenheit in allen Schichten der Neapeler Gesellschaft anzumerken. Jeder wollte da seine Beobachtungen gemacht haben. Einer tadelte die Vertrautheit mit den Dienstboten, die beständige Angst vor Bosheiten und Feindschaften, die allzu intime Herzlichkeit vor allem das Derbe und Ärmliche aller geselligen Anstalten. Ein Leutnant war dreimal von verschiedenen Seiten zu Reitpartien eingeladen worden und hatte jedesmal denselben Mietsgaul vorgeführt bekommen, erst Hektor, dann Romulus und zuletzt Bellona benamst. Ein Offiziersaspirant hatte ähnliche Erfahrungen mit einem reihum geliehenen Teeservice gemacht, ein anderer hatte bemerkt, daß eine berühmte Dichterin ihr Atlaskleid auf der bloßen Haut trug, und jener konnte mitteilen, daß ein Tintenspritzer wie der unverrückbare Polarstern wochenlang unter der Puderschicht ihres Halses sichtbar geblieben war. Schon die rasch abgeschlossenen Neutralitätsverhandlungen, während deren der Verzweiflungskampf der Neapolitaner Waffenbrüder weiterging, hatten keinerlei Beschämung hervorgerufen.
Die von den Sanfedisten vollstreckten Todesurteile wurden gelassen aufgenommen. Zwischen zwei so entgegengesetzten Staatsauffassungen, wie der demokratischen und der monarchistischen, meinte man, sei keine allmähliche Versöhnung möglich und in Anbetracht der Reinheit beider Ideen auch gar nicht wünschenswert. Es konnte da eben zunächst kein überparteiliches Rechtsempfinden, keine stumme Übereinkunft über ein einzuhaltendes Maß mehr geben, weil das Königtum, das gewöhnlich derartige ungeschriebene Gnadengesetze verkörperte, jede Verbindung zu den demokratisch denkenden Bürgern mit verzweifelter Entschlossenheit abgebrochen und sich mit säbelgewaltigen Parteigängern wie Ruffo gänzlich identifiziert hatte. Einem von den Kameraden entfuhr es freilich, unverbrüchlicher als solcher Königspardon seien doch wohl die allgemeinen Menschenrechte, die bei jeder Staatsumwälzung in Kraft bleiben müßten, aber das gelangweilte Seufzen der Tafelrunde ließ es ihm geraten erscheinen, sich selbst zu verbessern und einen Unterschied zu konstruieren zwischen dem, was französischen Bürgern, und dem, was den Neapolitanern frommen könne.
Ein solch gründlicher Wandel der Meinungen bei ihren Bundesgenossen konnte freilich von den zu Tode gehetzten Republikanern in keiner Weise erraten und berücksichtigt werden. In zahlreichen Bittbriefen verlangten sie, natürlich unter Berufung auf die gemeinsame politische Überzeugung, Méjan möge sich bei den königlichen Unterhändlern für ihre Haftentlassung verwenden oder ihnen eine letzte Zusammenkunft mit der Gattin, Kundmachung ihres letzten Willens ermöglichen. So etwas konnte jetzt nur Verstimmung hervorrufen. Es war beleidigend, wo man doch in der souveränen Beurteilung der gegenwärtigen Lage wirklichen politischen Weitblick bezeugte, in den verstörten Hirnen dieser aus dem Sattel geworfenen Don Quijotes nach wie vor als einer der ihren, mithin als engstirniger Doktrinär zu figurieren. Was erst hingeworfene Maxime gewesen, wurde rasch ein mit Hörnern und Zähnen bewährter Glaubenssatz, der sich zur praktischen Anwendung empfahl. Es gehörte zu den Alltäglichkeiten, daß Neapolitaner Patrioten, die verkleidet, oft am Stock hinkend, blutüberströmt um Aufnahme in der Festung baten, abgewiesen wurden. Das Gegenteil hätte ja tatsächlich einen Bruch der Vereinbarungen bedeutet, aber es wäre freilich ganz unbemerkt geblieben, solange die Schutzsuchenden – was meistens der Fall war – nur von der blinden Volkswut, nicht von den Gerichten verfolgt wurden. Aber auch Bitten um politisch gänzlich unbedenkliche Gefälligkeiten vermochte man auszuschlagen in strenger Beobachtung des Nichteinmischungsvorsatzes. Einer schickte der früheren Geliebten, die durch einen Irrtum ihres Vermögens verlustig erklärt und aus dem Haus gejagt worden war, statt des erbetenen kleinen Geldbetrages einen entliehenen Gedichtband zurück.
