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Der Schreiber des großen Rates schien noch nicht Fassung genug erlangt zu haben, um auf dem Weg durch die Gänge und Galerien des Schlosses die vielen Fragen seines Erretters zu beantworten. Auf Georgs Zimmer angekommen, sank er erschöpft auf einen Stuhl, und es verging noch eine gute Weile, ehe er geordnet zu denken und zu antworten vermochte.
»Eure Politia, Vetter, hat Euch einen schlimmen Streich gespielt«, sagte Georg, »was fällt Euch aber auch ein, in Stuttgart als Volksredner auftreten zu wollen? Wie konntet Ihr überhaupt nur Eure bequeme Haushaltung, die sorgsame Pflege der Amme und die Nähe der holden Berta fliehen, um hier dem Statthalter zu dienen?«
»Ach! Sie ist es ja gerade, die mich in den Tod geschickt hat. Berta ist an allem schuld. Ach, daß ich nie mein Ulm verlassen hätte! Mit dem ersten Schritt über unsere Markung fing mein Jammer an.«
»Berta hat Euch fortgeschickt?« fragte Georg. »Wie, seid Ihr nicht zum Ziel Eurer Bemühungen gelangt? Sie hat Euch abgewiesen, und aus Verzweiflung seid Ihr –.«
»Gott behüte! Berta ist so gut als meine Braut. Ach, das ist gerade der Jammer! Wie Ihr von Ulm abgezogen waret, bekam ich Händel mit Frau Sabina, der Amme. Da entschloß ich mich und hielt bei meinem Oheim um das Bäschen an. Nun habt Ihr aber dem Mädchen durch Euer kriegerisches Wesen gänzlich den Kopf verrückt. Sie wollte, ich solle vorher zu Feld ziehen und ein Mann werden wie Ihr. – Dann wolle sie mich heiraten. Ach, Du gerechter Gott!«
»Und da seid Ihr förmlich zu Feld gezogen gegen Württemberg? Welche kühne Gedanken das Mädchen hat!«
»Bin zu Feld gezogen; die Strapazen vergesse ich in meinem Leben nicht! Mein alter Johann und ich rückten mit dem Bundesheer aus. Das war ein Jammer! Mußten oft täglich acht Stunden reiten. Die Kleider kamen in Unordnung, alles wurde bestaubt und unsauber, der Panzer drückte mich wund. Ich hielt es nicht mehr aus, und Johann lief heim nach Ulm; da bat ich um eine Stelle bei der Feldschreiberei, mietete mir eine Sänfte und zwei tüchtige Saumrosse dazu, und so ging es doch erträglicher.«
»Da wurdet Ihr also zu Feld getragen, wie der Hund zum Jagen. Habt Ihr auch einem Treffen beigewohnt?«
»Oh ja, bei Tübingen kam ich hart ins Gedränge. Keine zwanzig Schritte von mir wurde einer mausetot geschossen. Ich vergesse den Schreck nicht, und wenn ich achtzig Jahre alt werde! Als wir dann das Land völlig besiegt hatten, bekam ich die ehrenvolle Stelle beim Statthalter. Wir lebten ruhig und im Frieden, da kommt auf einmal wieder der unruhige Herr ins Land. Ach, daß ich meinem Kopf gefolgt und mit dem Bundesobersten nach Nördlingen auf den Bundestag gezogen wäre! Aber ich scheute die beschwerliche Reise.«
»Warum seid Ihr aber nicht mit dem Statthalter davongegangen, als wir kamen? Der sitzt jetzt im Trockenen in Eßlingen, bis wir ihn weiter jagen.«
»Er hat uns im Stich gelassen und meinem Kopf alles anvertraut, und beinahe hätte ich mit dem Kopf dafür büßen müssen. Ich dachte nicht, daß die Gefahr so groß sei, ließ mich vom Doktor Calmus verführen, eine Rede ans Volk zu halten, um Württemberg dem Bund zu retten. Das hätte gewiß Aufsehen gemacht, und Berta wäre noch einmal so freundlich gewesen. Aber die Leute da unten in Württemberg sind Barbaren und ohne alle Lebensart; sie ließen mich nicht einmal zu Wort kommen, warfen mich herab und behandelten mich ganz gemein und grob. Seht nur meinen Mantel da, wie sie ihn zerrissen haben! Es ist schade dafür, er hat mich vier Goldgulden gekostet, und Berta behauptet immer, daß mir rosenfarb so gut zu Gesicht stehe.«
Georg wußte nicht, ob er über die Torheit des Schreibers lachen, oder es als hohen stoischen Gleichmut bewundern sollte, daß er, kaum dem Tod entgangen, sein zerrissenes Mäntelein bedauern konnte. Er wollte ihn noch weiter über sein Schicksal befragen, als ihn ein Geräusch vom Vorplatz des Schlosses her ans Fenster lockte; er sah hinaus und winkte Herrn Dietrich herbei, um ihm das Schauspiel gefallener irdischer Größe zu zeigen.
