Wilhelm Hauff
Phantasien und Skizzen
Wilhelm Hauff

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Ein paar Reisestunden.

Ein Bruchstück.

Vorwort an Madame J. Floret,

Eigentümerin des Hôtel de Flandre, Rue Notre Dame des Victoires à Paris.

Sehr verehrte Frau!

Sie gehören unter die wenigen Menschen, die mir auf mein ehrliches Gesicht hin und ohne anderen Schein als etwas Scheinheiligkeit getraut haben, und ich würde Ihre trefflichen Eigenschaften, ein gutes Herz, nachsichtige Augen, ein offenes Ohr und einen für Rue Notre Dame des Victoires hinlänglichen Verstand öffentlich gemacht haben, auch wenn ich es Ihnen nicht versprochen hätte.

Als ich, versehen mit allem, was ein mutiges junges Herz unterstützt, in Ihr Haus trat, da dachte ich freilich nicht, es einst so plötzlich verlassen zu müssen; doch wäre auch jene Begebenheit schon damals vor meiner ahnungslosen Seele gestanden, an eine so romantische, samaritanische, beinahe unglaubliche Zuversicht einer Eigentümerin eines Hôtel garni hätte ich nie geglaubt.

Ich vergesse jenen Abend nie, als ich, vor Schrecken, Unwillen und Angst beinahe leblos, bei Ihnen eintrat, nach meiner Rechnung fragte und Ihnen gestand, daß ich abreisen müßte. Ich hatte von allem gemünzten Gold, das auf der Erde umherrollt, noch zwei Zwanzigfrankenstücke, von dem ungemünzten in Barren, Gefäßen und Geschmeiden einen Ring, und alles übrige Schätzbare bestand in einigen Kleidern, welche rechtlicherweise noch nicht mir gehörten.

Ihr Scharfblick, verehrte Frau, – oder nenne ich es lieber barmherzigen Instinkt? – kurz, jene unbegreifliche Ahnung sagte Ihnen in einem Augenblick alles; Sie schlugen das wohlbekannte Buch von grünem Saffian auf, Sie lispelten freundlich: »Vierhundertundfünfzig Francs«, und ich wiederholte mit bebender Zunge: »Vierhundertundfünfzig!« Und als ich Ihnen dann meinen Kummer auseinanderzusetzen wagte, wie gütig waren Sie da, wie mütterlich besorgt fragten Sie nach den kleinsten Umständen!

Genug! Sie haben mir aus einer Verlegenheit geholfen, die, so klein sie dem Namen nach sein mochte, für mich in jenem Drang der Umstände niederdrückend, schmerzlich war. Es war in meinen Augen, obgleich ich gewiß war, schon im folgenden Monat meine Schuld tilgen zu können, nichts anderes als ein Geschenk; denn konnten Sie wissen, daß ich ehrlich genug sein werde, die Summe heimzuzahlen? Und mit welcher Urbanität wußten Sie es zu bieten! Wie fein wußten Sie der peinlichen Notwendigkeit, eine Wohltat annehmen zu müssen, alles Drückende zu benehmen! Es ist heute ein Jahr seit jenem Abend verflossen; aber noch heute steht jedes Ihrer Worte deutlich und wie gedruckt vor meiner Seele. »Es haben schon viele deutsche Doktoren bei mir gewohnt,« sprachen Sie, bald auf Ihr Buch, bald auf mich blickend, »meistens au cinquème und quatrième, Sie sind der erste gewesen au second; alle haben geraucht wie Sie, alle haben schlecht Französisch gesprochen, alle verlangten anfangs ein Kopfkissen von Federn statt meiner trefflichen Rollen von Roßhaar, keiner von ihnen konnte mit dem Kaminfeuer zurechtkommen, fast alle schrieben den ganzen Vormittag, oft bis vier Uhr, und Gott weiß, was sie schrieben; aber alle waren redliche, ehrsame Leute und mir, ich gestehe es (ihre runden Köpfe und blonden Haare abgerechnet), lieber als meine jungen Landsleute, die über einen unpolierten Nagel an der Wand eine Stunde sprechen können und doch nicht mehr wert sind, als daß man sie daran aufhänge. Ich habe gehört,« fuhren Sie fort, »daß alle diese jungen Herren, wenn sie nach Deutschland zurückkehren, unsere schöne Hauptstadt in Büchern beschreiben und weitläufig erzählen, was sie daselbst gehört und nicht gehört, gesehen und nicht gesehen haben. Mein Vetter, Doktor O–, Sie müssen ihn oft bei mir gesehen haben, und die Leute behaupten, er sehe mir ähnlich, obgleich sein Teint dunkler ist als der meinige, nun, dieser Vetter ist Mitarbeiter am ›Globe‹, und es ist nicht die schlechteste Zeitung, die in Paris gelesen wird. ›Die Deutschen, Madame,‹ sagte er mir oft, ›sind in der Gesellschaft nicht zu gebrauchen; aber die Feder ist ihre Zunge; sie sind treffliche Leute mit der Feder und in der Tat gelehrt; ihre Literatur fängt an, bei uns bekannt zu werden, und es ist nicht das Schlechteste, was wir vom Auslande empfangen.‹ So sprach er oft, und meine Achtung vor Ihren Landsleuten stieg.«