Doch mit dem Verstreichen der Wochen hatte die Reaktion ihr Rachewerk derartig vervollständigt, daß kein Hilferuf mehr nach Sant' Elmo drang, der Waffenstillstand zwischen dem König und der französischen Armee war auf unbestimmte Zeit verlängert worden, was dem Friedensschluß gleichkam. Jetzt begann man auf Sant' Elmo, obwohl man keineswegs zu einer neuen Würdigung Neapels gelangt war, allerlei Unterhaltung und Bequemlichkeit von der befriedeten Stadt zu erwarten, man kam darauf zurück wie auf eine alte Wirtshausadresse. Eine bunte Menge von Weibern, Verkäufern, Taschenspielern und Akrobaten sammelte sich unter den Toren, stürmisch Einlaß verlangend. Von der Wache immer wieder den Berg hinunter gescheucht, wurden sie doch zu einem nicht geringen Teile heimlich hineingeschafft und in den weiten Mannschaftsräumen, düsteren Stallungen versteckt. In der Dämmerung sah man auch einen Zug abgerissener Lakaien mit etlichen Sänften herankommen und rasch in der Wasserpforte des Kastells verschwinden. Dies war der Erfolg einiger Billetts, welche die Offiziere, die nicht anders als die Mannschaften nach Unterhaltung dürsteten, mit dem stillen Einverständnis des Kommandanten an mehrere, den Herren von früher her bekannte Frauenzimmer geschickt hatten, Damen des Opernballetts, Chorsängerinnen, Schauspielerinnen – natürlich nur solche Personen, die niemand in der verflossenen Zeit etwa als Parteigänger hätte ansehen können und denen man solche ganz unpolitischen Freundschaften als zu ihrem Stande gehörig zutraute und zugestand. Nur wenige der so Benachrichtigten leisteten der Aufforderung, die Stadtwohnung für ein paar Tage mit der Festung zu vertauschen, Folge – meist solche, die doch fürchteten, daß sie von ihren Hausgenossen denunziert oder wegen ihrer französischen Haartracht angehalten werden könnten. Hatte der Wortlaut des Billetts noch gesprochen von der großen Sicherheit, die Sant' Elmo im Vergleich zu der noch immer unruhigen Stadt böte, von künstlerischen Darbietungen, wo die Franzosen zum letztenmal die Vollkommenheiten des Neapeler Theaters genießen zu können hofften, so machte der Empfang und die Unterbringung den Gästen offenbar, wie gründlich sich die Zeiten geändert hatten. Einige Kasematten, die Gesindezimmer der ehemaligen Kommandantenwohnung, wurden ihnen als Logis angewiesen; dazu ein feuchter schachtartiger Raum, in dem verloren einige Salonmöbel herumstanden, eine ehemalige Kornkammer. Hier pflegten sich die Offiziere nach der Abendmahlzeit, die in einem anderen Teil der Zitadelle nur unter Männern eingenommen wurde, in Gruppen daherschlendernd, oft schon etwas bezecht, einzufinden, »um ihre Besucherinnen zu unterhalten«, wie es im Tagesbefehl hieß. Dort wurde dann zu armseligem Spiel von Straßenmusikanten getanzt, Polonaisen, Pfänderspiele veranstaltet, doch waren die Männer bestrebt, diesen Teil des Abends möglichst abzukürzen, jenen Raum nur zum Vor- und Empfangszimmer zu machen, aus dem sich dann nach angeknüpfter Bekanntschaft die einzelnen Paare in die anschließenden Stuben und Kämmerchen verloren. Versuche zur koketten Diplomatie, etwaige Weigerungen, hatten nur schweren Groll, wenn nicht gar Gewaltsamkeit zur Folge. Die Mädchen hatten gewiß nicht erwartet, mit den Offizieren Patiencen zu legen, indessen auf alle Fälle mit jenem zwar soldatisch ungeschminkten, aber doch irgendwie ritterlichen Ton der Revolutionsgesellschaften gerechnet. Diese jungen Männer hatten noch vor einigen Wochen weinend aus den Theaterlogen gelehnt, hatten atemlos, neben der Geliebten versteinernd, den Golf und den Flammenberg ins Auge gefaßt, ihnen nachts ihre Pferde und Zelte, Lieder und Tänze ums Lagerfeuer gezeigt. Jetzt schienen sie Angehörige der voraufgehenden Generation, die Weib und Kind zu Hause hatten, für die – nach ihrer Ansicht wahnwitzige – Direktoriumspolitik ihre Haut murrend zu Markte trugen und von den fremden Städten nur zweitklassiges Amüsement erwarteten. Statt von verzehrenden Leidenschaften, enttäuschten Hoffnungen und ersehnten Kriegslorbeeren bekamen die Gäste von Krankheit und schlechtem Essen zu hören, von Zurücksetzung und Verlusten beim Kartenspiel – falls auf Unterhaltung überhaupt Wert gelegt wurde und sie nicht gleich mit Hochziehen der Augenbrauen oder nervösem Kinnreiben überzeugt werden sollten, daß man sich als Gesprächspartner doch ewig fremd bleibe und daß nur eine einzige Art des Zusammenseins die wahre Harmonie herzustellen vermöge.
Die meisten Neapolitanerinnen fanden sich rasch mit all dem ab und halfen sich gegenseitig dabei, das Andenken des parthenopäischen Freistaats, unter dem sie ihre Glanzzeit erlebt, der vergiftenden Wirkung jetziger Eindrücke zu entziehen. Männer, sagten sie sich, wissen nie, was sie uns zuweilen geben, fühlen sich dadurch nicht verpflichtet, sie durchlaufen alles nur wie der Mond seine Phasen. Aber damit ist das, was sie uns zu einem bestimmten Zeitpunkt bedeutet haben, nicht weniger wirklich, sondern unser unverlierbares Eigentum. – Tagsüber besuchten sie sich gegenseitig in ihren Gelassen, schneiderten und besserten an ihrer infolge des plötzlichen Aufbruches nicht sehr reichhaltigen Garderobe, liehen sich Romane aus, lasen ein wenig mit verteilten Rollen. Ihre Lakaien, durch deren Hoffart und Gefräßigkeit sie Gefahr liefen, es gleich gänzlich mit Proviantmeister und Wachthabendem zu verderben, hatten sie bald entlassen und bedienten sich selbst Fast nie störte ein Zwist diese schwesterliche Gemeinschaft, da keine der anderen den mürrischen Gallier neidete, der sich gerade für sie interessierte. Einige Mädchen, die bei der Besetzung der Stadt umgekommene Angehörige zu betrauern hatten, waren zuweilen nur mit freundlichem Zwang zur Teilnahme an den abendlichen Zusammenkünften zu bewegen. Noch andere, die in der Gesellschaft ein gezwungenes oder verstörtes Wesen nicht verbergen konnten, überließ man nicht ungern sich selbst, in der Voraussicht, daß sie selber schon bald den Weg zu sich und dem gewohnten Entgegenkommen zurückfinden würden.