Der Doktor Calmus hielt seinen Umzug durch die Stadt. Er saß verkehrt auf einem Esel; die Landsknechte hatten ihn wunderlich ausgeschmückt; sie hatten ihm eine Mütze von Leder aufgesetzt, an deren Spitze eine Hahnenfeder angebracht war. Vor ihm gingen zwei Trommler, zu seinen Seiten sah man in gravitätischen Schritten den Magdeburger und den Wiener, den ehemaligen Hauptmann Muckerle und seinen tapfern Obersten gehen, die hin und wieder mit den Enden ihrer Hellebarden den Esel zu kühnen Sprüngen antrieben. Ein ungeheurer Volkshaufen umschwärmte ihn und bewarf ihn mit Eiern und Erde.
Der Ratsschreiber schaute trübselig auf seinen Gefährten hinab und seufzte: »'s ist hart, auf dem Esel reiten zu müssen«, sagte er, »aber doch immer noch besser, als gehängt werden.« Er wandte sich von dem Schauspiel ab und blickte nach einer anderen Seite des Schloßplatzes. »Wer kommt denn hier?« fragte er den jungen Ritter. »Schaut, in einem solchen Kasten zog ich zu Felde.«
Georg wandte sich um. Er sah einen Zug von Reisigen, die eine Sänfte in ihrer Mitte führten. Ein alter Herr zu Pferd folgte dem Zug, der jetzt aufs Schloß einbog, Georg sah schärfer hinab: »Sie sind's«, rief er, »wahrhaftig, es ist der Vater, und in der Sänfte wird sie sitzen!« In einem Sprung war er zur Tür hinaus, und der Ratsschreiber sah ihm staunend nach. »Wer soll es sein, welcher Vater?« fragte er. Er schaute noch einmal durchs Fenster, die Sänfte hielt vor der Zugbrücke des Schlosses, und in demselben Augenblick stürzte Georg aus dem Tor. Herr Dietrich sah ihn die Tür der Sänfte ungestüm aufreißen, eine verschleierte Dame stieg aus, sie schlug den Schleier zurück – und wunderbar! Es war das Bäschen Marie von Lichtenstein. »Ei, seh doch einer? Er küßt sie auf öffentlicher Straße«, sprach der Ratsschreiber kopfschüttelnd vor sich hin, »was das eine Freude ist! Aber wehe, jetzt kommt der Alte um die Sänfte herum, der wird Augen machen! Der wird schimpfen! – Doch wie? Er nickt dem Jüngling freundlich zu, er steigt ab, er umarmt ihn. Nein, das geht nicht mit rechten Dingen zu!«
Und dennoch schien es durchaus mit rechten Dingen zuzugehen; denn als der Schreiber des großen Rates aus dem Zimmer auf die Galerie trat, um sich zu überzeugen, daß ihn seine Augen getäuscht haben müßten, kam sein Oheim, der alte Herr von Lichtenstein, die Treppe herauf. An der rechten Hand führte er Georg von Sturmfeder, an der linken – Bäschen Marie. Welche Veränderung war mit jenen holden Zügen vorgegangen, die sich so tief in sein Herz, in sein Gedächtnis geprägt hatten.
