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Erster Gesang

»Luz, du bist es? Du bist's! So sei mir doch herzlich willkommen!
Ein so lieber Besuch, und so ganz unerwartet: wie herrlich!
Wie wird Julie sich freun, die Gute! Erst heute beim Frühstück
sprach sie lange von dir und dachte vergangener Zeiten.
Ach! Du bist ja verändert, mein Junge, komm her, laß dich anschaun!
Keine Spur von dem Stoppelhopser, dem Landwirt von einstmals,
ist noch sichtbar. Anstatt langer Stiefeln mit faltigen Schäften
trägt er Schuhe mit silbernen Schnallen! Und welche Krawatte!
Welcher gewaltige Filz! Und seh' einer die riesige Krempe!
Dieses scheint ja ein wahrhafter Sproß aus Kalabriens Bergland,
Kalabreser genannt, oder sage mir, bin ich im Irrtum?
Lange nämlich ist's her, daß ich solcherlei Hüten begegnet,
auch wohl selber sie trug. Da lachst du! Wir sind hier verbauert!
Nein, ich leugne das nicht. Was sollt' es auch helfen? So ist es.
Stille steht hier die Welt: nun komm und mach ihr Bewegung!«
Also lebhaft begrüßte am Gatter der Onkel den Neffen,
herzlich lachend, sowohl aus unverhohlener Freude
als auch, weil ihn die eigene Rede besonders ergötzte.

Und so traten ins freundliche Gutshaus der Mann und der Jüngling:
der Betagte, trotzdem noch rüstig, und dieser mehr Knabe
noch, dem das Safrangelock herabfiel bis fast auf die Schulter.
Küsse wurden getauscht, wie es üblich ist unter Verwandten.

»Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen«, begann jetzt der Kömmling,
»und so hielt es mich nicht zu Hause mehr, wo ich auf Urlaub
war, bei Vater und Mutter. – Natürlich, sie lassen euch grüßen! –
Sehnsucht packte mich an. Sie packte mich unwiderstehlich.
Wandern mußt' ich, euch wiederzusehn und das Haus und das Dörfchen,
wo ich Jahre verbracht: ein Beflißner des löblichen Landbaus.
Nun, da bin ich. Famos! Aber hoffentlich komm' ich gelegen?«

»Luz! Mein Junge! Bist du's? Seh' einer den schweigsamen Wicht an!
schreibt kein Wort und erscheint miteins, wie gestampft aus der Erde.
Jahrelang wußte man nicht, ob der Schlingel wohl noch in der Welt ist.
Nun, willkommen, du Strick! Wie geht's dir? Was machen die Eltern?«
Also Tante, die laut und mit kräftigen Schritten hereintrat
aus der dunklen Kanzlei in das sonnendurchflutete Zimmer;
sie versetzte dem Luz einen Kuß, daß die Locken ihm flogen.

»Ach, wie schön es hier ist, wie alles mich wieder entzückt hat!«
sagte der Neffe gerührt, nachdem der Sturm der Begrüßung
endlich sich etwas gelegt und er selber wieder zu Wort kam.
»Warum lebt wohl der Mensch zusammengepfercht in den Städten?
Ich beklage mich nicht, denn vieles schenkte die Stadt mir.
Doch der Lärm auf den Straßen! Der Staub und der Mangel an Grünem!
Steinerne Würfel getürmt, aneinandergereiht ohne Lücke,
Höhl' an Höhle gehöhlt im Innern, mit Schlupfloch und Lichtloch!
Menschen hausen darin, Troglodyten, betriebsam und rastlos.
Das, wie gesagt, ist die Stadt. So seh' ich sie wenigstens manchmal,
wenn mich Pfiffe der Lokomotiven, der Schrei der Fabriken
und was alles den Städter sonst noch bestürmt, überreizt hat.
Hier dagegen ist nichts von alledem, hier ist es dörflich.
Höchstens quaket der Frosch und schnattern die Gänse im Dorfteich.
Das tut wohl. Überhaupt, wie wundervoll war dieser Morgen!
Um Punkt drei brach ich auf, heut nacht, von der Schwelle der Eltern;
bald erschien dann das Licht und leuchtete über das Erdreich;
aber einsam im Glanz erschien es, verlassen von Menschen,
wie erstarrt in Magie, mir fremd, wie ein fremder Planet fast.

Doch bald wachte es auf. Mit jeglichem Schritt, den ich vordrang,
tönte lauter die Luft vom Gesange unzähliger Lerchen,
bis, noch schläfrig, aufrauschte die Saat von dem Hauche der Frühe.
Ich durchquerte den Wald, da wechselten Rehe, da hört' ich
Tauben gurren und hörte die köstliche Stimme des Kuckucks.
Bald erschien dann der Mensch, im Feld hie und da an der Arbeit.
Dort, mit stämmiger Kraft die Sense gebrauchend, im Kleefeld
machte Futter die Magd. So ist ja der technische Ausdruck.
Später kam ein Gespann, und so fort, bis die Arbeit im Feld stand.
Doch was red' ich so viel; das Geschilderte scheint ja alltäglich.
Nun, mir war dieses alles so neu und so herrlich, als hätt' ich
nie dergleichen gesehn vor dem Antritt der heutigen Wandrung ;
selig bin ich noch jetzt und im mindsten nicht müde. Ich könnte
mit Vergnügen den Weg ein zweites Mal machen von vorn an.«

»Luz, nun seh' einer an! Zu Fuße von Hause bis hierher
bist du, Tausendsassa, marschiert, wo fünf Stunden die Bahn fährt?«
sprach der Onkel, erwärmt und erfreut durch des Jünglings Erzählung,
und erzählte nun selbst aus der Chronik des Dorfs und des Gutshofs
dies und das, was geschah, seit der Neffe die Gegend verlassen.
Diesen aber indes betrachtete schweigend die Tante,
und ein schmerzlicher Zug veränderte plötzlich ihr Antlitz.
Doch so flüchtig auch glitt die Verdüstrung über der Gutsfrau
ausgeprägtes Gesicht, nicht entging es dem Gatten, er blickte
auf sie hin voller Güte, mit heimlich bekümmertem Anteil.
Auch der Jüngling begriff und erkannte im stillen was vorging.

Kaum das fünfzigste Jahr lag hinter Frau Julie, während
bis zum sechzigsten schon gediehen war Gustav, ihr Gatte.
Kinderlos war ihr Glück; zehn Jahre lang harrend wie Hanna
und Elkana und so anflehend den Herrgott im Himmel
um den Erben, erschien auch ihnen der Tag der Erhörung.
Julie genas eines Sohns. Man nannte ihn Erwin. Unsäglich
war die Freude, das Glück, die mit jenem vom Himmel herabkam;
seit des Knäbleins Geburt ward gleichsam ein Festhaus das Gutshaus.
Keine Klage, nur Dank stieg dazumal täglich zu Gott auf,
mit der Bitte vermählt, das Kleinod, den Sohn, zu behüten.
Und er tat es, der Unerforschliche, wie sie ihn nannten,
ließ erstehen ein Kind unter seligem Staunen der Eltern,
einen Knaben, so gütig als schön, so unschuldigen Herzens
als auch tiefen Gemüts und an Reichtum des Geistes ein Wunder.
Und man fragte sich oft: wie kommt in die niedrige Hütte
dieser Glanz, wie verirrt in die Fremde aus himmlischen Welten?
Nun, es kehrte zurück im vierzehnten Jahre des Lebens
Erwin, schwand wiederum und verließ die vernichteten Eltern.
Und sie lebten nur noch wie im Dämmer verhangener Zimmer,
ob's den meisten auch schien, sie lebten wie andere Menschen
auch, mit Speise und Trank und sich freuend behaglich des Daseins.
Nein, sie freuten sich nicht, sie zählten die Tage, die Stunden,
dankbar, wie es der Knecht mit den Furchen tut, die er geackert,
weil mit jeder ein Werk des mühsamen Frones getan ist,
näher rücket die Zeit, wo das Joch von dem Nacken des Stiers fällt.

»Nun, mein Junge, du hast einen Magen, so denk' ich, und Hunger«,
sprach Frau Julie, stand auf und warf auf die Tafel das Strickzeug.
Keineswegs übereilt, vollkommen gefaßt, aber dennoch
in der Seele bewegt, entwich sie, sich nicht zu verraten.

Sie war fort. Und es schwieg eine Weile der Gatte und sprach dann:
»Armes Julchen! Sie denkt, du wirst das ja unschwer begreifen,
unsres Lieblings, den ja der himmlische Vater zurücknahm.
Heiter sitzest du hier, sein Gespiele einst, frisch und voll Hoffnung,
bald nun völlig ein Mann, – unser Erwin schlummert im Grabe.
Nun, dies drängt sich ihr auf. Ihr Gedanke ist: lebte heut Erwin,
stünde er da neben dir in dem nämlichen Alter und auch so
frisch und blühend wie du; und da krampft sich das Herz ihr zusammen.

Doch nun muß ich aufs Feld zu den Rübenarbeitern, mein Guter«,
fuhr der Landmann dann fort, und der Ernst des Berufes befiel ihn.
»Du mußt essen; sonst wohl, ich schlüge dir vor, Luz, begleit mich,
inspiziere mit mir dein treulos verlaßnes Berufsfeld.
Lorbeer hättest du zwar von diesem vielleicht nicht geerntet,
aber um desto größre Kartoffeln gewiß, nach dem Sprichwort.«
Und er lachte vergnügt und freute sich laut seines Einfalls.
Weiter sagte er dann: »Wie schade, dein früheres Zimmer,
wo dein Kasten noch hängt mit dem ausgestopften Geflügel« –
nochmals lachte er auf –, »bald hätten wir's freilich gebraten! …
ja, es ist nicht mehr frei, dein Zimmerchen. Unsre Elevin
hat es inne. Weil doch es mit dir, dem Eleven, so mißriet –
denn du übtest Verrat, gesteh's, an dem heiligen Landbau –,
wandten Julchen und ich uns dem weiblichen Teile der Welt zu.
Aber freilich auch da … nun still, der Erfolg wird es lehren.
Du verstehst mich nicht falsch: sie ist redlich im Grunde, nur etwas
eigenwillig, und Julie hat mit ihr oft ihre Mühe.«

 

Zweiter Gesang

Rosen nannte das Dorf sich, in welchem der Herr Oberamtmann
Gustav Schwarzkopp ein Gut sich erworben, nachdem vor zwei Jahren –
Erwins Tod ging voraus – die Pacht des Dominiums ablief,
die er innegehabt und von wo auch sein Titel noch stammte.
Zu erneuern die Pacht und weiter die Lasten so großer
Mühen auf sich zu nehmen, wie eine Domäne sie auflegt,
dies lag nicht mehr im Sinne des Manns, dem der Hingang des Sohnes
jeden Anreiz genommen, Besitz und Vermögen zu mehren,
und so trat er zurück und heraus aus dem Kreise der großen
Ökonomen des Lands und bezog das bescheidene Gütchen;
es entstand seinem Tor gegenüber das einfache Wohnhaus.
Eben war das Gelände, auf welchem es stand unter Bäumen,
während diesseits der Straße der Gutshof ein weniges anstieg.

Als Herr Schwarzkopp den Jüngling verlassen und Luz nun allein war,
schritt er sinnend umher in den freundlich durchsonnten Gemächern,
und es stiegen ihm auf alle Freuden und Leiden der Lehrzeit.

Dieses Zimmer, in dem er stand, war die Seele des Hauses.
Hier nun stand das Klavier, und ein Bild hing darüber, das Christum
zeigte, über das Meer hinwandelnd mit trockenem Fuße,
Petro reichend die Hand, ihn rettend, der ungläubig einsank.
»Ihr Kleingläubigen«, sprach der Herr, wie man deutlich erkannte.
Auch den Leuten im Schiff galt der Vorwurf. Sie schrieen in Seenot.
Auf dies Bild, wußte Luz, hielt Frau Julie täglich gerichtet
ihren hoffenden Blick und erholte sich gläubige Stärkung.
Selten spielte sie noch das Klavier, denn die lärmigen Schläge
seiner Töne zertrennten die grauen Gewebe der Trauer
und den dämmernden Duft, in den ihre Seele gehüllt war.
Julie sah überdies den Tummelplatz weltlichen Rausches
in der Klaviatur, und fast graute ihr vor der Berührung,
ja, sie haßte beinah die Tasten, als wären's Dämonen,
auf Verführung bedacht und Zerstörung der ewigen Hoffnung.
Nein, sie war auf der Hut, und man sollte sie nicht überlisten
um das Kleinod des Schmerzes, das, ängstlich und neidisch gehütet,
allen irdischen Guts Hochheiligstes war ihrem Herzen,
noch auch gar um den Tag und die Stunde der Auferstehung,
jene Stunde, von der sie wußte, die Stimme des Heilands
werde liebreich sie rufen, um vor dem erstrahlenden Throne
ihr den Sohn in die Arme zu legen mit freundlichen Worten.
Dies und ähnliches ging durch die Seele des sinnenden Jünglings.
Danach ruhte sein Blick auf der Orgel, die nah an der Wand stand.
Drüber hing ein bekränztes Bildnis, das Abbild von Erwin,
wie als lockiges Kind er, ganz Liebreiz und Geist, in die Welt sah.
Hier war Juliens Altar. Es stiegen hier täglich Gebete
in Chorälen sowohl als auch Bachschen Kantaten zu Gott auf.
Um das Bild war in Perlen gestickt, im Ovale des Rahmens,
»Dein, Herr Jesu!« zu lesen. Nichts weiter als eben die Worte
»Dein, Herr Jesu!«. Es gab mit diesen drei Worten die Mutter
das gewaltsam entrißne Kind nun freiwillig dem Heiland,
so, als wollte sie sagen: nimm hin, er gebührt dir, für mich war
dieser Engel zu rein, nur du allein bist seiner würdig.

Dies und mancherlei sonst erwog bei sich selber Luz Holtmann,
doch nicht trüb, sondern froh, denn er war bei dem Schmerz zu Besuch nur.
Er durchblickte das Leid, und er fühlte das Weh der Verwandten,
doch nur so, daß es ihn betraf und bewegte als Schönheit.
Damals, als es ihm noch obgelegen, die Lücke zu füllen
gleichsam, welche der Tod durch den Hingang des Vetters gerissen –
dies war sicher der Plan des Ehepaars, das ihn ins Haus nahm –,
damals also verdüsterte arg sein schwerer Beruf ihn;
denn wie sollte ihm wohl die Erinnerung an den Verstorbnen
zu besiegen gelingen? Es wollen schon war ihm unmöglich!

Es erschien nun Pauline, die Magd, das Brett voller Speisen,
tischte auf und begrüßte den Hausgenossen von ehmals,
und vertraulichen Tons erwiderte dieser dem Mädchen.
Dann erschien Frau Julie wieder, nach ihrer Gewohnheit
großen, eiligen Schritts: sie führte ein Kind in die Stube.
Doch es machte sich frei der Wildfang, ein Mädchen von sieben
Jahren war es, recht hübsch, der Abkömmling einfacher Leute,
angenommen an Kindes Statt und auch wieder an Luzens.
Thea hieß das Geschöpf, Luz kannte sie, seit sie ins Haus kam.
»Thea, Thea«, so sagte die Tante, »du sollst nicht so wild sein!«
Doch, unbändig vor Freude, bedeckte mit Küssen der Pflegling
Luzens Wange und Mund, und es schien, daß sie ihn in Besitz nahm.
Eigentum nimmt man so in Besitz, das man lange entbehrt hat.
Fast beklommen erduldete Luz diesen stürmischen Zudrang.
Endlich ward er befreit und Thea entfernt, und die Tante
blieb alleine zurück, und indessen der Neffe den Hunger
stillte, saß sie daneben und plauderte über dem Strickstrumpf.

Irrtum würde es sein, zu vermeinen, das Wesen Frau Juliens
sei in weichlichem Gram, schmerzseliger Schwäche zerflossen:
männlich schien sie vielmehr, sprach laut und mit kräftigem Ausdruck.
Tätig war sie und herb, meist ungeduldig, ja ruhlos
unter rauhem Gewand die wehrlose Seele verbergend.
Zwar sie hatte die Welt mit eisernem Willen verworfen;
ihre Klugheit indes, ihre Wißbegier, ihre Talente,
es war immer noch nicht gelungen, sie ganz zu erdrosseln.
Freilich hatte zu lachen fast ganz verlernt diese Gutsfrau;
tat sie's dennoch einmal, so klang es verstimmt, ja verletzend.
Nun sei aber das Haus ganz voll, bemerkte die Tante,
denn die Schwiegermama sei da, die alte Frau Schwarzkopp;
diese brauche viel Pflege, sie sei doch nun weit über achtzig.
Leider sei nun auch Just wieder hier, denn er habe die Stellung
eingebüßt wiederum. Es sei immer das leidige Übel,
das, wie stets, ihn auch jetzt um den Posten gebracht. Und sie seufzte.

Just war Juliens jüngerer Bruder, der sich als Verwalter
kleiner Güter durchs Leben geschlagen, doch oftmals entgleist war;
denn es packte den Mann zuweilen der Dämon der Trunksucht.
War das Unglück geschehn, so fand der Betroffene meistens
bei der Schwester und bei dem Schwager Asyl, der ihn manchmal
wie ein totes Stück Holz aufhob von der Straße und mitnahm.
»Wie gesagt, er ist hier«, wiederholte die Tante, »und was nun
weiter mit ihm geschehn soll, das weiß allein wohl der Himmel.
Nicht der Jüngste ist Just, der Gesündeste auch nicht. Wer kann es
denn nach dem, was geschehn, überhaupt mit dem Bruder noch wagen?«
Auf die Wirtschaftselevin kam plötzlich die Frau Oberamtmann,
kurz auflachend und hart, es klang fast wie schmerzlich belustigt:
»Beinah haben wir hier eine Besserungsanstalt! so etwas
gleichsam wie ein Asyl für schwankende Existenzen.
Nun, es ist nicht so schlimm«, unterbrach sie sich, »Anna verträgt sich
mit der neuen Gewalt nicht daheim, der Stiefmutter im Hause,
und es sind wohl auch sonst noch Flecken an ihr zu behandeln,
Schönheitsflecken, nicht mehr; ich hoffe, sie werden herausgehn.«

Luz war wieder allein. Es erschollen die Rufe des Kuckucks
in das lichte Gemach durch angelweit offene Fenster
unaufhörlich, und Luz, der sie zählte, erhielt ein Jahrhundert
Lebenszeit als Geschenk: wahrhaftig, es war nicht zuviel ihm.
Zweige streckte herein ein blühender Obstbaum. Er brauste
ganz von Bienen und andren Insekten und duftete köstlich.
Seltsam, wie es mich traf, was ist mir doch diese Elevin,
daß mir stockte das Herz, als ihr Name, Anna, genannt ward?
Ich war immer ein Narr, und mein Leben lang werd' ich ein Narr sein.
Also dachte der junge Mensch bei sich selber und blickte
über Garten und Straße hinüber durchs offene Hoftor:
linker Hand lag das Haus mit den Wohnungen für das Gesinde,
hinten schlossen die Scheuern den Hof mit gewaltiger Durchfahrt,
hoch genug, den getürmten, mit Garben beladenen Wagen
unbehindert hindurchzulassen, herein in die Wirtschaft.
Jeder Stein und jeglicher Winkel des ganzen Bereiches
war dem Jüngling bekannt, in Ställen, auf Treppen, auf Böden
war der einst'ge Eleve zu Hause, und wär's im Stockfinstern.
Täglich hatte er ja den Kreis seiner Pflichten durchlaufen,
in zwei Jahren, auf diesem Gebiete, von drei Uhr des Morgens
bis zur sinkenden Nacht, wo er dann wie ein Stein in sein Bett sank.
O wie wohl war ihm heute zumute, verglichen mit damals –
heut, wo nichts ihn mehr band als Erinnerung an diesen Fronkreis.
Träge ruhte das Vieh und wiederkäuend im Dunghof,
Schwalben streiften es fast mit den Flügeln im Flug, und es lärmten
Spatzen auf der Umfriedung und plumpten fortwährend herunter
in den goldigen Mist, um wer weiß welches Futter zu suchen.
Gänse lagen nicht weit von der Pumpe und nah einer Pfütze,
mittagsträg wie das Vieh, ja, es saßen nicht minder die Hühner
schläfrig gesellt auf der Tür des Kuhstalls, und nur ihrer wen'ge
schritten pickend umher, wie versonnen und nicht bei der Sache.
Menschen zeigten sich nicht, denn alles war fort, auf dem Felde.

 

Dritter Gesang

Da indessen geschah's … Was geschah wohl? Ein Nichts! Und doch klingt es:
Hebet den Liebesgesang, ihr Musen, mit süßem Getön an!
Ob ein Mädchen auch nur, den obern Torweg durchschreitend,
ganz gemächlich erscheint und hernieder zum unteren Hof steigt:
hebt den Liebesgesang, ihr Musen, den Liebesgesang an!
Anna ist es, die neue Elevin. Wer sollte es sonst sein?
Was sie trägt im gehenkelten Korb, ist vom Standort des Spähers
nicht zu sehn, doch es blinket der Korb so, als sei er aus Golde.
Und Luz fühlt einen Stich, einen stechenden Schmerz unterm Herzen. –
Hebt den Liebesgesang, ihr Musen, den Liebesgesang an! –
Tiefer bohrt sich der Schmerz, anstatt sich zu mildern, ein Schrecken
tritt hinzu, wie wenn jemand mit jäher Gewißheit erkennet,
daß ein tückischer Schuß ihn im Marke des Lebens versehrt hat.
Hebt den Liebesgesang, ihr Musen, den bittren Gesang an!