François Renaudet vermied nach Kräften, der gefälligen Einquartierung zu begegnen, der Anblick gerade dieser, zwischen dem Liebes- und Kunstberuf in rätselhafter Weise die Mitte einhaltenden Virtuosinnen – von denen manche es ja mit der Erscheinung einer großen Dame aufnehmen konnte –, wäre ihm gerade schwer erträglich gewesen. Trotzdem ließen sich gelegentliche Rencontres mit der einen oder anderen dieser Geschöpfe kaum vermeiden. Er hätte das in jedem Falle wohl möglichst achtlos hingenommen, wenn nicht eine gewisse Begegnung unter besonderen Umständen vor sich gegangen wäre, Umständen, die ihn ganz wider Willen erneut in Verwirrung brachten.
An einem Vormittage benutzte der Offizier, anläßlich einer Besichtigung alter Munitionsvorräte, eine geheime Wendeltreppe, den Schlüssel dazu hatte er sich vom Kommandanten aushändigen lassen. Die Treppe hatte ursprünglich die einzelnen Stockwerke eines Pulverturms miteinander verbunden, dessen oberer Teil später in die Kaserne hineinverbaut worden war und noch die alte Bestimmung erfüllte. So ins Innere des Gebäudekomplexes verkapselt, war sie fast ganz ohne Licht, dazu noch steil und von jahrhundertealtem Moder bedeckt. François hatte sie schon unlängst kennen und verwünschen gelernt. An der Außenseite ging, schlaff auf die Stufen hangend, der verdorrte Lebensnerv dieses Schneckenhauses, ein Seil, das als Geländer diente. Doch heute war es gestrafft und wetzte knarrend an der Achsensäule, es mußte sich also noch jemand auf der Treppe befinden. Potztausend, was hatte denn das zu bedeuten? Dies war doch eine geheime Treppe, zu der Zugangstür gab es nur einen Schlüssel und den hatte er, der mit der Inspektion Beauftragte, in der Tasche! Vielleicht gelang es unvermutet, einen der frechen Munitions- und Waffendiebstähle aufzuklären, wie sie, seitdem sich das einheimische Händlergesindel Einlaß verschafft hatte, an der Tagesordnung waren. Mit Mühe, denn er konnte nur einen, den rechten, Arm gebrauchen, zog er die Pistole aus dem Gürtel, mußte sie dann zwischen die Zähne nehmen, um sich weiter am Seil vorwärtsgreifen zu können. Langsam begann er sich in dem Dunkel emporzuschrauben, mit zutastender Schuhsohle sich immer der nächsten Stufe versichernd, dann kräftig aufstampfend, wie man einen angehefteten Nagel mit Hammerschlag befestigt. Er fühlte, wie mit der Erschütterung überall Staub aufschwärmte, herabschneite, sich ihm auf Lippen, Bart und Wimpern legte. Wenn ihm übrigens das ausgesuchte Pech, das, seit er den Vesuv erblickt, nicht von seiner Seite wich, auch jetzt die Treue hielt, konnte es ihm bei dieser Finsternis passieren, von dem auf seinen Anruf flüchtenden Einschleicher überrannt und in die Tiefe gestoßen zu werden, um dann seiner Braut außer der Armbinde noch eine Krücke nach Hause mitzubringen
Auf halber Treppe befand sich eine mannshohe Lichtscharte. Er erwartete die Helligkeit. Doch war dies eintretende Licht sonderbar abgedrängt in matten wandernden Flecken vor ihm ausgeschüttet. Wie nun der Treppenanstieg das Fenster selbst heranbrachte, sah er, auf irgendeinen verstört äugenden Lazzarone gefaßt, eine Frauengestalt daran stehen, groß, städtisch, ja spanisch feiertäglich gekleidet. Sie erschien ihm als Silhouette, an der er niemanden erkennen konnte. An Arm und Schultern war der seidenglatte Umriß aufgelöst zu allerlei krausen Ausläufern und Rändern, wo das hereinflutende Licht einen Schal durchscheinend machte. Zuerst schien die Dame ihm keinerlei Beachtung schenken und ihn in ihrem Rücken vorbeilassen zu wollen. Doch gerade als er sie in verwundert-scharfem Tone zur Rede stellen wollte, hatte sie auch schon blitzschnell gegen ihn Front gemacht. Die Hände stemmte sie leicht in die Hüften, als hätte sie sich freiwillig zu einem Frevel bekannt, bedaure den, der ihm zum Opfer gefallen, und erwarte nun gelassen ihr Urteil, dann ließ sie sie herabpendeln, um sie gleich wieder heftiger, aufgebrachter zu erheben, die Handschuhe herabzureißen. Sie knetete gequält an der Kehle, als sei sie gewürgt worden, und reckte ihm endlich erschöpft, irgendwie irr, die Arme entgegen. »Nun, ich freß dich ja nicht«, machte François verdutzt. Es irritierte ihn, daß die Blendung an dem Köpfchen, das glatt in das oben zusammengesteckte Haar eingebunden war, wie ein fiaschetto in sein Strohkleid, keine Blicke und Mienen erkennen ließ. Es war ihm unklar, ob die Dame ihn geängstigt abwehrte, tollkühn verlockte, ob sie, einen Schwindelanfall fürchtend, einen Arm wünschte. Vielleicht beunruhigt sie die Pistole, fiel ihm ein, er verstaute die Waffe schmunzelnd, als nähme er einem eingelieferten Gefangenen die Handschellen ab. Doch die Art, wie die Erscheinung seiner Geste begegnete, erregte ihm einen stechenden Verdacht, eine bodenlos verschlingende Bestürzung. Denn die Frau hätte sich nun ermutigt fassen sollen, statt dessen ließ sie hilflos vernichtet die Arme sinken, als sei ihr unsäglicher Schimpf angetan worden. Eine Treppenwindung tiefer schien sie einen Augenblick anzuhalten, als könne noch etwas zurückgenommen werden. François stand gelähmt. Dann hörte er, wie es in unregelmäßigen Sprüngen weiter hinabging. Er erboste sich plötzlich, er mußte der Person abpressen, was sie auf der Geheimtreppe trieb, sie ans Licht zurückschaffen. Holpernd, rutschend, aufprallend kam er hinterdrein, doch reichten seine Kräfte noch nicht für ein derartiges Wettrennen, in der Wunde zerrte es, als wollte sie wieder bluten. Unten stieß die Verfolgte auch schon einen Schlüssel in die Tür, es klang böse und rachsüchtig; bald war sie außer Hörweite gestürmt