»Monsieur Off,« fuhren Sie fort, denn mein Name war Ihnen nicht geläufig, »Sie haben viel geschrieben, so lange Sie auf Nr. 15 im Hôtel de Flandre waren. Doktor K., Ihr Landsmann, hat mir auch versichert, daß man schon einige von Ihren Schriften gedruckt habe; Monsieur Off, gegen einen solchen Mann kenne ich meine Pflichten und diese Rechnung (Sie machten einen dicken Strich dadurch) soll Ihnen nicht länger beschwerlich fallen; aber Sie werden auf Ihrer Seite auch so gütig sein, meiner und meines Hauses in Ihrer nächsten Schrift zu erwähnen, und ich weiß, diese vierhundertundfünfzig Francs werden mir dann schöne Zinsen tragen.«

Wahrlich, verehrte Frau, noch zur Stunde kann ich nicht glauben, daß es Ihnen mit jener Bitte ernst war; denn wer von meinen Landsleuten wird deshalb, weil ich dort wohnte, Ihr Hotel beziehen? Dies Buch, vor welches ich Ihren Namen setze, Sie selbst können es nicht lesen, und Jean, le garcon, spricht zwar die Worte Brot, Schnaps, Salz, Wein, Wurst, Durst, Bett, die er auf seinen militärischen Durchreisen bei uns zu lernen die Gnade hatte, deutlich genug aus; aber auch er wird unsere Buchstaben so wenig lesen können als die gotischen Charaktere an den Butiken der deutschen Schneidermeister, die ihn oft zu Verwünschungen steigerten. Vielleicht wohnt irgend einer meiner Landsleute au quatrième, und in diesem Fall können Sie sich einige Kapitel übersetzen lassen, vorausgesetzt, daß Sie sein ang und ong verstehen.

