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Der »Lichtenstein«, Hauffs umfangreichste Schöpfung, ist neben den Märchen das beliebteste seiner Werke; ja er gehört zu den literarischen Erzeugnissen, die gegenwärtig bei jedem Gebildeten unbedingt als bekannt vorausgesetzt werden. Und wie gern greifen noch heute unsere Jungfrauen und Jünglinge zu diesem Buche, um den Hauch der jugendlichen Anmut, der über ihm liegt, auf sich wirken zu lassen. Wie fühlen sie sich angezogen von dem sanften Wesen der schnell errötenden, blauäugigen Maria, begeistert von dem frischen Wesen Georgs! Hier bietet der Verfasser, das merkt jeder Leser gar bald heraus, nicht die Darstellung fremden Lebensschicksals, nein, ein gut Stück Selbstbiographie liegt da vor uns. War doch auch unser Dichter, wie der junge Sturmfeder, ein Schüler der altehrwürdigen Tubinga gewesen und hatte als solcher bereits Beziehungen zu seiner holden Cousine Louise angeknüpft. Vor dem Abschiede schrieb er ihr damals ins Album: ... »so denke dabei an die Gänge in den Garten, an die Gitarrestunden und an die aufmerksame Schülerin, vor allem aber an den weiß und blauen Ball den 12. Oktober – vor allem aber an deinen Vetter aus Tübingen.« Für alle diese Einzelheiten bietet der »Lichtenstein« deutliche Reminiszenzen, sogar auf den weiß und blauen Ball findet sich eine Anspielung in der »hellblau- und weißgestreiften Feldbinde, die von der rechten Schulter sich über die Brust zog«. (S. 112. 13. 14.) Zwar hatten die beiden Liebenden, nachdem sie sich zunächst in tiefster Verschwiegenheit Treue geschworen, im Frühjahre 1824 die Einwilligung der Eltern zum Verlöbnis erlangt, doch die ursprüngliche Absicht, möglichst schnell zu einem einträglichen Amte zu kommen, um die geliebte Braut heimführen zu können, wich bald der vernünftigen Einsicht, »daß ein Pfarrer von 22 Jahren ohne alle Erfahrung etwas Arges, und ein Ehemann, der gerade vom Studenten herkommt, nicht viel besser ist«. Da wurde ihm die Stelle als Erzieher der Söhne des Kriegsratspräsidenten und Ministers von Hügel angeboten, und »nach einem fürchterlichen Kampfe zwischen Vernunft und Liebessehnsucht, zwischen Ehre und Liebe« – ganz wie bei Georg Sturmfeder im Romane – bat er seine Louise um ihre Zustimmung. Im folgenden Jahre war er bereits mit der Bearbeitung des »Lichtenstein« beschäftigt. Mußten da nicht notwendigerweise Erinnerungen aus dem eignen Liebesleben in die Darstellung einfließen? – In ganz besonderer Weise verehrt man den »Lichtenstein« natürlich in Schwaben, und das ist dem ausgesprochen nationalen Gepräge zufolge durchaus verständlich. Ganz absichtlich wählte ja der Dichter einen vaterländischen Stoff als Grundlage; ausdrücklich betont er die Liebe und Ergebenheit, mit der die württembergischen Bürger und Landleute ihrem Herrscherhause anhängen, macht uns bekannt mit dem biedern, rechtschaffnen Sinne, der im Hause des Pfeifers zu Hardt waltet, und läßt Bärble und deren Mutter im schwäbischen Dialekte sprechen. Sind ja sogar die den einzelnen Kapiteln vorausgesetzten Motti, mit Ausnahme derer, die er als »Altes Sprichwort« und als »Altes Volkslied« einführt, sämtlich Aussprüche schwäbischer Dichter. Aber auch weit über die Grenzen Württembergs hinaus begrüßte man den »Lichtenstein« mit großer Freude, und für alle Zeiten wird er innerhalb der deutschen Literatur eine nennenswerte Bedeutung behalten, deshalb nämlich, weil er auf dem Gebiete des geschichtlichen Romans einen wirklichen Fortschritt bildete. Natürlich hat es auch vor Hauff nicht an Vertretern dieser Gattung gefehlt, aber keiner derselben hat sich infolge der einseitig politisch-moralisierenden oder völlig lehrhaften Tendenz in unsre Zeit herübergerettet, und Werke wie Hallers »Alfred«, Meißners »Alcibiades« oder Feßlers »Marc Aurel« sind heute selbst den Literaturbeflissenen nur noch dem Namen nach bekannt. Ebensowenig konnten die Ritterromane eines Cramer und Spieß, die sich an den »Götz«, beziehentlich an das Heer der ihm folgenden Ritterdramen anschlossen, oder die Arbeiten einer Caroline v. Pichler und eines J. K. A. Hildebrand für die Dauer befriedigen, so günstig sie auch bei ihrem Erscheinen aufgenommen wurden. Einen wirklichen Wendepunkt in der Entwicklung des deutschen historischen Romans bedeutet erst das Auftreten Walter Scotts, dessen Werke – natürlich zumeist in Übersetzungen – seit 1815 in Deutschland geradezu verschlungen wurden. Selbstredend ließen die Nachahmer eines »so flott gehenden Artikels« nicht lange auf sich warten; aber obwohl einige von ihnen, wie van der Velde und der Verfasser des »Walladmor«, vorübergehend Anerkennung fanden, wirkliche Popularität haben sie nie zu erlangen vermocht. So ist es begreiflich, daß man noch 1824 von einer Armut an deutschen Originalromanen, noch 1826 von einem Notschrei der Kritik nach einem deutschen Walter Scott sprechen konnte. Wilhelm Hauff war es vorbehalten, diesem Mangel abzuhelfen, und wie er durch seinen »Lichtenstein« schon damals die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf sich zog, so hat er auch heute noch – acht Dezennien nach seinem Tode – eine Stätte im Herzen des gesamten deutschen Volkes.
Der »Lichtenstein« erschien 1826 in drei Bänden bei Gebrüder Franckh in Stuttgart. Außer den unzähligen deutschen Separatdrucken, in denen der Roman neben der Gesamtausgabe der Hauffschen Schriften verbreitet ist, und deren Angabe einige Seiten beanspruchen würde, existiert eine Anzahl Übersetzungen, so eine dänische von 1831, eine doppelte ins Französische (1833 und 1858) und eine mehrfache englische (1839, 1846, 1859?).