Trotzdem in seinem Gehirn gleich dutzendweise geharnischte Beschwerden, scharfe Anpfiffe mobil wurden, wegen Anfertigung falscher Schlüssel, Spionage- und Sabotagegefahr, ungenügender Beaufsichtigung der beherbergten Frauenzimmer, war François doch gleich entschlossen, ebenso wie von den Umständen seiner Verwundung auch von diesem Zwischenspiel keine Mitteilung zu machen. Zwar kannte er die Treppendame nicht, ahnte aber, daß sie ihn persönlich im Sinne gehabt und daß er sich in verfehlter und unedler Weise aus der Affäre gezogen hatte. Aber es gab doch niemand in Neapel, der noch ein Anliegen an ihn haben konnte! Um nichts mehr mit diesen Leuten zu schaffen zu haben, hatte er in großartiger Bescheidung alle
Schulden erlassen, auf Rache an Giovanna verzichtet, wie eigentlich nur Sterbende verzichten können. Dafür bat er sich auch aus, in keiner Weise mehr in seiner freiwilligen Einsamkeit gestört zu werden. Doch jetzt, nach diesem Rencontre, schien das ganze Verhältnis umgekehrt. Er wurde sich auf dem Rückmarsch nicht als der einer Mördergrube von Schenke glücklich entronnene Reisende fühlen, der sich etwas darauf zugute hält, den Wirt nicht geohrfeigt und angezeigt zu haben, sondern als ein Zechpreller, der jeden Augenblick rückwärts äugt, ob man ihm nicht seine Rechnung oder gar den Gendarm nachschickt. Es war irgend etwas gegen ihn im Gange, die Initiative war wieder beim anderen. Ob das nun alles Hirngespinste oder doch echte Vorahnungen waren – er würde dem Lauernden keinen Vorwand zum Zuschlagen geben. Es galt sich noch mehr abzusondern, sich in keine Verwicklung hineinziehen zu lassen. Besser, es auch ferner im Dunkeln zu lassen, wer etwa die Erscheinung auf der Treppe gewesen sein mochte, vorläufig keine Erkundungen einzuziehen, keine Untersuchungen anzustellen. Trotz allem zu erwartenden Gespött seiner Kameraden versprach er sich nochmals, auch in Zukunft nicht an den Abendunterhaltungen mit den Neapolitanerinnen teilzunehmen
Aber das Schicksal behielt François weiter in Haft, obwohl er auf die Anklage verzichtet. Noch heute würde es ihn überraschend herausrufen zu erneuter Konfrontation, erst danach sollte geurteilt werden. Das endgültige Urteil im Fall Renaudet gegen Neapel.
Auf den Nachmittag – eine ungewöhnliche Zeit für solche Anlässe – hatten die Damen ihre Gastgeber zu einer besonderen Veranstaltung eingeladen, einem Hafenkonzert, das auf einem der Außenwälle stattfinden sollte, wo der Familie des ehemaligen Festungsbefehlshabers ein kleines Gärtchen mit Rasenbänken, Felsstücken, Orangenbäumchen in Töpfen zur Verfügung gewesen war.
François, der Méjan eine Meldung zu machen hatte, erfuhr, daß der General sich soeben schon zu der musikalischen Veranstaltung begeben habe. Er beeilte sich, ihm zu folgen, konnte ihn aber erst im Garten selbst erreichen, wo der Kommandant ihn in eine längere halb dienstliche Unterhaltung zog und dann zum Bleiben nötigte.
Auch den Kameraden war übrigens die Einladung nicht sehr gelegen gekommen, wenn schon aus anderem Grunde. Sie errieten, daß die Mädchen, nachdem sie sich so als Künstlerinnen in Erinnerung gebracht, Anspruch auf eine etwas weniger summarische Behandlung erheben würden. Um dem zuvorzukommen, hatten sie schon vorher Matten, spanische Wände und reichlich zu trinken in den Garten schaffen lassen und hatten sich so etwas wie ein freies Schäferfest ausgedacht, mit Harfenklang aus den Gebüschen. Méjan fand dann auch im Garten schon einige Paare lagernd vor, leer ausgegangene Kameraden schienen gerade durch scherzhaften Überfall einen Wechsel der Besitzverhältnisse herbeiführen zu wollen, dafür hatte der Kommandant, den François' Meldung einigermaßen dienstlich gestimmt, zunächst wenig Beifall. Er litt seit einigen Tagen an Magenkrämpfen, hatte sich überdies den Morgen mit einer heiklen Affäre, der Erschießung eines königlichen Kuriers durch französische Truppen, befassen müssen. Er musterte also das trauliche Lauben- und Winkelarrangement, schnupperte im Kreise, als würde angebranntes Essen aufgetragen, und meinte dann mit etwas forcierter Heiterkeit, erst müsse mal für ein strahlendes Parkett gesorgt werden, ihm schien darum das Parapet drüben geeigneter für die Aufnahme der Zuhörer. Damit winkte er François, ihm zu folgen, und peilte eine geeignete windige Rasenflache an, wo er dann seinen weißen Hosenboden ohne Umstände wie ein Ei ins struppige Gras absetzte.