Auf jeden Fall aber müssen Sie sich durch Ihren gelehrten Vetter von der Redaktion des ›Globe‹ ein Zertifikat verschaffen, daß à la tête dieser Schrift wirklich eine Zueignung an Sie zu lesen ist; denn Sie könnten glauben, dadurch, daß ich darauf bestand, meine Rechnung zu tilgen, habe ich mich von meinem Wort und einer angenehmen Pflicht losgesagt. Wem könnte ich ein Buch, in dem meine Landsleute flüchtige Zeichnungen der Sitten Ihres und meines Volkes finden sollen, würdiger zueignen als einer liebenswürdigen Repräsentantin des neuen Frankreichs, einem Kinde der Revolution, das, obgleich so weit entfernt von Politik als vom Studium der Geographie, die Abschnitte seines Lebens nach den Leiden und Freuden seines Vaterlandes zählt? Sie wurden von der Sturmglocke des dreizehnten Vendémiaire aus dem Mutterleibe geläutet; als Bonaparte sich die Krone Karls des Großen auf die Stirne setzte, warf Sie, Neugierige, eine Volkswelle an die Treppe des Hôtel-dieu; die Stirnnarbe, die Sie davontrugen, ist noch nicht verschwunden; aber sie steht Ihnen gut, und Sie wissen es. Bald fluchte Ihr junges, der Liebe erschlossenes Herz Cäsarn und seinem Glück; denn Ambroise, der hübsche Kommis aus der Rue Montmartre, sollte als Voltigeur helfen Rußland erobern, und bald beweinten Sie Frankreich und sich, – Ambroise mit erfrorenen Beinen konnte nicht wieder über die Beresina voltigieren. Monsieur Floret war Ambroises Nachfolger in der Wohnung Ihres Herzens; jedoch erbte er nicht das ganze Appartement, er mußte sich mit einer Kammer begnügen, die anderen blieben für Ambroises Andenken verschlossen. Alle Kammern konnten sich indessen nicht enthalten, bange zu klopfen, als Herr Floret im Kleide der Pariser Nationalgarde, Gewehr im Arm, Abschied nahm, um an die Barriere zu fliegen, und Sie – zum letzten Male umarmte, ehe er unter Blüchers erstem Kanonendonner wiederkam. Frankreichs Geburtswehen beschleunigten Ihr Glück; Sie stiegen mit Ludwig XVIII. auf den Thron des Zahltisches und saßen ungleich fester; denn Sie bedurften seitdem keiner Restauration; ja, Herrn Florets Tod, der an dem Tage, wo der alte Lilienstengel eine junge Knospe trieb, zu Père la Chaise schlafen ging, statt ihn zu erschüttern, diente dazu, ihn zu befestigen. – Leben Sie wohl auf Nimmerwiedersehen, einfache und, – meine Landsmänninnen mögen die Nasen rümpfen, so viel sie wollen, – tugendhafte Frau; Ihr Andenken soll mich begeistern, wenn sich die liebenswürdige Seite Ihres Volkes mir zuwendet; ich werde sie aufsuchen und mit Liebe aufsuchen, und ewig sollen mir die Worte unvergeßlich bleiben, die Sie im Augenblicke des Abschieds, anfangs in einem Tone, als seien Sie die Sprecherin Ihrer Nation der meinigen gegenüber, dann mit zitternder Stimme und mit feuchtem Auge sprachen: »Monsieur, ich achte Ihre Nation, und diese Achtung hat sich vermehrt, seitdem ich die Ehre hatte, Sie kennen zu lernen. Reisen Sie glücklich, und kommen Sie schnell wieder in das schone Frankreich, wenn Sie zu Hause friert, – car je suppose, qu'il n'y a pas loin de chez vous les glace, où mon pauvre petit Ambroise a péri

Es sind schon so viele Reisen nach Paris geschrieben und gedruckt worden, daß man eine eigene Bibliothek davon errichten könnte, und es scheint, es sei eine überflüssige Mühe, nach der tausendsten noch die tausendunderste herauszugeben; dennoch kann keinem Reisenden das Recht bestritten werden, seine eigene Reise zu beschreiben, so wenig als einem verboten werden könnte, seine Biographie oder Reise durchs Leben herauszugeben, weil er etwa nur Nachtwächter, Doktor der Philosophie und nicht König, Kaiser oder Goethe war; jeder lebt, denkt und reist anders als sein Vordermann, und es kommt am Ende weder auf die Reise, noch auf die Beschreibung, sondern darauf an, ob einer etwa so viele Leser findet, als ich mir wünsche.