Jung, apollinisch gelockt und niemals ein schlesischer Landwirt
bist du gewesen, mein Luz; viel eher verwandt jenem Gotte
nenn' ich, Lieber, dich dreist, der als Hirt sich verdang bei Admetos.
Obenhin nur gesehn, allerdings, Luz, bot deine Abkunft
nicht den mindesten Zug des Übernatürlichen; denn du
kamest wie andere Kinder zur Welt, und nicht mal am Sonntag,
nur vielleicht etwas schneller: kaum daß deine ehrsame Mutter
eine Wehe empfand, und schon war sie des Knäbleins genesen.
Leto hieß sie indes keinesweges, sie hieß nur Frau Hanna,
ebensowenig war Delos, mein göttlicher Freund, dein Geburtsort,
sondern Salzborn, ein Dorf, so genannt nach dem köstlichen Heilquell.
Dort besaß dein Herr Vater das stattliche Wirtshaus Zum Greifen,
dessen freundlichem Dach es zu danken ist, daß deine Wiege
nicht vom Sturme geschaukelt, von Regen und Schloßen nicht naß ward.
Woher kam dir nun also der göttliche Funke ins Innre?
Aus dem Grießbrei gewiß nicht, mit dem man dich löblich gepäppelt,
eher schon aus den Zitzen der Amme, die selber mit Branntwein
jedesmal sich gesäugt, wie man sagt, eh sie dir ihre Brust gab;
denn es war ein stets trunkner Silen, wie es heißt, ihr Geliebter.
Ernst gesprochen, dir gaben die Weihen die Nymphen des Brunnquells,
der von bärtigen Schöpfern aus dröhnendem Schachte geschöpft ward.
Von glückseligen Spielen erhitzt der glückseligsten Jugend,
trankst du täglich die Flut des sternstaubdurchfunkelten Salzborns.
Und du spürtest sogleich, nach gesättigtem Durst und zum Spiele
stürmend, daß sich dein Fuß erlöst und beflügelt vom Grund hob.
Denn der göttliche Born, an die dorische Halle gefüget,
er war eins mit der Flut des Kastalischen Quells am Parnassos:
dies verriet so die dorische Säule, am Quellrand entsprungen,
es verrieten's die griechischen Laute der lieblichen Nymphen,
die auf strömendem Pfad, durch die heimlichen Tiefen der Erde,
ihn besuchten und gern bewohnten und Luzen, den Knaben,
mit nektarischem Naß und ambrosischem Anhauch verzückten.

Da indessen geschah's, wie gesagt … Was geschah? Nichts und Alles!
Hebt, o hebet, sikelische Musen, den Liebesgesang an!
Die Elevin schritt langsam herab und hervor aus der Durchfahrt,
ganz wie jemand, den nichts zur Eile treibt oder auch anzieht.
Lässig trug sie den Korb im Arme, es ruhte die Linke
leicht am inneren Rand des Geflechtes. Das einfache Landkind
schien versonnen, beinah, als sei es allein auf der Erde,
zu nichts andrem bestimmt, als den eignen Gedanken zu leben.
Schütz, wo hattest du dich wohl verborgen? Aus welchem Verstecke,
Boden, Tenne und Stall, entschwirrte dein Pfeil, der den Jüngling
tödlich traf? Sieh, er wankt, und er greift sich entsetzt nach dem Herzen.
Doch da kichert der Gott. Gemach nur, es stirbt sich so leicht nicht.

Wirklich lag ja der Hof ganz stille im Lichte des Mittags.
Nichts war da des Betrachtens wert, nichts im mindsten verdächtig.
Und was sollte es Seltsames sein, wenn die Hühner und Gänse
nickten und auf dem Dung wiederkäuend das schläfrige Rind lag
und dazu die Mamsell gelangweilt und planlos herumschritt?

Und Luz runzelte stark seine Brauen, um schärfer zu sehen,
zum Zerreißen gespannt die Brust und behindert am Atmen.
Und was sah er? Nun wohl: die Elevin. Sie hieß Anna Wendland.
Anna blühte im zwanzigsten Lenze. Es waren die neunzehn
in dem letzten vereint und sie alle vereint in der Blüte,
diesem schönen Geschöpf, einer Tochter des schlesischen Erdreichs.
Gudrun nannte sie Luz in Gedanken: es schien ihm die magdlich
stillverschloßne Gestalt, wie gebannt und gebunden in Fremdheit,
Königsblut, in die Fremde verschlagen und niedrigem Volke
ausgeliefert zu niedrigem Dienst. Wie ein goldener Kronreif
schmückten lastende Zöpfe ihr Haupt, und es lag eine Süße
in dem reinen Gesicht, drin sich Wehmut und Hoheit vermählten.

Also war dies so nahe gewesen und nun schon erschienen,
was in heimlicher Ahnung bereits sich dem Knaben verraten,
jenes, dem er entgegengewartet in dumpfer Gewißheit
und das je zu erleben ihm dennoch zu glauben versagt blieb.

Als den Liebling der Nymphen vom heiligen Quelle zu Salzborn
so das Fieber der Wiedergeburt durch den Pfeilschuß des Eros
überkommen, umschritt die Elevin gelassen den Gutshof.
Und es hatte der Hahn, es hatten die Hennen und alles
zahme Geflügel des Hofs sie entdeckt und sich um sie versammelt.
Und vom Schlage sogar herschwankten die Tauben der Venus,
flügelschlagend das frohe Getümmel des Volkes vermehrend.
Da nun leitet der Gott ans gefiederte Ende des Pfeiles
Luzens Hand, daß er selbst umdrehen ihn muß in der Wunde,
und so saugt sie verdoppelt das Gift, entbrennet nun zehnfach.
Hochmut kommt vor dem Fall. Luz, du bist viele Meilen gewandert,
unermüdet und frei, nun erweichen dir plötzlich die Kniee,
und du fühlst dich umstrickt. Geworfen in tödliches Siechtum,
hat nur jene, die dort dem Geflügel das Futter verteilet,
dich zu heilen die Macht, bei ihr liegt's, ob du verweilen
darfst im seligen Licht oder schnell zu den Schatten hinabmußt.

Dies erwägend, wie wenn nach verhallendem Donner des Blitzschlags
alles schüttert und bebt, noch ganz übertäubt und benommen,
fühlt sich Luz an der Rechten gestreift und schrickt heftig zusammen.
Es ist Fido, der Pudel, erblindet, vor Alter fast zahnlos,
der, als Hündchen einst Erwin geschenkt, mit atlassenem Bändchen
ausgeschmückt, paradiert' an des längst nun Entschlafnen Geburtstag.
Fido winselte leise und atmete heftig. Die Zunge
hing zum Rachen heraus, und sie perlte von Schweiß. Mit Gewedel
drehte Fido den zottigen Leib und verbog ihn nach Kräften:
alles dieses, weil Luz, nach Erwin, sein treuester Freund war,
den er wiedererkannt und nun freudigen Herzens begrüßte.

»Gut, schon gut«, sagte Luz, der den Anspruch des Hundes wohl kannte
und sein Recht, auf erwiesene Taten der Freundschaft zu pochen,
denn er war wie sein Schatten gewesen, verwichener Gutszeit.
Heute schämte sich Luz dieser Freundschaft. Ein schrecklicher Ekel
kam ihn an vor dem Bild des Verfalls und des traurigsten Elends.
Ward er doch durch das häßliche Tier mit den kotigen Zotteln
widerwärtig geweckt und herab aus den Himmeln gerissen,
wo am Tische der Götter sein Sitz unter Göttern bereitstand.
Somit wandte sich Luz mit den Worten: »Fort, Vieh!« Und es war ihm
so, als habe ein feindlicher Dämon des Tiers sich bedienet,
tückisch lauernden Neids, um das Heiligste ihm zu besudeln.

 

Vierter Gesang

Luz bewohnte mit Onkelchen Just eine Stube im Giebel.
Alle Räume sonst waren besetzt, und man mußte sich fügen.
Zwar der Onkel besaß viel Humor, und er hielt's mit der Jugend,
und Luz hatte ihn gern. Er hörte ihn gern seine Schnurren,
oft gepfefferter Art, erzählen. Indessen für diesmal
wär's ihm lieber gewesen, ein Zimmer für sich zu besitzen.
Denn es gärte in seiner Seele, er trug das Geheimnis;
dieses wollte er nicht bedroht sehn durch Fragen, auch sollte
nichts ablenken den Sinn ihm von diesem geheiligten Kleinod.
Nicht das mindeste war von dem allen zu merken, als Luz und
Onkel Just sich zur Ruhe begaben und schwatzend die Kleider
von den Gliedern sich streiften. Sie lärmten und lachten vergnüglich,
und sie trieben es so: es blickte sogar noch die Tante
heiter mahnend zu ihnen herein und ersuchte um Ruhe.
Halblaut setzte sich fort das Gespräch, als die Stubengenossen
in die Betten gestreckt und die Lichter gelöscht und der Vollmond
auf den Blüten des Birnbaums gleißte am offenen Fenster.

»Immer dasselbige Kreuz mit dem Leben der braven Verwandten«,
seufzte Just, »sowohl was Freund Gustav betrifft als die Schwester.
Was nicht bündeln sie alles sich auf! Gewiß ist es löblich,
gut nach Kräften zu sein, meinetwegen freigebig und hilfreich.
Hier geschieht des Guten zu viel, das läßt sich nicht leugnen!
So zum Beispiel nach meinem Geschmack auch in Sachen des Glaubens.
Auch ich glaube an ein allmächtiges Wesen im Himmel.
Beten hat mich bereits meine Mutter gelehrt, und wo sie nicht,
hätte Not es getan. Die Frömmigkeit halt' ich in Ehren.
Wie es Gustav und Julchen betreiben, das scheint mir bedenklich.
Wird die Frömmigkeit doch beinah hier der Grund zur Zerrüttung
des durchaus nicht sehr großen Vermögens der braven Geschwister.
Denn der Kreis von Schmarutzern in Jesu Christ ist gewaltig:
alte Herren, die gern gut essen, und junge Vikare,
die nicht langen mit ihrem Gehalte, erscheinen fast täglich
und dann wiederum auch kreuzbrave Apostel aus Herrnhut,
gottbegnadete Seelen und Magen, nicht minder begnadet!«

Also nörgelnd fuhr fort Onkel Just. Luz dachte: Wie seltsam!
Jener Schwäche nur, die er mißbilligt und rügt, ihr verdankt er,
daß ihn Liebe umgibt, ein Asyl und ein wohliges Bette.
Und der Gedanke taucht ihm nicht auf, wie er selber wahrscheinlich
obdachlos sich von Dorf zu Dorf mit zerrissenen Schuhen
schliche bettelnd umher, wo nicht die grundgütigen Hände
der Verwandten noch stets vor dem äußersten Fall ihn bewahret.

Jeder siehet wohl eher den Dorn in den Augen des andern
als im eignen den Balken; allein dieser Fehler des Sehens
bei dem Onkel war mehr als bei anderen Leuten entwickelt.
Manchmal schien es, als ahne er etwas von seinem Gebrechen.
Und so jetzt, als er fortfuhr zu reden: »Es ist mir entsetzlich,
selbst die Lasten der guten Geschwister sogar zu vermehren.
Freilich handelt sich's heute nur mehr noch um wenige Tage,
denn ich hoffe bestimmt, demnächst einen Posten zu finden.
Schnappt ihn jemand mir fort, fahr' wohl dann auf immer der Hochmut,
keinen Augenblick zögre ich mehr, mich als Knecht zu verdingen.
Muß es sein, nur um fernerhin keinem zur Last mehr zu liegen,
hüt' ich Schweine und nähre mich redlich wie sie von den Trebern.«
Und der Onkel, in Eifer geraten, fuhr fort, seine Schwächen
rückhaltlos zu entblößen, wie das seine neueste Art war.
»Unverzeihlich ist meine Verfehlung«, rief jetzt aus dem Bette,
unversehens sich lauter gehabend, der alternde Landwirt,
»doch mir wird die Geschichte zu bunt, und sie steht mir bis hierher.
Es ist besser ein Ende mit Schrecken als Schreck ohne Ende.
Oftmals war ich so weit, ich versicher' dich, Luz, und mein Zeuge
ist der allmächtige Vater im Himmel, ihm freilich auch dank' ich's
daß ich die Sünde nicht auf mich geladen, mich selbst zu entleiben.«
Er fuhr fort: »Ich habe, auf Ehre, einmal die Pistole
an das Herz mir gesetzt, nicht etwa aus Schmerzen der Liebe –
Gott bewahre mich! –, nein, aus Verzweiflung über mein Dasein.
Und ich habe auch losgeschossen. Luz, frag deinen Vater!
Denn in Salzborn geschah's, im Greifen, im Haus deiner Eltern,
in der ›Zwölf‹. Du bemerkst, ich weiß noch die Nummer des Zimmers.
Darin hatten Asyl mir gewährt deine Eltern, wie immer
hilfreich, wenn mich mein Laster einmal wiederum aus der Bahn warf.
Das war damals geschehn! Und als ich, aus bleiernem Schlafe
aufgewacht, mich besann und, mich meines Rückfalls erinnernd,
inneward meiner unaustilgbaren, sträflichen Schwachheit,
ja, da krachte der Schuß! Und wahrhaftig, ich lebte heut nicht mehr,
hätte Zufall es nicht gewollt, daß ein Breslauer Dienstmann
seine Marke mir abzufordern vergessen und eben
ausgerechnet durch sie der Lauf der Kugel gehemmt ward.
Denn ich trug sie bei mir, die Marke, wie heut im Notizbuch.«
Und es kramte der Onkel dann lange herum auf dem Nachttisch.

»Sag mir doch, Onkel Just«, unterbrach ihn nun plötzlich der Neffe,
von sich werfend die Scheu und so gleichsam sich selbst übereilend,
»Anna Wendland, so heißt ja wohl euere neue Elevin …
Was ist eigentlich los mit ihr? Warum seufzt denn die Tante,
wenn sie von der Elevin zu sprechen sich anschickt, und richtet
niederwärts den vielsagenden Blick? Hat sie etwas verbrochen?«
Ach, es hatte mit dieser Frage, so schien es, der Neffe
den empfindlichsten Nerv berührt in der Seele des Onkels.
»Luz«, so rief er, »du tätest wahrhaftig am besten, du ließest
mich mit diesem Geschöpf ungeschoren! Sie steht mir bis hierher,
und vor allem durch sie ist der Aufenthalt hier mir verleidet.

Wo man hintritt, begegnet man ihr oder muß von ihr reden;
man verspritzt seine Galle und ändert doch nicht ihre Hoffart.
Oder hast du vielleicht nicht bemerkt, wie das Mädchen umhergeht,
so, als wären wir alle nicht wert, ihr die Schuhe zu putzen?
Ich war Kavallerist und, du weißt, ein vorzüglicher Reiter.
Racker nennt man die Gäule, den schlimmeren Ausdruck verschweig' ich,
die zuletzt das Genick jedem Reiter abstürzen, drum Achtung!
Luz, sie haßt uns, sie haßt jeden Mann, wie der Racker den Reiter.
Hast du wohl ihr Verhalten bemerkt, Luz, als ihr die Schwester
deinen Namen genannt? Was? Schenkte sie dir wohl Beachtung?
O bewahre, wie könntest du ihr etwas andres als Luft sein!
Himmel, Herrgott, entweder sie weiß, was sich schickt und sich nicht schickt,
oder aber man fackele nicht, es ihr gründlich zu lehren!«
Sind ihr Männer nur Luft, um so besser! Auch kann es mir recht sein,
wenn sie Männer nicht liebt, sondern haßt, so erwog Luz befriedigt.
Und er hatte wahrhaftig im mindsten nichts andres erwartet.
Schwerlich war sie wohl je einem Mann, ihrer würdig, begegnet.
Also schwieg er, weit mehr durch den Wortschwall beglückt als entrüstet.

»Anna«, flüsterte Luz, als er folgenden Tages erwachte,
spät, nach erquickendem Schlaf, und die Augen voll Staunen weit aufschlug.
Justens Bette war leer, und er fand sich alleine im Zimmer.
Oh, wie selig, wie süß ist ein solches Erwachen! Wie innig
mischen Jugend, der Morgen des Lebens, der Morgen des Jahres
und der Morgen des Tags, des Maitages, sich miteinander!
Oh, wie süß ist die Freiheit, wie süß ist's, zu rasten und nicht mehr
draußen Fröner zu sein in dem Hörigendienste der Scholle,
ohne Freude an Licht und Luft, denn so ging es ja Luz einst:
kam die Sonne herauf, ihm erschien sie ein grausamer Fronvogt,
ging sie unter, er durfte aufatmen, er durfte im Hause
vor der schrecklichen Gorgo Natur sich ein Weilchen verstecken.
Aber heut: oh, wie süß war Natur, oh, wie süß war die Mailuft,
und wie heiter sein Herz, einem springenden Fischlein vergleichbar!

Aus dem Bette sprang Luz, stand sicher auf seinen zwei Füßen,
sog die Luft ein, hochauf in die Brust, ja ihm schien's, in die Seele:
diese füllte sich an mit dem Taumel des seligsten Daseins.
Und er steckte den Kopf in die Schüssel, er planschte und wusch sich.
Dabei pfiff er höchst flott, ohne Syrinx, und endlich begann er
laut und fröhlich, und zwar mit männlichem Klange, zu singen.
Prächtig scholl es durchs Haus. Nun mochten sie alle doch wissen,
daß er furchtlos, voll hoffender Kraft und auch sonst ganz ein Mann war.
Ja, er glich einem schreienden Hirsch, der den einsamen Bergwald
mit dem trotzigen Ruf seiner Kampflust erfüllt, jeden Gegner
fordernd, sicher des Siegs auf der Walstatt des Kampfs und der Liebe.

Als Pauline, die Magd, dem Jüngling das ländliche Frühstück
aufgetragen, erklärte sie ihm, daß die Frau Oberamtmann
sich nach Dromsdorf hinüber begeben, das Grab zu besuchen.
Richtig, ja, dachte Luz, an dem heutigen Tag vor fünf Jahren
starb ja Erwin. Und er beschloß, an dem Hügel des Vetters
ebenfalls eine Stunde der stillen Versenkung zu feiern.

Wermut mischte sich nun in den brausenden Becher der Freude,
doch vorerst nur so viel, als es not tat, ihn feiner zu würzen.
Ausgestorben durchaus schien das Haus von Bewohnern. Doch war es
voll dithyrambischen Lärms, wie der endende Mai ihn entfesselt.
Vor geschlossener Tür, die Hand auf der Klinke: es schien fast
so, als sängen die Vögel dahinter in jeglichem Zimmer.
Außen war wie das Innen, und innen wie außen der Glücksrausch.
Schimmernd stürzte das Grün überall durch geöffnete Fenster,
und von leuchtendem Grün bis zum Rande aufquoll Luzens Seele.
Hattest du auch wohl davon einen Rest hinterm Ohr, mein Geliebter?
Wie dem immer auch sei: an einem Vormittag wie diesem
starb Erwin. Er zerwühlte mit flammendem Haupte die Kissen,
brandig glühte sein Mund, und dann brachen dem Dulder die Augen.

 

Fünfter Gesang

Lieblich war es, das Kirchlein zu Dromsdorf, und lieblich der Kirchhof!
Als die Pforte des Gräbergartens der Jüngling erreichte,
stak der Schlüssel im Schloß, wo Frau Julie zurück ihn gelassen.
Und es wichen sogleich die Flügel dem leisesten Drucke,
allerdings mit Geschrill ihrer rostigen Angeln. Und Luz hielt
schnell sie an, fast bestürzt, denn im Kirchlein spielte die Orgel
Lehrer Krause und klang Tante Juliens herrliche Stimme.
Luz war frisch und aufatmend geschritten, mit festlicher Seele,
über Land. Und je näher dem Ziel, um so deutlicher sah er
Erwins liebe Gestalt, seines treuen Gespielen von einstmals.
Ganz so leuchtend wie heut war der Tag, und ebenso brauste
die ehrwürdige, mächtige Linde, ein Wächter der Kirchtür,
denn sie blühte wie heut, und es schwelgten in Nektar die Bienen:
nämlich damals, als schwarz von Menschen der liebliche Kirchhof
war und überall Schluchzen ertönte bei Erwins Bestattung.
Wieder stand Luz im Geist am geöffneten Grabe wie damals.
Hochher kam, wie ein Schiff, gewankt durch den Garten des Todes,
vom Geschmetter der Vögel umjauchzt, der graue Metallsarg.
Abgesetzt schon am Rande der Gruft dann, seit mancher Minute,
harrte er auf die Mutter des Toten, die zwischen dem Gatten
und dem Freiherrn von Schulz mehr hängend als gehend herankam.
Nicht ein Laut entrang sich der ehrfürchtig harrenden Menge,
als man mit vieler Geduld und unsäglicher Mühe Frau Julien
half, den furchtbaren Weg vom Kirchenportale zum Grabe
zu bestehn und das Letzte zu dulden bei voller Besinnung.
Mit Entschluß und zusammengebissenen Zähnen befreite
Luz sich nun von dem innren Gesicht, das ihn völlig in Bann schlug,
und der Friede des Orts besänftigte bald sein Gemüte.

Und es kam nun gestürmt durch den singenden Garten des Todes
Thea, die Waise, das Kind, der muntere Pflegling der Schwarzkopps,
warf sich hoch und umschloß mit Armen und Beinen den Jüngling.
Ihn umspülte das Haar, er fühlte die Lippen des Wildfangs
überrascht und beschämt auf den eignen. Sie saugten sich gierig
fest, es entrang sich der Brust des Mägdleins ein lustvolles Wimmern.
Und wahrhaftig ein Biß – schon empfand er das Mal ihrer Zähne.
»Katze«, rief er und machte sich frei von der Klammer des Kindes.
Seltsam ward ihm dabei, als hab' es wahrhaftig gegolten,
abzuwehren den Raub am Gedächtnis des Toten und mehr noch
an dem heilig verborgnen Geheimnis, das Luz in der Brust trug.
Doch mit feindlichem Blick, als wisse sie, was in ihm vorging,
kenne auch die Rivalin genau, so stand Thea nun vor ihm,
und bevor er sie noch begütigen konnte, entsprang sie.

Wo die westliche und die südliche Mauer des Kirchhofs
sich einander im Winkel vereinten und also den Einbruch
einer bläulichen Flut leislispelnd herwogender Ähren
gleichsam stauten, vor Überschwemmung die Gräber beschützend,
dort, ein besonderes Gärtlein, befand sich die Stätte, wo Erwin
schlief in gemauerter Gruft und bestattet in erzenem Sarge.
Um den Hügel, fast ganz unter schwärzlichem Efeu verborgen,
frisch gerecht lag der Kies bis zum Buchsbaum der blumigen Borte,
die ein Gitter umschloß, mit Sorgfalt gebildet vom Dorfschmied.
Ein gewaltiger Strauß Vergißmeinnicht lag auf dem Grabe,
von der Mutter gepflückt am Rain, auf dem Hergang nach Dromsdorf.
Leise trat Luz hinzu, als gält' es, den kindlichen Schläfer
nicht zu wecken, und ließ auf der Steinbank sich nieder, die da stand.
Kaum, daß Luz sich gesetzt, so verstummte im Kirchlein die Orgel,
gleich als wär's auf Geheiß, und es war nun um Luz eine Stille,
tief verhalten, als ob sich Himmel und Erde vereinten
in dem heil'gen Beschluß, nicht die Andacht des Jünglings zu stören.