In Ulm war sie ihm zum ersten Mal wie ein Bote aus einem unbekannten Land erschienen, so erhaben war der Blick ihrer schönen blauen Augen, so majestätisch ihre Stirn, so sinnig jenes kleine Fleckchen zwischen den schönen, dunkeln Bogen der Brauen. Er hatte oft und viel darüber nachgedacht, worin denn der Zauber bestehe, der ihn so unwiderstehlich fessle? Die Ulmer Mädchen hatten frischere Wangen, lebhaftere Augen, ein schalkhafteres Lächeln und den fröhlichen, frischen Glanz einer heiteren Jugend. Und dennoch war Marie unter ihnen gestanden, still und groß wie eine Königin. War es vielleicht der dunkle Schleier ihrer Wimpern, der sich oft mit unnennbarem Reiz über das Auge herabsenkte, um das Geheimnis einer stillen Träne zu verhüllen? Waren es die feinen, geschlossenen Lippen, von süßer Wehmut umlagert? War es der zarte Wechsel der Farben auf ihren Zügen, die bald nur gebietende Hoheit auszustrahlen, bald das reizende Geheimnis leidender Liebe zu verraten schienen? Bertas Heiterkeit, Bertas fröhliche, neckende Gunst hatten dieses ernstere Bild längst aus seinem Herzen verdrängt, und doch fühlte der arme Herr Dietrich die alte Wunde wieder bluten, als das Fräulein von Lichtenstein sich nahte. Aber welcher unbekannten Macht sollte er es zuschreiben, daß Mariens Züge einen ganz anderen Ausdruck gewonnen hatten? Wohl lag noch eine hohe Würde in ihrer Haltung, auf ihrer Stirn, aber in ihren Augen glühte eine stille Freude, ihr Mund lächelte und scherzte, auf ihren Wangen waren die schönsten Rosen aufgeblüht. Sprachlos hatte Dietrich von Kraft diese Erscheinung angestarrt, und jetzt erst wurde auch er von dem alten Ritter bemerkt. »Seh' ich recht«, rief dieser. »Dietrich Kraft, mein Neffe! Was führt denn Dich nach Stuttgart, kommst Du etwa zur Hochzeit meiner Tochter mit Georg von Sturmfeder? Aber wie siehst Du aus? Was fehlt Dir doch? Du bist so bleich und elend, und Deine Kleider hängen Dir in Fetzen vom Leib?«
Der Ratsschreiber sah herab auf das rosenfarbige Mäntelein und errötete. »Weiß Gott«, rief er, »ich kann mich vor keinem ehrlichen Menschen sehen lassen! Diese verdammten Württemberger, diese Weingärtner und Schustersjungen haben mich so zerfetzt. Aber wahrhaftig! Der ganze durchlauchtige Bund ist in meiner Person angegriffen und beleidigt!«
»Ihr dürft froh sein, Vetter, daß Ihr so davongekommen seid«, sagte Georg, indem er die Angekommenen in sein Gemach einführte. »Bedenkt, Herr Vater, gestern nacht, als wir vor den Toren standen, hielt er Reden an die Bürger, um sie gegen uns aufzuwiegeln. Da hat ihn heute früh der Kanzler wollen köpfen lassen. Mit großer Mühe bat ich ihn los, und jetzt klagt er die Württemberger wegen seines zerfetzten Mänteleins an.«
»Mit gnädiger Erlaubnis«, sagte Frau Rosel, und verbeugte sich dreimal vor dem Ratsschreiber, »wenn Ihr meine Hilfe annehmen wollt, so will ich den Mantel flicken, daß es eine Lust ist. Da geht's wie im Sprichwort: ›Hat der Junge den Rock zerrissen, hat der Alt' ihn flicken müssen‹.«
Herrn Dietrich war diese Hilfe sehr angenehm. Er bequemte sich, zu der Frau Rosel ans Fenster zu sitzen, um sich seine Gewänder zurechtrichten zu lassen. Sie zog aus ihrer großen Ledertasche Zwirn von allen Farben und machte sich an die Wunden, die ihm die Württemberger geschlagen hatten. Sie unterhielt ihn dabei mit ergötzlichen Reden von der Haushaltung und der Zubereitung verschiedener Speisen, die in Frau Sabinas Kochregister nicht vorgekommen waren. Entfernt von diesem Paar, um die ganze Breite des Zimmers, saßen Georg und Marie im traulichen Flüstern der Liebe.