Über die Quellen des »Lichtenstein« eingehend zu berichten, würde über den Rahmen einer Einleitung hinausgehen. Es sei dafür auf meine ausführliche Darlegung derselben in Band 8 der Probefahrten (R. Vogtländer, Leipzig 1905) hingewiesen, aus denen ich mit Genehmigung des genannten Verlags im folgenden einen Überblick bieten werde. Im allgemeinen war man früher vielfach der Ansicht, Hauff habe zur Abfassung seines Werkes besondere geschichtliche Studien nicht unternommen. Das entspricht jedoch den Tatsachen keineswegs. Er selbst nennt in den Anmerkungen, die er nach der Mode der Zeit, zum Teil auch, um möglichst historisch orientiert zu scheinen, dem Texte beifügte, eine ganze Anzahl von Geschichtswerken, von denen er namentlich Sattler, Pedius Thetinger, Pfaff und Friedrich Stumphart (Hauff schreibt St rumphart, auch Stumphar dt und Stumphar d) herangezogen hat. Das erstgenannte Werk »Geschichte des Herzogtums Württemberg unter der Regierung der Herzogen« (1769–70 Ulm bei Aug. Leb. Stettin) von Sattler, »Herzoglich Württembergischer Geheimder Archivarius«, bot ein umfassendes urkundliches Material; besonders wichtig ist unter den »Beylagen« zum 2. Bande die »Chronica gewaltiger Verjagung Herzog Ulrichs von Wirtemberg, vor etlichen Jahren gemacht, aber erst im 1534. geoffenbart. Autor Friederich Stumphart von Cannstadt, Vogt zu Böblingen«. Der für unsern Roman bedeutungsvollste »dritte Artickell« stellt den Feldzug des bündischen Heeres in Württemberg nach der »Tageraysung« dar und entlehnt seine Ausführungen dem Feldzugsberichte des schwäbischen Bundes. Bei weitem unkritischer, mehr in der Art einer rhetorisch-stilistischen Übung als einer geschichtlichen Abhandlung verfährt Thetinger im » Commentarius de Wirtembergiae rebus gestis Huldricho principe«, der aber – weil noch während der Regierungszeit Ulrichs erschienen – »als eine der allerbesten Schriften über Wirtenberg« galt. Der vierte der vorhin bezeichneten Autoren, M. Karl Pfaff, stützt sich in seiner »Geschichte Wirtenbergs« (Reutlingen, Verlag der J. J. Mäckenschen Buchhandlung) im wesentlichsten auf Sattler. Am meisten zitiert Hauff aus Sattler und Pfaff, die er nach Maßgabe ihrer Ausführlichkeit benutzt. Stumphart und Thetinger müssen aushelfen, wenn die beiden Hauptquellen nicht genügendes Material bieten. Die übrigen in den Anmerkungen enthaltenen Werke sind lediglich als Belege zu betrachten, die das historische Gepräge des Romans erhöhen helfen. Nicht selten wird deshalb für völlig nebensächliche Einzelheiten eine ganze Reihe von Quellen angeführt (S. 34, Anm. 2, S. 152, Anm. 1 u. 2), bisweilen auch für ein und dasselbe Moment an verschiedenen Stellen auf die gleiche Quelle hingewiesen (S. 81 u. 96). Bei genauer Vergleichung erweist sich eine Anzahl der Hauffschen Hinweise als unrichtig, eine andere als falsch zitiert (vgl. unsere Anmerkungen); doch müssen diese Versehen damit entschuldigt werden, daß der »Lichtenstein« in erstaunlich kurzer Zeit vollendet worden ist. Am 26. November 1825 schreibt Hauff: »Der Schluß des Novembers naht sich; bis dahin habe ich Franckh meinen 1. Teil des ›Lichtenstein‹ versprochen, und ich muß jeden Augenblick benutzen, um fertig zu werden.« In den ersten Monaten des neuen Jahres muß die Arbeit infolge eines längeren Besuches seiner Braut und einer Hochzeitsfeier innerhalb der Verwandtschaft oft unterbrochen werden; aber schon am 21. März wird an dem letzten Bogen des zweiten Teils gedruckt, und doch ist er mit dem dritten erst zur Hälfte fertig; »ich muß ungeheuer arbeiten, daß mir die Druckerei nicht zuvorkommt.« Am 18. April erscheint dann bereits der letzte Teil. Wie ungemein eilig es bei der Konzeption oft gegangen sein mag, wie die Druckerei ihn bisweilen förmlich gedrängt hat, daß es auf den Tag ankam, erhellt aus der am Ende des zweiten Teiles im Manuskripte stehenden Anmerkung für den Setzer: »Hier folgen Noten und Anmerkungen, die ich morgen schicken werde.«
Die Form, in welcher Hauff die geschichtlichen Tatsachen darstellt, ist eine verschiedene. In den Einleitungen zu den drei Teilen gibt er die betreffenden Begebenheiten in Gestalt eines Gesamtbildes rein erzählend. Innerhalb des Romanes selbst führt er diese Art verhältnismäßig selten ein, sondern läßt den Stoff durch die auftretenden Personen berichten; so erzählt Hans, der Pfeifer, den Abzug der Schweizer nach ihrer Heimat, später die Geschichte des »armen Konrad«, Marx Stumpf von Schweinsberg die Übergabe von Tübingen. Dadurch erhalten die Ereignisse stets den Charakter des Individuellen und Persönlichen; sie gewinnen dementsprechend an Interesse und innerer Wahrscheinlichkeit. Auch die Art, wie unser Dichter seine Quellen verwertet, ist nicht überall gleichmäßig. Nicht selten lehnt er sich fast wörtlich an seine Vorlage an. Man vergleiche beispielsweise:
Hauff 34. 13ff. Man feierte das Leichenfest des Kaisers zu Stuttgart in der Burg, als dem Herzog Kunde kam, daß Reutlingen seinen Waldvogt auf Achalm erschlagen habe. |
Pfaff I, 290. Auch in Stuttgart hielt man dem verstorbenen Kaiser ein Leichenfest, [ . . ] als die Nachricht kam, die Reutlinger hätten ihm seinen Waldvogt auf Achalm erschlagen. |
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Hauff 34. 27. 28. Das Bundesheer sammelte sich bei Ulm und drohte mit einem Einfalle. |
Pfaff I, 293. Da sammelte sich das Bundesheer bei Ulm und drohte mit einem Einfalle. |
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Hauff 151. 30. 31. alle Ortschaften in der Nachbarschaft sind in großem Schaden; denn die Obstbäume sind alle umgehauen. |
Sattler II, § 10. Während dieser Belagerung litten die Amtsflecke und benachbarte Ortschafften großen Schaden. Die fruchtbaren Bäume wurden umgehauen. |
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Hauff 278. 32ff. Zu Urach hauste Dietrich Späth, des Herzogs bitterster Feind. Er brachte in wenig Tagen soviel Mannschaften auf, daß er nicht nur sein ganzes Amt im Zaume hielt, sondern auch Einfälle in die Ländereien des Herzogs machte. |
Sattler II, § 17. Dann zu Urach war Herzog Ulrichs ärgster Feind, der Dieterich Spet. Dieser brachte in wenig Tagen soviel Mannschaft zu Pferd und zu Fuß auf, daß sie nicht nur ihre Amtsuntergebenen im Zaume halten, sondern auch dem Herzog einigen Widerstand tun konnten. |
Auch solche Stellen seiner Vorlagen, die ihm besonders anschaulich vorkamen, suchte er möglichst Wort für Wort zu verarbeiten, wie aus dem folgenden ersichtlich ist.
»Am heiligen Freitag wars. Nachmittag um drei Uhr ritt Georg v. Frondsberg mit etlichen anderen Hauptleuten vor die Stadtpforte an dem Schloß und schrie hinauf, ob sie im Schlosse bauen. Stadion antwortete: ›Nein, denn es wäre wider den Pakt des Stillstandes, aber ich sehe, daß ihr im Felde bauet‹. Georg v. Frondsberg rief: ›So es geschehen, so ist es ohne meinen Befehl geschehen; wer bist du?‹ Da antwortete der im Schloß: ›Ich bin Ludwig von Stadion.‹ ›Ist's also, wie Du sagst‹, rief er, ›so will ich's wenden‹, ritt zu ein paar Schanzkörben und warf sie um. Dann rief er dem Stadion zu, mit einigen Rittern herabzukommen, um miteinander ein Trunk zu tun.« |
Stumphart, Sattler II, Beylage Nr. 21, S. 37. Hatt sich begeben, daß Jerg von Fronsperg der knecht haubtmann umb 3 Ur nachmittag (der Freitag ist schon Seite 36 angegeben) mit ettlichen andern hauptlütten hinab für die Stadtporten under dem Schloß geritten ist und hynuff geschruwen, ob Sie im Schloss buwen, hat einer im Schloss geantwurt Nain, denn es wäre wider den packt deß frydens, aber ich sich wol, daß Ir im veld buwend, antwurt Jerg v. Frondsberg, So es beschehen, so ist es sonder mein beuelch geschehen, Wer bist du? antwurt der im Schloß Ich bin Ludwig von Stadion, spricht J. v. Fr., ist es also, wie du sagst, so will ich's wenden, hatt darüber 2 kerb, so gefült gewesen sind umbegestossen [...] und daruff jne den Ludwig von Stadion mit etlichen andern herabgefordert miteinander einen Trunk zu tun. |
Bisweilen aber machten sich – namentlich wenn geschichtliche Stoffe durch Personen des Romans wiedergegeben werden mußten – kleine Änderungen, einzelne Zusätze und Modifikationen nötig; doch ist dadurch nirgends eine ernstliche Fälschung der Verhältnisse eingetreten, und man kann mit gutem Rechte behaupten, daß Hauff hinsichtlich der historischen Ereignisse möglichste Treue wahrte.