»Dein, Herr Jesu!«, so stand in Gold auf dem schwarzen Granitkreuz,
das, gebettet in Efeu, bedeckte den länglichen Hügel:
ebendas nämliche Wort, das um Erwins Bildnis gestickt war.
Oh, es kannte genau die Geschichte des düsteren Denkmals
Luz, der Eleve von einst, und es grüßte von ferne der Streitberg,
wo das ernste Gestein man gebrochen im mächtigen Steinbruch.
Immer wieder beriet man im häuslichen Kreise der Schwarzkopps
Inschrift, Stoff und Gestalt dieses Epitaphiums, eh es
dann in Angriff genommen und also vollbrachte der Steinmetz.
Nun erschien es im Haus und wurde im besten Gemache
aufbewahrt, wo es lag, den Hausraum belastend mit Grufthauch.
Doch dies war nun vorbei, und der Bann war gesprengt, und das Auge
Luzens trübte sich nicht im erneuerten Anblick des Denkmals.
Freilich ward ein Erinnern geweckt, aber nur an das Dasein.
Und die lebendigste Liebe war's, welche vor allem geweckt ward.
Ja, sie drang in die Gruft, doch siehe, sie fand keinen Leichnam.
Aufgeflogen, entschwebt und doch in beglückender Nähe
schien der selige Knabe, der Bruder, der Freund und der Liebling.
O Gespiele, wie spielten wir doch den glückseligen Tag durch,
unersättlich in Lust: und wahrhaftige Lust ist das Spiel nur.
Kind und Künstler und dann die seligen Götter im Himmel,
sie genießen das Recht allseliger zweckloser Spiele.
»Dein, Herr Jesu!« Jawohl, ich sehe dich schreiten an seiner
mild-allmächtigen Hand, er führt durch das wogende Korn dich.
Es erhascht noch mein Blick einen Zipfel bewegter Gewandung
deines himmlischen Kleids, womit dich der Heiland geschmückt hat:
Glücks genug sein Smaragd, sein Azur, sein Gepränge von Blumen,
seine Juwelen und, Gold über Gold, der goldfeurige Kronreif!
Glücks genug, nur zu sehn einen flüchtigen Glanz dieses Prunkstücks
und zu ahnen die Pracht in den ewigen Orten der Gottheit!
Sei bedankt, paradiesischer Freund, für den himmlischen Anhauch.
Süß, fast stechend, durchdringt unirdische Wonne die Brust mir.
Wie das Kind auf der Schaukel aufjauchzet, im seligen Schwunge
hochgetragen, so treibt es zu jauchzen auch mich, und ein Kitzel
will mich, wie es mir scheint, mit den Wonnen des Himmels verschwistern.

»Ach, schon da, guter Luz!« klang plötzlich die Stimme der Tante.
Und wahrhaftig, es fiel aus den Wolken durchaus der Gemeinte.
Sie indessen fuhr fort: »Ich hoffe, du hast gut geschlafen.
Jüngst beklagte sich nämlich auf drollige Weise ein Schulfreund
unseres Erwin, er war zum Besuche in Rosen und wohnte
so wie du jetzt mit Just, meinem seltsamen Bruder, zusammen.
Schnarcht er wirklich so laut, wie es neulich der Jüngling behauptet?
Hast du auch wohl wie dieser nachtüber kein Auge geschlossen?«
Damit war ins Geheg' der Umzäunung getreten die Gutsfrau,
ließ sich nieder aufs Knie sogleich, um den Hügel zu jäten,
und entfernte mit sachlichem Eifer, als sei sie beauftragt
mit der Pflege des Grabes, verdorrtes Geranke im Efeu.
»Nein, ich schlief wie ein Stein und beklage mich nicht über Onkel
Just, der in keinem Betracht meine nächtliche Ruhe gestört hat.«
Stockend brachte hervor diese nüchternen Worte Luz Holtmann;
daß er aber sie sprach, kaum wußte davon seine Seele.
Wunderbar, diese Frau, so erwägt er bei sich, heut und damals,
wie verändert das Bild! Beinahe gefühllos erscheint heut,
die ich einst an dem nämlichen Ort wie von Schwertern durchbohrt sah.
Rauft und reißt sie nicht Ranke und Blatt mit gleichgültiger Hand aus?
Klingt ihr Reden nicht hart, als habe in ihr nie Empfindung,
niemals Seele vibriert? – Luz sieht sich ernüchtert, ist fremd hier.
Eine Stille tritt ein, eine peinliche. Peinlich zu bleiben
und nicht minder zu gehn. Gleich peinlich zu schweigen, zu reden!
Doch am Ende, um etwas zu sagen und so seinen Zustand
irgendwie zu verändern, erklärt er, es sei ihm unmöglich,
vorzustellen den Tod, er begreife nur immer das Leben!
Antwort gibt ihm ein Laut aus Frau Juliens Munde, er sagt ihm:
Wohl, du sprachst, und ich hab' es gehört, aber was du gesprochen,
ist gewiß nicht für mich. Doch halte es, wie es dich gut dünkt. –
»Alles scheint mir mitunter untrennbare Einheit«, sprach Luz nun,
»und so ist, kommt mir vor, in allem auch alles zu finden:
das Entschwundene nicht nur, vor allem in allem die Gottheit.« –
»Nein, man darf nicht das Werk anstatt seines Schöpfers verehren«,
sprach, als streife sie nur ein Spinnweb sich etwa vom Ärmel,
drauf Frau Julie. – »Tante«, begann jetzt der Neffe aufs neue,
»mich durchdringt fast Gewißheit, daß Erwin uns hört und uns nah ist.« –
»Freilich ist er uns nah, denn er schläft ja hier unten im Grabe«,
sprach die Tante so schlicht als wie etwa: heut ist sein Geburtstag.
Und sie fügte hinzu: »Hier ist ja der Ort und sonst nirgend,
wo ihm zu hören den Ruf der Posaune des Jüngsten Gerichtes
von dem himmlischen Vater und unserem Heiland bestimmt ward.« –
»Nun, so schläft seine Seele der ewigen Freude entgegen«,
sagte Luz. Und Frau Julie ergänzte: »Ich baue auf Jesum.«

Jetzt nun drang ein schneidender Laut durch die Stille des Friedhofs,
unterbrach das Gespräch und lenkte die Blicke der Tante
in der Richtung des rostigen Pförtchens, zum Eingang des Kirchhofs:
stammte doch das Geräusch, das schrille, von dort her. Es hatte
seinen Flügel gedreht das Pförtchen in rostiger Angel.
Nein, nicht selber! Das tat die Hand eines himmlischen Cherubs,
der in einem Gewimmel von Glanz in das Dunkel hereintrat.
Beim allmächtigen Gott! Und wie war es nur möglich, daß Tante
kühl hinsagte: »Es ist Anna Wendland. Es geht wohl auf Mittag.
Unser Käser wohnt hier in Dromsdorf. Sie hatte um elf Uhr
bei dem Manne zu tun und versprochen, mich auf dem Rückweg
hier zu treffen.« Sie schloß: »Nun, da sind Sie ja schon, liebe Anna!«
Langsam schreitend kam Anna herüber. Sie trug einen Buschen
Flieder, grüßte, nur leicht das Haupt und die Lippen bewegend.
Keine Miene verzog ihr Angesicht. Nur daß die Flügel
ihrer Nase so fein wie Schmetterlingsflügel erbebten.
Nicht Frau Julien gab sie den Strauß feuchtduftender Blüten,
wenngleich diese danach unwillkürlich gegriffen. Sie brachte
selbst dem Toten ihn dar, ihn vernestelnd im wuchernden Efeu.
Still geschah's, ohne Wort und auch ohne daß eine Bewegung
des Gemütes in ihr sich irgendwie hätte verraten.
Nein, dies hatte wohl doch, erkannte jetzt Luz, nur den Anschein,
denn jetzt löseten Tropfen sich los von der Wimper des Mädchens,
quollen reicher und rannen die rosigen Wangen herunter.
Und den Jüngling beschleicht ein befremdliches Fühlen. Wie kann sie
solchen Schmerz dem Verstorbenen weihn, den sie gar nicht gekannt hat?
So erwägt er. Entweder der Vetter, der einst ihn im Leben
durch die Fülle des äußeren Reizes und innerer Gaben
schon verdunkelt, er übte die Macht noch über das Grab aus –
oder war es ein andrer Verlust, der dem Mädchen im Sinn lag?
Dann entriß ihr vielleicht einen Bruder der Tod, auch wohl einen,
der ihr mehr als ein Bruder gewesen. Doch wie es auch immer
sich verhielt, Luz empfand es als Raub an dem eignen Besitze,
wer auch immer Tribut solcher Schmerzen und Tränen dahinnahm.

»Tut mir jetzt den Gefallen und geht, gute Kinder; ihr kennt ja
meine Gangart, ich hole euch ein. Zu den Krauses hinüber
spring' ich schnell noch einmal und hole mir Thea, den Tollkopf.
Schwer ist's manchmal mit ihr, und schwer war es heute besonders,
sie zur Stunde dem Herrn Präparanden ins Schulhaus zu liefern!«
So Frau Julie. Und sie liebkoste das Grab mit dem Blick noch,
eh sie schied, einem Blick, der die Woge unnennbaren Grames,
die aus Tiefen emporbegehrte, gewaltsam zurückhielt.
Danach wandte sie sich, mit befreiendem Seufzer die Fassung
neu gewinnend, und ging, durch ein Pförtchen der Mauer entschwindend.

Luz, wo blieb dein Latein, als du nun mit der Jungfrau allein warst,
die, so kam es dir vor, von dir überhaupt nicht Notiz nahm?
Ja, wo blieb dein Latein? Es entschloß sich kein noch so geringes
Wort, sich finden zu lassen, in einer Verfassung, darin du
sein bedurftest, als wie eines Hellers im Laden des Bäckers
der bedarf, der vor Hunger und Armut beinahe verschmachtet.
Grüble, grüble nur, Freund, deine Lage ist ernst, und du fühlst es,
denn es heißt nun: erweise dich, Schuft, oder gehe zugrunde!
Mut, vor allem nur Mut! Denn du neigst, Freund, noch immer zum Kleinmut,
hast dich immer noch nicht erholt von den Schrecken der Schulzeit.
Damals wardst du lädiert am Rückgrat; allein die Erkenntnis
nützt dir nichts, wo es heißt, ein ganzer, ein schrotiger Kerl sein.
Endlich fange doch an, sonst ist deine Lage entsetzlich!
Sprich vom Wetter! Das Wetter ist schön, und wer wollte das leugnen,
also stelle das fest! Damit sagst du doch immerhin etwas.
So erfuhr denn die still Hinwandelnde, was sie schon wußte.
Und sie sah ihn befremdet an und verzog keine Miene.
Ich bin Luft, dachte Luz, nie fühlt' ich so völlig als Luft mich.
Welch ein Zustand: ich bin – und bin doch für sie nicht vorhanden!

Plötzlich: »Essen Sie Kirschen?« erklang's jetzt im Ohre Luz Holtmanns,
und er blickte verdutzt und wußte nicht, ob diese Worte
wirklich jemand gesagt. Oder hatte er nur bei sich selber
diese Phrase geprüft, ob sie angängig sei zur Verwendung?
Doch wo dachte er hin! Nie hätten drei Worte des eignen
Innern so ihn im Mark getroffen und so ihn beseligt.
Nie wird Luz die Musik von diesen drei köstlichen Worten,
die ein unsterblicher Hauch aus dem himmlischen Ort Aphrodites
trug, vergessen und nie je die gleiche Musik wieder hören.
Welche Gnade und welche Huld war's, so zu ihm zu sprechen!

»Viele Kirschen gibt's dieses Jahr«, sagte Luz und erstaunte,
wie so leicht dieser Satz ihm, ja förmlich geläufig, vom Mund floß.
Doch ihm war jetzt zumut wie einem erstarreten Falter,
wenn in Schatten und Frost ihn die Sonne berühret und auftaut.
Und er lachte, und Glück überflutete ganz seine Seele.
Eine Kirschenallee, schnurgrade, durch welche die Dörfer
Dromsdorf und Rosen verbunden waren, sie hatte zur Hälfte
jetzt durchschritten das Paar. Nun stand eine bretterne Hütte
ihm zur Linken; davor, in die grasige Erde gerammet,
Tisch und Bänke, und eine war gänzlich mit Körben bedecket,
jeder voll bis zum Rand mit der zeitigsten Kirsche, der Maifrucht.
Und es steckte ein Mann seinen Kopf aus der Hütte und grüßte
Fräulein Anna, doch stumm, nur mit leise andeutendem Lächeln.
Sie bog hin, als sie ihn, durch Bewegung der Wimpern, kaum merklich,
wieder hatte gegrüßt, und trat zu den Körben und prüfte,
was der schweigsame Mann in den Wipfeln der Bäume geerntet.
Dieser kam nun herzu und füllte, als wär's ihm gegeben,
in den Herzen der Menschen die unausgesprochenen Wünsche
zu erkennen, ein Maß mit Kirschen und bot es dem Fräulein.
»Dank' schön«, sagte sie nur und bloß einmal; nichts weiter als: »Dank' schön!«
Welcher Zauber indes lag für Luzen in diesen zwei Worten!
Niemals könnt' er, nachdem er sie einmal gehört, mehr im Leben
ganz verarmen, nie wieder je völlig versinken im Unglück.
Und die schöne Elevin nahm Platz auf einer der Bänke,
sprechend: »Ist's Ihnen recht, so warten wir hier auf Frau Schwarzkopp!«
Welche Frage das: Ist's Ihnen recht? Recht wär's ihm gewesen,
dem Gefragten, er hätte können den Rest seines Daseins
hier und wartend verbringen mit Anna, womöglich die Hütte
mit ihr teilen. Er wünschte nichts Beßres auf Zeit seines Lebens.

Und so saß er im Tiefsten erregt, ja im Tiefsten beseligt,
aber doch auch im Zustande schmerzhafter Bangnis und Spannung.
Denn nach den wenigen Worten, die Anna Wendland gesprochen,
aß sie schweigend die purpurnen Kirschen, gelassenen Sinnes,
mit sich selber allein und ihn nicht im geringsten beachtend.
Hui, was fegte denn dort im Staube der Straße so eilig
in der Richtung von Rosen gen Dromsdorf vorüber? Ein Männlein,
das nicht hörte und sah. Wie flogen die Schöße des Rocks ihm!
Höchste Zeit war's zur Bahn, und es durfte den Zug nicht versäumen.
Heftig schwenkte die Linke den Filz, und es stampfte die Rechte
laut zu Boden den Stock, mit der eisernen Schaufel als Zwinge.
Doch es gab keinen Bahnhof in Dromsdorf noch sonst in der Gegend!
»Heda, Onkel, wohin denn in Gottes Namen so eilig?
Was ist los, und wo brennt's?« so rief Luz jetzt, der plötzlich den Onkel
Just erkannte. Der Bann war gebrochen, er hatte die Sprache
wiedergewonnen beim Anblick des Onkels, doch leider, weil dieser
wie durch Steinwurf die Tauben der Aphrodite verscheuchte,
alle Zauber der Liebe zugleich durch sein nüchternes Dasein.
Ja, er tat noch ein übriges gleich, um durch Mißlaut und Mißduft
die elysische Luft um Luzen ja ganz zu verstänkern.

»Ja, wo brennt's denn? Du hast gut fragen, du hochidealer
Jüngling, der noch beschwingt und in Schuhen mit Schnallen umherläuft;
du sagst gick und sie gack, und ihr beide, ihr guckt in den Himmel.
Fräulein Anna sitzt hier, ißt Kirschen, dieweil auf dem Hofe
alles geht, wie es mag: und so geht es denn drunter und drüber.
Ich muß laufen mit meinen Vierzigen hier auf dem Buckel,
laufe morgens zur Post und laufe euch nach, weil der Schwager
alle Schlüssel vermißt, die er braucht, um dem Müller Getreide
zum Vermahlen, den Leuten das Deputat auszugeben.
Und Sie haben das Bund, Fräulein Anna, gewiß in der Tasche.
Doch was tut's, wenn ich auch die Auszehrung kriege, die Schwindsucht
mir zuziehe, wenn nur Fräulein Anna davon keine Not hat!«
Sie entgegnet darauf: »Sie irren, Herr Just, denn entweder
hat ein andrer das Bund mit den Schlüsseln vom Brette genommen,
oder aber es hängt noch jetzt, wo es hing, als ich fortging.«
Dies gesprochen, erhebt sich das Mädchen, bezahlt ihre Kirschen
und setzt fort ohne Hast den kaum unterbrochenen Heimweg.
»Gott«, sagt Luz, denn er ist geärgert, ja förmlich verbittert,
»Schlüsselbünde, wie oft hat man solche gesucht oder etwa
in der Tasche gehabt, wenn andre verzweifelt sie suchten!« –
»Du, versteht sich«, sagt Just, »warst niemals, mein Junge, ein Landwirt,
ob du das Schlüsselbund in der Tasche nun trugst oder suchtest.
Deine Taten auf diesem Gebiete erzählen die Leute,
wie man Schnurren erzählt, fast täglich in Rosen und Umkreis.«
Drauf sagt Luz: »Ja, was ist da zu tun, wenn am Ende die Taten
eines jungen Kumpans an die deinen nicht reichen? Ich bin mir
des natürlich bewußt. Aber sage mir, lieber Verwandter,
womit hätt' ich's verdient, daß du plötzlich so über mich herfällst?«
Hierauf sagt Onkel Just: »Daraus mach' ich mir nichts, wie du's auffaßt,
viele Jahre noch kannst du viel von mir lernen, obgleich du
nicht sehr edel auf etwas in meiner Vergangenheit anspielst.« –
»Dein Verhalten«, sagt Luz, »besonders auch gegen das Fräulein,
ist nicht so, daß es mir eines gläubigen Studiums wert scheint.«
Und es wandte sich Onkel Just nun zum Staunen Luz Holtmanns
zur Elevin und sprach: »Ich frage Sie nun aufs Gewissen,
hab' ich jetzt oder je Sie auch nur im geringsten beleidigt?«
Und sie sagte und schüttelte leis mit dem Kopfe: »Gewiß nicht!«

 

Sechster Gesang

Ganz entschieden verstimmt saß Luz bei Tische. Die Schwarzkopps
machten keinen Versuch, seiner Schweigsamkeit ihn zu entreißen,
denn sie waren der Meinung, es seien die Stunden am Grabe,
die zum Ernste gestimmt sein Gemüt, sowie Erwins Gedächtnis.
Und man sprach auch im ganzen nur wenig beim Essen, sehr kärglich
lösten Worte sich los und gingen von einem zum andern.
Kaum daß Schwarzkopp gesprochen das Schlußgebetlein der Mahlzeit,
als sich Luz schon empfahl und sogleich auf sein Zimmer zurückzog.
Und er warf auf sein Bette sich hin mit dem innigen Wunsche,
daß sein kräklicher Stubengenosse nur ja nicht erscheinen
möge, ihm zum Verdruß, denn er war ihm verhaßt und zum Ekel.

Was ist eigentlich mit mir geschehen? so fragte Luz bitter,
an die Decke des Zimmers die Augen geheftet, wo Fliegen,
dunkle Punkte, umher in allerlei Schlingen sich jagten.
Schlingen, ja! Und mir ist so, als sei ich in eine getreten.
Nun, es ist an der Zeit jedenfalls, meine Lage ein wenig
zu bedenken, mit nüchternem Sinne ins Auge zu fassen;
denn ich habe zu früh jubiliert, und es ist mir entgangen,
daß die Himmlische, die mir erschienen, nicht nur die Gewalt hat,
mir die Hallen der Seligen aufzutun, nein, auch den Abgrund.
Ja, das ist's. Und nun seh' ich ihn, senke die schaudernden Blicke
in den schwindelnden Abgrund hinab, der auf einmal so nah ist.
Fast erblick' ich nur ihn noch, dann allerdings wäre ja plötzlich
ein ganz anderes Ziel erreicht, als es gestern mich deuchte.
Sein empfindsames Herz rang schwer. Es bemächtigte Kleinmut
jetzt sich seiner durchaus. Er, der heute morgen, im Kraftrausch,
Triumphator sich hatte gefühlt und Bezwinger des Weltalls,
fühlte nun sich hinfällig und klein und von allen verlassen.

Und er sprach mit sich selbst, und er sprach zu sich selbst etwa dieses:
Freund, du kamest ja gestern hierher, um die Wonnen der Freiheit
hundertfach zu genießen am Ort, wo du unfrei gelebt hast,
unfrei, was deinen Körper betraf und so auch deine Seele.
Wolltest sehen und mehr noch sehen dich lassen nach deiner
Mauser, Luz, und man sollte dein neues Gefieder bewundern.
Wo du als Entlein gelebt und auf lehmiger Pfütze geschnattert
unbeachtet, da wollt'st du dich blähn und entfalten dein Pfaurad.
Denn du bist kein gewöhnlicher Mensch mehr, du bist ja ein Fürst jetzt.
Michelangelos Moses, du hast ihn zwar noch nicht gemeißelt,
doch es kann dir gewiß nicht fehlen, du wirst es dereinst tun.
Vieles wirst du vielleicht vereinen, denn diese Empfindung,
dieser Sturm, den du in dir beherbergst, er kann dich nicht täuschen.
Michelangelo führte den Meißel, er malte, er wölbte
die gewaltige Kuppel vom Dome Sankt Petri. Er war auch
Dichter: auch mir ist's vielleicht bestimmt, alles dies zu vereinen.
Nun auf einmal, was fällt dich denn an, guter Junge, was hast du?
Stell dich nun, wie du willst, du bist ja von Grund aus verändert.
Und durchaus nicht nur du, nein, ebenso deine Umgebung,
wo du im Schweiße des Angesichts und als Sklave des Bodens
unfrei lebtest, gedrückt, ohne Hoffnungen, Ausblick und Aufschwung …
Hast du nicht förmlich Sehnsucht danach, in den früheren Sielen
wieder zu wandeln, das frühere Joch auf dem Nacken zu spüren?
Pfeifst du nicht auf die Freiheit beinah und die Wunder des Erdballs
und die Fahrten auf weitem Meer zu verzauberten Küsten?
Auf den Himmel Italiens selbst, der vor allem dich anzog?
Und der Ruhm? Nun, was ist denn geschehen, mein Teurer, weshalb dir
Reichtum, Ehre und Glanz und ein großer, gefeierter Name
nicht der Mühe mehr wert dünkt? Dagegen der Glücksgüter höchstes
unter Ulmen ein Dach, ein Gärtchen, ein Quell, eine Wiese,
Ziegen, Hühner, was mehr? Nur freilich, es müßte die Hütte
Anna teilen mit dir. Anna Wendland! Jawohl, Anna Wendland!

