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Der nächtige Gebirgskamm lag einsam – flüsternd und fauchend und hastend bewegt – und weit und dämmerumsponnen im Scheine des Herbstmondes, der durch glänzende Wolken fiel – und umfloß von jagenden Nebeln, die aus den Dunkeltälern quollen mit Schatten und Schemen. Und es sah aus wie eine Nachtwelt im Chaos, noch ungeschieden oben und unten – und ungeklärt, wo Stürme und Stimmen von Versunkenen durcheinander wogten in ziellosem Gange – ganz außermaßen schaurig und ohne Erlösung – und es jagten und schwanden Dämmer und Dunkel und Schüttern und Stöhnen in weiter, hehrer, einsamer Stummheit.
Rubener war wieder im Tal gewesen. Er hatte seit Wochen weder Rast noch Ruh. Er hatte auch heute wieder in dem engen Stübel dem Amand, dem Struppbärtigen, gegenüber gesessen, der den Dorfleuten unter der Hand ein Ratgeber war, der neue, große, weiße Bogen bedächtig seinem Fensterschranke entnommen und auch nach dem letzten vergeblichen Versuche noch immer wieder getröstet hatte, daß es schon gehen würde. – Rubener hatte mit Amand lange zusammengesessen und ratlos hin und her überlegt. Der gräfliche Portier und die Leute in der Schloßkanzlei, die sich längst ansahen und anlachten, wenn Rubener hartnäckig wie ein Kind es sich nicht verdrießen ließ, immer wieder einzutreten und um Einlaß zum Grafen zu bitten, hatten ihn heute hart angefahren, so daß auch er schließlich mit derben, groben Worten und plötzlich sogar mit Verdächtigungen nicht zurückgehalten. »Das sein ock de Beamten«, hatte er dann im Zorn geredet, wie er bei Amand eingetreten war. »Das sein ock de Beamten«, hatte auch Amand immer auf's neue gesagt, als er das Schreiben direkt an den Grafen aufgesetzt und dann sorglich und umständlich erklärt hatte. Und die guten, ängstlichen Bittworte waren Rubener feierlich noch einmal und noch einmal in die Ohren geklungen, und dann war er endlich, flüchtig getröstet, wieder seinem Heimatshange zugestapft.
Eben war er aus dem finsteren Waldgürtel und dem Flußgrunde, wo Nachtnebel das Grollen der Wasser noch dumpfer gemacht, in die Sturmhöhe emporgekommen und schritt flatternd und kämpfend über die weiten Hochmoore. Aber niemand sah dem stahlharten, rauhen Manne, der seinen Bergstecken gleichmäßig pinkend fest in den Boden stieß, an, daß das, was er im Tale gehört und erfahren, ihm noch arg zusetzte, und seine Gedanken umgingen und nicht zur Ruhe kamen. Monddämmer umwehte geheimnisvoll die schweigenden Blöcke und glänzte weiß in den düsteren Moorlachen, an denen er stumm vorbeischritt. Die Höhenlüfte streichelten wie seufzende Geister flüchtig die bleichen Gräser am Wege – und es stöhnte und rieselte in den verlassenen Halden. Es war klarer und klarer geworden, je höher er aufstieg. Nebelgestalten tanzten jetzt kaum noch in Körpermacht in der Dämmerhöhe – nur noch wie Ahnungen wirbelte es aus dem Lichtmeer heran, das jetzt hinter ihm lag und Gründe und Täler ganz zugedeckt, Dörfer und die Menschenwohnungen drin begraben hatte. Kein Schimmern kam mehr aus Menschenland. Nur von den unermeßlich glänzenden Wolkenwogen, die bis in unsichtbare Ferne alles deckten, quoll und wogte es in den steinigen Uferhalden empor – groß und einsam und wie in Erstarren gebunden – löste Schleiergestalten und trieb sie hastig und pfeifend über die klaren Mondwiesen heran. Der abgrundtiefe, nachtdunkle Himmel stand stumm, in seinem Grunde Stern an Stern gezündet, weit über dem unermeßlichen, bleichen Wolkenmeere in der Erdenrunde, aus dem das öde Höhenland einsam wie am ersten Schöpfungstage sich hob und dehnte – der Mond schwebte im milden Glanzkleid lautlos im Raume, daß Rubener plötzlich wie befreit hinschritt seinen silbernen Lichtsteig aus eitel Blinken und Strahlen wie in einem unbegreiflichen Ätherlande, daß er wie auf einer anderen Erde hinwanderte, umfaucht und umflüstert und unsichtbar und rätselgesprächig umwirbelt und umpfiffen seine stillversunkenen, rauhen, stapfenden Schritte.