Nicht in demselben Maße läßt sich das bezüglich der auftretenden Personen sagen, ist ja schon an dem Haupthelden des Romans nichts geschichtlich als allenfalls der Name. Um Georg von Sturmfeder zu den Anführern des schwäbischen Bundes in Beziehung zu setzen, sah sich der Dichter oft veranlaßt, ergänzend, motivierend und ausschmückend zu verfahren, weil seine Quellen keinerlei Auskunft boten. Auch Maria ist natürlich frei erfunden, und in die Entwicklung des Liebesverhältnisses der beiden jugendlichen Gestalten die große Zahl geschichtlicher Momente unauffällig einzuflechten, war mit mancherlei Schwierigkeiten verknüpft. Dazu bedurfte es zweier weiterer Personen, des Dietrich von Kraft, der als Stadtschreiber von Ulm über die politischen Verhältnisse wohl unterrichtet sein mußte, und dessen, der Georg über die Alb durch die Reihen der Bündischen nach dem Lichtenstein begleiten sollte, des Pfeifers von Hardt. Gerade diesem, einer der sympathischsten und gelungensten Figuren des ganzen Romans, hat der Dichter besondere Sorgfalt und Liebe angedeihen lassen. Hans, der Pfeifer, ist auch in hervorragender Weise geeignet, die Technik der Verbindung historischen und erfundenen Materials zu veranschaulichen. Die Enthüllung des geheimnisvollen Dunkels, das über seinem Leben liegt, die Erzählung vom »armen Konrad« legt die Vermutung nahe, daß auch der Erzähler ebenso wie Bregenzer und Gaispeter selbst eine geschichtliche Persönlichkeit sei. Das Verzeichnis der damals Verurteilten aber lehrt, daß nicht einmal der Name nachgewiesen werden kann. Verbürgt ist nur der Ruf: »Schießt den Schelmen tot!«, der damals aus der Menge der schwierig gewordenen Bauern ertönte. (S. 319.12.) Noch komplizierter als die Einführung Georgs in den Kreis der politischen Verhältnisse war eine einwandfreie Charakteristik des geschichtlichen Haupthelden, des Herzogs Ulrich, und zwar zunächst deshalb, weil die Urteile über ihn durchaus verschieden lauteten. Seine Feinde nannten ihn einen stolzen, herrschsüchtigen Mann, der seine Edlen ermordet, seine Bürger in den Staub tritt, der an der Tafel des Landes Mark verpraßt und seine Bauern verschmachten läßt. Demgegenüber berichtete Beylage 80 und 89 zu Sattler, daß die Untertanen in Liebe zu dem angestammten Fürsten freudig eher Gut und Blut opfern, als dem Bayernherzog ihr Land abtreten. Aber auch Hindernisse anderer Art gab es zu überwinden, wenn man Ulrichs Charakter entwickeln wollte. Der geschichtlichen Überlieferung gemäß war der Herzog seit der Belagerung von Tübingen geflohen, aktiv überhaupt nur wenig hervorgetreten; andrerseits aber mußte der Dichter bedeutend mehr Elemente verwerten, als die kurze Dauer des politischen Konfliktes erlaubte, wenn er ein auch nur einigermaßen deutliches Bild des Fürsten entstehen lassen wollte. Das relativ vollständigste Material bot Pfaff I, 386, und dessen Ausführungen entsprechend, ist Hauff allerdings bestrebt gewesen, wichtige dort erwähnte Einzelheiten seiner Ulrich-Charakteristik anzupassen. Die hoheitsvolle Würde und Standhaftigkeit, mit der er seine Verbannung ertrug, seine Frömmigkeit, seine Vorliebe für rauschende Festlichkeiten, seine Don Juan-Natur, das Leidenschaftliche, Unberechenbare seines Wesens, später sein Mißtrauen, den Trotz, eine gewisse Härte im Urteil, alles das versucht der Dichter aus den Ereignissen heraus zu motivieren. So anerkennenswert sein Bemühen aber auch ist, die Zwiespältigkeit in des Herzogs Natur, die sonderbare Mischung seines Charakters zum Ausdrucke zu bringen, so wenig kann geleugnet werden, daß Hand in Hand damit in Lichtenstein ein Kolorit in zu milden Tönen geht, das der Erscheinung Ulrichs den Stempel des zwar Rätselhaften aber doch auch des Vornehmen aufdrückt. Zugunsten des Herzogs wird z. B. der Kanzler, eine wirklich historische Person, entschieden zu dunkel gezeichnet auf Kosten der historischen Wahrheit. Trotz alledem wäre es unrecht, wollte man – wie es vielfach geschehen ist – von einer völligen Verzeichnung des Herzogs im »Lichtenstein« reden. Man beurteilt dann Ulrich nicht auf Grund der Quellen, die Hauff damals vorgelegen haben, und die in der Tat ziemlich spärlich flossen, sondern nach dem Bilde, das die moderne Geschichtsforschung von ihm entwirft.
Die bisher erwähnten Quellen bezogen sich auf die geschichtlichen Ereignisse und Personen des »Lichtenstein«. Einen nicht unwesentlichen Teil des Romans bilden daneben die sagengeschichtlichen Stoffe, wofür in erster Linie die » Annales Suevici von Crusius I. II. in Fol. Frankof. 1596« als Vorlage dienten. Hauff kannte dieses Werk in der von Joh. Jac. Moser übersetzten und bis 1773 fortgeführten Ausgabe als »Schwäbische Chronik«. Deren zweitem Bande war ein Anhang beigefügt, »darinn die Landschafften, Fürstenthümer, Ortschafften, Adeliche Sitze in Schwaben, Würtembergische und andere Schwäbische Städte, Clöster, Schlösser und Dörffer, auch viele merkwürdige und bisher nicht einem jeden bekannte Sachen beschrieben werden,« kurz, als »Paralipomena« zitiert. Dort steht S. 426 nach der Erwähnung des Schlößchens Lichtenstein der Satz: »Darin hat der vertriebene Fürst Ulrich von Würtemberg öffters gewohnt, der des Nachts vor das Schloß kam und nur sagte: Der Mann ist da; so wurde er eingelassen.« Zwar widerspricht diese Darstellung der II. 191 von Crusius gegebenen, wonach »der Herzog Ulrich von seinen Kindern und dem Herzogtume ungefähr den 7. April mit Tränen Abschied nahm und durch den Schwarzwald in die Grafschaft Mömpelgard ging«; doch griff sie Hauff freudigen Herzens auf, weil sie ihm ein willkommenes Hilfsmittel bot, den Herzog innerhalb des Romans in ausführlicherer Weise zur Geltung kommen zu lassen, weil sie zugleich eine Beschreibung der Burg enthielt, der er im wesentlichen gefolgt ist. So findet sich der Satz der Quelle »Etwas höher ein herrlicher Pferdestall von vielen Ställen und kleine Kammern, anstatt des Kellers, alles in Stein gehauen« bei ihm S. 190. 40 fast wortgetreu. Auch der »von oben biß unterst führenden Schnecke« und den »Doppelhaken« der Quelle begegnen wir bei ihm wieder. Noch immer ist die Meinung verbreitet, der Dichter habe im »Lichtenstein« den jetzt bestehenden, durch Ansichtskarten und andere Vervielfältigungen überall bekannten, keck in die Lüfte ragenden Bau einfach nach der Natur beschrieben. Das ist jedoch ein gewaltiger Irrtum. Zu Hauffs Zeiten stand an der Stelle des heutigen Jägerhauses höchstens die Ruine eines im Bauernkriege zerstörten Schlosses, und erst durch unseres Dichters Werk veranlaßt, ließ der Herzog von Urach, ein Verwandter des württembergischen Herrscherhauses, das jetzige Schlößchen nach den Plänen von Heideloff ausführen. (Vgl. H. Hofmann, S. 269.) Räumlich schon nimmt der Lichtenstein einen zentralen Standpunkt im Romane ein, nicht minder in seinen Beziehungen zu Georg von Sturmfeder. Nach der Trennung von den Bündischen ist der Lichtenstein seine ganze Sehnsucht; seine Liebe zu Maria, seine Teilnahme für den unbekannten nächtlichen Gast wächst auf Lichtenstein, nach Lichtenstein läßt ihn ein gütiges Geschick endlich aus der Gefangenschaft zurückkehren. Ein außerordentlich reiches Stoffgebiet war es also, das Hauff mit dem Lichtenstein verbinden konnte; daher erhielt dieser Name bald fundamentale Bedeutung für ihn, und so wird es – abgesehen von den Vorteilen in lokalpatriotischer Beziehung – wohl verständlich, warum er gerade ihn zum Titel für seinen Roman wählte. Wenige Zeilen nach der Erwähnung des Lichtenstein folgt bei Crusius die Beschreibung der Nebelhöhle, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß allein dadurch unser Dichter auf den Gedanken gebracht wurde, die Person Ulrichs damit zu kombinieren. H. Hofmann weist auf die weitere Möglichkeit hin, daß »die in der hinteren Nebenhöhle der Nebelhöhle sich findende Einzeichnung eines württembergischen Prinzen aus dem Jahre 1561 Hauff veranlaßt habe, die Erzählungen des Landvolks von dem Versteck des flüchtigen Fürsten auf jene Höhle zu beziehen«. Vielleicht hat auch die benachbarte Lage der Höhle, wodurch seiner Annahme eine gewisse Wahrscheinlichkeit verliehen wurde, den Dichter darin bestärkt. Überdies waren beide Orte, der Lichtenstein und die Nebelhöhle, beliebte Ausflugspunkte, durch welche die lokalen Verhältnisse des Romans größere Anschaulichkeit gewannen, und die Bekanntschaft mit ihnen konnte nur dazu beitragen, das Interesse für die daran geknüpften Ereignisse zu fördern. Unter Umständen kann auch die Sage von der Ulrichhöhle die im dritten Teile des »Lichtenstein« Verwertung findet, als Anregung zur Benutzung der Nebelhöhle betrachtet werden.