Vergebens würde übrigens einer aus meiner Reisebeschreibung zu berechnen hoffen, wie viele tausend Taler ein junger Mann etwa in einem Monat brauchen könnte, wo die besten Nachtlager und die teuersten Mittagessen, wo die höchsten Türme und die breitesten Straßen seien. Vergebens wird einer, der töricht genug ist, sie als Guide des Voyageurs mitzunehmen, nach andächtigen Empfindungen und richtigen Notizen über irgend ein bedeutungsvolles Monument blättern; ich schreibe weder zur Erbauung noch zur Bereicherung der Geographie, ich dränge niemand meine Empfindungen auf; denn jeder hält am Ende doch seine eigenen für die besten; ich will nur wiedererzählen, was ich gehört habe, nur einiges Vorübergehende, aber Bedeutungsvolle, was andere nicht gesehen haben, will ich beschreiben.

Darunter gehört zum Beispiel nicht das Städtchen Saarlouis, sondern die Leute, die von dort aus in dem Metzer Eilwagen mit mir fuhren; obgleich es beinahe so viele Geschichten von Postwagen gibt als Gespenstersagen und Lichtkarzmärchen, so bin ich doch versucht, von einigen dieser Personen zu sprechen.

Ich saß in einer Ecke und mußte es mir gefallen lassen, wenn mich die übrigen so aufmerksam betrachteten wie ich sie; es ist mir übrigens gewiß nicht zu verargen, wenn meine Blicke hauptsächlich auf einer jungen Dame mir gegenüber hafteten, von deren Antlitz ich freilich nichts sah als eine dunkle Locke und ein glänzendes Auge; denn eine große Kapuze, welche sie am Mund mit einem Tuch verschlossen hielt, umhüllte den Kopf; daß sie jung sei, sagte mir nicht nur die schlanke Taille, die Behendigkeit, womit sie in den Wagen gestiegen war, sondern auch ein gewisser Aberglaube; denn meine Base in Frankfurt hatte mir prophezeit, ich werde mit einer schönen jungen Dame nach Paris fahren. Ich bemerkte, daß ihr die Stellung der nächsten vier Füße unbequem sei, machte ihr Raum, konnte aber nicht verstehen, in welcher Sprache sie mir dankte; denn ich hatte bei dem Manöver einen dicken Mann, ihren Nachbar, auf seinen Leichdorn getreten, und er brummte vernehmlich und deutsch. Es war morgens vier Uhr, die Luft kühl; aber gegen acht Uhr mußte nach meiner Rechnung der Nebel und mit ihm die Kapuze der schönen Nachbarin fallen.

Ein Mann mit kühnem, dunklem Gesicht und schwarzen Falkenaugen, einem schon ins Graue spielenden Bart um die Oberlippe saß in der anderen Ecke neben dem dicken Mann. »Ein echt französisches Gesicht, ein Offizier,« dachte ich, »und zwar einer von der alten Armee und auf halbem Sold; denn seine Kleidung ist etwas ärmlich, er sieht unzufrieden aus und will wahrscheinlich die Ehrenlegion Heinrichs IV. nicht tragen, denn er hat kein Band im Knopfloch. Welche Gedanken sprechen aus diesem dunkeln Auge! Dieselbe Straße nach Deutschland ist er in der Revolution als junger, feuriger Patriot, nachher als Offizier des Kaisers, vielleicht an der Spitze eines Regiments, gezogen! Auf diesem Wege vielleicht hat er seine tapfern Truppen aus den Feldzügen von sechs und neun zurückgeführt! Jetzt bezeichnet ihm die Kaiserstraße nur noch wehmütige Erinnerungen ehemaliger Größe; noch lange nicht ist seine ganze Generation ins Grab gestiegen, und doch ist alles dahin vorangeeilt, was ihnen groß und teuer war, und dieses schöne Frankreich deucht ihnen ein großer Kirchhof, wo ihr Ruhm und ihre Hoffnung begraben liegen und ›auf eine frohe Urständ warten.‹«

Der kleine junge Mann an meiner Seite könnte etwa ein angehender Kaufmannsdiener sein; in meinem Herzen halte ich ihn aber für einen deutschen Schneider, der nach Paris reist, um sich auszubilden. Noch gibt es einen jungen Menschen in einem blauen flandrischen Hemde an der Seite meines Nebenmannes; er schläft schon und ist seinem Gesicht nach unbedeutend.