Der Leser wird uns Dank wissen, wenn wir ihn von dieser Szene hinwegführen und den Schritten des Ritters von Lichtenstein folgen. Er hatte seine Tochter unter der Pflege Georgs, seinen Neffen unter der kunstreichen Hand von Frau Rosalie gelassen, und schritt nun den Gemächern des Herzogs zu. Seine Züge, welchen Alter und Erfahrung einen sinnenden Ernst eingedrückt hatten, erschienen in dieser Stunde noch ernster – beinahe traurig. Dieser Mann hatte von seinen Vätern die Liebe zum Haus Württemberg geerbt, Gewohnheit und Neigung hatten ihn an die Regenten gefesselt, die während seines langen Lebens über Württemberg geherrscht hatten, und das Unglück und die Verleumdung, welche auf Ulrich unablässig hereinstürmten, hatten das Herz des alten Herrn nicht von diesem Herzog losreißen können, sie fesselten ihn nur mit noch stärkeren Banden. Mit der Freude eines Bräutigams, der zur Hochzeit zieht, mit der Kraft eines Jünglings, hatte er den weiten und beschwerlichen Weg von seinem Schloß nach Stuttgart zurückgelegt, als man ihm gemeldet hatte, daß der Herzog Leonberg erobert habe und auf Stuttgart zuziehe. Keinen Augenblick zweifelte er am Sieg des Herzogs, und so traf es sich, daß er schon am andern Morgen der neuen Herrschaft Ulrichs nach Stuttgart kam.
Nicht so fröhlicher Art waren die Nachrichten, die ihm Georg mitteilte, als er mit ihm und Marien die Treppe heraufstieg. »Der Herzog«, hatte ihm jener zugeflüstert, »der Herzog ist nicht so, wie er sollte; Gott weiß, was er mit seinem Land machen will; er hat unterwegs sonderbare Reden fallen lassen, und ich fürchte, er ist nicht in den besten Händen. Der Kanzler Ambrosius Volland –.« Dieser einzige Name reichte hin, in dem Ritter von Lichtenstein große Besorgnisse zu erregen. Er kannte diesen Volland, er wußte, daß er zwar gelehrt, in allen Regierungsgeschäften überaus wohl erfahren, zu jedem, auch dem schwersten Dienst bereit, aber dabei ein Mann sei, der zum wenigsten schon öfter ein gewagtes, wo nicht falsches Spiel gespielt habe.
»Wenn der Herzog diesem sein Vertrauen schenkt, wenn er nur seine Ratschläge befolgt, dann sei Gott gnädig. Dem Ambrosius ist das Land ein Stück Leder, das man nach Willkür handhaben kann, er wird es zurechtschneiden wollen zu einem Koller für den Herzog, und die Abschnitzel für sich behalten. Aber, wie Frau Rosel zu sagen pflegt: Zerschneiden kann jeder Narr, aber wie zusammennähen?« So sprach der alte Herr von Lichtenstein zu sich, als er durch die Galerien ging, er streichelte unmutig seinen langen, weißen Bart, und seine Augen glühten vor Eifer für die gute Sache Württembergs.