Von nicht geringerer Bedeutung als die sagengeschichtlichen Stoffe sind für den »Lichtenstein« die kulturhistorischen Elemente, die Hauff außer der gelegentlichen Einflechtung von Einzelheiten vor allem in der Weise anordnet, daß jedem der drei Teile nach der einleitenden Darlegung der politischen Fakta ein größeres kulturgeschichtliches Gemälde, nämlich im ersten Bande den Abendtanz zu Ulm, im zweiten den Besuch im Pfeiferhause zu Hardt und im letzten die Beschreibung des Landsknechtslebens folgen läßt. Die hauptsächlichste Quelle für den Abendtanz bildet das »Turnierbuch von Rixner, Frankfurth 1566«. Es war bereits 1534 »durch Georgen Rüxner mit hülff und fürschub etlicher fürsten und herren« in Druck gekommen und bot außer einer Schilderung von »32 Thurnieren« eine »wahrhaftige Beschreibung der kurzweil und Ritterspiel, so der Durchlauchtigst Großmechtigst Fürst und Herr, Herr Maximilian, König zu Beheym, Erzherzog zu Oesterreich, usw. hat halten lassen«. Darin sind meist unter der Überschrift: »Wie der Abendtanz fürgenommen und sehr herrlich gehalten ward«, zahlreiche Abbildungen enthalten, und diese kamen Hauff bei der Abfassung des sechsten Kapitels im ersten Teile – wie er dort selbst andeutet – in der Tat trefflich zustatten. Auch als Vorlage für die Landsknechtszene des dritten Teils kommen zweifellos nur Bilder in Frage und zwar aus einem Anhange zu der »Historia Herrn Georgen und Herrn Caspars von Frondsberg«, der den Titel trägt: »Von Kayserlichem Kriegsrechten, Malefitz und Schuldhändlen, Ordnung und Regiment, sampt derselbigen und andern hoch oder niderigen Befelch, Bestallung, Staht und Empter zu Roß und Fuß, an Geschütz und Munition« usw. von Leonhart Fronsperger. Nicht weniger als 60 Bilder, von denen die meisten eine halbe, einige sogar eine Doppelseite beanspruchen, enthält dieses Werk schon auf den ersten 100 Seiten. Wie sehr unser Dichter von Jugend auf gerade bildliche Darstellungen schätzte, geht aus dem Berichte seines Bruders Hermann hervor, der in den »Zeitgenossen«, 3. Reihe, VII. S. 46 sagt: »Jenes geliebte Bücherzimmer war der Tummelplatz, wo wir im mannigfachen Spiele darstellten, was wir gelesen oder gesehen hatten; denn jene lange Foliantenreibe war reich an Bildern, grob und fein, gut und schlecht, aus allen Zeitaltern, und so bildete sich in unseren Köpfen eine freilich sehr lückenhafte Geschichte in Bildern. Wie entzückten uns in Hortleders ›Ursachen des deutschen Kriegs‹ die eisernen Fürsten und Herren, die Lanzenknechte mit ihren ungeheuren Hosen und Partisanen«. Beachtenswert ist auch die Manier, wie Hauff im »Lichtenstein« die kleinen kulturgeschichtlichen Genrebilder mit dem übrigen Stoffe verbindet. Er beschreibt sie nicht einfach, sondern knüpft sie an ganz bestimmte, natürlich erdichtete Persönlichkeiten an. Aus der Reihe der Ulmer Bürger nennt er den leicht erregbaren Weberobermeister Kohler, der mit dem neugierigen Waffenschmiede zusammen das kleinliche, spießbürgerliche Element repräsentiert, während Dietrich von Kraft das Patriziertum vertritt. Ebenso führte er uns aus der Menge der Landsknechte einzelne, besonders charakterisierte Vertreter in der Person der vier Hauptleute vor, die ihm Veranlassung zum Gebrauche verschiedener deutscher Mundarten geben. Aber nicht nur mit dem Bürger- und Soldaten-, sondern auch mit dem Bauernstande macht er uns bekannt, indem er uns einen Einblick in des Pfeifers Haus gewährt. Da gibt er gleichfalls eine Menge kulturgeschichtlichen Materials, wenn er der blanken Kannen, der Becher, Platten und des irdenen Geschirrs mit den sinnreichen Reimen besonders gedenkt, ganz ähnlich wie er in der Wohnung des Stadtschreibers zu Ulm den ungeheuren Ofen, die zwei großen Armstühle, das dunkle Tafelwerk an Wand und Decke und das Bette mit breitem Himmel und steifen, schweren Gardinen ausführlich beschreibt. Das alles sind Einzelheiten, die der Dichter ebenso wie die ländlichen Sitten und Gewohnheiten der Pfeifersleute offenbar an Ort und Stelle aus eigner Anschauung kennen und lieben gelernt, für die er also keine weitere Quelle gebraucht hat. Im allgemeinen verstand er infolge seiner scharfen Beobachtungsgabe und seines historischen Sinnes das der Zeit der Handlung entsprechende Kolorit wohl zu wahren, wenngleich bei größerer Vertiefung natürlich auch hier noch manches hätte geschehen können.
Verschiedenartige geschichtliche Elemente sind demnach im »Lichtenstein« miteinander vermischt. Unauffällig, ohne sichtbare Nähte hat der Verfasser sie alle zu verbinden verstanden, so geschickt, daß bei dem unbefangenen Leser das deutliche Bewußtsein dafür, wo die historischen Tatsachen und wo die Phantasie zur Geltung kommt, vielfach ganz verloren geht, ein Moment, das bei der Beurteilung des Romans nicht vergessen werden darf.