Fast wie Winseln und Betteln erklang auf den Lippen des Jünglings
dieser Name. Luz selber erschrak. Aufbrausend begann er
nicht unbillig, in heftigster Weise sich so zu beschimpfen:
O du dünkelhafter Geselle, großmäuliger Bursche,
prosit Mahlzeit, heut hast du dich wahrhaft als solchen bewiesen,
Einfaltspinsel, als blöd du neben dem Mädchen einhergingst.
Und er schimpfte und grübelte weiter und wurde ganz elend,
bis der Onkel am Ende doch noch in das Zimmer hereinkam.
»Sag mal«, rief er vergnügt, »was ist denn wohl in dich gefahren?
Mensch, du täuschest dich sehr! Wenn du meinst, ich hatte die Absicht
dich zu kränken, so ist das im äußersten Grade ein Irrtum.
Mißverständnis liegt vor! Es genügt dir wohl, wenn ich das sage.
Du bist gestern gekommen und weißt drum nicht, wie es hier zugeht:
was ich zum Beispiel für Grund und Ursache habe, so deutlich
und energisch mit Anna zu reden, wie heute vor Mittag.
Lern sie kennen, du wirst mich sehr bald ohne weitres begreifen!
Du, ich warne dich, Luz«, rief im Tone des treuen Verwandten,
des erfahrenen Mentors, die Stimme erhebend, der Onkel.
Doch er dämpfte sie gleich: »Sie hat einen bösen Charakter.
Darin kenn' ich mich aus! Wofür hätte man seine Erfahrung!« –
»Nun«, sprach Luz, »das mag sein, wie es wolle;, es fehlt mir an Neigung,
Onkel, und an Beruf, mich aufzuwerfen als Richter
über jemand, der mich im Grunde genommen ganz kaltläßt.«
Dies antwortete Luz. So log er mit eiserner Stirne,
selbst im Tiefsten erschreckt durch den Judasverrat seiner Liebe,
den er zynisch verübt. Indessen, er hätte den Onkel
gern mit Inbrunst umarmt für seine entzückende Warnung.
Zweierlei ging hervor aus ihr: daß der ältliche Landwirt
es für möglich erachte, es könne die schöne Elevin
den Gedanken wohl fassen, nach ihm ihre Netze zu werfen.
Eifersüchtige Furcht und die Absicht sodann, einen Ausgang
diesem ähnlich durchaus auf jedmögliche Art zu verhindern!
Ja, es hatte der Onkel wahrhaftig sich gründlich verplappert!
Luz sprang auf und verdutzte den Warner durch lautes Gelächter.
»Warum lachst du denn?« ward er gefragt. »Das Ding ist sehr ernsthaft«,
hieß es weiter, »mit solchen Vampiren, mein Kind, ist schlecht spaßen.

Höre, du nimmst das Ding viel zu leicht, guter Junge, ich will dir
mal erzählen, warum ich bis heut auf die Ehe verzichtet.
Wie das Mädchen geheißen, das tut nichts zur Sache. Wir waren
rund drei Jahre verlobt, und da kannt' ich denn freilich am Ende
meine Ware von innen und außen und allen vier Seiten,
denn die Katze im Sack zu kaufen war nie meine Schwäche.
Bitterlich hat sie geweint, doch es half nichts, ich gab ihr den Laufpaß.
Und warum? Lieber Gott! Sogar meine selige Mutter
stand auf der Seite der Braut. Sie war ja das Kind guter Leute,
und es stand auch durchaus eine leidliche Mitgift in Aussicht.
Kurz, sie war mir nicht schamhaft genug, und sie war mir zu sinnlich.«
Mehrmals lachte der Neffe bei dieser Erzählung des Onkels.
Jener hatte die Pfeife gestopft und tat sie in Brand jetzt.
In der Pause nun redete Luz: »Was soll das bedeuten?
War deine einstige Braut dir nicht treu? Ging das Blut mit ihr durch, wie?« –
»Nicht im mindsten, sie war mir in jeder Beziehung ergeben,
hing an mir, lief mir nach, war gehorsam. Ich konnte verlangen,
was ich wollte, sie war wie ein Lamm und ließ alles geschehen.
Aber grade das war der Grund der Gründe zur Trennung.
Lieber ein armer Schlucker von Junggesell zeit meines Lebens,
eh ich nehme ein Weib zur Ehe, das nicht unberührt ist!« –
»Also, Onkel, verzeih«, sprach der Neffe, »mit deiner Erlaubnis
und mit vollstem Respekt gefragt: sie war nicht mehr Jungfrau,
als ihr euch kennengelernt, und du hast das erst später erfahren?« –
»Wie, bevor sie mich kennengelernt, nicht mehr Jungfrau das kleine,
sechzehnjährige Lieselchen Schütz? Aber Liebster und Bester!
Damals glaubte sie noch ganz fest, es würden die Kinder
aus dem Lehmteich geholt, hinterm Armenhaus, durch die zwei Störche,
die ihr Nest sich gemacht beim Rudolfbauer, der ihnen
ein gewaltiges Rad auf dem Giebel der Scheune befestigt:
unbescholtener war und auch ahnungsloser kein Schäflein!
Oder hältst du mich allen Ernstes für fähig, mein Bester,
mich mit einer Person, die Vergangenheit hat, zu verloben?« –
»Lieber Onkel, du siehst mich verdutzt, ja, es ist mir zumute
so, als wär' ich nicht ganz mehr, hier oben, bei klarer Besinnung.
Du verlobst dich mit einem Kinde, das keusch und das treu ist,
dir allein nur gehört. Und dann nach drei Jahren, in denen
sie wie Gold sich bewährt, da meinst du …? Ich kann's nicht begreifen!«
Und der Onkel: »Bewährt! Daran hat es ja eben gemangelt.
Dazu fehlte dem Mädchen die Kraft, und so ist sie gefallen.
Ein gefallenes Mädchen ist jedermanns Beute, doch niemals
nimmt ein Mann, der sich achtet, ein solches Geschöpf sich zur Ehe,
gründet auf solche Geschöpfe mitnichten Familie und Hausstand.« –
»Ach, ich werde verrückt, ich bin fällig für Leubus; denn, Onkel,
immer hör' ich von einer Jungfrau, die keusch und die treu ist,
und dann nennst du dieselbe mir unkeusch und eine Gefallne.«
So rief Luz und drückte die Handflächen gegen die Schläfen.
»Hab Erbarmen mit mir, Onkel Just, denn du treibst mich zum Wahnsinn.« –
»Würdest du dich mit einem Mädchen fürs Leben verbinden, mein Junge«,
sprach mit ruhigem Ernst, an der Pfeife saugend, der alte
Schwerenöter, »das dir in der Nacht nach dem Tage der Hochzeit
etwas Neues nicht mehr zu geben hat, weil sie dir alles
längst geschenkt? Und du alles und noch was schon längst im Besitz hast?
Mache du ein entsetztes Gesicht, Luz, ich will dich nicht hindern,
wenn ein ähnlicher Fall dir in Zukunft mal blüht und du etwa
Obst, das wurmstichig ist, für gesundes zu speisen geneigt bist.
Denkst du laxer in Sachen Moral, Freund, ich will dich nicht stören.
In dem Punkt bin ich streng und von strengster Moral ohne Gnade.« –
»Ich empfand«, sagte Luz, »in der Tat eine leise Verblüfftheit
über die Wendung, die deine Erzählung so plötzlich genommen.
Du hast also das Mädchen verführt, und weil sie gehorsam,
voll Vertrauen sich dir überließ, voller Liebe sich hingab,
darum ist sie vor dir entehrt, zur Gefallnen geworden?
Hier versagt mein Verstand. Und daß er versagt: es ist gut so!
Kein Vergnügen gewährt's, ihn auf ein Verfahren zu lenken,
das die Marke der Schurkerei so frech an der Stirn trägt!« –
»Nun, dein Ausfall ist stark, und du hast dich vergriffen im Ausdruck,
doch du meinst's nicht so schlimm, bist auch darin der Sohn deines Vaters.
Sachte, sachte! Wie oft, wenn er tobte, Luz, ich ihm das zurief!
Du verstehst nichts von Weibern: das Weib ist das Werkzeug des Satans.« –
»Wohl, so war Lieschen Schütz dein Werkzeug, und du warst der Satan:
dabei bleibt es, und das ist in dieser Geschichte mein Standpunkt«,
sagte Luz. Und der Onkel, erst ernst und dann plötzlich geschmeichelt,
kurz auflachend sodann und wieder sodann und noch einmal,
sprach: »Das geb' ich dir zu und will ich am Ende nicht leugnen,
weitaus besser als ich ist unser Herr Jesus! Ich bin ein
Sünder oftmals gewesen und bin es zuzeiten auch heut noch.
Und den gepfefferten Satan zu spielen gelang mir meist prächtig.«

 

Siebenter Gesang

Doch es pochte. »Herein!« rief Luz. Und da stand Onkel Schwarzkopp
mit dem strohigen Haar, voll Sommersprossen das Antlitz,
durch die goldene Brille heräugelnd mit lustigen Blicken.
»Nun, das ist recht, ihr seid fröhlich. Gott liebt ja die fröhlichen Herzen«,
sprach er und setzte hinzu: »Ich komme, Luz, um dich zu fragen,
ob du mit mir einen Gang in die Felder zu machen geneigt bist.« –
»Ja, mit Freuden«, log Luz. Ihm war der Gedanke entsetzlich,
sich vom Haus und vom Hof entfernen zu müssen, wo Anna
war und Hoffnung bestand, sie zu sehn oder ihr zu begegnen.
Doch was half's? Er stand auf, man trank in der Eile noch Kaffee,
und bald schritt er dahin mit dem heiter plaudernden Landmann,
dem entlegensten Felde der Ortsgemarkung entgegen.
Und der Onkel weist hin auf die grünenden Breiten des Landes,
lobt den heiteren Tag und den schwellenden Segen der Feldfrucht,
den allmächtigen Gott, der dies alles so herrlich gemacht hat.
Und bei alledem denkt der Neffe: Ich sehe wahrhaftig
auf der Erde und in der Luft kein Ding, das mich anzieht.
Nein, mich geht dieses alles nichts an, denn was kann es mir nützen,
wenn ich in Allem ein Nichts und in Einem das Alles erblicke!

Endlich war man am Keu, dem Ackerfleck, welchen der Onkel
heute zu inspizieren sich vorgesetzt. Heu stand in Haufen
auf der gemäheten Wiese, die groß und baumlos und flach war.
Schwarzkopp nahm von dem Schober und prüfte und fand es zur Einfahrt
reif. Er sagte: »Nun weiß ich Bescheid, und nun können wir heimgehn.«
Hei, wie war doch mit einem Male die Landschaft verändert,
paradiesisch und hoffnungsgrün, als man wieder die Richtung
gegen Rosen genommen. Man lebte jetzt auf, ward gesprächig …
So nicht wechselt im Monat April, nicht so plötzlich, das Wetter
als in der Seele, die liebt. Die Welt lag im Glanze der Hoffnung
nun aufs neue für Luz, und die Gegenwart schien ihm erträglich.

»Ja, das Keu!« so begann er erheitert. »Nun hab' ich's doch einmal
wiedergesehen. Es ist ja im Grunde ein Fleck wie die andern;
steht man aber darauf, wird's einem doch seltsam verständlich,
daß im Lande herum er bei allen so arg im Verruf steht.«
Stille stand auf dies Wort – noch traten die beiden den Keugrund –
jetzt der Landmann und sprach: »Mein Guter, das magst du wohl sagen.
Was hier einmal geschehn sein mag, nun, das weiß der Allmächt'ge.
Doch es gibt eben Orte, die tragen den Bann der Verfluchung.
Niemand sieht dieser Wiese es an, und was war auch zu sehen?
Denn sie ist ja in nichts von den andren ringsum unterschieden,
und doch wird einem stets in der schweigenden Luft hier zumute
so, als ob man sich doppelt dem gnädigen Vater im Himmel
grade hier an das Herz zu legen Grund hätte. Und wär' ich
Katholik, lieber Luz, ich schlüge hier stets die drei Kreuze.«

Schwaches Hundegebell erscholl ringsher von den Dörfern,
auch der Lerchengesang drang nur schwach zu der Gegend des Feldflecks,
ganz als wären die Vögel beauftragt, die Wiese zu meiden.
Nur ein Kiebitz umflog in der Nähe sein Nest, seine Stimme
mit dem Fluge bald senkend, mit diesem auch wieder erhebend.
Kläglich war die Musik, eine Künderin ewiger Trübsal.
»Ja, da hätten wir nun ein Gebiet«, sprach belebter der Onkel,
als das verrufne Feld erst im Rücken lag, »wo sich die Geister
wohl entschiedener trennen als sonst auf den meisten. Und richtig
ist es: Vorsicht erheischt jede Frage, die dunkle Gebiete,
solche, die Gott uns verbarg, betrifft, denn leicht fällt man in Sünde.
Immerhin bleibt bestehn, von unzähligen Zeugen bestätigt,
daß ein gespenstisches Pferd sich, ein Schimmel, des Nachts auf den Dörfern,
und zwar immer vor einem bedeutenden Unglück gezeigt hat.
Von hier komme das weiße Pferd, wird gesagt, nach hier kehre
es auch wieder zurück. Allerdings, ich selbst sah es niemals
und begehre es auch, so es Gott gefällt, nimmer zu sehen.«
Und der Onkel ward blaß bis unter die Wurzeln des Haares.

Oh, er spukte gewaltig in Rosen, der Keuhengst. So nennt man
überall das Gespenst. »Ich selbst«, sagte Luz, »glaubte mehrmals,
es zu sehen des Nachts, wenn ich einsam im Dorfe heraufkam,
um die Tagelöhner des Guts aus den Federn zu holen.
Bei dem Kretscham erschien's, an dem unteren Ende des Dorfes,
Augen hatte es wie Rubin, und es flog seine Mähne
weiß im Mondschein, indes es sich bäumte, aus feurigen Nüstern
Funken schnaubte, bis es in rasendem Laufe herankam.
Eingebildet natürlicherweise war diese Erscheinung,
doch es war meine Phantasie in der nächtlichen Stille
so erregt, daß ich oft von der gleißenden Rennbahn der Straße
schnell zurück und beiseite mich drückte ins Dunkel der Büsche,
um vorüberzulassen den milchig schimmernden Keuhengst.«
So sprach Luz. Und es stand nun abermals stille Herr Schwarzkopp,
sah dem Neffen ins Auge mit tiefer Bewegung und sagte:
»So, wie du jetzt es schilderst, erblickte drei Tage vor Erwins
unerwartetem Hingang der Gutsschreiber Brinke – es war die
Nacht von Mittwoch zu Donnerstag, frühe am Sonntag starb Erwin! –
das Gespenst, diesen Keuhengst. Du kennst ja den Gutshof von Lohnig,
wo ich damals noch saß in der Pacht. Der Spuk kam vom Keu her
durch das hintere Tor, er durchsprengte den Hof und verließ ihn
durch das vordere dann. Der Gutsschreiber Brinke indessen,
der am Morgen sogleich sein Erlebnis Julien erzählte,
konnte lange sich nicht von dem nächtlichen Schrecken erholen.
Und nach dem, was mit Erwin geschah binnen kurzem, wer mag's ihm
da verdenken, wenn er von der Wahrheit des Spuks überzeugt ist.«

 

Achter Gesang

»Sag doch, Lieber«, sprach heut Onkel Schwarzkopp über dem Schachbrett,
als er eben die dritte Partie an den Neffen verloren,
»sag doch, bitte, wie stehst du denn eigentlich jetzt mit der Dichtkunst?«
Gutgelaunt kam die Frage heraus. Schwarzkopp liebte das Necken.
Und es lachte der Onkel, es lachte der Neffe, es lachte
selbst die Tante kurz auf, die am Stickrahmen saß. Es war Abend,
Schlafenszeit, und es gaukelten rings um die brennende Lampe
Falter, trunken vom Licht, das ihnen die Flügel verbrannte.
»Gut, recht gut«, gab der Neffe zurück, und zwar fest und mit Freimut.
»Mit der Muse der Dichtkunst steh' ich auf freundlichstem Fuße,
und du hast dich beträchtlich geirrt, als du deinem Eleven
ganz entschieden dereinst das Drechseln von Versen verboten,
weil in den Schnitzeln, die du gefunden, kein Funke Talent sei.
Nein, ich habe Talent, und ich will es euch gleich auf der Stelle
schwarz auf weiß – nämlich wenn ihr ein bißchen Geduld habt – beweisen.«
Ja, man wollte geduldig sein, und so rückten denn alle
um die Lampe. Auch Just war zugegen, vor allem auch Anna,
eifrig nähend und keinen Blick von der Arbeit verwendend.
Und Luz nahm aus der Tasche ein kleines vergriffnes Oktavbuch,
ehmals grünmarmoriert der Deckel, im Innern bekritzelt,
brav beschmiert und bekleckst überall, und begann draus zu lesen,
frei und klar und voll Mut, was nur ihm zu entziffern vergönnt war.
Luz, du warest sehr stolz auf das, was du lasest. Es waren
sogenannte Gesänge, und zwar ihrer zwei, die du selber –
beim allmächtigen Gott, wag' jemand es dir zu bestreiten! –
hingezaubert, aus nichts hervor, zu poetischem Dasein.
Und du zweifeltest nicht, mein Liebling, es würde dir glücken,
dem unsterblichen Paar anzureihen die andern Gesänge,
die das unsterbliche Werk noch zur letzten Vollendung verlangte.
Damit war aber dann dein unsterbliches Schicksal entschieden,
und, bisher nur verhüllt, trat dann deine Epiphanie ein.
Wer alsdann dich zu sehn noch Verlangen trug unter den niedern
Kreaturen – das waren doch eben die sterblichen Menschen! –
mußte das Auge zugleich zum Himmel erheben und schützen
mit der Hand vor dem Glanz, der unsterblich von dorten herabbrach.
Also sah er den Thron des Homeros und ihn, der darauf thront,
ein unsterblicher Zeus! Ihm zur Linken den Thronsitz Vergilens.
Und den dritten! – Genug – man weiß es ja längst, wem er zusteht.
Ja und abermals ja: drei gewaltige Sonnen der Dichtkunst
mit unsterblicher Lichtgewalt, so getrennt als dreieinig,
würden die kommende Welt mit unsterblicher Schönheit beglücken,
wenn der Schlußpunkt dereinst unter Luzens Gesänge gesetzt war.

Ehrlich sei der Chronist: es machte die Dichtung Luz Holtmanns
auf den Kreis seiner einfachen Hörer entschiedenen Eindruck.
»Hermannslied« war das Epos betitelt von seinem Erzeuger,
Held der berühmte Cherusker natürlich, der einstmals den Varus
schlug aufs Haupt und die Römer vertrieben und Deutschland befreit hat.
Und er hörte die Harfen der Barden, solange er vorlas.

Also war er nicht übel zufrieden, der Dichter, mit seiner
Wirkung. Eins war gewiß: man war überrascht, und man hatte
ihm dergleichen nicht zugetraut, niemals, nicht im entferntsten!
Andres aber erfüllte mit innerster Wonne den Jüngling:
daß zwei Augen auf ihm unablässig, voll Spannung, gehaftet,
als er las, und es gab auf der weiten, bevölkerten Erde
nicht noch einmal ein Paar solcher Augen, so nixenhaft schillernd
nicht und nicht so durchgleißt von eisig verzehrendem Feuer.
Freilich las er allein für sie, der diese zwei Augen
angehörten, es galt auch um ihretwillen allein ihm,
was die übrigen ihm an Beifall gespendet. Es traf sich
gut, daß Luzens Gedicht zunächst die heroischen Falten
nicht um Hermann schlug, den Cherusker, sondern um eine
Marsin, ein herrliches Mädchen natürlich, von »göttlicher« Schönheit.
Diese schildernd, mit vielen Worten, hochtönenden Schalles,
war ihm einmal, zweimal vergönnt, mit flüchtigem Aufblick
den zwei Augen zu sagen, wem einzig-allein dieses Lob galt.
Und sie senkten sich nicht, die zwei Augen. Das heiligste Antlitz,
horchend blieb es auf ihn geheftet, und Mittel und Wege
hatte nun das Gefühl, das übermächt'ge, auf einmal
sich, verborgen in Glut und Begeisterung, der zu verraten,
der es lohte, von der es die himmlische Nahrung empfangen.

Onkel Just, er stand auf, als man noch mit dem eben Gehörten
sich befaßte, und sagte in nüchternem Tone zu Schwarzkopp:
»Höre, Schwager, mir fällt eben ein, wir brauchen für morgen
unbedingt das verborgte Faß, morgen müssen wir jauchen,
denn die Grube läuft über, es bilden sich Pfützen im Hofe.
Ach, verzeih, lieber Luz« – er lacht nicht selten ein wenig
hämisch –, »ich reiße dich da, wider Willen, aus höheren Sphären«,
damit wandte er sich an den Dichter, »doch was ist zu machen?
Schließlich lebt ohne Verse der Mensch, während Brot und Kartoffeln,
Rindfleisch, Speck und so fort unerläßlich ihm sind für sein Dasein.
Und der Dung, wie du weißt, ist das lauterste Gold für den Landmann.«
Luz gab dies ihm zurück, und zwar ohne Besinnen: »Das Gillfaß
sei dir gerne gegönnt, lieber Onkel, und fülle mit Gold es
bis zum Rande und mache zum Segen der hungernden Menschheit
auf den Spund wiederum und so das Flüssige flüssig!
Aber komm nur der Klaviatur nicht zu nah und dem Flügel!
Und es fahre der Knecht nicht etwa damit durch die Kirchtür!«
Lärmend entfernte sich Just und gezwungen auflachend, die Worte,
die Luz eben gesprochen, geflissentlich ganz überhörend.