Die Offiziere mußten ihm, wenn auch mit Grimassen, folgen. Sie warfen sich wie auf Nagelbrettern hinter ihrem Kommandeur nieder, während die Damen gehorsam vorne Platz nahmen, im Geiste schon mit der Entfernung der Grasflecke beschäftigt. Alles erinnerte nun eher an einen Jagd- oder Feldgottesdienst. Das Harfenspiel und Singen eines Schwesternpaares, das jetzt vor den schläfrigen Kommandanten hintrat, drang nicht zu den Zuhörern. Der Wind riß es mit, denn es ging schon Abendluft in den Gehölzen der Höhe, in die Pinienkronen und die Felspartien trat winterlicher Scharlach, die Sonne war am Untergehen. Unheimlich wirkte mit ihrem langen, hager fechtenden Schatten die Harfenistin, die mit innigem Liebkosen, zornigem Reißen der Saiten doch keinen Laut hervorbringen zu können schien, und das dramatische Gebaren der Sängerin. Von jenem Garten überschaute man die ganze Gegend. Wahrend überall die Dunkelheit heranfleckte wie Tinte an einem Löschblatt, schien einzelnen Gegenständen jetzt erst ihr Licht angesteckt zu werden, so den blühenden Mandelbäumen und einzelnen Hauserblöcken, aus der Versenkung emporsteigend. Im Südwesten herrschte eine fast mörderische Klarheit.
Plötzlich hörte man Laufen auf dem Kies der Gartenwege, das dann dumpf auf den Rasen übersprang. Mehrere Soldaten eilten an der weißen Zeile der sitzenden Mädchen vorbei auf den Kommandanten zu. Der Adjutant hatte sich schon erhoben, wollte mit ihnen aus dem Gesichtsfeld zur Seite treten, aber ihr lauter Rapport bewirkte rasch den Abbruch des Konzerts und ein neugieriges Zusammenströmen der Gesellschaft. Méjan erwachte nur mit einem Auge, das krank tränte und die strahlende Bläue des Abendhimmels spiegelte. So erhob, nachdem die Soldaten geendet hatten, der Adjutant die Stimme.
»Meine Damen und Herren, leider eine unangenehme Unterbrechung! Ein Zwischenfall, doch ist kein Grund zu ernsthafter Beunruhigung. Ein großer Haufe Volks steht vor dem Tor und will wissen, daß sich unter unseren schönen Gastfreundinnen einige ganz rabiate Jakobinerinnen befänden, die dem Richter vorgeführt werden müssen. Auffallenderweise hat man eine Namensliste, von irgendeinem Spitzel unter den Lakaien wahrscheinlich; die Gesellen waren mir ja gleich verdächtig.« Aber er wisse schon, fuhr er fort, wie dieser Besuch wieder zu verabschieden sei. Man könne natürlich nicht mit der Waffe vorgehen, das würde einen Bruch des Waffenstillstandes, ja vielleicht eine Erneuerung der Feindseligkeiten bedeuten, außerdem wäre das rein militärisch gar nicht so ohne weiteres zu bewerkstelligen, denn es mußte eine stattliche Menge sein, viele Bewaffnete darunter. Er denke sich darum die Sache so, daß jede der Damen einzeln vor das Tor hinausträte, damit man sie auf der Liste herausfinden könne, darauf solle sie unaufgefordert rufen. »Es lebe der König und die Religion« oder dergleichen, möglichst mit Jubelton oder dankbarer Rührung, dazu bühnenwirksame Gebärden – das würde die Leute sofort umstimmen. Außerdem befänden sich einige von seinen Kameraden in der Nähe, um bei Tätlichkeiten einzuschreiten. Warum solle auch schließlich der rechtmäßige Fürst nicht hoch leben? Die Monarchie sei doch die einzige, dem Lande gemäße Regierungsform, darüber herrsche ja neuerdings Einmütigkeit, genau wie auch in der Verurteilung jener neapolitaner Idealisten, die ihren Mitbürgern die Reife zur Autonomie zutrauten – ein ganz verhängnisvoller Irrtum!
Die Damen hatten schon gemerkt, daß ihre neutralitätsbeflissenen Kavaliere im Ernstfalle, wenn man die Auslieferung einer von ihnen verlangte, fast keinen Rückhalt gewähren würden. Das ist eben eine neapolitanische Privataffäre, hatte man ihnen bedeutet, wenn wir eine von euch verlören, wäre das sehr betrüblich, aber wir können und wollen uns nicht einmischen.