Unter den literarischen Vorbildern gebührt die hervorragendste Stellung ganz sicher Walter Scott. Darauf deutet schon die Einleitung zum »Lichtenstein« hin, wo es (S. 35.16) heißt: »Begierig liest man ..., was vor sechzig oder sechshundert Jahren in den Gefilden von Glasgow oder in den Wäldern von Wallis sich zugetragen hat ... Und doch ist es meist nur der große Unbekannte, der uns die Bücher seiner Chroniken erschloß und Bild an Bild in unendlicher Reihe vor dem staunenden Auge vorüberführte. Er ist es, der diesen Zauber bewirkte, daß wir in Schottlands Geschichte beinahe besser bewandert sind als in der unserigen.« Während er hier nur von dem »großen Unbekannten«, später von dem »unbekannten Magier« spricht – Scott ließ den größten Teil seiner Romane bekanntlich anonym erscheinen – nennt Hauff in der Skizze »Die Bücher und die Leserwelt«, deren dritte Nummer sogar die Überschrift »Der große Unbekannte« trägt, den Namen des englischen Meisters, ja in Nr. 4 schreibt er geradezu: »Mein Entschluß stand fest, einen historischen Roman à la Walter Scott mußt du schreiben, sagte ich zu mir; denn nach allem, was man gegenwärtig vom Geschmacke des Publikums hört, kann nur diese und keine andere Form Glück machen.« Kann man schon aus einer solchen Stelle bis zu einem gewissen Grade erschließen, daß sich Hauff mit Scott beschäftigt haben muß, so wird man über die Art und den Umfang seines Scott-Studiums vollständig orientiert durch die von H. Hofmann S. 229 ff. mitgeteilten »Bemerkungen über: The Romances of Walter Scott«. Die daselbst unter I. abgedruckten »Allgemeinen Bemerkungen« sind sicherlich als Zusammenfassung seines Urteils über Scott nach der Lektüre der einzelnen Werke zu betrachten und zeitlich also hinter die unter II stehende »Nähere Untersuchung der Romane« zu setzen. Nicht weniger als zwölf Romane des englischen Meisters sind da analysiert, unter denen als geschichtlich im engern Sinne 1. Waverley, 2. Old Mortality, 3. Ivanhoe, 4. The Monastery, 5. The Abbot, 6. Kenilworth sich finden. Am ausführlichsten sind die Analysen von » Waverley« und » The Antiquary«; doch würde jede von ihnen 4–5 Seiten in Anspruch nehmen, und deshalb eignen sie sich für unsre Zwecke nicht zur Wiedergabe. Um aber doch ein Beispiel dafür zu geben, in welcher Weise sich unser Dichter nach der Lektüre jedes englischen Romans über die Hauptideen und Charaktere desselben aussprach, wie er zugleich – oft recht treffend – Kritik daran übte, seien die unter Nr. 10, S. 241 bei H. Hofmann stehenden Notizen über » Ivanhoe« hier abgedruckt. »Der Zeit nach der erste, aber nicht gerade der beste. Zwar ist die Fabel abgerundet, einige Szenen trefflich, gleicht aber mit ihren Episoden und dem Schmuck etwas zu sehr den Ritterromanen der verflossenen Dezennien, die Szenen stehen oft auch so steif nebeneinander als die getrennten Volksstämme. Das Studium der Geschichte blickt auch oft zu nackt hervor. Sehr zu loben ist übrigens: Die großartigen Charaktere und die auffallende scharfe Individualisierung derselben. Doch ist alles zu schroff abgeschnitten. Wahr ist es, der Templer ist ein riesenhafter Charakter, der, wenn ihn die Sinnlichkeit nicht hinderte, weit seine Zeit überflöge; so auch die normannischen Ritter, trotz ihrer Verworfenheit.
Cedric und Adelstan leben. Im Juden erscheint der potenzierte Begriff eines Juden. Aber – je schärfer in allen diesen Gestalten die Züge des Geschlechtes und Standes gehalten sind, um so mehr muß es verwundern, in Rebekka, statt einer Jüdin, ein über allen Begriff idealisiertes weibliches Wesen zu finden, welches mit individueller Seelenstärke, aufopfernder Großmut, auch von allen philanthropistischen Ideen unseres und des vergangenen Jahrhunderts durchdrungen ist. Sie ist ein Gebild der Einbildungskraft, kein menschliches Wesen.
Vortrefflich ist auch Prinz Johann, der künftige Johann ohne Land. Leichtsinn und Wankelmut, besonders in der Turnierszene. Besonders aber ist die Auffassung Richards, dieses merkwürdigen ritterlichen Königs, zu loben. Sein Erscheinen beim Bruder Klausner ist eine der gelungensten Szenen, so auch der »Niederländische« Auftritt unter den Geächteten und Sachsen.« Daß eine solche mit beständiger Reflexion Hand in Hand gehende Lektüre einer so großen Zahl Scottscher Romane mit nachfolgenden Exzerpten und Rezensionen nicht ohne merklichen Einfluß auf Hauffs Werk bleiben konnte, ist leicht einzusehen.
Bevor wir indessen auf die Einzelheiten des englischen Einflusses eingehen, soll die Frage erörtert werden, ob die Werke Scotts unserem Dichter im Originale oder in Übersetzungen vorgelegen haben. In den Schriften Hauffs, vor allem in den »Memoiren« und dem »Mann im Mond« begegnen uns außerordentlich viele französische Ausdrücke, englische aber mit Ausnahme des wiederholten » Goddam!« und des Satzes » The tree of knowledge is not that of life« gar nicht. Gerade das öftere Vorkommen dieses » Goddam« und der Umstand, daß die genannte englische Sentenz ganz ausdrücklich als Byrons eigne Worte im » Manfred« bezeichnet und in einer Anmerkung außerdem ihre Übersetzung gegeben wird, die selbst bei längeren französischen oder lateinischen Zitaten nie steht, machen sie es nicht wahrscheinlich, daß er des Englischen nicht mächtig gewesen ist? Zudem gilt es sicher, daß er eine schulmäßige Kenntnis desselben nicht besitzen konnte, da es auf keiner der von ihm besuchten Schulen gelehrt wurde. Es blieb somit nur die private Erwerbung nach seinem Abgange vom Tübinger Stift übrig. Ob und inwieweit sie möglich war, wird jeder selbst ermessen können, der die folgenden Tatsachen erwägt. Im August 1824 verließ der junge Hauff Tübingen, und noch in demselben Monat gab er die »Kriegs- und Volkslieder« heraus. Im Oktober trat er dann die Haushofmeisterstelle bei den Söhnen des Präsidenten von Hügel an. Im Verlaufe des folgenden Jahres vollendet er die »Memoiren«, den »Mann im Mond«, die 1. Novelle »Othello« und den »1. Märchenalmanach«, also vier ziemlich umfangreiche Werke, muß überdies am »Lichtenstein« energisch arbeiten, da er dem Buchhändler den ersten Teil bis Ende November zugesagt hat und legt außerdem im Februar die höhere Dienstprüfung, im Sommer sein Doktorexamen ab. Neben dieser an sich schon bedeutenden Arbeit, die ja auch nur seine freien Stunden umfassen konnte, sich das Englische soweit anzueignen, daß es ihm das rasche Lesen von zwölf meist dreibändigen Romanen Scotts ermöglichte, das ist kaum denkbar. Als weiterer Beweis dafür, daß Hauff nur Übersetzungen benutzt hat, sei ferner auf die Namen »Pfundtext«, »Vielgrimm«, »Magda Wildfeuer« in den vorhin erwähnten Analysen, sowie auf die Tatsache hingewiesen, daß sich » Ivanhoe« und » Quentin Durward« als Übersetzungen in seiner Bibliothek fanden. Wie oft spricht er endlich selbst von den Scott-Übersetzungen! »Übertragungen, die wie Pilze aus der Erde zu wachsen scheinen,« »Wie, nichts Schönes um zwei Taler? Und doch kostet ein Roman von Walter Scott nur 20 Groschen!« »Wenn Sie Übersetzungen haben wollen«, sagte der Buchhändler, »ich dachte, Sie wollten Originale«. – »Diese Übersetzungen, diese wohlfeilen Preise werden uns ohnedies bald ruinieren.« – »Man kauft sich Groschenübersetzungen oder wohlfeile Taschenausgaben.« – »Intelligenz und Geschmack, das Bändchen um neun Kreuzer rheinisch!«
Was hat nun Hauff von Scott gelernt?