Tiefer am Abhang, in dem wolkenerfüllten Seitental, wohin nun der einsame Rubener nach weitem Gange über die Höhe eifriger zuwanderte, erwachte und strahlte ein Licht – ein fernes, kleines Licht – hell wie ein Stern, der in Nachtwolken aufblitzt, golden funkelt und erlischt – und wieder kommt in Silberdämmern, wenn unsichtbare Hände die Bahrtücher wegheben, und der Mond dann frei in die Gründe leuchtet. Allen Rubenerleuten hatte oft der Stern geschienen, wenn sie spät aus der Waldarbeit heimwärts schritten. Ein jeder Rubener, wie sie seit hundert und mehr Jahren – von Alters her – hier saßen, hatte in Sommer- oder Winternacht, in Sturm und Nebelfinsternissen oder im sanften Dämmerlicht der Berge den einsamen, goldenen Schein dort blinken sehen. Denn dort unten lag noch immer der Rubenerleute alte Heimstätte.
* *
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»Ach Du himmlischer Gott und Vater«, seufzte eine sorgliche, abgehärmte Stimme im niedrigen Viehstalle, der dämpfig war, und wo eine rauchige Laterne an der Erde im Stroh schwachen Schein von unten auf drei, vier Kühe und einige Ziegen im Winkel warf: »Wenn 'r ock a Grafen wenigstens eemol gefunden hot.«
»Er werd 'n schun gefunden ha'n, Mutter«, klang es in sicherem, zutraulichen Tone zwischen zwei schwarzglänzenden Kühen hervor.
Mutter Rubener und Martin saßen jedes unter einem Kuhleibe im halben Scheine und molken. Die Kuhschatten gaben einige Bewegung an die spinnwebigen Deckenbalken und die verwitterten Stallwände – und man hörte, wie die Milch in Strahlen in die Kübel floß. Alles war still sonst – und blieb still, daß drinnen aus dem Nachtgetümmel der steinigen Halden nur Stimmen allein noch hörbar waren, Geisterfinger an die Scheiben strichen und klopften, und alles nur vom nahenden Winter, von noch tieferer Einsamkeit und hartem Kampfe und von Träumen und Vergrabensein zu reden schien.
»Mein Gott! mein Gott! Wenn 'r ock a Grafen endlich amol selber finden tat«, sagte in der niedrigen Stube drinnen auch der altgewordene Leiermann, indem er sich vom Tische erhob und einen blöden Blick der kauenden Leiermannsfrau zuwarf, die versunken vor ihrer Suppe saß.
»Jeses, Jeses! daß der Mann heute wieder nee kimmt!« sagte die halb verzweifelt. Der kleinere Rubenerjunge, der zehnjährige Max, der am Tage einsam die Kühe geweidet, saß neben ihr in der Bankecke und verfolgte ihre Bissen bis zum Munde.
»Was söllt' 'n ock die armen Leute um Jesu Christi willen a'fangen, wenn 'r a Grafen nee a eenzigstes Mol finden tät!«
»Nu ebens, nu ebens!« sagte der Leiermann und stand alterssäumig in der Stubenmitte.
Man hörte nur das Wippen der Wiege, die die vierjährige Ella zu schaukeln begonnen, weil das Kleinste plötzlich leise gewimmert hatte.