Doch es lachten, wenn auch nicht laut, so Tante als Onkel,
und fast schien es, als gönnten sie Just die gelungene Abfuhr.
Anna Wendland blieb stumm. Sie erhob kaum den Kopf von der Arbeit.
Luzen aber kam nun ein überaus seltsamer Einfall:
Wag' ich jetzt einen kleinen Betrug und erkläre zum Beispiel,
daß ich Rosen wahrscheinlich schon morgen müsse verlassen,
so erwägt er, dann wird Anna Wendland, sofern sie mich gern hat,
unvermeidlich beinah, eine kleine Enttäuschung verraten …
Wie gedacht, so getan, und so sprach er sogleich und voll Frechheit,
mit dem sichren Instinkt der Liebe auswerfend die Schlinge:
»Leider, leider wird meines Bleibens wohl morgen ein Ende
sein. Ich fürchte, es bringt der Briefträger morgen die Nachricht,
daß …« Hier kam er nicht weiter. Wie wenn man den Arm sich erschellet,
so erschellt, fast betäubt, war der Leib, war die Seele des Jünglings.
Funken tanzten, und taghell leuchtete ihm vor den Augen
auf und abermals auf ein paradiesisches Blitzlicht.
Und es tauchten darin Gestalten auf, selige Knaben,
diamantne Noten absingend von goldenen Rollen.
Und Luz lebte nun nicht mehr im Elemente des Luftmeers,
sondern einzig und nur allein im Gesange der Engel.
Und was sangen sie denn? Sie sangen in ewigem Echo
nur ein einziges Wort, triumphierend, das Anna gesprochen …
Nein, es waren ja zwei verräterisch köstliche Worte:
»Ach!« und »Schon?«. Nur »Ach, schon?« hatte Anna gesprochen. Der aber,
gnadenlos sei er gestürzt in die schwärzesten Schlünde der Hölle,
der eine Silbe, geschweige ein Wort dieser zwei unterschlüge:
niemals werde er selig, er sterbe gewaltsamen Todes!
»Leider, leider wird meines Bleibens wohl morgen ein Ende
sein. Ich fürchte, es bringt der Briefträger morgen die Nachricht,
daß …«, so lautete Luzens höchst lügenhafte Vermutung.
Da erklang erst ein »Ach!«, in dem Schreck und Bedauern sich malte,
dann ein fragendes »Schon?« mit dem Stimmklang wahrer Enttäuschung.
Anna hatte die Worte gesagt, niemand anders als Anna.

 

Neunter Gesang

Wie voll Ungeduld heut ging zu Bette Luz Holtmann! Wie waren
ungeduldig und wild seine hoffnungsbeflügelten Träume!
Seine Wünsche, im Schlaf selbst, sie stürmten wie feurige Rosse
durch die hemmende Nacht und der Sonne des Tages entgegen.
Und da war er, der Tag, von der gestern empfangnen Gewißheit
doppelt hell und durchaus von glückseliger Ahnung beladen.

»Wie gefällt dir denn eigentlich Anna?« so fragte der Onkel
Just, von draußen hereingekommen, als Luz sich erst anzog. –
»Oh, es macht sich. Warum denn auch nicht: sie gefällt mir ganz leidlich«,
gab zur Antwort ihm Luz und seifte sich über dem Waschtisch. –
»Ach, die Gute, was hat sie wohl gestern gedacht, als du lasest?
Nichts, wie immer, so fürcht' ich«, dies sagte nun weiter der Onkel.
»Nichts versteht sie, rein nichts! Und so hat sie, ich schwöre, auch gestern
ganz so vieles von deiner nicht unebnen Dichtung verstanden.« –
»Das kann sein und auch nicht«, sagte Luz, »und wer will es entscheiden?« –
»Nein, es ist«, sagte Just. »Trotzdem bleibt sie nicht minder gefährlich.
Ist ein Weib gut gebaut und hat jugendlich üppige Schenkel,
hat sie Waffen genug, um die Klugheit des Manns in die Winde
mir nichts dir nichts zu blasen. Und Anna ist wirklich ein Vampir.«
Fröhlich lachte da Luz und gradezu etwas triumphhaft.
Unbeirrt fuhr Just fort: »Oh, das scheint mir bei Anna sehr möglich.
Und so kann man sich schließlich und endlich nicht einmal mehr wundern,
wenn ihr etwas bigotter Herr Vater, der Rechnungsrat Wendland,
zu der Meinung sich neigt, Anna habe den Bösen im Leibe.« –
»Ich verbitte mir das«, sagte Luz, »das ist Unsinn und Frechheit,
so von dir, Onkel Just, als dem würdigen Herrn Kanzleirat.
Laß, ich bitte dich, solches Geschwätz, denn es ist mir zum Ekel.« –
»Braver Junge, du denkst wohl an mich zurück eines Tages«,
sagte Just, »wenn der Rat mit zwei dicken Aposteln hier einschneit,
zu dem Zweck, aus dem sündigen Körper der Tochter den Satan
auszutreiben: man ist ja doch fest überzeugt, daß er drinsteckt.« –
»Onkel Just«, rief der Neffe, »ich habe den Finger im Ohre,
höre nichts, was du sprichst, also bitte, du läßt es jetzt gut sein!« –
»Wer will wissen«, schloß Just, sich mit bitterem Lachen entfernend,
»ob man's am Ende nicht gar für nötig erachtet, um Anna
aus den Klauen des Teufels zu retten, sie einem der Brüder
anzutrauen und so ihr den Weg in den Himmel zu ebnen.«

Anna liebt mich! Ich weiß es, ich habe es gestern untrüglich,
ganz untrüglich gefühlt: so jubelte Freude in Luz jetzt.
Niemand macht mir mehr Angst, nicht mit Vätern und nicht mit Rivalen.

Ach, es traf bald darauf die Blumen der gläubigen Hoffnung
ein gewaltiger Frost, und Anna war's, die ihn hervorrief:
Kälte hauchte sie aus, wie noch kaum bei der ersten Begegnung,
und so blieb es, sooft man sich traf, im Verlaufe des Tages.
Mehr! Es schien dem gepeinigten Jüngling, sie mied ihn mit Absicht;
wo dies aber mißlang, so traf ihn kein Blick, und man mußte
meinen, sie sähe ihn nicht und wolle auch nicht ihn bemerken.
Was ist das, dachte Luz, wie kann sich ein Weib so verändern?
Gestern so und heut so. Die untrügliche Sprache des Herzens
gestern, heute dafür ein verschlossenes Wesen, fast feindlich.

Du bist grausam, sann Luz, dessen Innres ein einziger Schmerz war,
eine Spannung voll Pein, du bist grausam, nicht weil du so kalt scheinst,
sondern weil du in deiner kalten Verachtung so schön bist.
Furchtbar bist du und grausam, allein durch das Gift deiner Schönheit,
das den Willen mir lähmt und den Körper in Fesseln dahinwirft.
Sieh, hier lieg' ich, nur noch jedes Winks deiner Wimper gewärtig.
Töten kann er und kann mich höher beglücken als Gott selbst.
Willst du, sag' ich ihm ab für ein einziges leises Berühren
deines Scheitels, den Herrgott und Vater und Mutter verleugn' ich.

»Lieber Luz«, sagte nach dem Kaffee Onkel Schwarzkopp zum Neffen,
»ist's dir recht, und fast mein' ich am Ende, es sei dir willkommen,
einen Gang aufs Dominium Lohnig mit mir nach der Vesper
anzutreten? Ich muß hinüber, von Wirtschafter Schröder
etwas über den Stand unsres Mumienweizens erfahren.
Siebenährig, du weißt, ist der Halm und gewaltig ertragreich.« –
»Ganz gewiß«, sagte Luz, »mit Freuden!« Und dachte im stillen:
Wie entsetzlich! Ich hass' ihn, er raubt mir unschätzbare Stunden,
schleppt lebendigen Leibs mich fort in die Öde des Todes,
aus dem Bereich des Gestirns, von dem ich, es durstig umkreisend,
als ein Gnadengeschenk mein schmerzliches Dasein erhalte.
Doch was half es, es kam die Vesper, die Stunde des Aufbruchs,
und durchs obere Tor des Hofes mit rüstigen Schritten,
dem Gerichteten gleich der Neffe zur Seite des Onkels,
zog das ungleiche Paar von dannen, hinaus in die Feldflur.
Diesmal war man indes nicht lange gewandert, als Luzens
Brust der Zauber verklungener Tage und Stunden in Bann schlug.
Auch der Onkel war ernst und, je mehr man der einstigen Pachtung,
dem Dominium Lohnig, sich näherte, mehr und mehr wortkarg.
Denn dort hatte er sechzehn köstliche Jahre im höchsten
Glück der Liebe und Ehe verbracht, davon dreizehn mit Erwin.
Welche Wandlung! Wie fremd heut im Feld liegt der Dominialhof!
Kurz, wie kurz ist der Weg! Nicht einmal ein Stündchen von Rosen
liegt die Herrschaft entfernt, und zwar wenn man gemächlich zu Fuß geht.
Weit, wie weit ist der Weg nach dem lieblichen Orte der Kindheit,
wo Frau Julie munter geherrscht und in tätigem Frohsinn,
nicht dieselbe wie heut, wahrhaftig, nein, eine ganz andre.
Diese andre, sie glich der von heut wie der Mai dem November.
Alles blühte an ihr und in ihr, und man kam, dieses Blühen
der bewunderten Frau zu genießen, von weit her im Umkreis.
Darum ward auch das Gutshaus von Gästen nicht leer: gern gesehen
und an Seele und Leib von den Wirten aufs schönste erquicket.
Oh, wie weit ist der Weg nach dem Hause! Du kämest dorthin nicht,
ob du dreimal die Erde umkreistest auf eigenen Füßen.
Wohl, ein ähnliches steht, denkt Luz, auf dem Dominialhof,
doch mich schaudert schon jetzt vor diesem Gespenst des entschwundnen.
Weh ward Luzen ums Herz. Wohl stand er im Zeichen der Liebe
hoffnungsvoll! Und er war im Grunde durchaus nicht verzweifelt.
Allgewaltig war das Gefühl, und nicht möglich zu denken,
daß dies Wunder in ihm ganz nutzlos solle gewirkt sein.
Trotzdem ward, wie gesagt, ihm wehe ums Herz. Es ergriff ihn
gleichsam Urweh. Wie hinfällig war, wie vergänglich doch alles!
Täuschung jeder Besitz, wie er sterblichen Menschen gewährt ist.
Vieles lockt uns, und greifbar ist manches, doch haltbar durchaus nichts,
und mit allem Besitz ist Verlust untrennbar verbunden.
Stündlich wirst du geboren, und stündlich auch rührt dich der Tod an.
Ich bin jung, und sie nennen mich jung! Doch wie alt komm' ich selber
wohl mir vor, wenn ich bei mir selber im stillen erwäge,
was nicht alles ich überlebt und was alles besessen!
Eine Welt! Oder nicht? Besaß ich am Ende sie niemals?
Und so wären denn nur eben Schatten zu Schatten geworden?
War sie wirklich, die Welt, nun, so ist es dasselbe: zerschmolzen
ist sie, ein Wölkchen, in Luft, und so hab' ich sie sehen dahingehn.

Man erreichte nun bald die wenigen Hütten von Lohnig,
die gedrückt und verarmt das Haupttor des Gutshofs umlagern,
Bettlern gleich, die, gewohnt an die Schwelle der Reichen, ihr Dasein
dort verbringen, gewärtig des Brockens, gewärtig des Fußtritts.
Bald dann stand man im Tor und verließ die gesegneten Fluren,
die, in weiten Gewenden sich dehnend, mit wogender Fülle
drängend gleichsam die Insel des Herrenhofes umspülten,
so als könne die Flut, die köstlich duftende Halmflut,
trächtig heiliger Frucht, es kaum noch erwarten, in Bansen,
Speicher, Keller und Faß sich in rauschenden Güssen zu stürzen.
Doch noch war es zu früh. Indessen vertrieben die Lerchen,
wie von ordnender Hand verteilt unterm brütenden Himmel,
einer werdenden Schöpfung die Zeit mit geschwätzigem Trillern,
zur Geduld unermüdlich und hastig und dringlich ermahnend,
daß man müsse den Tag der Reife geduldig erwarten.
Und Luz mahnte sich selbst zur Geduld aus dem gleichen Betrachte.
Denn es gor ja in ihm, und er hoffte auf Frucht, doch das Korn war
noch nicht sichtbar, geschweige reif, und er hätte so gern doch
goldne Lasten davon der Geliebten zu Füßen geschüttet.

Mit dem Wirtschafter Schröder – man hatte sogleich ihn gefunden –,
einem bärtigen Mann voll Weichheit, der heiser und leis sprach,
schritt man jetzt durch den Hof, der noch immer in stechendem Licht lag,
ob die Sonne auch schon vom Zenite mitsachten herabstieg.
Und bald drehte der ernste Mann, der den Hof für die Schulzens
nun betreute, den Schlüssel herum in dem Türschloß des Hauses,
das so fröhliches Leben in Gott noch vor kurzem beherbergt.
Innen hallte es laut, als schnappend der Riegel zurücksprang.
Luzen klang es als wie ein Getös in gruftartiger Höhlung,
ein Signal für Gespenster, daß Menschen sich nahten und es nun
höchste Zeit, zu entfliehn und sich da oder dort zu verstecken.
Und wahrhaftig, es flog den Besuchern entgegen ein Grufthauch,
als sie hallenden Schritts die Ziegel der Hausflur betraten.
Unbewohnt und als Speicher benützt war das liebe Gebäude,
staubig roch es und dumpf und kellrig. Man kriegte das Frösteln.
Gleich vom Eingange rechts lag die Küche. Sie stand weit geöffnet.
Fast bis zur Höhe der Platte des Herds war jetzt Weizen geschichtet,
und es hielt an der Tür ihn ein Brett, daß das Korn nicht herausrann.
Wie doch hatte einst dies Gewölbe so lustig gelärmet,
wenn von nah und von fern man gesellig im oberen Stockwerk
sich versammelt! Wie klang in den Pfannen das Fett, und wie klirrten,
von der Köchin bald da- und bald dorthin mit Eifer gerissen,
die vom lebhaften Feuer weißglühenden eisernen Ringe!
Kuchen lagen bereit für den Ofen auf knatternden Blechen,
und es mischten die Düfte von Mandeln und Zimt sich mit jenen
von Kaffee und dem Brodem der schmorenden Braten im Bratröhr.
Und es stieg in den Keller hinunter der Herr Oberamtmann
immer wieder, indes das Getrommel der Tritte der Mädchen
nie ermüdend im Dienst der Gäste treppauf und treppab lief.
Doch da stand ja der Onkel, als sei ihm dies alles entfallen,
schöpfte über das Brett aus der Küche den Weizen und hob ihn
an das bebrillete Auge herauf bis in dichteste Nähe.
Und es tat der Verwalter ein gleiches: sie brummelten beide,
daß es aussah und sich anhörte, als wären sie hier, um
dunkle Bräuche im Dienst Verstorbener so zu verrichten.
Danach stieg man die Treppe hinan in die obern Gemächer.
Da war jenes, wo Luz als Knabe geschlafen mit Erwin.
Feuchte Wände, zwei Schuh hoch der Boden beschüttet mit Roggen.
So das Zimmer, wo Onkel und Tante geschlafen! So jenes,
wo man aß! So auch das, wo Harmonium einst und Klavier stand!
Ein aufflammendes Holz gab Licht, bis der Wirtschafter Schröder,
knietief watend im Korn, einen Laden entriegelt und aufstieß.
Da ward's Tag! Von dem krachenden Lärme geweckt und dem Glanze
aber schwebten anjetzt im Kreise und lautlosen Fluges
Fledermäuse gleich Schatten umher der versunkenen Zeiten.

Waren bleiern die Füße Luzens beim Herweg, der Rückweg
fiel dem Eilenden leicht: sie scheinen beflügelt, sie lösen
sich vom Feldrain, vom Feldwege los wie im Tanz! Und nicht anders
ist dem Jüngling zu Sinn, als wäre nun plötzlich ein Festtag.
Freilich, alles ist ja in Wandlung: wo gestern das Leben
froh vertrauend geblüht, da war heute die Stätte des Todes.
Nein, nicht ganz! Nur in einem Betrachte! Es lag ja das Brotkorn
dort schon wieder bereit zur Aussaat, unsterbliches Leben
in geheiligter, winziger Kapsel von Golde bewahrend.
Und der Jüngling zerbiß ein Weizenkorn zwischen den Zähnen.
Freilich also: in Wandlung ist alles, und nichts ist beständig,
aber was auch gewesen und heut nicht mehr war: nun, es war doch
einmal. Und zudem: für den Lebenden gab's eine Zukunft.
Ja, man mochte vergehn und mit Freuden auf alles verzichten,
wenn man das erst genossen, was ahnender Liebe bevorstand.
Wie mit klingendem Spiel die Kapelle vom Grabe zurückkehrt,
so mit klingendem Spiel, voll Hoffnung, voll Glaube, voll Liebe,
schwebte Luz überfeld. Oh, es jauchzte in ihm ohnemaßen.
So wie so: er empfand es als sicher, es würde die Welt ihm
eines Tages gewiß ihre köstlichste Wonne gewähren.
Dann – man hatte gelebt, man konnte gelassen dahingehn.

 

Zehnter Gesang

Und ihm blühte ein Glück, unerwartet, noch heut, als er heimkam.
Abgebogen war dicht vor dem Gutstor der Onkel, zum Rechten
irgendwo noch zu sehn, und es würde um nichts in der Welt jetzt
nochmals Folge geleistet haben der Neffe. Ein Ahnen
trieb ihn, heiligen Zwangs, als gälte es nichts zu versäumen.
Ja, bei Gott, ganz allein, im Kanzleizimmer, saß Fräulein Anna,
hart am Fenster, das offenstand, und mit Nähen beschäftigt.

Als der Liebende nun betrat das Gemach, die Elevin
aber flüchtig empor das schlicht gescheitelte Haupt hob,
trieb's ihn an, so zu tun, als sei er enttäuscht und als hätte
er im stillen gehofft, unbesetzt den Kanzleiraum zu finden.
»Stör' ich?« fragte sogleich, bis zum Ansatz des Halses errötend,
Anna, »gern kann ich gehn und woanders die Arbeit verrichten.« –
»Nein«, rief Luz, »und es mag Gott im Himmel verhüten, daß ich Sie
je vertriebe durch mein Erscheinen, wo immer es sein mag!«
Hab' ich dies selber gesagt? dachte Luz und fühlte sich gleichfalls
tief erröten. Bemerkte es wohl oder nicht die Elevin?
Luzen schien es, als suche sie äußerst gelassen das Nähzeug
mit der Rechten zusammen, indem sie sagte: »Oh, bitt' schön.
Dunkel wird es ja doch, ich gehe hinauf in mein Zimmer.« –
»Bitte, tun Sie das nicht, denn Sie kränken mich schwer, Fräulein Anna,
wenn Sie's tun.« Und sie sprach: »Nein, bitt' schön, ich will Sie nicht kränken.«
Eine Stille ward nun in dem einfachen Raume, doch diese
ganz erfüllt mit Magie, sie glich irgendwie einer andren,
wie sie vor dem Gewitter die Seelen der Menschen belastet.
Ja, so dachte nun Luz, da sitzt man nun wieder im Schraubstock.
Die Gelegenheit ist nun da, und gleich wird sie vorbei sein.

Doch man ist wie gelähmt, und ein Knebel steckt einem im Halse.
»Kennen Sie Lohnig? Soeben komm' ich von dorther und bin noch
ganz benommen und traurig davon.« Somit hatte der Jüngling
das Gespräch doch eröffnet. Die Nähende fragte: »Warum denn?« –
»Nichts hat im Leben Bestand. Wo Erwin gelacht und ich selber
fröhlich war, ist ein Schüttboden heut, und die Mäuse und Ratten
wohnen dort, und vom Einst ist auch nicht eine Spur mehr zu finden.
Erwin! Haben Sie ihn gekannt?« – »Ich? Nein!« war die Antwort. –
»Dieser Junge war wirklich ein Engel vom Himmel.« – »Ich weiß es«,
sagte Anna. – Und dieses »Ich weiß es« traf Luz in die Seele.
»Glauben Sie mir«, fuhr er fort, »ich träume von ihm hier fast täglich.«
Anna sagte: »Auch ich« und bewegte dabei keine Miene.
Er ist tot, dachte Luz, und möcht' ich wahrhaftig doch tot sein,
könnt' ich in Annas Traum dadurch seinen Platz mir erkaufen.
Und er sagte: »Das Leben ist schal, und ich würde gern sterben;
aus der Nähe besehn, hat Erwin im Grund nichts verloren,
ebensowenig mein Freund, der vor etwa vier Wochen freiwillig
und mit klarem Entschluß aus dem nichtigen Leben davonging.«
Oh, was hab' ich gesagt, denkt Luz, womit hab' ich's versehen?
Denn es blickt die Elevin ihn an mit entgeistertem Ausdruck,
ihrem Antlitz entweicht die Farbe, und Blässe bedeckt es.
Danach senkt sie die Stirn in Verwirrung; es atmet gewaltsam,
heftig ringend, die Brust, Überraschung, ja Schrecken verratend.

»Habe ich Sie ohne Wissen verletzt? Wenn das ist, Fräulein Anna«,
so der Jüngling, »vergeben Sie mir, denn es liegt mir nichts ferner,
das bezeuge mir Gott, als wissentlich jemand zu kränken,
der mir wert ist wie Sie.« – »Es geht schon vorüber, es ist nichts«,
sprach das Mädchen, »ich habe mich nur eines Vorfalls erinnert,
eines Unglücks, das mir, ich kann es nicht sagen, wie nahging.«

Und sie schwieg. Als sie endlich sich faßte – Luz harrte betreten –,
sprach sie so, erst mit zitterndem Ton, doch allmählich die alte,
kühl gelassene Art zu reden sich wieder gewinnend:
»Wenn Sie wüßten, wovon Sie reden, es wüßten, wie ich's weiß,
ach, Sie würden gewiß vor dem eigenen Wort sich entsetzen.
Sie sind Freigeist, ich glaube an Gott, und ich weiß von der Sünde,
die selbst Gott nicht vergibt; also sprechen Sie nie mehr von Selbstmord!«
Darauf wieder log Luz: »Ja, was soll der, der sich bewußt ist,
ein nichtsnutziges Glied der Gesellschaft zu sein, der mit Recht drum
eine Niete sich zog!« Und die Näherin fragte: »Wer ist das?« –
»Blick' ich ehrlich in mich, so seh' ich des Bösen die Menge.
Und bezwäng' ich mich nicht, welche Scheußlichkeit könnte ich nicht tun!« –
»Aufs Bezwingen kommt's an«, sagte Anna. Und Luz schrak zusammen.
War dies Wort doch recht gut als gewichtige Warnung zu deuten.
Dennoch trieb's ihn, in sich noch weiter zu wühlen und dadurch
auch in Anna und so ihr verschloßnes Gemüt zu versuchen:
»Ach, wie fiel es noch eben in Lohnig mir auf das Gewissen,
wie grade ich Vetter Erwin gequält, der so rührend mir anhing.