Zunächst war es der intensiv historische Zug der englischen Romane, der ihm auffiel. Darum suchte er »den Zauber, womit jener unbekannte Magier unsere Blicke und Herzen nach den bergichten Heiden seines Vaterlandes zog«, mit Recht darin, »daß er auf historischem Grund und Boden geht«. Dementsprechend will auch er ein »historisches Tableau entrollen, das, wenn es auch nicht jene kühnen Umrisse der Gestalten, jenen zauberischen Schmelz der Landschaft aufweist, ... doch eins zur Entschuldigung für sich haben möchte, ich meine die historische Wahrheit«. Wie der Schlußsatz hervorhebt, legt Hauff deshalb besonderen Wert auf die strenge Beachtung des Überlieferten, das er ja – wie wir aus einigen Proben ersahen – oft wörtlich wiedergibt, und er tut sich gegenüber der Behandlungsweise Scotts darauf etwas zugute. Zwar hat es dieser keineswegs versäumt, Quellenforschungen anzustellen, ja er gab in bezug darauf ganz neue Richtungslinien, indem er auf alte Volkslieder, Familienchroniken, Wirtschaftsbücher u. a. m. aufmerksam machte; aber er beurteilt die Frage wesentlich anders, man kann wohl sagen freier. Nirgends läßt er sich durch die Geschichte beschränkende Fesseln anlegen, sondern schaltet mehr willkürlich, unbekümmert um den Tadel und die Klagen der beleidigten Geschichtsforscher, und sehr bezeichnend vergleicht er sein Vorgehen mit dem Walten der Wünschelrute, einem dünnen an sich unbedeutenden Zweige, der aber durch seine Bewegungen anzeigt, wo Adern köstlichen Metalls unter der Erde verborgen sind.
Ebenso markant wie das geschichtliche Element war für Hauff der nationale Charakter der englischen Werke. Schon als Knabe hatte Scott mit Leidenschaft altschottische Balladen und Lieder gesammelt, die er später durch eigne Dichtungen vermehrte. Spezifisch schottisch ist darum auch der Hintergrund, den er den meisten seiner Romane gibt. Mit Vorliebe bedient er sich sogar echt schottischer Ausdrücke, die nicht selten im Original abgedruckt wurden, und für die sich selbst in den englischen Ausgaben ein eignes angefügtes Glossar (of certain Scotish terms and phrases) nötig machte. Wie deutlich unser Dichter diese Eigenart herausfühlte, zeigt er, wenn er die Frage aufwirft, »ob vielleicht die Berge Schottlands von glänzenderem Grün überzogen, ob jene Schotten ein interessanterer Menschenschlag seien«. Scott hat ihn gelehrt, die Menschen als Produkt ihrer Landschaft aufzufassen, daher die starke Betonung des nationalen Elementes im »Lichtenstein«, die in anderem Zusammenhange bereits ihre Würdigung fand.
Weiterhin ist auch in technischen Fragen Hauff zweifellos von Scott beeinflußt, namentlich weist die Einteilung seines Romans, die Zahl der Kapitel und der Gebrauch des Mottos auf die englische Praxis hin. Bis ins kleinste Detail verfolgte er ferner die Charaktere seines Vorbildes, wie seine Beurteilung der Maria Stuart in » The Abbot« zeigt, wenn er schreibt: »Kann man ihn (Scott) zu strenge tadeln, daß er über dem reizenden Bilde der unglücklichen Königin die übrigen vergißt? Man kann nicht sagen, daß er subjektiv geworden, denn er vergaß sich selbst in der Beschauung einer außer ihm liegenden Erscheinung. So finden wir denn statt der Fortsetzung (zu » Monastery«) die Geschichte des siegenden Protestantismus, die Beschreibung der ersten Gefangenschaft, Befreiung und Flucht der Königin. Aber wie herrlich ist diese Zeichnung gelungen! Er hat sie keineswegs idealisiert, Maria erscheint in ihrer menschlichen Natur, mit mannigfachen Schwächen und Eitelkeit behaftet, leichtsinnig, bitter, sarkastisch; aber dennoch hat der Dichter es verstanden, einen solchen Zauber poetischer Anmut über sie auszugießen, daß wir mit innigem Wohlgefallen auf das Bild der Unglücklichen blicken, obgleich wir uns dabei ihre Mängel nicht verbergen können ...« Bei einer so intensiven Beschäftigung mit den Charakteren der englischen Vorbilder konnte es Hauff natürlich nicht entgehen, daß Scott zu seinen Helden meist »unbedeutende charakterlose« Leute wählte. Er begnügte sich aber nicht damit, diese Tatsache einfach als solche hinzunehmen, sondern er versuchte sie in den »Allgemeinen Bemerkungen« zu erklären und zu begründen. Er konstruiert zu dem Zwecke einen Unterschied zwischen dem Helden der Tragödie und des Epos einerseits und dem des Romans andrerseits. Seiner Meinung nach fordert der Roman nicht in dem Sinne wie die beiden andern Dichtungsarten einen Helden, sondern in ihm mußten »aus den wirklichen Helden tüchtige Männer, wie wir sie im Leben finden, werden«.
Er hält es auch für erlaubt, daß statt der tüchtigen Männer solche ihre Rollen einnehmen, »welche, wie es im Leben doch häufig der Fall ist, von Schwächen usw. beherrscht werden,« ja sogar für empfehlenswert; denn »daß wir uns für diese im Leben am meisten interessieren, ist nicht zu leugnen, sie mußten daher auch notwendig in den Roman«. Nach diesen theoretischen Erörterungen Hauffs über die Charakterqualitäten der Haupthelden im Romane kann es uns nicht wundernehmen, wenn auch Georg Sturmfeder hier und da Unentschlossenheit, Mangel an mannhafter Willensstärke offenbart, und wir sind berechtigt, ein weiteres Moment Scottschen Einflusses darin zu erblicken, abgesehen von den eingangs erwähnten Gründen persönlicher Art.
Eine hervorragende Rolle spielen im »Lichtenstein« die »guten alten Zeiten« und die daran geknüpften Vergleiche mit der Gegenwart. So heißt es S. 107[[.32]]: »Man hatte zwar damals das menschliche Gemüt noch nicht wie in unseren Tagen durch eigene Gespenster- und Schauerbücher für das Grauenhafte zugänglich gemacht«, oder S. 90[[.7]]: »Denn die Mädchen von 1519 waren noch nicht so flink mit der Feder, um ihre zarten Gefühle auszudrücken, als in unseren Tagen, wo jede Dorfschöne ihrem Liebsten zum Regiment eine Epistel so lang als die dritte St. Johannis schreiben kann.« Einen ganz ähnlichen Ton schlägt Scott an, wenn er z. B. im Waverley I. S. 67 (Reutlinger Ausg. v. 1825) sagt: »... eine Börse voll Goldstücke, welche ebenfalls vor 60 Jahren viel häufiger gesehen wurde als in unseren Tagen. oder in Monastery I. Kap. 14. S. 269 (Berlin, Duncker u. Humblot). »Die Art des Benehmens war freilich verschieden; denn die Etikette der damaligen Zeit erlaubte dem Sir Piercie Shafton nicht, in den Zähnen zu stochern, oder zu gähnen, oder Blindheit oder Taubheit noch sonst eine Gebrechlichkeit der Sinne zu sanktionieren.«
So ergeben sich bei genauer Gegenüberstellung eine Menge von technischen Übereinstimmungen, es sei nur an die effektvollen Einsätze und Schlüsse erinnert, auf die wir hier nicht näher eingehen können; doch soll noch kurz auf die außerordentliche Ähnlichkeit in der Art hingewiesen werden, wie beide Dichter ihre Werke konzipierten. Bei Scott handelt es sich nicht um die Durchführung eines vor Beginn des Ganzen aufgestellten und etwa bis ins einzelne durchdachten einheitlichen Planes, sondern er ließ sich, wenn er erst ins Detail kam, einzig und allein von seinem Gefühle, von seiner Vorliebe für diese oder jene Person, nicht selten auch von seiner Freude am Kolorit leiten; daher kam es, daß er sich oft in zu ausführliche Schilderung der Umgebung und des Kostüms verlor und die beabsichtigte Einheitlichkeit der Idee damit zurücktrat. Carlyle hat diese Manier als den Gipfel des Extemporeschreibens aufs schärfste getadelt; aber der Typus des Unmittelbaren und Lebendigen bleibt ihr trotz alledem. Hauffs Praxis stimmt mit der seines Musters in vielfacher Beziehung überein. Auch er hat so gut wie keine nennenswerten Vorarbeiten zum »Lichtenstein« hinterlassen. Den von H. Hofmann S. 262. 263 als »Entwürfe« abgedruckten Notizen zu einzelnen Abschnitten der ersten acht Kapitel vom ersten Bande sieht man es ohne weiteres an, daß es die ursprünglichsten, flüchtig aufs Papier geworfenen Gedanken sind, deren Entstehung möglicherweise einige Zeit vor der eigentlichen Abfassung liegt. Eine dem jetzigen Texte fast gleichlautende Ausführung des dritten und einiger Abschnitte des vierten Kapitels fand ich gelegentlich der Durchsicht der im Schillermuseum deponierten Manuskripte, klein mit Bleistift geschrieben, in dem Gedichtbüchlein 1824. Ob sich Hauff schon zu der Zeit mit der Absicht getragen hat, den »Lichtenstein« zu schreiben, oder ob er aus irgendwelchen anderen Gründen später jene Szene, die im Ulmer Rathause spielt, dem genannten Büchlein einverleibte, wer will das sagen? Zweifellos aber hat ihm dieses erste Konzept bei der Ausarbeitung der betreffenden Teile vorgelegen, das ergibt die fast wörtliche Übereinstimmung, die aus folgender Probe ersichtlich ist.