Sie mußten eben alleine das Mißtrauen ihrer Mitbürger zerstreuen, und dies war nicht ganz einfach, wenn Judith statt mit dem Haupte des Holofernes mit seinen zu putzenden Stiefeln, als seine Magd und Mätresse, vor das Volk Israel hintrat. Einige faßten sich beklommen bei den Händen, andere schienen mit gerunzelter Stirn eine Verteidigungsrede zu memorieren, allen erschien im Augenblick diese Vorladung vor das Volksgericht als eine nicht nur gefährliche, sondern auch sehr ernsthafte und schließlich auch berechtigte Sache. Sie sprachen jetzt alle wieder ihren Dialekt, und zwar in besonders saftigen Brocken, mehrere in ritterlicher Aufwallung nachgeeilte Offiziere stießen sich ihrerseits an diesen rülpsenden Lauten. Sie waren das niedlich-gebrechliche Französisch der Mädchen gewohnt, und den ratlosen Geistern war es willkommen, wenn sich gerade jetzt die unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Völkern von neuem zeigte. Die Mehrzahl, froh über den Abbruch des öden Konzertes, blieb schon bei Eintritt in das Kastell zurück
Dort war das Lärmen des versammelten Volkes schon deutlich hörbar. Denen, die zur verdeckten Galerie hinaufgestiegen waren, um zu ersehen, was Ernsthaftes an der Meldung sei, bot sich das Bild eines Volksauflaufes, wie der, den die Revolutionskriege südwärts über die Alpen geführt, schon manchen erlebt hatte. Das Tor, das die Menge belagerte, lag in einer niederen Mauer, die zwischen zwei Zacken des sternförmig angelegten Bastionengürtels gerade hinführte und nur die verwaltungsmäßige Grenze des Festungsbereiches darstellte. Davor hatte man eine verstärkte Wache aufziehen lassen, der aber in dem Gedränge schon jede Bewegungsfreiheit abging und die immer wieder aufgeregt in das Tor hineinrief, öfters auch die Gewehre in Anschlag brachte. Die Volksmenge schien keineswegs von einem einheitlichen Willen gelenkt, vielmehr ein vorläufiger Zusammenschluß verschiedenster Interessen und Stimmungen, der aber Ehrerbietung heischte, Geschenke und Opfer. Neben empörten Weibern, verwilderten Jünglingen, halbnackt, mit wüstem Bartwuchs, sah man junge Paare vom Land, die Mutter ein Kind an der Brust, der Mann eine Hacke über der Schulter, jeden Augenblick aus unersichtlichen Gründen in schallendes Gelächter ausbrechend, die mitgezogen waren wie hinter einem Wanderzirkus her. Artige Hochschüler, die ihre alte Mutter am Arm führten, am Boden spielende Kinder, um die man ängstlich herumbalancierte, denen man Wein gegen die Abendkühle einflößte. In den vordersten Reihen überwogen die Männer, auf Flinten gestützt, Patronengurte um die Brust geschlungen, sehr verschieden nach Kostüm und Herkunft, aber einig in einer gewissen wohligen Passivität. Sie wußten, daß die Anzahl ihrer Gewehre doch allein der Sache ihren spannenden Charakter gab, wie laut sich auch andere gebärden mochten.
Zuerst streckte, obwohl ihn niemand, am wenigsten die Mädchen selbst, gebeten hatten, ein älterer, schon immer etwas närrisch-chevaleresker Offizier seine Nase zum Tore hinaus, sich verbindlich nach einem Sprecher oder Unterhändler erkundigend, aber die Wachen stellten sich taub. Außerdem begann gleich ein katzenhaftes Zurückweichen der Vorderen und, während die Hinteren rauflustig andrängten, ein derartiges Johlen, Pfeifen und Hähneknacken, daß der Adjutant ihn nervös zurückwinkte, wie man einen Rassehund, der sich mit irgendeinem knurrenden Straßenköter eingelassen hat, zurückpfeift. Dann gab man Fackeln heraus. Und es begann nun das Heraustreten der einzelnen Mädchen, wohl der denkwürdigste Bühnenauftritt ihres Lebens.
Man empfing sie draußen zunächst mit unheilvollem Verstummen oder tauschte flüsternd seine Ansichten aus beim Brausen der Feuerbrände. Dann wurden von einigen Schreihälsen, auf die man sich anscheinend vorher geeinigt, Fragen, Schmähungen, Anklagen ausgeworfen, meist allgemeiner Natur. Wer geschickt war, nahm sie überhaupt nicht auf, er wäre damit schon in Defensivstellung geraten. Wenn man in der Menge Näheres über die Hinauszitierten wußte, was nur ganz selten der Fall war, wartete man damit, bis sich überblicken ließ, wie das Mädchen seinerseits vorzugehen beabsichtigte. Die meisten zahlten sofort mit gleicher Münze zurück. Sie drängten sich mutig nach irgendeinem Ankläger durch – den Schmutzhuber mußte sie mal von Angesicht kennenlernen –, mit fliegendem Atem, lüstern greifende Hände zurückschlagend, feindlichen Blicken feindlichere entgegenfunkelnd. Ausgerechnet sie sollten gegen den König konspiriert, sie den Jakobinern Vorschub geleistet haben, stießen sie dabei hervor, wo man es doch allein ihnen zu verdanken habe, daß die Franzosen nicht ganz Neapel zusammenkartätscht hatten mit dem fürchterlichen Geschütz von Sant' Elmo! Mit ihren Leibern hatten sie die Kanonenmünder verstellt, mit ihrer Tugend das Leben Tausender von Mitbürgern erkauft. Dieser Verleumder würde noch mit dem Strick um den Hals ihre Verzeihung erbitten müssen, wenn König Ferdinand erst den Sachverhalt erführe. Dann blieben sie vor irgend jemand wie versteinert stehen, bissen sich auf die Lippen. So einer hatte es gerade nötig, die Gesinnung anderer zu verdächtigen – ob er etwa abstreiten wolle, seine Schwester, den Stolz des ganzen Stadtviertels, mit Gewalt an die Franzosen verkuppelt zu haben, ob er sich nicht mehr der Taufschale erinnere, die er wochenlang als Barbierbecken benutzt habe! Der also Umkrallte war meistens nicht schlagfertig genug, um die Angreiferin abzuschütteln. Umstehende rückten mit düsterem Schmunzeln von ihm ab, die Menge zwang den blamierten Vertreter zum Rücktritt, während sie das Mädchen laufen ließen – nicht ohne Anerkennung für das unerschrockene Mundwerk. Eine konnte es sich sogar erlauben, einen Burschen, der ihr nach geglückter Apologie mit gerührtem Glückwunschgesicht unter die Röcke griff, aus Leibeskräften zu ohrfeigen, sie fand Unterstützung bei dem verletzten Anstandsempfinden einiger Megären, die den Verdutzten an den Haaren fortzogen. Nach ihr schob sich angstbeklommen die Harfenspielerin aus dem Tor. Als sie einer vorwärtstrieb, versuchte sie mit schrillem Aufschrei einer Schildwache das Gewehr zu entreißen, um sich zu verteidigen. Das belohnte ihr die Menge mit einem Steinbombardement. Sie stürzte zu Boden und mußte ohnmächtig hineingetragen werden. Anderen Verzagten redete man wieder gemütlich zu, fragte sie aus wie verirrte Kinder. So nahm dieses eigenartige Verhör seinen Lauf, jeder Auftritt unterschied sich völlig von dem vorhergehenden, doch war es unwahrscheinlich, daß die Sache noch eine gefährliche Wendung nehmen konnte, solange niemand das Evviva auf Thron und Altar vergaß, an dem das Volk großen Gefallen gefunden hatte.