Bis jetzt wurde noch kein deutliches Wort unter der Gesellschaft gewechselt. Nach und nach schlafen die meisten; nur das Auge der jungen Dame sehe ich hie und da aus der Kapuze leuchten.

Fünf bis sechs Uhr morgens.

Der dicke Mann schnarcht schrecklich; sein Kopf droht auf die Schulter der jungen Dame zu sinken; ich bringe ihn durch einen kleinen Fußtritt zu sich selbst; er fährt auf, setzt sich zurecht, schläft wieder ein und schnarcht von neuem. Seine Bewegung hat den französischen Obrist erweckt; er sieht sich unzufrieden und stolz um. Es gefällt mir nicht, daß er eine ungeheure Dose von Horn hervorzieht und schnupft; er schläft bald wieder ein.

Die Morgenluft weht immer kälter. »Soll ich vielleicht das Fenster vorziehen? Wird es Ihnen nicht zu kalt?« fragte ich so freundlich als möglich die junge, schöne Dame und denke erst bei »zu kalt« daran, daß wir längst auf französischem Boden sind und Mademoiselle kein Deutsch verstehen wird. Aber sie antwortet mit heller, wohltönender Stimme, jedoch ohne die Kapuze zu lüften: »Wenn es Ihnen selbst nicht zu kalt wird, danke ich; ich bin wohl verwahrt.«

Also eine Deutsche, dachte ich; nun, um so besser, da werde ich doch sobald unsere Sprache nicht verlernen. »Ihr Nachbar, mein Fräulein,« fuhr ich fort, »ist wohl etwas unbequem für Sie; der Wagen ist zu enge, als daß ein solcher Koloß mit Recht in der Mitte sitzen dürfte.«

»Und doch möchte ich ihn noch weniger zum tête-à-tête,« erwiderte sie.

Ich errötete beinahe über diese Artigkeit und war doch eitel genug, zu fragen: »Und warum?«

»Ich denke, ein schlafender Koloß würde nicht so artig sein, auf meine Bequemlichkeit Rücksicht zu nehmen.«

Ich weiß nicht, ob sie mir wirklich dadurch für ihre Sicherstellung vor den breiten Hufen des dicken Mannes danken wollte; aber ich verbeugte mich, murmelte etwas von Schuldigkeit gegen Damen und war in demselben Augenblicke wieder unmutig über mich selbst, weil sie doch vielleicht mich nicht gemeint hatte, ließ die angeknüpfte Unterhaltung fallen und suchte wie ein gleichgültiger Reisender auszusehen, obgleich noch mancher Streifblick an dem glänzenden Auge der jungen Dame vorüberflog.

Sechs bis sieben Uhr.

Die Pferde werden gewechselt; die Schlafenden erwachen und starren mit glanzlosen, schläfrigen Augen auf einige zerlumpte Weiber und Kinder, die mit ihrem kreischenden Patois und ihren Holzschuhen einen unangenehmen Lärm machen. Der Oberst zieht an einem alten ledernen Riemchen eine silberne Uhr aus der Tasche, und ich denke, er müsse seit der Restauration sehr zurückgekommen sein. Der dicke Mann hat ein unerträglich dummes Gesicht, und wenn ich ihn nicht für einen Viehhändler halte, so ist nur seine reinliche Kleidung schuld; ich mache ihn zu einem holländischen Krämer. – Man fuhr weiter, und aufs neue zogen mich die melancholischen Züge des Obersten an. Er sang ganz leise vor sich hin ein Liedchen, das er mit den Silben »Leon« und einem tiefen Seufzer endete; ach! es war Napoleon, sein Held, sein Kaiser, von welchem er sang! Jetzt zog er eine Schreibtafel heraus, die, ich muß es gestehen, ein wenig schmutzig und verbraucht war; aber nur um so interessanter schien sie mir, denn sie war wohl ein Andenken an einen gefallenen Kameraden; er hatte, stellte ich mir vor, als er einst nachts beim Mondlicht über das Schlachtfeld ritt, die bleichen Züge seines Freundes erkannt, er schwang sich vom Pferde, kniete nieder zu ihm, rief mit schmerzlichen Tönen seinen Namen, aber jener hörte nicht mehr, die bleichen Lippen, die er küßte, sie konnten seinen Abschiedsgruß nicht erwidern. Da nahm er mit einer männlichen Träne jenes Andenken, und es hat ihn in Glück und Unglück begleitet. Ich sah wieder nach ihm hin; er warf bald nachdenkliche Blicke über das Land hin, bald zeichnete er mit fester Hand seine Gedanken auf, und nichts schien mir gewisser, als daß dieser alte Offizier (ich ließ ihn jetzt zum General avancieren) das Land durchfliege, um seine militärischen Erinnerungen aufzufrischen und – seine Memoiren über die Feldzüge der Franzosen zu ergänzen.