Er wurde sogleich vorgelassen und traf den Herzog in großer Beratung mit Ambrosius. Der letztere hatte eine ungeheure Schwanenfeder in der einen Hand, in der andern hielt er ein Pergament, das mit schwarzer, roter und blauer Tinte in vielen zierlichen Schnörklein beschrieben war. Der Herzog spielte mit einem großen Siegel, das er in der Hand hielt; er schien mit sich zu kämpfen, er sah bald seinen Kanzler durchdringend an, bald heftete sich sein Blick wieder auf das Siegel. Sie waren beide so vertieft, daß Lichtenstein einige Minuten im Zimmer stand, ohne von ihnen bemerkt zu werden; er betrachtete mit großer Teilnahme die edlen Züge Ulrichs von Württemberg. Er sah, wie auf seiner Stirn, in seinen sprechenden Augen so verschiedene Empfindungen wechselten. Bald runzelte sich seine Stirn, seine Augenbrauen zuckten, sein Auge rollte, dann glätteten sich diese Falten. Aus seinen Blicken strahlte nur ein tiefer Ernst, der in Nachdenken überging, und oft schien ein Anflug von Güte den strengen Ausdruck seiner Züge zu mildern. Aber der im gelben Mäntelein, mit der Schwanenfeder in der Hand, stand wie der Versucher vor ihm! Er wand und drehte sich vor ihm wie die Schlange im Paradies, und das ewig stehende Lächeln, der Ausdruck von Ehrlichkeit, den er seinen grünen Äuglein zu geben wußte, wenn ihn sein Herr scharf ansah, sollten einladen, den Apfel anzubeißen.
»Ich kann nicht begreifen«, sprach er mit heiserer, feiner Stimme, »warum Ihr es nicht tun mögt. Hat wohl Cäsar so lange gezaudert, als er über den Rubikon ging? Ein großer Mann hat große Mittel nötig, und die Mitwelt und die Nachwelt wird Euch preisen, daß Ihr diese Fesseln von Euch geworfen.«
»Weißt Du dies so gewiß, Ambrosius Volland?« entgegnete der Herzog, indem er ihn düster anblickte. »Man wird sagen Herzog Ulrich war ein Tyrann. Er hat die alte Ordnung umgestoßen, die seinen Vätern heilig war, er hat den Vertrag, den er selbst aufgerichtet, gebrochen, er hat sein Land wie ein fremdes behandelt, er hat die Gesetze nicht gehalten, die –.«
»Erlaubt«, unterbrach ihn jener, »es kommt nur allein auf die Frage an: Wer ist Herr? Der Herzog oder das Land? Wenn das Land Herr ist, dann ist's was anderes. Dann freilich sind allerlei Fakten, Verträge und Klauseln und dergleichen nötig. Die Ritterschaft, die Prälaten und die Landschaft sind dann Meister, und Euer Durchlaucht – nun, sind dann der, welcher den Namen dazu hergibt. Seid Ihr aber, was man so eigentlich Herr nennt, dann seid Ihr es auch, der Gesetze gibt. Jetzt habt Ihr das Heft in der Hand; jetzt noch seid Ihr Herr und Meister. Drum fort mit dem alten Recht, hier ist ein neues – da, nehmt in Gottes Namen die Feder, unterzeichnet!«
Der Herzog stand noch eine Weile unschlüssig, seine Wangen glühten, seine ganze Gestalt richtete sich höher auf, aber sein Auge haftete am Boden. Jetzt schlug er es auf, und es blitzte vom Gefühl seiner Würde. »Ich heiße Württemberg«, sagte er. »Ich bin das Land und das Gesetz – ich unterschreibe.« Er streckte die Rechte aus, die Schwanenfeder aus der Hand seines Kanzlers zu empfangen, aber mit sanfter Gewalt wurde sein Arm von einer fremden Hand ergriffen und weggezogen. Erstaunt sah er sich um und blickte in die ruhigen, aber ernsten Züge des Ritters von Lichtenstein.