Fügsam war er und gut, hingebend, von adliger Großmut,
und doch macht' ich ihn weinen gar oft, nur aus grausamem Antrieb,
um ihn weinen zu sehn …« Da wandte das Auge der Anna
Wendland Luzen sich zu mit kaltem, durchdringendem Schillern,
beinah grün wie Opal, und er schauderte förmlich zusammen.
»Nein, das haben Sie nicht getan, denn Sie sind gar nicht grausam.«
Und sie kehrte sich ab, indem sie das sagte, mit leisem
Nüsternzucken und einem kaum merklich sardonischen Lächeln.
»Doch«, so sprach er, »ich tat's, und heute noch habe ich Zeiten,
wo mich Reue nicht rührt. Und bei dem Allmächt'gen, ich weiß nicht,
was geschähe, sofern er wieder erschiene, um etwa
in den Weg mir zu treten und mich wie dereinst zu verdunkeln.«
Abgelöst ward dies Wort durch ein langes, bedeutsames Schweigen,
drin auf offener Bahn sich hüllenlos trafen die Seelen.
Er erhob sich und trat ans Fenster. In bleicher Erregung
nahm er Platz mit Entschluß, ihr dicht gegenüber am Nähtisch.
Hob das Mädchen den Blick von der Arbeit, sie mußte ihn ansehn.
»Warum quälen sich doch die Menschen«, so sagte er plötzlich,
»ohne Ursach' so viel? Sie brauchten doch schließlich nur wollen,
um einander ein Paradies schon auf Erden zu schaffen.«

Tiefer beugte ihr Haupt die Näherin über die Arbeit.
Aber einmal im Zug, fragte Luz: »Oder denken Sie anders?«
Und sie schwieg. Eine Weile zum mindesten, bis dann am Ende
doch die Antwort noch kam. »Es mag ja wohl sein«, sagte Anna,
»daß die Menschen sich vielfältig quälen und oftmals auch grundlos.«
Dabei hob ihre Brust sich, tief sog sie, beklommen, die Luft ein;
dann ausatmend, als ob sie von drückender Last sich befreie,
schloß sie: »Freilich, so ist's, davon wüßte mancher zu sagen.«
Sie hat Schweres gelitten, so fühlte jetzt Luz, wie schon früher.
Mitleid füllte ihn ganz. Von den eigenen Leiden begann er
zu berichten, um so sie mit sich zu reißen, womöglich
einen Gleichklang mit ihr, sympathetischen Geists, zu erzielen.
Wie die Schule das Rückgrat ihm hatte lädiert, das beschrieb er,
die Wahrhaftigkeit hatte sie ihm und den Freimut genommen,
eigenes Denken verpönt und abgestempelten Unsinn
einzukleiden versucht in das edle Organ, drin die edle,
hochgebietend und frei, die Vernunft zu thronen bestimmt sei.
Doch er hatte sich frei gemacht aus dem Joche der Knechtschaft,
sagend: selbst ist der Mann! und selbst ist der Mensch und sein selber
Herr ein jeder, befugt, seinen Wandel allein zu bestimmen.
»Welch unendliches Glück«, rief er aus, »ist die Freiheit des Geistes!
Wohl, es kann mir geschehn, daß ich äußere Fesseln erdulde,
niemand aber, vom Weibe geboren, nicht König, nicht Pfaffe,
kann mich zwingen fortan, mich irgendwie meines Urteils
zu begeben, beträfe die Sache auch Gott und den Teufel.
Gottes Weg zu den Menschen ist frei, er bedarf keines Mittlers:
darauf fuß' ich allein, auf ebendem Wege, der frei ist,
keinen duld' ich, der mir, wer immer, dabei in den Wurf tritt,
Pastor oder auch selbst ein kreuzbraver Apostel aus Herrnhut.«

 

Elfter Gesang

Anna hatte ihr Haupt zuweilen erhoben und Luzen
aufmerksam und mit prüfendem Auge gelassen betrachtet.
»Was Sie sagen, versteh' ich nicht ganz. Ich weiß nur, ich hatte
sechs Geschwister, als Mutter starb und ich dreizehn Jahr alt war.«
Also sprach sie und fuhr dann fort: »Ich war nämlich die Ältste.
Seit dem Tode der Mutter besorgt' ich für Vater den Haushalt
ganz allein. Das Gehalt war gering, und wir hatten kein Mädchen.
Manchmal ist das nicht leicht: sechs Geschwister, das Jüngste ein Säugling!
Denn sie war ja, ich meine die Mutter, im Kindbett gestorben.
Vaters Wäsche nicht mal wurde außer dem Hause gereinigt.
Ich beklage mich nicht … im Winter das Heizen zum Beispiel! …
Ich beklage mich nicht, doch gibt es Verhältnisse, die sich
unbezwinglich um einen herumtun: das fühlt man auch geistig.«
So, nun war es heraus. Und auf einmal fiel es wie Schuppen
von den Augen des Jünglings. Ein solches Gesicht trug das Schicksal
Anna Wendlands, und so sah die Sünderin aus, die nicht gut tat.
Und Entrüstung, vermischt mit unendlichem Mitleid, erhob sich
in der Seele des jungen Luz Holtmann. Mit Mühe nur hielt er
die Bewegung zurück, sie machte sein Antlitz erbleichen.
Er versuchte zu reden: da saß ihm ein Frosch in der Kehle,
wie man sagt, und er konnte nichts andres als külstern und hüsteln.
Nein, unmöglich zu sprechen und sich dabei nicht verraten.
Und Luz dachte: Was ist mit mir, und was tut sich in meinem
Innern? Und wie entstand dieser Sturm, der beinah mich umwirft?
Eben hab' ich geprahlt, es müsse sein eigener Herr sein
jeder Mensch, und nun packt es und wirbelt mich ohne mein Zutun.

Anna, Engel! Du schmählich Verkannte! Es ist ja Verkennung
das am meisten begangne Verbrechen des Alters am Geiste
der erwachenden Jugend. Mein Los war wie deines: Verkanntsein.
Wie man an dir sich vergeht, das aber ist gradezu ruchlos.
Wie, sie wagen's, sie wagen es, Anna, nachdem du die Jahre
deiner Kindheit dem Vater und deinen Geschwistern geopfert,
dich wie ein räudiges Schaf, ein verlorenes Lamm zu behandeln?
Dies geschieht, und dies kann geschehen, obgleich nicht ein leiser,
nicht ein leisester Zweifel an deiner Erzählung erlaubt ist,
weil, wie ich eben mit bitterster Wonne, Geliebte, entdecke,
du ein Mal der Wahrhaftigkeit deutlich an deiner Gestalt trägst.
Was ist dies für ein Mal? Oh, könnt' ich es küssen, oh, könnt' ich,
schönes Mädchen, dir deine armen, unförmigen Hände,
die so deutlich vom allerhärtesten Frone der Arbeit
zeugen, hüllen in köstlichste Seiden, und wieder enthüllen,
immer wieder und immerzu sie mit Küssen bedecken!
Diese Hände, oh, diese Hände, wer könnte sie ansehn,
ohne daß es ihn zwänge aufs Knie, um ein Herz zu verehren,
das so willig geopfert den Pflichten des Lebens die Schönheit?
Aber auch, wer verschlösse sein Ohr vor der schrecklichen Klage
dieser klagenden Hände? Anklagende Hände, es hört euch
einer, und sei immerhin mit Taubheit geschlagen die Welt auch.

Schweigend hatte an seinen Lippen genagt Luz, als, dieses
alles und noch viel mehr gebar an Gedanken und Worten
seine stürmende Brust: sie war aufgewühlt bis zum Grunde.
Und nun war sie gekommen, die heilige Stunde des Durchbruchs.
Oh, du Heiland, du Eros, du Gott, wenn nun etwa dein Reich kommt
und du etwa dich mir offenbarest, zur Rechten des Vaters,
und du denkest das Wehr vor dem Meer deiner Gnade zu öffnen,
daß es sintflutgewässerartig hereinbricht, bedenke,
daß ich nichts als ein tönerner, als ein zerbrechlicher Krug bin!
Anna, erbarme dich mein! Auf Erden nicht und nicht im Himmel
wardst du je so geliebt. Und bliebst du in ewiger Jugend
und erlebtest das Tausendjährige Reich Jesu Christi,
nie mehr wirst du, kein zweites Mal, solche Liebe erwecken.
Sprich ein Ja, wenn ich frage: Du Heilige, darf ich dich lieben?
Dieses Ja, dieses kleine Ja nur, es tilgt von der Erde
alles Leid, allen Gram, alle Ängste und Nöte und Mühsal,
und die Goldene Zeit, die noch jeder vergeblich herbeirief,
sie ist da. Und ich sage noch mehr: dieses winzige Jawort
tilgt, vernichtet mit einem Schlag die von Sünde verderbte
Erde, zaubert hervor das verlorene Eden, auf daß wir
wie dereinst uns darin glückselig und sündlos ergötzen.
Anna, hör meinen Ruf! Es nahet dein Sabbat. Hier bin ich,
dich zu mahnen, daß du nicht versäumest, was nie mehr zurückkehrt.
Sieh, auch ich, nicht als Bettler zu dir bin ich etwa gekommen.
Ich bin reich! Meine Brust ist ein Hort von unendlichem Reichtum.
Alles könntest du hinter dich werfen; besitzest du ihn nur,
ist vieltausendmal dir erstattet, was immer du wegwirfst.
Hier ist Liebe! Das Wunder der Liebe! Die Liebe! Verstehst du?
Heilig ist mir der Staub, den deine Sohlen berühren,
Brot bist du mir und Wein, bist Luft mir, bist Sonne, bist alles.
Sieh, ich bebe, ich bin eiskalt, und mir perlt auf der Stirne
etwas, das mir beinah wie Schweiß eines Sterbenden vorkommt.
Rühr mich an, und ich bin gesund, ja, und läg' ich im Sarge,
tot, und sprächst du zu mir: Geliebter! und nur eine Träne
tropfte brennend auf mich herunter, nicht würd' ich mehr tot sein.

Solches alles ward keineswegs mit dem Munde gesprochen.
Innen tobte noch immer sich aus und nicht hörbar dem Mädchen
dieser Sturm des Gefühls. Oh, hättest du lieber die Schleusen
doch geöffnet, mein Freund, anstatt erst die Probe zu halten!
Endlich warst du so weit, und du nahmst den entschlossenen Anlauf,
und noch waren die Massen genugsam im Flusse, wahrhaftig:
»Fräulein Anna, Sie haben mir da …«, so begann er auch wirklich,
»ein erschütterndes Schicksal enthüllt …« Nur bis hierher, nicht weiter
war die Rede gediehen, als plötzlich, gleichwie aus dem Boden
aufgestiegen … als Thea, die Waise, der Pflegling, vor Luz stand.
Und sie rief: »Sie sind hier, Onkel Just, komm, ich hab' sie gefunden.«
Und der Onkel erschien … und dahin war, vertan war die Stunde.

 

Zwölfter Gesang

»Luz, du hast ja geschrien im Traum«, sprach frühmorgens der Onkel,
»hast mich zweimal geweckt und ausführliche Reden gehalten.
Und ich hab' dich zurechtgerückt, denn du hingst mit den Armen
und dem Kopf, lieber Freund, kotzjämmerlich über den Bettrand.« –
»Ach, das macht wohl der Mond«, rief Luz, »die Nacht war ja taghell.«
Doch er war sich bewußt, daß der Mond nicht alleine die Schuld trug.

Und die Not war so groß, die Spannung und Stauung so mächtig
in der Seele des langgelockten, bezauberten Jünglings,
des verhaltenen Jauchzens so voll und verhaltener Tränen
war sein Herz, so voll heiligen Sturms und voll bitterster Ängste,
daß noch am selbigen Morgen die Schleuse der Seele entzweibrach.
Und es war Onkel Just, der nun einmal den Schlafraum mit Luzen
teilte, in dessen Gemüt die Beichte des Neffen sich ausgoß.

Schmunzelnd hörte er zu. »Ich sage dir, Onkel«, schloß Luz jetzt
einen langen Sermon, »ich kann dir nur sagen, ich liebe
Anna Wendland. Beachte dies Wort! Es hat viel zu bedeuten.
Dir vertrau' ich es an, weil ich weiß, daß du immer mein Freund warst,
von dir weiß ich gewiß, du kannst mein Vertrauen nicht täuschen.« –
»Lieber Neffe, ich denke wohl auch, dessen wirst du gewiß sein.« –
»Onkel Just, du hast eines Tages den Lauf einer Waffe
kurz entschlossen dir gegen die Schläfe gehalten …« – »Ach, nicht doch«,
unterbrach ihn hier Just, »ein Junge wie du muß verliebt sein.
Larifari! Was da Revolver? Womöglich gar Selbstmord!
Ich war alt und mein Leben vertan, und da hatt' ich wohl Ursach',
einmal mutlos zu sein und den Kopf, wie man sagt, zu verlieren.
Aber du – Gott bewahr' mich! Er ist noch kaum flügge, der Bartflaum
mit der Lupe noch kaum zu entdecken, und fuchtelt bereits mit
solchen Phrasen herum, wie wenn sich ein Abc-Schütz
von vier Jahren bereits mit dem Schieferstift wollte erstechen!« –
»Onkel, höre mich an, unterschätze mich nicht und mein Dasein!
Was ist alt und was jung? Es haben achtjährige Knaben
ihrem Leben ein Ende gesetzt, weshalb sollt' ich es nicht tun?

Höre also, sofern du vermagst, ohne Skepsis: die Stunde
der Entscheidung ist da, unverbrüchlich vollendet mein Los sich.
Als ich Anna zuerst von weitem erblickte, da traf mich
die Erkenntnis sofort, und sie schlug in mich ein wie ein Blitzschlag.
Was ich suchte, war sie, seit ich anfing zu denken und anfing
mich zu sehnen ins Unbekannte, dem Ort der Bestimmung
zu, denn wir haben ja doch eine Ahnung des Zieles im Herzen.
Ist sie mir nicht bestimmt, diese arme Verkannte, die man hier
liebelos, ja, ich sage es, gradezu ruchlos mißhandelt:
gut, so steht statt den weiten, geöffneten Räumen des Lebens,
Tummelplätzen des herrlichsten Strebens, der heitersten Arbeit,
eine Mauer vor mir, aus Granit, dran die Stirn zu zerschmettern.«
Ein unbänd'ges Gelächter war Justens alleinige Antwort.

Mitten in das Gelächter hinein trat urplötzlich Frau Julie,
und sie sagte zu Luz, im Ton der ihr eignen Bestimmtheit:
»Sei so gut und begleite mich, Luz, denn ich muß zu den Schulzens
in das Dromsdorfer Schloß und möchte nicht gerne allein gehn.«

Domgewölbe von Wipfeln, durch mächtige Säulen getragen,
standen über den Wegen, die Tante und Neffe jetzt schritten.
Sie durchquerten den herrlichen Schloßpark von Rosen, als welchen
ein stets offenes Tor mit dem Schloßpark von Dromsdorf verbindet.
Wenig hatte bis jetzt Frau Julie gesprochen, doch merkte
Luz, es lag ihr ein Etwas im Sinn und ein Ding, das ihn anging.
»Höre«, sprach sie denn auch, ohne Umschweif zur Sache sich wendend,
»du sollst wissen, ich habe vorhin deine Worte vernommen,
denn du redetest mit Bruder Just, daß es förmlich durchs Haus scholl.
Eine Lauscherin bin ich durchaus nicht. Das wirst du mir glauben,
doch ich zählte nun einmal im oberen Hausflur das Weißzeug,
Watte hatte ich nicht in den Ohren, und also verstand ich
dies und das, was du sprachst. Nur einiges, keineswegs alles.
Laß mich reden, du wirst es in dieser Minute erfahren,
ob ich Rechtes, ob Falsches gehört, Luz, und was mich veranlaßt,
im Vertrauen mit dir über alles Gehörte zu sprechen.

Bruder Just, in der Tat, hat die furchtbare Sünde begangen,
eines Tags gegen sich eine tödliche Waffe zu richten:
die entsetzlichste Tat, von den furchtbarsten Folgen im Jenseits.
Nun, es hat dem allmächtigen Vater in Gnaden gefallen,
zu verhindern, daß Just seine schreckliche Absicht vollendet.
Davon spracht ihr und sprachet frivol von dem furchtbaren Umstand,
solcher Art, daß es mir wie mit blutigen Messern durchs Herz schnitt.
Oder sollte ich nicht erschrecken – Just ist ja mein Bruder! –,
wenn du ihn an den schwärzesten Tag seines Daseins erinnerst
und er nur mit Geschwätz, ja Gelächter darüber hinwegspringt?
Weinen müßte mein Bruder und seufzen und beten, in Reue
seine Tage verbringen, so viele ihm hier noch vergönnt sind,
denn nur so kann er hoffen, der ewigen Pein zu entrinnen.«

Worauf will sie hinaus, dachte Luz, und er lauschte mit Spannung,
als sie fortfuhr: »Das ist mein Bruder, das andre geht dich an.
Alter Mensch sowie Baum, beide werden sie etwa wohl kernfaul.
Zehnmal ärger jedoch, wenn Fäulnis sich zeiget im Grünholz!
Und das ist's, guter Luz, was ich leider bei dir jetzt befürchte.«

»Aber Tante«, rief Luz. Doch sie schnitt ihm entschieden das Wort ab:
»Leugne es, wenn du kannst, daß auch du mit dem Selbstmord gedroht hast!
Wenn ich denke, wohin die Jugend von heute gelangt ist,
oh, so werd' ich nicht müde, dem Vater im Himmel zu danken,
daß er Erwin so früh aus dem irdischen Leben hinwegnahm.
Schlimmer wird ja die Menschheit mit jeglichem Tag, der heraufkommt,
und es mehren sich rings die Zeichen der letzten Verderbnis.
Doch genug! Solche Worte vermögen dich schwerlich zu rühren,
denn du stehst ja auf anderem Grund, Luz, du bist ja ein Freigeist.
Hast du jemals geglaubt und nur deinen Glauben verloren
oder niemals geglaubt? Früher dacht' ich einmal, es sei möglich,
den im Dunkel Verirrten zum Quell der Erleuchtung zu führen.
Es mißriet mir. Nun wohl, ich war ein unwürdiges Werkzeug.
Heute weiß ich nichts weiter zu tun, als dich Gott zu empfehlen.
Glaube also durchaus nicht, ich hätte die Absicht, mein Guter,
etwa meinen Versuch zu erneuern, zu deiner Bekehrung!
Nein! Zwar drängte es mich, dir noch einmal die furchtbaren Folgen
vorzustellen, die den, der sich selber entleibet, im Jenseits
unverbrüchlich erwarten, allein, ich wollte vor allem
dir, dem Sohn meiner Schwester, im schlichtesten Hausverstand beistehn.«

Julie schwieg und fuhr fort: »Wenn jemand die schrecklichste Sünde
zu begehn in Erwägung zieht, muß der Grund dafür ernst sein.
Nun, ich kann deinen Grund nicht ergründen. Es liegt ja auch wenig,
Luz, daran, welche Gründe du hast, denn es gibt ja doch keinen,
stark genug in der Welt, um die Sünde des Selbstmords zu tilgen.
Was du also für Gründe gehabt, liegt mir fern zu erforschen,
und mein Standort am Wäscheregal hat sie mir unterschlagen.
Doch ich gehe vielleicht nicht fehl, wenn ich etwa auf eine
Liebelei oder Ähnliches schließe, die du in der Stadt hast.«
Gott sei Dank, dachte Luz, Tante ahnt nicht, um was es sich handelt!
Fester noch überzeugt ihn davon, was die Tante nun vorbringt.
»Jung war jeder, der alt ist, mein Junge. Mir ging es nicht anders.
Flatterhaft war mein Sinn und nach eitlen Vergnügungen durstig
und begehrlich nach was weiß Gott zwischen fünfzehn und neunzehn.
Später fiel dann ein Reif, worauf denn die Blüte zerstört ward.
Das war gut, und so mußte es sein. Heute dank' ich dem Himmel,
daß die Hoffnung von einst mich so völlig und gründlich betrogen.
Nun erst lernt' ich es kennen und lieben, das Glück der Entsagung,
unter Tränen, gewiß, dennoch ist es auf Erden das höchste.
Wer es zeitig erkennt und begreift, dieses Glück, dem erschließt es
früh das goldene Tor zu den wahrhaften Freuden des Diesseits,
reinen Freuden, entlehnt einer ewigen, himmlischen Heimat.
Und ein Mädchen wie Anna zum Beispiel, es will nicht begreifen,
welchen Schatz es verwirft, wenn es Freuden wie diese zurückstößt
und mit störrischem Sinn nach vergifteten Früchten umhergreift.
Was das Mädchen bereits erfahren, es sollte genug sein,
ihm den rechten, den einzigen Weg der Entsagung zu weisen.

Anna Wendland ist keineswegs von heitrer Gemütsart,
Schwere liegt ihr im Blut; es verstarb ihre Mutter in Schwermut.
Sie ist ernst, und sie kennt ein entsagendes Leben, das Pflicht heißt,
hat dies Leben gelebt und die Hände durch Arbeit gehärtet.
Dennoch nistet in ihr irgendwie ein gefährlicher Schlupfgeist,
einem anderen Wesen vergleichbar, das Anna von Grund aus
zu verändern vermag, das sie willenlos macht und beherrschet,
ja, sie knechtet! Dann tut sie Dinge, vom bösen Prinzipe
angespornt, die hernach nicht die bitterste Reue mehr auslöscht.
Und so ist es denn auch tatsächlich geschehen: ein Jüngling,
fast noch Knabe, er hat sich ertränkt, und er hat seinen Eltern
Anna Wendland genannt als die Urheberin seines Unglücks.«

Luz erblaßte. Nun ist ihm auf einmal verständlich geworden,
was geschah, als er Anna vom Tode des Freundes erzählte.
Darum schrak sie zusammen, und deshalb verstörte ihr Blick sich.
Darum rang ihre Brust nach Luft und sie selber nach Fassung.

»Schwer zu sagen«, fuhr Julie nun fort, »welche Schuld Anna Wendland
wirklich trifft an dem Tode des Gymnasiasten. Wer weiß es?
Niemand weiß es. Nicht einmal sie selber vielleicht, die man anklagt.
Doch sie wird diesen Schatten nicht los, und es kann auch nicht anders
sein. Gewollt oder nicht, immer war sie der traurige Anlaß,
der die verzweifelte Seele ins ew'ge Verderben gehetzt hat.