François Renaudet ging inzwischen mit einigen Kameraden debattierend im Innenhof auf und ab, denn die vorgerückte Stunde hatte ihnen ein neues Problem gestellt. In wenigen Minuten würde das Souper in der Offiziersmesse bereit sein; sollte man nun der Auseinandersetzung zwischen den Mädchen und dem zürnenden Volkswillen noch weiter im Hintergrunde beiwohnen, um dann zwischen Brotrinden und Orangenschalen sein Essen kalt und von den Kameraden noch gründlich geplündert vorzufinden? Die Sache vorm Tore verlief ja denkbar harmlos. Man hatte geglaubt, das Volksgejohle bedeute »à la lanterne«, aber nun schien ja eine behagliche, fast herzliche Unterhaltung in Gang gekommen zu sein. Freilich, man warf auch Steine, doch das waren die üblichen drastischen Stimmungsäußerungen. Um drastischen Ausdruck schienen ja auch die Mädchen ihrerseits nicht verlegen; sacre bleu, sie benahmen sich ja hier den eigenen Landsleuten gegenüber wie die billigste Frauensorte in den Hafenquartieren!
Plötzlich hörte der Offizier aus der Richtung des Tores seinen Namen rufen. »Leutnant Renaudet!« hieß es, »François, lieber François!« flehten einige Frauenstimmen, »Freund Renaudet!« rief endlich, über den Hof kommend, ein ihm oberflächlich befreundeter Dragonerleutnant.
»Da ist eins dieser Frauenzimmer«, erzählte der kleine beleibte Mann etwas atemlos, »das will, um sich wichtig zu machen oder aus Hirnverbranntheit, nicht vor das Tor und den König hochleben lassen. Das vertrüge sich nicht mit ihrer Gesinnung, meint die Gans. Sie behauptet plötzlich, dich zu kennen, dich sprechen zu müssen. Also Galopp, hin zu ihr, aber renke ihr die Vernunft mit Nachdruck wieder ein. Ich bin gleich wieder zurück.«
Inzwischen waren noch andere Offiziere aufgeregt herbeigesprungen Die Person sei schon immer durch ihr absurdes Benehmen aufgefallen. Sie habe sich mit ganz unverständlicher Passion für den Dienst der einzelnen Offiziere interessiert, habe öfters am Tage die Kleidung gewechselt, sei auch die erste abends im Empfangsraum gewesen, um unter der Tür stehend alle Eintretenden anzustarren, nachher aber für alle Dinge gleichgültig zu bleiben. Bei François habe sie also doch eine Ausnahme gemacht?
Renaudet konnte nur den Kopf schütteln. »Das hat uns noch gefehlt«, knurrte er, sich in Trab setzend. Das Treiben auf dem dreieckigen Platz hinter dem Tore erinnerte ihn an eine Reservestellung während einer großen Schlacht. Das Volksgebrüll draußen erschlug wie Geschützdonner jeden Einzellaut. Die Bewegungen der Leute hatte etwas Maßloses, Krampfhaftes – die Zappeligkeit von Truppen, die frisch ins Feuer geführt werden sollen, die bleierne Ermüdung von solchen, die man endlich zurückgenommen hat. Eine Anzahl von Gemeinen war mit dem Flicken von Zeltbahnen beschäftigt. Die Mädchen, deren Aufrufung glücklich vorüber war, schauten ihnen zu, er hörte allerlei ganz ernsthaftes Gespräch. Die Harfenspielerin von vorhin lag immer noch ohnmächtig beiseite, ein gutmütiger Krieger flößte ihr von seinem Fusel ein, während ein anderer ihre Armreifen an sich nahm. Trotz einem lustigen Wachtfeuer schien alles in tiefem Schatten zu liegen neben der bunten, rauchenden Helle, die von den zahllosen Öllampchen, Laternen, Fackeln des Volkes wie ein Dachansatz schräg über die Mauer kam.
Jetzt sah François unter betreten starrenden oder ärgerlich gestikulierenden Menschen eine Frau von hohem Wuchs stehen, wohl die, um derentwillen man ihn gerufen hatte. Sie wandte ihm den Rücken zu – in einer in diesem Augenblick sehr unangebrachten, irgendwie anstößigen Haltung, wie er gleich gereizt feststellte. Sie hatte nämlich die Hände hinterm Nacken verschränkt mit einem wohligen Rollen und Erschauern der Schulter, als schicke sie sich an, aus dem Kleid zu schlüpfen.
»Mademoiselle, Leutnant Renaudet ist gekommen«, meldete dringlich der Haufe. François spürte keine Neigung, sich vorzustellen; er sah, wie ihre Hände einen Augenblick beklommen die Frisur zerdrückten, sich aber gleich brückenhaft schwebend wieder abhoben. Sie drehte sich behutsam nach ihm um, doch der Kopf schoß verwegen voraus. Es war Giovanna.