»Ha! Willkommen!« rief er, »mein getreuer Lichtenstein. Sogleich steh ich Euch Rede, laßt mich nur zuvor dies Pergament unterzeichnen.«
»Erlauben Euer Durchlaucht«, sagte der alte Mann, »Ihr habt mir eine Stimme zugesagt in Eurem Rat, darf ich nicht auch um die erste Verordnung wissen, die Ihr an Euer Land ergehen laßt?«
»Mit Euer Hochedlen Erlaubnis«, fiel Ambrosius Volland hastig ein, »das Ding hat Eile; die Bürgerschaft von Stuttgart versammelt sich schon auf der Wiese. Diese Schrift muß ihr vorgelesen werden. Es hat wahrhaftig Eile.«
»Nun, Ambrosius!« sagte der Herzog, »so gar eilig ist es nicht, daß wir Unserem alten Freund die Sache nicht mitteilen sollten. Wir haben nämlich beschlossen, Uns huldigen zu lassen, und zwar nach neuen Verträgen und Gesetzen. Die alten sind null und nichtig.«
»Das habt Ihr beschlossen? Um Gottes willen, habt Ihr auch bedacht, zu was dies führt? Habt Ihr nicht erst vor wenigen Jahren den Tübinger Vertrag beschworen?«
»Tübingen!« rief der Herzog mit schrecklicher Stimme, indem seine Augen vor Zorn glühten. »Tübingen! Nenne dies Wort nicht mehr! Dort hatte ich all meine Hoffnung, dort war mein Land, meine Kinder, ha! Und dort haben sie mich verraten und verkauft. Ich bat, ich flehte, sie sollten zu mir halten, ich wollte Gut und Blut mit ihnen teilen – nichts! Man wollte von Ulrich nichts mehr. Das neue Regiment gefiel ihnen besser; im Elend haben sie mich schmachten lassen, haben zugegeben, daß ihr Herzog in der Verbannung war, haben geduldet, daß der Name Württemberg ein Hohngelächter wurde in allen Reichen – jetzt bin ich wieder Herr und Meister und habe das Heft in der Hand, und will mir's nicht wieder aus der Hand winden lassen. Haben Sie ihren Eid vergessen, bei Sankt Hubertus, so ist mein Gedächtnis auch nicht länger. Tübinger Vertrag? Ich sag', der Teufel soll alles holen, was mit diesem Namen sich verknüpft!«
»Aber bedenken Euer Durchlaucht!« sprach Lichtenstein, von diesem Ausbruch der Leidenschaft erschüttert, »bedenkt doch, welchen Eindruck ein solcher Schritt auf das Land machen muß. Noch habt Ihr nichts als Stuttgart und die Umgegend; noch liegen in Urach, Asperg, Tübingen, Göppingen überall bündische Besatzungen. Wird die Landschaft Euch beistehen, den Bund zu versagen, wenn sie hört, auf welche neue Ordnung sie huldigen soll?«
»Ich sag': Ist mir die Landschaft beigestanden, als ich Württemberg mit dem Rücken ansehen mußte? Sie haben mich laufen lassen und dem Bund gehuldigt!«
»Vergebt mir, Herr Herzog«, entgegnete der Alte mit bewegter Stimme, »dem ist nicht so. Ich weiß noch wohl den Tag bei Blaubeuren. Wer hielt da zu Euch, als die Schweizer abzogen? Wer bat Euch, nicht vom Land zu lassen; wer wollte Euch sein Leben opfern? Das waren achttausend Württemberger. Habt Ihr den Tag vergessen?«
»Ei, ei, Wertester!« sagte der Kanzler, dem es nicht entging, welchen mächtigen Eindruck diese Worte auf Ulrich machten. »Ei! Ihr sprecht doch auch etwas zu kühn. Ist übrigens jetzt auch gar nicht die Rede von damals, sondern von jetzt. Die Landschaft ist von der alten Huldigung gänzlich abgekommen, hat dem Bund eine andere Huldigung getan; Seine Durchlaucht ist jetzt als ein neuangekommener Herr anzusehen, er hat dies Land mit Gewalt erobert; hat sich nun der Bund auf besondere Verträge huldigen lassen, so kann es der Herzog ebenso halten. Neuer Herr, neu Gesetz. Man kann sich in allewege nach eigenem Gutdünken huldigen lassen. Soll ich die Feder eintauchen, gnädiger Herr?«