Sieben bis acht Uhr.

Die junge Dame ist eingeschlafen oder scheint wenigstens zu ruhen; noch immer ist ihr Gesicht neidisch verhüllt. Der junge Schneider an meiner Seite läßt seinen großen Hummerkopf bald links, bald rechts fallen, ohne aufzuwachen. Aber der junge Bursche im blauen Hemd ist erwacht, und wunderbar! zwischen ihm und dem General oder Oberst entspinnt sich ein Gespräch; ich lausche; aber es ist nicht Englisch, nicht Deutsch, weder Französisch noch Holländisch; am meisten Ähnlichkeit hat es mit dem Italienischen, und ich würde den Offizier für einen Korsikaner oder einen Veteranen der italienischen Armee halten, kämen nicht Worte in ihrem schnellen Gespräche vor, die völlig fremd tönen. Doch muß es wenigstens nicht die Muttersprache des Jüngeren sein: denn er scheint sich hie und da auf den rechten Ausdruck zu besinnen, und der ernste ältere Mann weist ihn mit einem leichten Lächeln zurecht. Der dicke Holländer ist jetzt mit tiefem Stöhnen auch erwacht, betrachtet seine Nachbarn einen Augenblick aufmerksam, lauscht auf ihre Sprache und fragt dann langsam und höflich: » Vos este Espaniol, Señor?«

Ah! dachte ich, vielleicht ein edler, vertriebener Spanier, vielleicht eine Genosse Minas?

Aber man denke meinen Schrecken, als der Oberst, der General, Empecinados und Minas Genosse, der interessante Mann in österreichischem Dialekt antwortete: »Um Vergebung, wir sind halt böhmische Glashändler, mein Neffe da und ich, und reisen nach Sevilla, wo ich mit Trink- und Tafelgläsern handle.« Und nun erzählte er unerträglich breit und langweilig, daß sein Bruder in Frankfurt einen Glashandel habe, daß Stoffel, der Neffe, daselbst in Kondition gestanden und jetzt auch auf sechs Jahre nach Spanien gehe! Wie dort der Glashandel beschaffen sei, und wie viele tausend Trinkgläser sie alljährlich schmuggeln und verkaufen. Ich verwünschte den Böhmaken, seine Adlernase, sein schönes Auge, seinen ehrwürdigen Bart und den holländischen Krämer, der ihn zum Sprechen gebracht; ich verwünschte vor allem meine eigene Torheit, von einem General der alten Armee zu träumen; seine silberne Uhr fand ich jetzt ganz in der Ordnung, in sein schmieriges Souvenir schrieb er keine erhabenen Erinnerungen, sondern Kunden und Gläser ein, und wenn er mit dem melancholischen Auge über das Land hinstreifte, setzte er Kaisergulden in Dollars und schlechte Konventionskreuzer in schlechtere Maravedis um. Ich schämte mich, in der Physiognomik noch so weit zurück zu sein; denn jetzt hatte der alte Kerl allen Schimmer der Einbildungskraft verloren und erschien mir, genauer betrachtet, wie ein ganz gewöhnlicher böhmischer Musikant, wie man sie, gelb und sonnenverbrannt, mit dicken Bärten und dunkeln Augen umherziehen sieht; um ihn nicht zu sehen, schloß ich die Augen und drückte mich in meine Wagenecke.