François erstarrte, doch nur sekundenlang. Es warf ihn nicht um, er hatte es ja kommen sehen, doch er war auch nicht zum Gegenstoß geneigt, hatte reichliche Waffen zur Hand, aber kein rechtes Vertrauen darein. Mit verzogenem Gesicht begann er gleich wieder sein Mißgeschick zu bedenken, das ihm diesen Augenblick bereitet. Er hauchte, hustete Schmähungen zu ihr hinauf – Mörderin, feige Zigeunerin –, doch ganz tonlos und erstickt, wirbelte dann auf dem Absatz herum, um davonzustürzen, die Hände in die Rocktasche bohrend. Es wirkte wie ein schon lange hypochondrisch ausgeheckter Zornesauftritt, der aber im gegebenen Augenblick verlegen stockt und in wildem Geschnaufe untergeht. Ein kurzes gebieterisches Aufstampfen Giovannas brachte ihn zum Stehen; sie wollte ihn weiter hören. Abgewandt, mit flatternden Lidern wandte er sich an die Umstehenden. »Wenn ihr wüßtet, wie sich dieses Weib gegen mich vergangen ... und jetzt soll ich sie vor ihren Landsleuten beschützen? Niemand ist eine frechere Zumutung gestellt worden!«
Er faßte einem Nebenmann an die Schulter, wollte wieder fort wie einer, der sich in seine Burg zurückgezogen hat, unruhig den Torgriff in der Hand hält, während die Zugbrücke aufgewunden wird. Aber Giovanna hatte diese Brücke schon betreten, ein meuterischer Pförtner ließ sie wieder herab. Sie begann, schelmisch-angestrengt in François' Gesicht zu forschen – wie Kinder wetten, wer den Partner zuerst zum Lachen bringt. Als sie gar nichts Brauchbares fand in seiner Spielverderbermiene, zählte sie wieder an den Knöpfen seines Waffenrockes ab, wie damals abends in ihrer Wohnung. Dabei geriet sie an den verletzten Arm und drückte die matt in die Binde verkrochene ungewöhnlich zierliche Hand mit hexenhaftem Zugriff. Sie hatte das gewinnende Spiel. Es schien, als wäre der Aufruhr rings ihr Vorteil, ihr entrolltes Banner. François' zinnenstachliges Kastell ging in Flammen auf; ihr Fuß, ihr rotes Kurtisanenstiefelchen verschüttete die unterirdischen Gänge.
Die Wache klopfte mit dem Gewehrkolben ans Tor. Man beschwor Giovanna, sich draußen zu zeigen, das Volk verhalte sich bedrohlich. Ein neues Stimmengewitter ließ François nur wenig von dem verstehen, was sie dann zu ihm sagte, daß er ihr wenig gefiele, versauert und vermausert aussehe, und ob ihm der Arm noch Schmerzen bereite. Sie erwartete auch keine Antwort, brauchte keinen Unterhaltungsgegenstand mehr. Sie wollte nur jetzt, wo sich die Völker hadernd trennten und sich mit den Namen ihrer angestammten Regierungen anredeten, wo auch die Geschlechter die Kameradschaft lösten und wieder fein einzuteilen wußten in Ehe, Liebeshandel und Freudenhaus – jetzt wollte sie einen jener Männer unverwandt weiter ansehen, ihn »du« und »citoyen« nennen, wenn ihm auch das noch so lästig fallen sollte. Einen ungewöhnlichen Handel hatte sie gehabt mit dem Leutnant Renaudet von der Artillerie, mochten alle anderen Verpflichtungen gekündigt werden, ihre blieb in Kraft. Die Hauptleistung stand sogar noch aus – hatte man denn schon alle Weisen erfahren, wie die Menschen sich gegenseitig etwas heimzahlen können?
François schien ja die vendetta sattbekommen zu haben, war wie einer, der den Mantelkragen hochschlägt, den Hut ins Gesicht zieht, um sich unbeschrien aus dem Staube zu machen. Wollte er den großmütigen Dulder spielen oder war er zu stolz, um sich an einer Neapolitanerin, an einer Kurtisane zu rächen? Ob nun Stolz oder Großmut, sie würde ihn in beidem zu übertreffen wissen. O nein, nicht ihretwegen sollte die Vendetta eingestellt werden!
»In Teufels Namen, nun endlich vors Tor mit ihr! Hast du sie auch instruiert über Katechismus und Treueid?« Der Dragonerleutnant war wieder eingelaufen. Doch davon hatten die beiden noch nicht gesprochen. Weit aus dem Kielwasser des Kleinen waren sie herausgetrieben nach Feuerland hin, wo sich Vulkane und Gletscher zusammenfinden; wenn der eine schimmernd heranrückt, wird der andere zur Giftschlucht, wenn der Vulkan glüht, schmilzt der Gletscher. Trotzdem folgte Giovanna nun plötzlich verständig, verneigte sich vor François, schlüpfte gehorsam zum Tore. Noch öfters blickte sie auf ihn zurück, wie jemand einen wunderlichen Gast – ein lieber Geselle ernst, doch jetzt hochnäsig, kleinlich, ein herzloser Heuchler – einen Augenblick allein läßt, um eine Bestellung ins Haus zu rufen, mit dem Blick aber nicht von ihm abläßt, denn er darf sich nicht davonstehlen.
Die Torflügel, kurz aufschnappend und wieder zubeißend, rafften sie nach außen. Das Volk beruhigte sich. Allerlei Namen wurden laut, bis sich ihrer herausstellte, lange Fragen wurden ausgeworfen, Wiederholungen und rollendes Echo, es kamen barsche Befehle. Drinnen hörte man nicht, ob sie antwortete. Dann erhob sich hell ihre Stimme – ein Möwenschrei über der Brandung. »Es lebe die Republik!« »Es lebe Frankreich!«
Wachsender Flintenknall antwortete schon in die letzten Silben hinein, dutzendweise schlugen die Kugeln ins Tor. Bevor das Volk Atem geholt hatte, zur Beschreiung des Zwischenfalls, vernahm man etwas wie ein zögerndes Niederregnen von Seufzern, raschelnder Seide, klirrenden Spangen.
»Sie ist hin, die arme Närrin«, rief die Wache. »Tragt sie herein, Kameraden. Sie steckt voll Blei wie ein Kugelfang.«