»Herr Kanzler!« sagte Lichtenstein mit fester Stimme. »Habe alle mögliche Ehrfurcht vor Eurer Gelehrtheit und Einsicht, aber was Ihr da sagt, ist grundfalsch und kein guter Rat. Jetzt gilt es, zu wissen, wen das Volk liebt. Der Bund hat durch sein Walten im Land alles gegen sich aufgebracht; es war die rechte Zeit, daß Seine Durchlaucht wiederkam, jetzt fliegen ihm alle Herzen zu. Wird er sie nicht gewaltsam von sich stoßen, wenn er alles Alte umreißt und nach eigener, neuer Satzung schaltet und waltet? Oh, bedenkt, die Liebe eines Volkes ist eine mächtige Stütze!«
Der Herzog stand mit untergeschlagenen Armen da, düster vor sich hinblickend, er antwortete nicht. Desto eifriger tat dies der Kanzler im gelben Mäntelein. »Hi, hi, hi! Wo habt Ihr die schönen Sprüchlein her, Liebwerter, Hochgeschätzter? Liebe des Volkes, sagt Ihr? Schon die Römer wußten, was davon zu halten sei. Seifenblasen, Seifenblasen! Hätt' Euch für gescheiter gehalten. Wer ist denn das Land? Hier, hier steht es in persona, das ist Württemberg, dem gehört's, hat's geerbt und jetzt noch dazu erobert. Volksliebe! Aprilwetter! Wäre ihre Liebe so stark gewesen, so hätten sie nicht dem Bund gehuldigt.«
»Der Kanzler hat recht!« rief Ulrich, aus seinen Gedanken erwachend. »Du magst es gut meinen, Lichtenstein. Aber er hat diesmal recht. Meine Langmut hat mich zum Land hinausgetrieben; jetzt bin ich wieder da, und sie sollen fühlen, daß ich Herr bin. Die Feder her, Kanzler, ich sag', so will ich's; so wollen wir Uns huldigen lassen!»
»Oh Herr, tut nichts in der ersten Hitze! Wartet, bis Euer Blut sich abkühlt. Ruft die Landschaft zusammen, macht Änderungen nach Eurem Sinn, nur jetzt nicht, nur nicht, solange der Bund noch Land in Württemberg besitzt; es könnte Euch bei den übrigen schaden. Gestattet nur noch eine kurze Frist.«
»So?« unterbrach ihn der Kanzler. »Daß man dann allgemach wieder in das alte Wesen hineinkommt? Gebt acht, wenn die Landschaft erst beisammen ist, wenn sie sich erst zusammen beraten, meint Ihr, da werden sie so gutwillig nachgeben? Hi, hi! Da wird man Gewalt anwenden müssen, und das macht erst verhaßt. Schmiedet das Eisen, solange es warm ist. Oder gelüstet Euer Durchlaucht, wieder ganz gehorsam unter das alte Joch zu stehen und den Karren zu ziehen?«
Der Herzog antwortete nicht. Er riß mit einer hastigen Bewegung Feder und Pergament dem Kanzler aus der Hand, warf einen schnellen, durchdringenden Blick auf ihn und den Ritter, und ehe noch dieser es verhindern konnte, hatte Ulrich seinen Namen unterzeichnet. Der Ritter stand in stummer Bestürzung, er senkte bekümmert das Haupt auf die Brust herab. Der Kanzler blickte triumphierend auf den Ritter und den Herzog. Doch dieser ergriff eine silberne Glocke, die auf dem Tisch stand und klingelte. Ein Diener erschien und fragte nach seinem Befehl.
»Ist die Bürgerschaft versammelt?« fragte er.