Warum halt' ich es nun für Pflicht, dir dies alles zu sagen?
Weil ich meine, es müsse ein Beispiel, so nahe wie dieses,
ganz besonders zur Warnung vor ähnlichem Schicksal sich eignen.
Dieser Jüngling verscherzte leichtsinnig sein Diesseits und Jenseits
und belud, die er liebte, mit einer erdrückenden Schuldlast.«

Luz begriff, daß die Rede der Tante auf Anna gemünzt war,
und so hatte sie doch eine Ahnung vielleicht und Befürchtung,
nach der Richtung, in der sein innres Geschick sich vollendet.
Ach, er kannte den Text. Sie sangen ja alle das gleiche
Lied. Es lief drauf hinaus, eine Heil'ge zur Sünd'rin zu stempeln.
Freilich war sie bewehrt mit betörender Schönheit: das war sie!
Weh der Motte, die ihrem unsterblichen Glanze zu nah kam.
Nicht für Motten ist Anna bestimmt noch für Gymnasiasten.
Sie wird mein. Sie ist mein: denn ich allein weiß ihren Zauber
zu empfinden, ihm standzuhalten und mit ihm zu wuchern.
Nur Geduld, und ihr werdet sie sehn zu unsterblichem Ruhme
an den Himmel erhöht, als ein nie zu verdunkelndes Sternbild!

 

Dreizehnter Gesang

Weit gefehlt, wenn Frau Julie gemeint, daß der Tod des verliebten
Schülers, Luzen erzählt, seine Leidenschaft sollte vermindern.
Vielmehr war das Geschehene Öl, in ein Feuer gegossen.
Denn die furchtbare Macht, die er kannte, sie ward ihm bestätigt.
Und er sollte sie fühlen noch oftmals, der arme Luz Holtmann,
und zuvörderst am folgenden Tag. Ach, er hatte erwartet,
der vertrauende Ton, der vertrauliche, sollte sich heute,
und womöglich noch wärmer und trauter als gestern, erneuern.
Sieh, das Mädchen betrug sich, als hätte sie niemals mit Luzen
nur zwei Worte getauscht, ja, als hätte sie nie ihn gesehen
noch als sähe sie ihn, wo sie zufällig an ihm vorbeiging.
So unnahbar, so eisig erschien sie, so fern jedem Wunsche,
daß ein solcher, geweckt, in mutlose Lähmung zurücksank.
Und Luz griff an die Stirn, er fragte sich: Gab es ein Gestern,
oder hab' ich's geträumt? Und was ist denn wohl Traum, was ist Wahrheit?
Spielt ein Teufel mit mir und verhöhnt mich mit höllischem Blendwerk?
Ich unseliger Narr, der ich gestern von Hoffnung berauscht war,
weil sich Anna herbeigelassen, mit mir nur zu reden!
Heute büße ich schwer meine selber verschuldete Täuschung.
Und er litt, schlich umher wie vernagelt. Er kam sich verachtet
vor, übersehen und von dem Gesinde im Hofe geringschätzt.
Niemand kümmerte sich um ihn, so wenigstens schien's ihm.
»Bist du krank, Luz?« rief Schwarzkopp ihm zu, als er eilig ins Feld ging.
Oh, das war er gewiß, er war siech und zerschlagen und elend.
Punkte schwammen ihm vor den Augen, und über dem Magen
lag ein peinlicher Druck. – Trotzdem rief er: »Nein!«, als der Onkel
schon davon war und nichts von der Antwort des Neffen mehr hörte.
Und sie redeten alle mit Anna, das war das Verruchte:
Onkel Just ward mit ihr fortwährend gesehen, und fuchtelnd
mit den Armen, durchschritt er jetzt ihr zur Seite das Hoftor.

Warum durfte der schwitzende Knecht mit ihr reden und tat es?
Warum rief die unruhige Tante fortwährend ihr »Anna«?
Warum streichelte Anna den räudigen Pudel? Nun, Fido,
unsre Rollen sind heute vertauscht, und ich fühle als Hund mich,
der voll Scheelsucht und Neid dich aus feiger Entfernung belauert.
Und so blieb es. Es kam dem Verzweifelten nicht der Gedanke,
welcher Einfluß sich etwa vielleicht Fräulein Annas bemächtigt,
denn sie mied ihn, sie hielt ihn sich fern mit erkennbarer Absicht.
Scham verhinderte Luz, Onkel Justen sein Leid zu verraten.
Doch, auch wenn der Gedanke ihm aufstieg, vermied es der Onkel
unverkennbar, mit deutlicher Absicht, von Anna zu sprechen.
So vergingen die Tage und wurden Luz Holtmann zur Folter.

Doch da trug's eines Sonntags sich zu: es waren die Schwarzkopps
früh zur Kirche gefahren nach Jenkau, um dann bei dem alten
Pastor Balzer zu speisen. Und damit verschob ihre Rückkehr
bis zum sinkenden Abend sich meist! Es war auch der Onkel
Just heut fort über Land. Er hatte recht mürrischen Abschied
von dem Neffen und Anna genommen, doch half hier kein Sträuben.
Diese Reise war nicht zu vermeiden: es suchte ein Gutsherr
einen tüchtigen Ökonomen und wünschte, daß Just sich,
dessen Brief ihm gefallen, in eigner Person präsentiere.
Und auch Thea war heut nicht im Haus, sondern fort mit den Schwarzkopps.
Dieses aber, das Haus, lag verlassen im Grün seiner Büsche,
seiner mächtigen Ulmen und heiter gebreiteten Wiesen.

Und es schlich durch den Garten Freund Luz, einem Wilddieb vergleichbar,
der die edelste Hinde umkreist, die er heut unbewacht weiß.
Doch sie war nicht zu sehn. Luz wußte, es hatte im Zimmer,
wo ihr Bett stand, sich Anna verschlossen: dort schrieb sie wohl Briefe.
Und er trat unters Fenster, nach uraltem Brauch der Verliebten,
promenierte davor und hielt es beständig im Auge,
wenn er schließlich einmal sich weiter vom Fenster entfernte.

Jäh durchzuckte es ihn, weil Anna nun plötzlich darin stand.
Ruhig stand sie. Sie stand unbeweglich. Den Blick in die Ferne
unverwandt und verloren gerichtet, die Arme gebreitet
und in jeder der Hände je einen der offenen Flügel.
Und sie atmete tief. Es wölbte sich voll ihre Brust auf,
sank dann wieder und hob sich zum anderen Male und höher.
Oh, wie hämmerte Luzen das Herz, als er nun sich versteckte
und es fühlte: sie weiß, daß ich da bin, sie liebt mich, sie liebt mich!
Denn was will sie mir anders mit solcherlei Seufzern verraten
als, sie lebe, wie ich, in Entbehrung und schwerer Bedrängnis,
sei gefangen, wie ich, und schwelge in Seufzern der Sehnsucht.
Und da faßte er Mut und rief: »Fräulein Anna, es ist wohl
keinem Menschen erlaubt, das Heiligtum Ihrer vier Wände,
wär's auch nur für die Hälfte, das Viertel von einer Minute,
zu betreten? Es hängen da nämlich noch immer im Kasten
meine Spechte und Pirols verglast, aus vergangenen Zeiten.
Ich bin froh, daß sie Ihnen, wie mir einst, das Zimmer beleben.
Doch ich würde sie gern und ganz flüchtig mal wieder begrüßen.«
Es verging eine Zeit, dann klang es herunter: »Oh, bitt' schön!«

Und da waren sie nun allein in dem kahlen Gemache.
Anna rückte den Korbstuhl zurecht und sprach wiederum: »Bitt' schön!
Bitt' schön, setzen Sie sich«, fuhr sie fort mit dem äußersten Gleichmut.
Als sich Luz überlang in die gläsernen Kästen vertiefte,
die zerfressenen Bälgen von Vögeln und Motten und Spinnen
zu Behausungen dienten – es kreiste in Wahrheit das Zimmer
rings um Luzen, es kreiste das Dorf, und er konnte kaum stehen.

 

Vierzehnter Gesang

Und sie blickte ihn an, die schöne Elevin, mit Augen
von Opal. Doch das wechselnde Spiel dieser schillernden Farben
schien entflammt und bewegt, gleich den grünlichen Wassern des Alpsees.
Und sie sann. Und sie prüfte verstohlenen Sinnes, fast lauernd,
den, der sprach und nichts sah. Fast schien's, sie erwarte mit Spannung
irgend etwas, ein Wort, ein erlösendes, welches am Ende
ihr bereitlag im Grund dieser Seele und für sie bestimmt war.
Doch bald drang in den Blick des jungen Geschöpfes ein Neues,
drang ein anderes auf, ein Licht, das sich nixenhaft ansog:
fischhaft war es, eiskalt und doch stechend, gleichwie unterm Brennglas.
Hilfe suchte nicht mehr dieses Licht, dazu spielte zu grausam
dieser brennende Strahl: wie ein zitterndes Opfer empfand ihn
Luz, er fühlte den Blick, als dräng' ihm ein Gift in die Brust ein.
Und es wirkt: ihm war, als entrücke ein Nebel die Erde
und er schwimme verlassen im Raum des unendlichen Weltalls.
Trotzdem hört er sich reden und reden, als ging's um sein Dasein.
Was wird sein und geschehn, denkt Luz, wenn der magische Zustand
des betäubenden Zwangs in der nächsten Sekunde nicht weichet?
Doch da hört er die Stimme des Mädchens: »Wir wollen hinunter«,
sagt sie, »kommen Sie jetzt, Herr Luz, ich höre die alte
Dame!« – Schritte vernahm auch Luz, denn die alte Frau Schwarzkopp,
Greisin, Mutter des Herrn Oberamtmanns, sie wurde hinunter
in den Garten geführt, und es knarrte und ächzte die Stiege.

Selten sah man, fast nie, die alte Frau Schwarzkopp, sie zählte
neunzig Jahr, und es war eine Pflegerin um sie beschäftigt.
Heute ward sie herab, wie gesagt, in den Garten geleitet.
Sei es nun, weil die Wärme des Maitags sie lockte, vielleicht auch,
weil so still und verlassen das Haus, war im Herzen der Greisin
heute grade der Wunsch entkeimt, sich ins Freie zu wagen.

Schön geschmückt mit bebänderter Haube, im seidenen Kleide,
schwarz, mit Spitzen verbrämt, saß die freundliche Greisin im Lehnstuhl,
den die Magd in die Laube gestellt, etwas seitlich zum Tische.
Und es dampfte bereits auf dem Tische der Kaffee, die fette
Sahne, eben geschöpft, stand dabei, frische Butter und Honig.
Auch die silberne Dose mit Zucker und freundlich geblümtes
Porzellan, wie der Wohlstand des Schwarzkoppschen Hauses es darbot.
Bald nun saß man zu drein um den Tisch in der Laube, es
hatte sich die Pflegerin gern ein wenig beurlaubt, um einmal
aufzuatmen vom Zwange des Diensts. Unterm Blicke der Greisin
saßen Anna und Luz: und es war ein unsagbarer Zauber
allverstehender Milde darin, der sie beide durchwärmte.
Wenig sprach sie, die hochehrwürdige Alte. Sie schien fast
nicht aus irdischem Stoff, oder aus Amiant, unverbrennlich,
seidig weiß, nur von Güte beseelt und von Liebe zum Menschen.
Zärtlich ruhte auf Luz das lächelnde Auge der Mutter
Onkel Schwarzkopps, und wissend umfing es zugleich die Elevin:
und es war wie ein lächelnder Segen, den beide empfanden.
Ja, er schmolz sie zusammen, die Seelen. Wie Eisblock und Eisblock
eine Flut wird, so wurden sie eins in der Wärme des Anhauchs.
Wollt ihr zögern, die Stunde versäumen? so schien sie zu fragen.
Liebt euch, traut meinem Segen, traut, Kinderchen, eurer Patronin!
Köstlich ist's, euch zu sehn, eure tauige Jugend und Schönheit!
Schon der Abglanz erfüllt meinen Abend mit Strahlen von Frühlicht.
Zögert nicht, ach, und fürchtet euch nicht! Laßt euch sagen, Gott will es!
Euch betrügt, wer es anders euch sagt, und die Stunde verrinnt euch:
sie verrinnt, und ihr ringt eure Hände umsonst nach dem Flüchtling,
ruft vergeblich nach ihm und schicket vergeblich die Träume
eurer Sehnsucht zurück, gleich nächtlich umirrenden Schatten,
nach den Stätten umherzuwittern, wo einstens der Dämon
euch bewog, euch selbst um das köstlichste Gut zu bestehlen.

Und allmächtig ergriff der werdende Sommer den Frühling
heut, es brannte die Sonne herab aus blauglühender Wölbung
in den Garten. Tief tönte die Luft vom Gesumm der Insekten,
Hummeln brausten im Baß und mit zornigem Flug durch die Laube.
Skarabäen, so blau wie Stahl, wagten brummende Flüge,
grünlich rannte der Käfer voll Raubgier über den Kiesweg.
Schmetternd geigte der Fink, gewaltig ertönte des Pirols
heller Ruf. Es revierte der Wiedehopf laut durch die Dorfmark.
Aufgeplatzt im Rondell war der brünstige Ball der Päonie,
dunkelrot. Ihre Stauden umgab das Smaragdgrün der Wiese.
Blendend geilte darin die dotterfarb-fettige Wolfsmilch.
Doch Bewegung und Fülle des Klanges und Wettstreit der Farben,
all dies Drängen und Weben im Licht: es vermochte ein süßes
Schweigen nicht zu ersticken, das fruchtbar und schläfrig im Licht lag.
Und es schienen wie Seelen des Schweigens die lautlosen Falter,
traumhaft taumelnd, wie blind, in beweglichem Schlafe befangen,
Somnambulen des Tags, und magische Stille verbreitend.

Still verzückt neben Anna und fast ihre Schulter berührend,
doch nicht ganz, saß der Liebende nun. Eine magische Klammer
war auch ihm um die Schläfen gelegt, und es brütete etwas
so berückend als wie erstickend dem Jüngling im Blute.
Ach, es war wie die süße Betäubung von Weihrauch und Myrrhen,
Spezereien, weit köstlicher noch, als die Könige brachten,
die der Stern unsres Heilands geleitet zu Bethlehems Krippe.
Luz, du wärest ganz Ohnmacht in dieser unsterblichen Fülle,
drin du plötzlich dich fandst, übereilt von dem Zauber der Stunde.
Niemals hattest du Wonne gefühlt, wie sie jetzt in dir aufdrang,
als die Unnahbare nun, die Geliebte, auf einmal so nah war.
Doch was war's, und warum schlug plötzlich so hoch in den Hals dir
dein unsinniges Herz und benahm dir dabei fast den Atem?
War dies wirklich, und durftest du trauen dem, was du erblicktest,
was du fühltest, so lag deine Hand um die Hand Fräulein Annas,
und es hatte in sanfter Berührung ihr Knie an das deine
unterm Tisch sich geschmiegt – und was bliebe dir jetzt noch zu wünschen?
Und es lüftet verstohlen ein Knäblein mit goldenem Gürtel
das Gebüsch, das ihn barg, und blickt listig, voll Neugier herüber.
Rosen kränzen dem Kinde, blutrot, die ambrosischen Locken,
und er zupft in Gedanken die Sehne des Bogens, die einen
Ton, nur einen, ertönt, sie entstammet der Leier Apollens,
dem sie Eros, der Knabe und Pflegling des Hermes, gestohlen.
Und es ist niemand anders als er, den des Liebenden Auge
in hellsichtiger Wut der Verzauberung eben entdeckte,
wie er kommt, um zu sehn, was sein sicheres Gift nun gewirkt hat.
Und es lösen sich Luz alle Glieder in Wollust und Schönheit,
bis urplötzlich ein Krampf ihn durchfährt und er hart der Geliebten
Arm ergreift, ihn emporreißt und wütend die lechzenden Lippen
preßt ins blühende Fleisch, dorthin, wo das Knäblein es wollte.

 

Fünfzehnter Gesang

Und sie hatten durch Wink und die wenigsten Worte beschlossen,
nach dem Nachtmahl sich noch in der Stille der Felder zu treffen,
als mit lautem Geräusch Onkel Gustav und Tante und Thea
sich dem Wagen entwanden, zur leidigen Stunde der Heimkehr.
Luzens Brust aber war so übervoll: – ganz unerträglich
schien ihm Theas Geschwätz und die Nähe der guten Verwandten.
Er empfahl sich und bat, mit dem Essen auf ihn nicht zu warten.

Festlich rauschte das Korn, als Luz auf dem Feldweg dahinschritt,
in der Richtung gen Morgen. Noch hatte im Abend die Sonne
nicht den Erdrand erreicht, und sie wärmte den Rücken des Jünglings,
der unnennbar beseligt, das Auge erhoben zum Vollmond,
schritt entgegen dem Ort, wo die sel'ge Begegnung bevorstand.
Und es rauschte in ihm noch immer von Wassern des Frühlings,
Bäche stürzten und, vielfach zerteilet, die Schäume des Bergstroms
von gewaltigen Felsen herab in die köstlichsten Gärten,
drin sich klingende Bäume und Wogen und Rosen bewegten.
Solche hatte er oft sich erträumt, doch noch keine wie diese.
Und er sprach zu den Halmen, zum einsamen Baum, der im Feld stand,
zu den werdenden Sternen, dem Mond, und er schüttete allen,
überströmender Freude, sein nicht zu bezähmendes Herz aus.
Wisset alle: Ich liebe und werde geliebt, und es gibt nun
nichts, worum ich die Könige noch, ja die Götter beneide.

Und er hatte den Ort erreicht. Ein verschwiegener Weiher
lag verlassen im Feld. Es standen um ihn, wie als Wächter,
hundertjährigen Alters vereinzelte Eichen und Rüstern.
Diese hatten am Ende auch andres gesehen vor Zeiten.
Heilig war er vielleicht und geweiht einer Göttin, der Seehain.
Warum nicht einer eigebärenden Mondfrau! Es war ja
das Geheimnis der Sumpfgeburt mit den Weihern verschwistert.
Alles Leben entstammet dem Sumpf, so ja meinten die Alten:
auf dem Inselchen schien ein Kranich darüber zu sinnen,
unbeweglich, auf einem Ständer, in tiefer Versenkung.
Uralt war zwischen mächtigen Stämmen die einfache Steinbank,
irgendwann von vergessenen Ahnen der Herrschaft gestiftet.
Und es trugen die Borken der Stämme verschlungene Zeichen,
eingeschnitten von liebenden Händen, nun längst schon vermodert.
Luz erschauerte leis. Es kam etwas von panischer Bangnis
über ihn, trotz des selig rumorenden Glücks ihm im Innern.

Stunden hat er verharrt und den Stimmen gelauscht, die im Haine
sich vernehmbar gemacht, hat die Weihen des Ortes genossen
immer wieder. Er hat sich ausgemalt, wie diese Wildnis
dann erst werde sich ganz in unirdischer Schönheit enthüllen,
wenn der himmlische Fuß der Geliebten in sie werde eingehn.
Und so ist zu dem Rande der Erde die Sonne gesunken,
hat sich endlich darunter verborgen, den westlichen Himmel,
ungesehen, noch speisend mit Licht, ja das ganze Gewölbe
leuchten machend allüberall in befremdlichem Glanze.
Venus sinket ihr nach, doch sie funkelt noch über der Erde.
Bleibe, süßes Gestirn, denkt Luz, und meide dein Fest nicht!

Ach, er hat die Natur, hat den Himmel, die Erde beschworen,
alles Köstliche aufzubewahren der kommenden Stunde!
Horch, ein Schritt. Und er lauscht. Es schießt alles Blut ihm zum Herzen:
Anna! – Alles bleibt still. Ach, es plumpste ein Eichhorn zur Erde.
Oder hat mich ein Satyr gefoppt? Ja, vielleicht Eros selber?
Stärker leuchtet Selene und gelblicher, silbrige Schleier
spinnend über den nachtenden See, bis die schweigsame Gottheit
zum erquickenden Bad in die leisaufrauschende Flut steigt.
Und es zischelten leise die Schilfe im schilfigen Sumpfrand.
Anna! Nein, wiederum nur ein Rascheln im Röhricht. Ein Otter
fuhr vielleicht auf den Fang, es verließ wohl ein brütender Vogel
für Minuten sein Nest. Und brennender ward Luzens Sehnsucht.
Alles ist nun so nah, und du glaubst fast das Glück zu umarmen,
Luz, es ist alles bereitet zum Fest, dem allein noch der Gast fehlt.
Komm, o komm, du geliebtester Gast dieser harrenden Erde!
Denn ich habe die Kerzen der Liebe bereits in den Himmeln entzündet,
habe schwebende Funken geweckt in dem düsternden Sumpfland,
die wie brennender Staub, wie Gewölke die Wipfel erleuchten.
Opfer wird hier gebracht, und ich selbst bin dein Opfer, Ersehnte,
bin bereit, meinen Nacken zu beugen, für dich zu verbluten.

Plötzlich heftiger Lärm, gleichwie streitende Stimmen von Männern.
Luz erstarret. Es sträubt sich sein Haar, und entsetzt springt er vorwärts,
denn er sieht die Geliebte am Rande des Hains überfallen. –
Nein! – Nun wieder ist alles ganz still und nichts weiter vernehmbar
als das plätschernde Nagen der Welle am sumpfigen Ufer.
Wenn dies Täuschung gewesen, denkt Luz, nun, so kann es nur Spuk sein.
Oder aber mein Hirn schlägt Blasen. – Ihm steigt eine Angst auf.
Essenszeit ist nun lange vorüber, und trotzdem: sie kommt nicht.
Oh, wie nahe liegt Gram und Elend dem süßesten Glücksrausch!
Bleibt sie fern, was denn hält sie zurück? Und nun drangen sie quälend
in die Seele ihm ein, wie Insekten mit grausamen Stacheln,
Einbildungen und Ängste und Zweifel der schmachtenden Liebe.
Es befiel ihn ein glühender Durst, wie den Wandrer in Wüsten.
Du mußt sterben, unrettbar, so denkt er, wo nicht diese Quelle,
diese eine und keine sonst, dich erquicket und rettet.
Anna! Endlich! Dahin ist die Not und vergessen die Drangsal.
Luz erzittert, ihm bebt jedes Glied, denn dort steht sie leibhaftig
zwischen Bäumen im Dufte. Sie flüstert ihr köstliches »Bitt' schön«,
keusch gesenketen Blicks. Fast bewußtlos im Sturm der Gefühle
schreitet Luz auf sie zu. – Doch da ist sie im Nebel verschwunden.
Und es hallt durch den heiligen Hain ein ingrimmiger Aufschrei:
»Anna, Anna!« Es klingt viel mehr wie: Zu Hilfe! Zu Hilfe!
Es erwachen die Falken im Nest und durchbrechen die Wipfel,
flüchtig und mit erschrocknem Geklatsch ihrer taumelnden Flügel.
Mit Gewalt unterdrückt nun die wilde Erregung der Jüngling,
lauscht und höret nun wirklich, wie etwas durch Büsche heranstreift.
Und er sucht mit den Blicken die dämmrige Nacht zu durchdringen.
Oh, wie elend ich bin, steigt ihm auf, welche brennende Krankheit
frißt an mir, wie die Klaue zerreißet die Brust des Prometheus!
Ja, nun kenn' ich den Eros: ein grausamer Gott, aus der Löwin
Euter sog er die Milch, und es nährt' ihn die Mutter auf Felshöhn,
ihn, der arg mich versengt und bis auf den Knochen mir bohret.
Und aus grünlicher Wolke von leuchtenden Punkten sieht Luz nun,
wie zwei Augen auf ihn mit grünlichen Rundungen glotzen.
Und er schreit: »Wer ist da?« Darauf wird ihm ein Winseln als Antwort,
und Sekunden danach schlängelt Fido sich ihm um die Füße.
Und er stößt mit dem Fuße den Hund und stürzt sinnlos von dannen.