Man hatte bis jetzt noch auf den Herzog von Baiern gewarttet, der einige Tage vorher eingetroffen, zu dem glänzenden Mittagsmahl zugesagt hatte; als aber sein Kämmerling seine Entschuldigung brachte, gaben die Trompeten das ersehnte Zeichen, und alles drängte sich so ungestüm zur Tafel, daß nicht einmal die gastfreundliche Ordnung des Rates, die je zwischen zwei Gäste einen Ulmer setzen wollte, gehörig beobachtet wurde. |
Bleistiftentwurf. Man hatte bis jetzt noch auf den Herzog von Baiern gewartet, welcher schon vorher angekommen, zu diesem Stiftungsmahl zugesagt hatte; als er aber durch seinen Kämmerling sich entschuldigen ließ, drängte sich alles so ungestüm zu der Tafel, daß nicht einmal die gastfreundliche Ordnung der Wirte, die je zwischen zwei Gäste einen Ulmer setzen wollte, beobachtet wurde. |
Trotz so geringfügiger Unterlagen ist das Manuskript selbst flottweg geschrieben, manchmal am Rande eine Änderung des Wortlautes. Nach dem Tode der Witwe des Dichters (1867) war das Original bis zum Sommer 1877 im Besitze der Nichte, Fräulein Emma Hauff, von der es Ende September 1877 Julius Klaiber erhielt. Klaiber hat nach einer Mitteilung seiner Gemahlin stets die klare Schrift des Manuskriptes bewundert und mit gutem Rechte gesagt, sein Onkel habe jedenfalls den »Lichtenstein« fertig im Kopfe gehabt und in guter Stunde aus einem Fluß und Guß das Manuskript niedergeschrieben. Mit diesen Worten wird in der Tat die Ähnlichkeit in der Produktionsweise Hauffs mit derjenigen Scotts deutlich gekennzeichnet.
Auffällig groß ist im »Lichtenstein« gegenüber den übrigen Werken die Zahl der Zitate und besonders der Sprichwörter; gibt es doch Stellen, wo je drei derselben unmittelbar aufeinander folgen. (S. 203.33 ff. und 204.19 ff.)
Mit Vorliebe verwendet Hauff dabei Sätze altertümlichen Gepräges, die er zum größten Teile aus Lessings »Altdeutscher Witz und Verstand« entlehnt, wo sie sich unter den Überschriften »Altdeutsche Reime« und »Aus Lehmanns Florilegium« finden. Es entspricht z. B.
S. 203.27. (Sieh für dich, irren ist mißlich) = Lessing (Berlin, Gustav Hempel, 12. Teil). S. 781 Nr. 3b, S. 205.21 (Hitz im Rat, Eil in der Tat gebären nichts als Schad) = Lessing, S. 775, Nr. 6. Möglicherweise wurde Hauff schon zur Aufnahme der Sprichwörter durch die englischen Werke angeregt, wenngleich sich dort eine derartige Häufung wie im »Lichtenstein« nirgends nachweisen läßt. Ganz sicher aber hat Scott ihn zur Verwertung einer Anzahl älterer deutscher Dichtungen veranlaßt, heißt es doch in der schon mehrfach angezogenen »Näheren Untersuchung der Romane« S. 235 bei H. Hofmann: als ihm Bruchstücke alter Balladen, welche auf diese Gegend Bezug haben müssen, ins Ohr klingen, – dieser Moment verrät, daß die Poesie Herr geworden über den Dichter« und ebenda S. 238: »Herrlich sind die Balladen und einige davon gewiß sehr alt.« Im ersten Teile läßt Hauff in der Gartenszene Bertha zwei Lieder von Walter von der Vogelweide singen, um Maria in ihrem Abschiedsschmerze zu trösten. Sie sind jedenfalls der Bodmerischen Sammlung von Minnesängern aus dem Schwäbischen Zeitpunkte, 140 Dichter enthaltend, Zürich 1758 entnommen, wenigstens scheint Marias Frage: »Wo hast dieses alte schwäbische Liedchen her?« darauf hin. Ist auch Hauffs Übersetzung der betreffenden Stellen nicht gerade glücklich, wie die Gegenüberstellung einer Probe deutlich machen soll,
Bodmer, I. S. 123. Saget mir ieman was ist minne
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Hauff, S. 79/24 ff. Fragt mich jemand, was ist Minne?
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so handelt es sich ja hier um erste Versuche, und in der damaligen Zeit war die wirkliche wissenschaftliche Beschäftigung mit der mittelhochdeutschen Literatur Sache nur einer kleinen Anzahl gelehrter Männer. Aus dem gleichen Grunde werden wir die natürlich durchaus irrtümliche Heranziehung des Hans Sachs als Lehrer eines Minneliedchens verzeihlich finden. – Besonders zahlreich sind die poetischen Beigaben, die Hauff mit dem Pater noster (S. 153.14) und den Versen aus Stumpharts Chronik (154.9 ff, 154.30 ff) in den zweiten Teil einlegt. Das »Vater unser« übernimmt er von Aretin, 4. Stück, S. 438, und zwar bleibt er da seiner Vorlage ziemlich getreu, während er sich bei Heranziehung der Chronik mancherlei Freiheiten gestattet. Er sucht sich aus dem 223 Verse umfassenden Gedichte einige besonders charakteristische und leicht verständliche heraus, wobei
S. 154. 9.10.11.12 = Stumphart, S. 45, Vers 128 – 131
S. 154. 13.14.15.16 = Stumphart, S. 45, Vers 132 – 135
S. 154. 17.18.19.20 = Stumphart, S. 45, Vers 144. 145. 148. 149.
S. 154. 30.31.32.33 = Stumphart, S. 45, Vers 135. 137. 160. 161.
S. 154. 35.36.37. = Stumphart, S. 45, Vers 107. 105. 106.
entspricht.