»Ja, Euer Durchlaucht! Auf den Wiesen gegen Cannstatt sind sie versammelt, Amt und Stadt; die Landsknechte rücken soeben aus, sechs Fähnlein.«
»Die Landsknechte? Wer gab die Erlaubnis?«
Der Kanzler zitterte bei dem Ton dieser Frage. »Es ist nur wegen der Ordnung«, sagte er, »ich habe gedacht, weil es bei solchen Fällen gebräuchlich ist, daß bewaffnete Mannschaft –.«
Der Herzog winkte ihm zu schweigen. Er begegnete einem trüben, fragenden Blick des alten Lichtenstein, der ihn erröten machte. »Mit meinem Befehl geschah es nicht«, sprach er, »doch es möchte auffallen, wenn Wir sie zurückriefen. Es ist ja gleichgültig. Man bringe mir den roten Mantel und den Hut; schnell!«
Der Herzog trat ans Fenster und sah schweigend hinaus. Der Kanzler schien nicht recht zu wissen, ob sein Herr erzürnt sei oder nicht, er wagte nicht zu sprechen, und der Ritter von Lichtenstein beharrte in seinem trüben Schweigen. So standen sie geraume Zeit, bis sie von den Dienern unterbrochen wurden. Es traten vier Edelknaben ins Gemach, der erste trug den Mantel, der zweite den Hut, der dritte eine Kette von Gold und der vierte des Herzogs Schlachtschwert. Sie bekleideten den Herzog mit dem Fürstenmantel von purpurrotem Samt, mit Hermelin verbrämt. Sie reichten ihm den Hut, der die schwarze und gelbe Farbe des Hauses Württemberg in reichen, wehenden Federn zeigte, diese wurden zusammengehalten von einer Agraffe aus Gold und Edelsteinen, die eine Grafschaft wert waren. Der Herzog bedeckte sein Haupt mit diesem Hut. Seine kräftige Gestalt schien in diesem fürstlichen Schmuck noch erhabener als zuvor, und die freie majestätische Stirn, das glänzende Auge sah gebietend unter den wallenden Federn hervor. Er ließ sich die Kette umhängen, steckte das Schlachtschwert an und winkte seinem Kanzler aufzubrechen.
Noch immer sprach der Ritter von Lichtenstein kein Wort. Mit bekümmerter Miene hatte er diesen Anstalten zugesehen und sich dann abgewendet. Der Herzog schritt mit leichtem Neigen des Hauptes an dem alten Ritter vorüber zur Tür, und die wunderliche Figur des Kanzlers Ambrosius Volland folgte ihm mit majestätischen Schritten. Hatte der Herr den Alten nicht gegrüßt, glaubte auch der Kanzler ihm dies nicht schuldig zu sein. Er warf einen tückischen Blick nach dem Platz hinüber, wo jener noch immer stand, und sein großer, zahnloser Mund verzog sich zu einem höhnischen Lächeln. In der Tür stand der Herzog still. Er sah rückwärts, seine bessere Natur schien über ihn zu siegen, er kehrte zur Verwunderung des Kanzlers zurück und trat zu Lichtenstein.
»Alter Mann!« sagte er, indem er vergeblich strebte, seine tiefe Bewegung zu unterdrücken. »Du warst mein einziger Freund in der Not, und in hundert Proben habe ich Deine Treue bewährt gefunden. Du kannst es mit Württemberg nicht schlimm meinen. Ich fühle, es ist einer der wichtigsten Schritte meines Lebens, und ich gehe vielleicht einen gewagten Gang. – Aber wo es das Höchste gilt, muß man alles wagen.«
Der Ritter von Lichtenstein richtete sein greises Haupt auf; in den weißen Wimpern hingen Tränen. Er ergriff Ulrichs Hand. »Bleibt«, rief er, »nur diesmal, diesmal folgt meiner Stimme. Mein Haar ist grau, ich habe lange gelebt, Ihr erst drei Jahrzehnte.« – Indem ertönten die Trommeln der Landsknechte im Hof. Das ungeduldige Stampfen der Rosse drang herauf und die Herolde stießen, zur Huldigung rufend, in die Trompeten
»Jacta alea est.! War der Wahlspruch Cäsars«, sagte der Herzog mit mutiger Miene. »Jetzt gehe ich über meinen Rubikon. Aber Dein Segen möchte mir frommen, alter Mann, zum Rat ist es zu spät!«
Der Ritter blickte schmerzlich aufwärts. Die Stimme versagte ihm, er drückte segnend seines Herzogs Rechte an die Brust. Noch zögerte Ulrich bei ihm, da streckte der Kanzler den langen, dürren Arm unter dem gelben Mäntelein hervor und winkte ihm mit der Pergamentrolle. Er war anzuschauen wie der Versucher, dem es gelingt, eine arme Seele mit sich hinabzuziehen. Ulrich von Württemberg riß sich los und ging, um sich von seiner Hauptstadt huldigen zu lassen.