Es ging Sorge um in der Rubenerbaude.
Auch die Leiermannsleute quälte es längst, daß alles beim Alten bliebe, daß Rubener die entlegene Heimstatt nicht an die Herrschaft abgeben müßte, in der sie – so lange die beiden weißhaarigen Bettelleute dachten – Sommers in der niedrigen Bodenkammer oben genächtigt hatten, und von der Wenzel an jedem Morgen früh in seinem weißen Filzflausche auf die einsame Steinhalde zog, dort oben gedankenlos vor sich hin in seiner verfallenen Felshütte stehend – und hervorkriechend wie ein alter Dachs – langsam zum Leierkasten am Kammweg schlurfend, wenn Wanderer das hohe Rad mühsam niederstiegen – um in die starken Berglüfte fern und matt in Sturm und Sonnenschein seine zerflatternden, quakenden Leiertöne hineinzudrehen – einsam versunken und stumm bedient von der Alten – gedankenlos und immer windumweht.
Jetzt war Herbst – und morgen wollten die Leiermannsleute für den Winter zu Tale ziehn.
* *
*
Frau Rubener war in Unruhe vor die Tür gelaufen und sah in die samtene Finsternis hinaus. Sie fühlte kaum, wie einsam es war. Das war das Leben, das sie kannte. Sie stand im Türrahmen und hielt die Klinke fest in der Hand, weil der Sturm riß. Sie war von Kühen und Ziegen weggelaufen und lauschte. Die Bergwasser fielen hörbar nieder in der Schlucht. Der Sturm trieb um's Haus und johlte höhnisch auf den Holzstapeln, die aus Scheiten gebaut nebelumweht an der Hausecke ragten. Die Rubenern war wie abgehetzt. »Wenn 'r ock a Grafen gefunden hot«, ging es ihr wieder durch den Sinn.
Rubener kam. Es klangen ferne Tritte. Frau Rubener war gleich in den Stall und zur Arbeit zurückgeeilt. Er durfte nicht merken, daß sie ihn in Sorge erwartet hatte. Er war in Nebel und Nacht versunken herangestapft und stand wieder vor der Haustür. Im Hausflur war niemand, als Rubener auf den Steinfliesen laut im Dunkeln tappte.
»Gu'n Abend«, sagte er bloß, als er im Lampenscheine in der Tür erschien.
»Gn'n Abend, Vater«, rief die vierjährige Ella.
Rubener tat, als wenn nichts wäre. Er hatte den Hut gleich auf's Ofengestänge gehangen, den Rock beiseite gebracht und setzte sich wie immer auf die Ofenbank. Auch der Junge kam aus dem Winkel, ohne viel zu sagen. Rubener saß bald dumpf vor sich hinbrütend im Halbdunkel.
»Der Sturm ging wohl gar rasnig?« sagte endlich der Leiermann wie ablenkend.
»Nu do«, sagte Rubener.
Es blieb lange still, unterdessen der alte Leiermann mühsam seinen Packen aus der Fensterbank zu schnüren fortfuhr. Endlich platzte dann die Leiermannsfrau doch heraus.
»Sag ock endlich amol, wie's stiht«, sagte sie entschlossen.
Rubener lachte höhnisch und kraute sich, aber er kam nicht zu sich.
Die Leiermannsfrau warf nun heimliche Blicke auf Rubener und machte ein ratloses Gesicht. Jedes dachte jetzt, daß es nicht gut wäre zu reden im Scheine der ärmlichen Rauchlampe. Altes und junges Wesen rings – der pfiffige Max in fragender Neugier vor dem Vater, und Ella auf der Ofenbank, die sich schweigsam an den dumpfen Sinnirer drückte, niemand wagte zu plaudern in Rubener's hartnäckiges Versunkensein.
Aber in Rubener ging einmal wieder die Hoffnung um. Er hatte neu und neu die Worte ersonnen, die aus Amands Munde hervorgeklungen, und er redete sich längst wieder heimlich ein, daß der Graf sie lesen und erhören müßte.