Acht bis neun Uhr.

Das Auge der schönen Dame glänzt wieder; aber der Wind mag ihr noch zu heftig sein, sie hat die Kapuze noch immer nicht zurückgeschoben. Der dicke Mann sucht ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen; aber sie antwortet einsilbig, und diese Zurückhaltung freut mich; denn ich kann den feisten Holländer, seit er Spanisch sprach, noch weniger leiden als zuvor. Er fährt übrigens mit großer Ruhe fort, ihr den Namen jedes Dorfes zu nennen, das man an der Landstraße sieht, und weiß einige Anekdoten von dem Maire von Fouligny, welches eben hinter uns liegt, zu erzählen. Dabei lacht er aber immer zuerst, legt, wenn die Schneide der Anekdote kommt, seine Hand zutraulich auf den Arm der jungen Dame, um sie gleichsam einzuladen, sich ebenfalls mit ihm und den Böhmen halb tot zu lachen, und hält es für keine Beleidigung, wenn sie (offenbar mit einem Seitenblick auf mich) unwillig ihren Arm zurückzieht.

Der dicke Mann befand sich gerade mitten in einer Geschichte, die zu meiner großen Besorgnis für das zarte Ohr der jungen Dame etwas obszön zu werden drohte, als man hinter dem Wagen einige Male heftig: » Halte, postillon! halte!« rufen hörte; zugleich jagte ein Reiter vorüber, der einen großen Brief emporhielt. Der Wagen hielt, Kondukteur und Postillion fluchten; der erstere schwang sich nach einigem Wortwechsel von seiner Imperiale herab und trat dann mit dem großen Brief an unseren Schlag herauf, musterte die Gesellschaft aufmerksam, zog seine Mütze und bot den Brief herein. Ich saß zunächst, nahm ihm den Brief aus der Hand und las die Überschrift: A Monsieur Monsieur le Comte Blankenspeer, à Saarbruk, poste restante, citissimo. Da stieg der schlafende Schneider auf einmal bei mir im Preis; denn niemand anders konnte der Graf sein; des Kondukteurs: Allons, Monsieur! und ein Stoß, den ich ihm in die Seite gab, weckten ihn; ich überreichte ihm den Brief, er starrte ihn gedankenlos an und gab ihn dann kopfschüttelnd und murrend zurück. Der Kondukteur wurde ungeduldig über die Zögerung: » Allez, Messieurs,« rief er, » qui est donc Monsieur le Comte de Blanquenspeer?«

»Ist der Brief an mich?« fragte der Holländer verwundert, riß ihn mir aus der Hand, las flüchtig die Adresse – und erbrach das Siegel. Schnell zog er darauf die Börse, befriedigte den Kurier, den man ihm nachgeschickt hatte, und der Wagen fuhr weiter. Aber ich sah mich zum zweitenmal getäuscht, und um so bitterer, als der Herr Graf zwar nach wie vor die Miene eines holländischen Käsekrämers behielt, aber das Mädchen mit den schwarzen Augen es jetzt gar nicht mehr bemerken zu wollen schien, daß seine Hand schwer auf ihrem runden Arme ruhe; ja, zu meinem Ärger lachte sie sogar einige Male mit heller Stimme auf, als der Herr Graf die Gnade hatte, einige Schnurren aus seinem Leben zu erzählen.

Von neun bis zehn Uhr.