Die kürzeste der Proben altdeutscher Dichtung ist das dem dritten Teile eingefügte Lied des Pfeifers über die verderblichen Folgen des Spiels, das Hauff gleichfalls der Lessingschen Sammlung »Altdeutscher Witz und Verstand« (Werke, 12. Teil, S. 771, 772, Priamel Nr. 8) verdankt. Auch hier ändert er, indem er in den ersten beiden Versen
»Von dem Zinken, Quater und Eß,
Kommt mancher in des Teufels Nest«
die Reimworte in »Aß« und »Gaß« verwandelte. Sicherlich wollte er auf diese Weise den nicht ganz einwandfreien Reim beseitigen; er verursachte dadurch aber einen anderen Fehler, für den der Eingeweihte gewiß gern den ursprünglichen Reim eintauschte. Eigentlich beziehen sich die hier verwerteten Verse überhaupt nicht auf das Karten- sondern auf das Würfelspiel, tragen demgemäß im »Renner«, dem Lessing sie entnimmt, die Überschrift »daz ist von manger leye wurfeln«. (1. Heft, S. 133, 11406–11419.) Dadurch nun, daß Hauff »Eß« (ursprünglich »esse«, mit »daus« = der niedrigste Wurf) in »Aß« umbildete, kommen in der Zeile »Aß, Seß und Daus« zwei gleichwertige Begriffe für das höchste Blatt in einen Vers. Außerdem entspricht der Ausdruck »Seß«, der unverändert geblieben ist, keinem Karten-, sondern nur einem Würfelwerte. – Auch mehrere eigene Gedichte, nämlich drei Strophen aus »Reiters Morgenlied« (vgl. Anmerkung zu den Gedichten ds. Ausg.), einige aus »Hans Huttens Ende« und den vor allem in Würtemberg allgemein bekannten Gesang Ulrichs »Vom Turme, wo ich oft gesehen« legt unser Dichter bei passender Gelegenheit ein; doch folgt er dabei vielleicht mehr dem Beispiele der deutschen Tradition, ohne daß es möglich wäre, eine einzelne bestimmte Vorlage zu nennen. Im ganzen tritt der Einfluß der deutschen Autoren, eines Cramer, Spieß, Vulpius, Fouqué und van der Velde, die Hauff aus seiner Jugendzeit zur Genüge kannte, und an die leise Reminiszenzen nicht völlig fehlen, überraschend hinter dem englischen zurück, das zeigt auch ein Vergleich in motivlicher Beziehung.
Mehrfach kehrt im »Lichtenstein« das Motiv der Reise wieder. Das findet sich natürlich von anderen Schriftstellern ebenfalls verwertet; aber nirgends sind damit so zahlreiche Naturschilderungen verknüpft, auch bei Hauff begegnen wir denen, als in den englischen Werken. Bedenkt man weiter, daß Georg auf seinem Wege im Hohlwege zu Neuffen überfallen und dann im Pfeiferhause zu Hardt gepflegt wird, – Waverley muß infolge der bei einem Überfalle erhaltenen Verwundungen in der Hütte der alten Janet der Ruhe pflegen, der edelmütigen Rebekka gelingt es, den schwerverwundeten Ivanhoe im Verlaufe von acht Tagen, bei Hauff sind es neun, wiederherzustellen – nimmt man endlich hinzu, daß Rebekka in ähnlicher Weise wie Bärble zu ihrem Schützling in Liebe erglüht, die indessen nicht zur Entfaltung kommen kann, weil im Herzen des Verehrten schon das Bild eines anderen Mädchens wohnt, so wird das Motiv der Reise durch die Nebenmomente »Naturschilderung«, »Überfall«, »Pflege« und »Zuneigung« verstärkt und weist in dieser Zusammensetzung zweifellos auf Scott hin. – Eigenartig ist im »Lichtenstein« das Motiv des Traumes behandelt, insofern als das Ende desselben der Wirklichkeit entspricht. Georg war (vgl. S. 107.31) trotz des »Leichentuches« und des harten Lagers im Gefängnisse eingeschlafen. Bange Träume quälen ihn. Er sieht deutlich, »wie der alte Schließer zu dem großen Schlüsselloch hereinguckte und sich segnete, daß er auf der andern Seite der Türe stehe, denn in der Totenkammer begann es recht unheimlich zu werden. Es fing an, wunderlich zu rauschen, auf den Backsteinen schlürften alte Sohlen in häßlichen Tönen«. Da erwacht er und wird durch Georg von Frondsberg begrüßt, der inzwischen eingetreten war und dessen Schritte jene letzten Traumbilder verursacht hatten. Anderwärts finden sich Beispiele hierfür – soweit ich bisher beobachten konnte – nur bei Scott. So heißt es im »Abbot« III, S. 85: »Alsbald aber ward er wieder durch zwei Stimmen aufgestört, und als die Töne der Sprechenden sich eine Zeitlang mit seinen Träumen vermischt hatten, ward er völlig wach.« Im »Quentin Durward« II, S. 136 wird der Traum des Helden erzählt, der infolge des wachsenden Sturmes, der brausenden Gewalt der Wellen, von denen er träumt, erwacht. Dann fährt der Bericht fort: »Allein, wenn auch die Umstände der Erscheinung verschwunden waren und der Wirklichkeit Platz gemacht hatten, so dauerte doch der Lärm, der sie erregt hatte, noch fort und schallte heftig an sein Ohr.« – Bei manchen Motiven, wie dem des Kleidertausches, des Horchens, des Ringes, der als Erkennungszeichen dient, u. a. läßt sich die betreffende Quelle nicht zur Evidenz nachweisen, weil Hauff sie nicht einfach in eine passende Situation einsetzt, sondern sie umbildet, teils verkürzt, teils ergänzt. Als instruktivstes Beispiel seiner kombinatorischen Gestaltungskraft mag zum Schlusse auf die Person hingewiesen werden, die im »Lichtenstein« das Prinzip des Wunderbaren, des Romanhaften im engeren Sinne verdeutlicht. In vielen der Werke, die Hauff kannte, war ihm in der oder jener Form eine solche Gestalt entgegengetreten. Spieß hatte im »Alten Überall und Nirgends«, wie schon der Titel erraten läßt, als markanteste Eigenschaft seines Helden das Unerwartete und Plötzliche des Auftretens betont. In Vulpius' »Rinaldo Rinaldini« verbindet der »Alte von Fronteja« mit der Rolle eines deus ex machina ein zweites Charakteristikum, das des Geheimnisvollen, das erst am Ende zur Aufklärung kommt. Ähnliche Figuren gab es auch bei Fouqué in dessen »Zauberring« Aleard das Moment des Unerwarteten, Frau Minnetrost das des Rätselhaften verkörpert, und bei Scott, der im »Waverley« den »sonderbar närrischen Schalk« David Gellatly und im »Quentin Durward« den unheimlichen Zigeuner Hagradie Maugrabin einführt. Noch wichtiger für die Entwicklung der Romanhandlung werden Gurth und Wamba im »Ivanhoe«. Der Possenreißer Wamba begibt sich für seinen Herrn freiwillig in die Gefangenschaft, und durch seine Geistesgegenwart gelingt es später, mit Hilfe der Yeomen den hinterlistigen Anschlag Fitzurses auf das Leben des Königs zu vereiteln. Scott fügt also zu den bei den deutschen Autoren hervortretenden zwei wesentlichen Momenten ein drittes hinzu, indem er die Vertreter des romantischen Prinzips als Muster wahrer Treue darstellt, einer Treue, die sie selbst mit dem Tode zu besiegeln bereit sind. Alle drei Gedankengruppen nun, sowohl das plötzliche Auftreten und das Rätselhafte, dessen Schleier erst am Schlusse des Romans gelüftet wird, als auch die aufopferungsfreudige Treue gegen den Herrn hat Hauff auf eine einzige Person seines Werkes, auf den Pfeifer von Hardt, zu vereinigen verstanden, und so erklärt sich uns, was wir früher nur konstatieren konnten, das Interesse, das jeder Leser gerade dieser Figur entgegenbringt, aber auch die Liebe und Sorgfalt, die der Verfasser ihrer Darstellung widmete. Es liegt mir natürlich fern, behaupten zu wollen, daß Hauff bei der Kombination so verschiedener Elemente bewußt vorgegangen sei; aber die Tatsache geht gerade aus diesem Beispiele unwiderlegbar hervor, daß er ein allerdings vorgebildetes System von Motiven in durchaus freier Weise für seine Zwecke zu verwerten wußte.
So kann auch der »Lichtenstein« als Beweis dafür dienen, wie unser Dichter bei aller Anlehnung an ein Muster doch nie ganz in diesem aufgeht, sondern die Selbständigkeit seiner persönlichen Eigenart allenthalben wahrt, und das mag uns sein Werk, das doch immerhin nur eine Jugendarbeit genannt werden kann, trotz der ihm anhaftenden Spuren von Flüchtigkeit auch für die Zukunft lieb und teuer erhalten.