Martin kam bald – frisch und laut – weil er Vaters Tritte im Stall gehört. Aber er verstummte gleich, wie er ihn auf der Ofenbank sitzen sah.
Auch wie Frau Rubener in die Stube kam, dampfte Rubener nur gleichmäßig blaue Rauchwolken in die Luft.
»Quirlt mir ock ni alle im a Ofen«, fuhr die Mutter los, um ihre Aufregung zu verbergen.
»Hust'n getroffen?« fragte sie im flüchtigen Hantieren und sah kaum auf.
Rubener lachte nur wieder.
»A Grafen?« sagte er dann langsam und starrte lange in der rastlosen Frau Hantierung hinein. Die stopfte hastig Scheit über Scheit in's Ofenloch, daß ihr Gesicht vom Feuerscheine glühte.
»Triff'n ock – a Grafen!« murrte Rubener noch fast für sich, als er endlich weg und gleichgültig an die Decke sah.
Aber dann redete er ganz zutraulich.
»De Beamten – 's sein de Beamten –«, – sagte er fast pfiffig. »Aber wart ock, Mutter, nu ha' ich's Amanden überga'n! Alleene kann ich's doch ni breeta.«
Frau Rubener begann, mit dem Schaff in der Hand, vor sich hin zu erstarren und laut aufzuschluchzen.
»Amand werd's schun machen«, sagte Rubener ganz tröstlich. »Kannst's gleeben, Mutter!« »Dar hot's schun gemacht«, fuhr er hartnäckig fort. »Dar – dar – hot heute 'm Grafen salber a amtliches Schreiben a'gefertigt – und hot'm alles noch amol ei guten Worten virgestellt – 'm Grasen salber – Mutter – daß – nu Jeses! – hahaha – a jedes kann's ju sahn! – Wenn ich bluß asu denke – de Al'en – der Grußvater – de Grußmutter, wenn se hie hinga eim Ufeneckel saßen – de ältesta Verwandta ha'n doch hie – sein doch hie – ei dam Häusel – aus- und eigeganga – gelabt und gearbeitet . . . ei dam Häusel . . .« Seine Stimme klang von Erregung erstickt, daß er nicht weiter redete –, und daß es dann lange stille blieb. Die alten Leiermannsleute schlurften ratlos zur Stubentür und verschwanden in die Baudenkammer, ohne daß jemand ein Wort weiter gewagt hätte. Man hörte durch die Decke, daß sich die Greisen in's knackende Strohlager hingeworfen. Rubener sog an seiner Pfeife und murrte auch einmal wie im Jähzorn Unverständliches vor sich hin.
Es blieb stumm in der Stube. Fauchen und Heulen der Bergstürme drang herein. Der Seeger ging. Dann und wann nur ein Räuspern, wenn Rubener ausspie, und das gleichmäßige Wippen der Wiege, wie Frau Rubener das Jüngste neu zu schaukeln begonnen.
»Giht ei's Bette«, sagte Rubener endlich zu den Kindern, weil das Kleine in der Wiege zu schreien anfing. Die Rubenern hatte sich gleich an den Tisch gesetzt im Lampenscheine, daß der Säugling blinzelte, wie sie ihn an die Brust nahm. Sie war zernagt heimlich. Das Kind beruhigte sich im Augenblick, aber es fuhr von neuem schreiend auf, weil es die Unruhe der Mutter im Blute spürte – daß Rubener ängstlich hinüber sah, bis die Mutter das klagende Weinen mit Lullen im Stübel herum: »Kß – kß – kß!« beruhigt hatte. Nun saß sie neben ihm auf der Ofenbank und sah stumm und sorglich nieder. Auch Rubener sah auf das Kind an der Mutterbrust. Daß alles allmählich in stiller Heimlichkeit spann und die Trauer, einmal aus der Heimstätte vertrieben zu sein, nur noch in der Tiefe und Ferne wie verhallend umging.