In Courcelles wurde zum Frühstück angehalten. Wir traten in das freundliche Zimmer, wo bereits auf dem großen Roste die Koteletten knisterten; die Männer legten Mützen und Mäntel ab; das Gewölk, das um das Haupt der Jungfrau hing, zerriß plötzlich, und mir war, als erwache ich jählings aus einem schmeichelnden Traume. Wer sah nicht schon ein unbekanntes Schloß aus dem Morgennebel tauchen? Man mustert es; es ist bewohnt, ist nicht übel gebaut, ist vollständig unter Dach; aber der Totaleindruck und hier eine Efeuranke, dort eine unvermauerte Ritze, hier ein Krähennest, dort ein schlimmer einspringender Winkel am Dachstuhl verkünden laut, es habe seine schönste Zeit gesehen. Wenn ein solcher Zustand einer Baulichkeit herkömmlichermaßen etwas Poetisches hat, war der analoge Zustand meiner Reisegefährtin nur zu sehr geeignet, mich in die platte Wirklichkeit zurückzuwerfen; kurz, ich hatte ein ziemlich erhaltenes Exemplar einer alten Jungfer vor mir, und die schönen schwarzen Sterne, die Verführer meiner Einbildungskraft und die Reminiszenzen einer Jugendblüte, die keine Früchte getragen, preßten mir jetzt nur den Seufzer aus: Warum kann man solche Brillanten nicht aus der alten Hülse brechen und modern fassen lassen? Wie mancher Seigneur châtelaina mit jedem Quader, der von den Zinnen seines Erbsitzes in den Graben stürzt, froher und lebenslustiger wird, so war meine Unbekannte, wie dies so gewöhnlich ist, mit den Breschen, welche in den Wall ihrer Zähne gefallen waren, regsamer, ihre Zunge geläufiger geworden; denn kaum hatte sich der General-Glashändler einen Zipfel der Serviette in das Ordensknopfloch gesteckt, kaum standen die duftenden Koteletten auf dem Tisch, so sagte mir die Kadenz ihres quiekenden Sprachinstruments, daß sie eine meiner südlichen Landsmänninnen aus den Grenzmarken von Schwaben und Franken sei, und unbefragt gab sie uns zum besten, wie sie ihren Herrn Bruder, den Kaufmann Morgenstern zu Paris, in einer wichtigen Angelegenheit besuche. Ihr Herr Bruder habe im vorigen Jahre durch die grobe Unwissenheit der französischen Hebammen den Stammhalter des französischen Zweiges des Morgensternschen Hauses verloren; da nun jetzt wiederum nahe Hoffnung zum Aufgang eines neuen Morgensternes sei, so habe er sich entschlossen, trotz der französischen Erziehungskunst, trotz der Protestationen von Madame, denselben à l'allemand aufgehen zu lassen und deshalb sie, seine Schwester, berufen, die durch langjährige Praxis sich damit vertraut gemacht habe, wie in der Morgensternschen Familie die Sauglappen gebunden und der Kinderbrei gebraut werde. Zur Bekräftigung ihrer Aussage, und damit in keinem Winkel unserer Herzen ein Argwohn über ihren wahren Charakter bleibe, teilte sie uns mit triumphierender Miene lithographierte Karten aus, auf denen in gotischen Buchstaben zu lesen stand: Jules Morgenstern, marchand tailleur, palais royal, galerie de bois Nro. 65 à Paris usw. Unter diesem interessanten Gespräche ging das schmackhafte Frühstück vorwärts, alle Details einer deutschen Wochenstube wurden besprochen, mit den französischen Instituten derselben Art verglichen. Der Herr Graf, überhaupt ein sehr leutseliger Herr, ging mit Herablassung und Sachkenntnis in die populäre Materie ein, und selbst die Böhmen fanden beim Artikel der Milchgläser und Saugflaschen Gelegenheit, ein kritisches Wort anzubringen. Auf diese Weise war die Genesis sämtlicher gräflich Blankenspeerschen und Schneider Morgensternschen Sprossen abgehandelt worden, und schon begann ich zu befürchten, daß nun die Reihe an die böhmische Deszendenz kommen möchte, als sich der Kondukteur den Mund wischte und Madeleine mit ihrem Teller und ihrem: » Messieurs, n'oubliez pas la fille!« das Zeichen zum Aufbruch gab. –


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