»Hast du Mondscheinprom'naden gemacht, mein romantischer Neffe?
klang Onkel Justens leicht hämische Stimme, als Luz in den Hof trat.
»Wie du siehst«, sagte Luz, »denn ich habe ja leider die Macht nicht,
Mondschein, wenn der Kalender ihn anzeigt, ganz einfach zu streichen.« –
»Nichts für ungut«, sprach Just, »ich meine nur, daß du es gut hast,
denn wir hatten zu tun, Fräulein Anna und ich, mit dem Lohntag.«

 

Sechzehnter Gesang

Anna hatte sich schon in ihr Zimmer begeben, es sah sie
Luz am Abend nicht mehr. Aus dem Fenster nur traf ihn ihr Lichtschein.
Und die Nacht, die nun kam, ach, sie hatte für Luz keinen Schlummer!
Peinlich hell schien der Mond, mit durchdringendem Lichtglanz das Zimmer
füllend und Luzens Hirn, ob er gleich seine Augen fest zuschloß.
Das Entbehren, das Meiden, das Abschiednehmen, in seiner
Seele nahm es kein Ende. Er war gegen Morgen ein wenig
wohl entschlummert und fand sich im Traum auf dem Dromsdorfer Kirchhof,
wo man Erwin begrub wiederum und mit finstrem Gepränge.
Und wie jüngst beim Besuch mit der Tante, so knarrte das Pförtchen,
und der Cherub erschien in der süßen Gestalt Fräulein Annas.
Wieder legte sich furchtbare Angst auf die Seele Luz Holtmanns,
diesmal nicht vor dem kommenden Glanz, nein, vielmehr von dem Grufthauch
und dem eisigen Wind der Verwesung, der gegen ihn andrang.
Denn sie war in Kreppe gehüllt, und sie glich einer Wittib
des Verstorbenen, dazu bestimmt, ihm als Opfer zu folgen.
Und lebendig begraben zu werden war ihre Bestimmung.
Da nun packte den Träumer unbändig rasende Wut an,
wie sie ähnlich ihn nie übermannt und geschüttelt im Wachsein,
und mit entrüsteten Tränen am Ende vermischet, zerriß sie
das Gewebe des Traums, und der Jüngling erwachte, noch zitternd
und erbebend vor Grimm und in reichlichen Tränen gebadet.

Und es kamen nun Tage, in Wahrheit von morgens bis abends
nur ein Irren, ein heimliches Suchen, ein marterndes Dürsten
in der dorrenden Wüste der Welt für den armen Luz Holtmann.
Denn das Gestern war tot, das Erlebte wie niemals vorhanden.
Kalt, unnahbar und fremd blieb das süße Gesicht Fräulein Annas:
nicht der leiseste Blick, der ihn traf oder auch nur ihn streifte
oder etwas verriet von dem Tage des Glücks, der dahin war.

Und er sagte zu sich: Nun wohl, du warst nur ihr Spielzeug.
Und so nahm sie dich auf, als die Laune dazu in ihr aufstieg,
warf dich weg, als die Laune, die grausame, wieder vorbei war.
Solches kann sie, sie hat die Macht, und ich kann mich nicht wehren.
Sagte nicht Onkel Just: Gib acht, Luz, sie saugt uns das Blut aus?
Uns? Nun freilich nur mir, denn der Onkel ist alt und schon blutlos.
Etwas andres noch sagte der Onkel – Luz grübelte ernsthaft.
Richtig, ja: von der möglichen Heirat mit einem Apostel
war die Rede gewesen. Es hatte der böse Gedanke,
Luzen halb nur bewußt, ihm genagt an den Wurzeln des Lebens.
Darum war der Schreck nicht gering, als die Tante einst meinte,
wie sie hoffe, so seien doch mehrere Wagen am Sonntag
frei, man wolle doch wohl in Gemeinschaft nach Diesdorf zum Feste.
Oftmals hatte man schon Erwähnung getan des Missionsfests,
das, von vielen Pastoren besucht und Herrnhutischen Brüdern,
als ein großes Ereignis nun schon binnen kurzem bevorstand.
Manches wurde auf solchen hochheiligen Festen beschlossen,
Missionare bestimmt für entlegene Inseln der Südsee,
Wunder wurden getan durch Gebet und auch Ehen geschlossen.
»Oh, es wird ganz gewiß eine herrliche Feier«, sprach Schwarzkopp.
»Ganz gewiß«, sagte Julie drauf, doch die übrigen schwiegen.
Schweigsam aß man. Man saß um den Tisch gegen Ende der Mahlzeit.
So verging eine Zeit. Dann hob Onkel Just an: »Ich weiß nicht,
ob ich kann, liebes Julchen, ich meine, am Sonntag dabeisein.
Denn das ist ja der einzige Tag, wo ich einige Briefe
schreiben kann, die mein Fortkommen angehn: das ist ja doch wichtig.«
Doch da wurde die Miene der Schwester, das Antlitz Frau Juliens
umgewandelt. Es war ein bittres Entsagen in ihren
Zügen sowie ihrem Wort, als sie sagte: »Man darf wohl im Zweifel
sein, was wichtiger ist, das Zeitliche oder das Jenseits.« –
»Lieber Schwager, du tust mir die Liebe«, begann nun voll Milde
Schwarzkopp, »und du entschließest dich doch, Sonntag mit uns zu fahren,
denn ich habe vor Wochen bereits Bruder Tobler aus Herrnhut
unterrichtet davon, daß du kämest, um mit ihm zu sprechen.
Und du hattest ja doch diese löbliche Absicht. Es ist auch
nur durchaus zu verstehn, den Zuspruch von Männern zu suchen,
deren Wirken der Herr im Himmel so sichtbarlich segnet.« –
»Nun, dann reden wir noch davon«, sagte Just voller Ärger,
das Gebet mit gefalteten Händen ein wenig markierend,
und entwich. Und es seufzten voll Kummer die guten Verwandten.

Luz war mürbe und blaß und durchschlich seine Stunden im Elend.
Am Harmonium hockte er oft, unterm Bilde des Vetters,
trat die Bälge bis zur Ermüdung und schwelgte sein Leid aus.
Heute saß er versonnen und hatte vergessen, die Hände
auf die Tasten zu legen, weil plötzlich die furchtbarste Sorge
ihn befallen und ihm seine innersten Ängste gesteigert.
Nun, ich denke wie Luther, so spricht er bei sich, und begleite
Anna hin zu dem Fest, und warteten mein so viel Teufel
als die Dachdecker Ziegel gelegt auf die Dächer von Diesdorf.
Da nun aber geschieht, was der Jüngling am mindsten erwartet:
den Verzweifelten trifft überraschend ein Strahl höchster Gnade.
Jemand fragt: »Nun, Herr Luz, Sie fahren doch auch zum Missionsfest?«
Ist es Anna? Wahrhaftig, sie ist's, die die Frage getan hat!
Luz erschrickt vor dem Glanz. Doch schon spricht er fast ohne Bewußtsein:
»Nein, ich bleibe zu Haus, für die Frömmelei bin ich verloren.« –
»Nun, dann bleib' ich mit Ihnen zu Hause«, sagt Anna. – Was sagt sie?
hallt es jauchzend in Luz. Und er sagt nur erschüttert: »Oh, Anna …«

Und es stellte sich Luz mißmutig und wortkarg am Abend,
um das Fieber der Brust nur ja als Geheimnis zu wahren.
Dies mit gutem Bedacht und mit schlauem Instinkt. Er besorgte,
daß der Onkel am Ende, gefoltert von Scheelsucht, noch Mittel
finden könnte, daheim zu bleiben. Nicht Feuer, nicht Kohle
überdies brennt so heiß, wie ein Spruch sagt, als heimliche Liebe.

Und der Tag kam heran. Mißbilligend hatte die Tante
Annas Entschließung, und zwar durch sie selber, vernommen. Doch drang sie,
weil ihr die meist unbeugsame Starrheit des Mädchens bekannt war,
drum nicht weiter in sie. Zudem widerriet es ihr Schwarzkopp.
»Gott hat Mittel und Wege genug, er braucht unsern Zwang nicht,
und«, so sprach er, »er weiß die verstockteste Seele zu finden,
wenn er eben nichts andres beschließt. Und dabei mag es bleiben.«

Und es fuhren zwei Wagen vors Haus. Warum ihrer zweie,
achtete Luz nicht weiter: zu sehr frohlockte das Herz ihm,
denn es war ja gespannt und beglückt von der höchsten Erwartung.
Um so mehr knirschte Just. Er verbarg seinen grimmigen Zorn kaum.
Tückische Blicke schoß er auf Luz und auf Anna, die Gift und
Galle, ja gradezu die bitterste Feindschaft enthielten.
Doch was half es, man mußte doch fort. Den Fuß auf das Trittbrett
und dann flugs zu der Großmutter Schwarzkopp hinein in die Kutsche.
Gott sei Dank, dachte Luz, er muß! Ihm sind Hände und Füße
in moralische Fesseln gelegt, und sie sind unzerreißlich.
Sonst weh uns! Unser Tag wäre hin, unsere Hoffnung vernichtet!
Es erkannte nun plötzlich der Liebende deutlich, was vorging,
welche Krisis sich, in den bewegten Minuten der Abfahrt,
im Geschick dreier Menschen vollzog: so im eignen, in Annas
und – begriff er nun klar, mit sehend gewordenen Augen –
im Geschick Onkel Justs, denn er war ganz gewiß sein Rivale.
Endlich knallten die Peitschen, es rückten vom Flecke die Kutschen,
fort, zum Garten hinaus, entrollten und rollten die grade
Straße fort und verfolgt von den Augen des liebenden Paares,
bis, am Ende des Dorfs, vor dem Kretscham, sie seitwärts entschwanden.

 

Siebzehnter Gesang

Lächelnd deckte die Magd den Tisch in der nämlichen Laube,
drin das Paar mit der Greisin, der alten Frau Schwarzkopp, gesessen.
Und sie rief: »Heut, Herr Luz, heute sind Sie der Herr Oberamtmann,
Fräulein Anna die Frau.« Und sie zwinkerte klug mit den Augen.

Wie es oftmals geschieht, wenn lange Ersehntes nun endlich
sich erfüllt … wenn ein Ziel, ein mit Eifer verfolgtes, erreicht ist,
so geschah es auch hier: man empfand eine leise Ernüchtrung.
Dies ist eine der Tücken des ränkevoll listigen Eros,
daß er Absicht, sofern er sie merket, nicht ungern durchkreuzet.
Gänzlich frei war der Weg, nun kam es drauf an, ihn zu gehen.

»Fräulein Anna«, sprach Luz nach einer bedrückenden Stille –
nicht zur Seite saß er dem Mädchen, nur ihr gegenüber –,
»werden Sie mir es glauben, mich hat dies verschlafene Dörfchen
Rosen, dem ich doch jüngst erst entrann, wieder völlig umsponnen.
Ich war frei wie der Wind, als ich diesmal hierher zu Besuch kam,
offen lag mir die Welt. Ich war Künstler, ich wollte als Dichter
unvergänglichen Ruhm mir erwerben, Sie kennen mein Opus.
Rom, die Ewige Stadt, wollt' ich sehn und Paris und was weiß ich!
Weite Reisen zur See wollt' ich tun. Und es mag Ihnen Onkel
Just erzählen, was Kameraden und ich alles planten.
Denn wir sind übereingekommen, zum wenigsten waren's,
auf jungfräulichem Land einen Staat, eine Siedlung zu gründen
und in ihr die größtmögliche Summe von Glück allbereits hier
auf der Erde den Bürgern der Kolonie zu vermitteln.
Doch was geht mich jetzt alles dies an, Fräulein Anna? Man sucht ja
eigentlich für sich selbst, wenn man vorgibt, für andre zu suchen.
Weggeblasen ist dieser Staat, dieses irdische Zion,
jeder Wunsch ist verlöscht nach der überhirnischen Glücksstadt.
Was ich immer davon dem Onkelchen jüngst auch geflunkert,
heute denk' ich an mich und an jemanden, der's in der Hand hat,
mich auf alles verzichten zu machen im Diesseits und Jenseits,
wenn ich eines dafür nur erkaufe: ihn selbst, diesen Jemand!«

Anna schwieg. Er sprach weiter: »Ich wollte nichts andres hienieden
Möchte dann mich die Welt doch vergessen! Es ist kein Versteck dann,
kein Gefilde verborgen genug, mein Asyl mir zu bauen.
Gräben macht' ich darum, Fußangeln verteilt' ich und Schlingen,
eifersüchtig weit mehr als Blaubart, wennschon nicht so grausam.
Und wir äßen zusammen das karge Mahl, Fräulein Anna …«
Gut, mein Luz! Nun betrittst du die Brücke. Sie hält. Mutig vorwärts!
»Fräulein Anna, Sie wissen vielleicht nicht, wie sehr dies mein Ernst ist«,
fährt er stockend dann fort mit beinahe versagender Stimme.
»Arm eracht' ich, wenn das, was ich meine, zur Wirklichkeit würde,
allen fürstlichen Glanz und Ruhm und Reichtum der Erde.
Schnitte mir eine das Brot, die ich meine, mit heiligen Händen,
wie sie es ihren Geschwistern geschnitten, die Schwester und Mutter,
trocken, sollt' es mir sein wie das himmlische Manna des Herrgotts.«

Da erbleichte die schöne Elevin, ihr meerfarbnes Auge
selbst erblaßte, wie wenn ein Gewölke die Buchten entfärbet,
heftig gingen, wie Kiemen der Fische, die Flügel des Näschens,
das so grade und fein im reinen Oval des Gesichts stand,
und sie sagte: »Es gibt einen Jemand, in dem Sie sich täuschen.
Dieser Jemand ist schlecht und nicht wert, daß ihn einer vergöttert.« –
»Anna, lästern Sie nicht ein Geschöpf, das mir, alles in allem,
Himmel, Erde, so Vater wie Mutter, so Bruder wie Schwester
aus dem Raum meiner Seele verjagt, wie es Wind mit dem Staub tut,
die mein Auge zum Auge erst macht, meine Lunge zur Lunge,
mich zu etwas aus nichts und zum seligsten Bürger des Weltalls!
Beigesetzt im Metallsarg, ganz wie Vetter Erwin zu Dromsdorf,
lag ich, gleichsam gelähmt und mit halbem Bewußtsein, im Halbschlaf.
Eine Stimme erklang, keine irdische war's, überm Kirchhof:
da erwacht' ich, weil alles in Höhen und Tiefen erwacht war
vom allmächtigen Zauber der Stimme. Es sei dieser Jemand
schlecht meinetwegen, sei gut: er spottet ja irdischen Urteils,
und es geht eine Kraft von ihm aus, der die Gruft selbst nicht standhält.
Denn ich rege mich ja, ich bewege mich schon, wie der Falter
in der Puppe sich regt, noch gefaltet die fertigen Flügel.
Rufet jetzt mich die Stimme: Steh auf! und erfüllt mich mit Dasein,
hebt ins goldne Bereich der herrlich verzaubernden Sonne
mich empor und verzückt mich im Licht, soll ich da mich vermessen,
ich, verklärtes Gewürm, ich, Geschöpf ihres Hauchs, meine Gottheit
mit der Elle des Wurms, mit Gut oder Böse zu messen?«

Heftig atmend erhob sich jetzt Luz, und er trat vor die Laube,
biß die Zähne zusammen und ballte die Fäuste, wie um sich
Mut zu machen zur Tat, zugleich sein Geschwätze verwünschend.
Und auch Anna erhob sich. Es ging durch den Garten ein Windhauch.
War er kühl oder heiß? Genug, Luzen strich er durchs Herze.
Fast erschrak er, als künde er ihm eine Wendung des Schicksals.
Anna sprach, und sie setzte dabei still die Teller und Tassen
und das übrige Kaffeegeschirr aufs Tablett: »Ach, Herr Holtmann,
Sie sind weitaus zu gut für die Welt und von diesem Herrn Jemand,
sei es auch eine Frau meinethalben: Sie denken von ihr dann
ebenfalls viel zu gut. Sie haben Verwandte, die wissen,
wer sie ist, großer Gott! und sie würden es Ihnen erklären.«
Nicht mehr fest war die Stimme der schönen Elevin bei diesen
Worten. Immer noch ballte die Fäuste verzweifelt der Jüngling,
weil sein Handeln noch immer durch Ängste und Rücksicht gelähmt war.
Doch er hatte sich umgewandt und umfing mit den Augen
starr die schöne Gestalt der Geliebten, die nicht zu ihm aufsah.
Knapp geschnitten und schlicht umspannte die Formen des schönen
Leibs das selbergefertigte Kleid, es war bräunliche Seide.
Von dem nämlichen Stoff im gescheitelten Haar war das Haarband.
Doch es würde vergeblich sein, zu versuchen, der Schönheit
unaussprechlichen Zauber und Reiz mit dem Worte zu schildern:
eine Stirn wie der Mond, der Olympierin Augen darunter,
unergründlich im wechselnden Glanz wie die Fläche des Weltmeers.
Streng der Mund, aber dennoch der Mund eines saugenden Kindes.
Runder Fülle, voll Adel das Kinn, edle Ahnen verratend.
Stark der Nacken, voll Liebreiz der Hals und betörend der Busen,
unterm seidigen Stoff sich, so steigend wie fallend, verratend.

Ja, so stand er denn endlich vor ihr, die noch immer nicht aufsah.
Und es hatten die zitternden Hände die Schläfen der Schönen,
elfenbeinerne Schläfen und bläulich geädert, gefunden.
Und die Flächen der Hände bedeckten mit innigem Druck sie.
Nein, es pochte nicht mehr jetzt das Herz des bewußtlosen Jünglings,
und doch ließ es geduldig geschehen die schöne Elevin,
hob dann furchtsam den Blick und demütig fragend, doch gänzlich
fügsam, als er die Lippen, schon nahe der köstlichen Stirne,
zu den geflüsterten Worten »O ewig, o ewig!« erst formte
und alsdann diese Stirn mit dem keuschesten Kusse berührte.
Doch da fuhr sie zusammen und horchte. Es war wie ein Anruf,
der sie traf und erweckte, wie jemanden, welcher zur Nachtzeit
sich im magischen Traum ergeht auf den Firsten der Dächer
und, Bestürzung und Angst, ja Entsetzen im Antlitz, herabrollt.

Nein doch, nichts! Es war nichts. Noch horchte sie starr eine Weile,
und nachdem alles still blieb, begann sie aufs neue, die Tassen
und das Kaffeegeschirr ineinander zu ordnen: »Mir war nur«,
sprach sie dann, mit dem alten verschlossenen Ausdruck im Antlitz,
»so, als wäre vorm Haus das eiserne Türchen gegangen.«

Anna trug das Geschirr in das Haus, und im Garten zurücke
blieb der Jüngling, verdutzt und beinahe ein wenig ernüchtert:
kam sie wieder, jetzt war er entschlossen, sich ihr zu erklären.

 

Achtzehnter Gesang

Und sie kam. Anna trug einen Teller mit gelblichen Kirschen.
Wohin ging sie? Nicht mehr zur Laube, dorthin nicht, wo Luz schritt,
sondern langsam seitab in die tiefere Wildnis des Gartens,
sein nicht achtend, des Zaudrers, ja völlig ihn scheinbar vergessend,
so, als ginge sie selbst sein Zaudern nichts an. – »Anna! Anna!«
seufzte Luz aus beklommenster Brust. »Oh, welch furchtbarer Schwächling
bin ich doch, und wie stark würd' ich sein, wenn nur du es so wolltest!«

Und er schlich hinterdrein unter Hangen und Bangen und hätte
küssen mögen den Kies, der den Abdruck des Fußes bewahrte
des vergotteten Weibs. Und es ward ihm beschieden, sie nochmals
im Verstecke der tiefsten Verborgenheit sitzend zu finden.
Zögernd trat er zu ihr. »Ist's erlaubt, mich zu setzen?« so fragt er.
Groß und fremd blickt sie auf. Was soll diese Frage? Warum nicht?
scheint die Miene zu sagen. Er tut's. Und er bricht sich ein Rütlein,
da ihr Wesen ihn völlig verwirrt, ihn betreten und stumm macht,
zeichnet Kreise mit Schlingen, höchst törichtes Zeug, in den Kiessand.
Ungenützt rinnt die Zeit, rinnt dahin durch Minuten und Stunden.

Wenig war's und ganz ohn' Belang, was die beiden gesprochen.
Endlich fragte sich Luz, warum die Elevin so still saß?
Forschend sah er sie an und erkannte, sie weinte. Es flossen
dicke Tränen ihr übers Gesicht, welches ruhig und starr blieb.
Und nun warest du reif, mein Freund, und du legtest den linken
Arm behutsam um sie und drücktest die Wange an ihre.
Und du fühltest die Feuchte der Tränen des himmlischen Mädchens.
Keine Regung von Widerstand, nicht die allergeringste,
als dein Druck sich verstärkt'! Und nun waren die Tage des Leidens,
waren die schweren, die furchtbaren Nöte des Schmachtens vorüber.

Halt! sie horchte und drängte ihn von sich, nicht hart, sondern liebreich,
horchte wieder, stand auf und sagte: »'s ist jemand gekommen.«
Wirklich nun schlugen Türen im Haus, man erkannte, wie Schritte
über Dielen hinstampften der Zimmer, bis sich eine Stimme
hören ließ, Onkel Justs, mit Gelärm', unverkennbar. Sie ging nun,
wie es schien, um den lärmenden, zankenden Mann zu beschwicht'gen.

Tief erschüttert stand Luz. Es wurde ihm schwarz vor den Augen,
als ihm klar ward, daß wirklich der Onkel zurück und im Haus war.
Und er sucht' sich zu sammeln, er sucht' sich zu fassen, er weint' sich
knirschend aus im Gebüsch. Er bezwingt sich zuletzt, als er mehrmals
rings den Garten umgangen, sein kochendes Blut zu besänft'gen.
Er bezwingt sich so weit, daß er nun seiner Fassung gewiß ist.
So erscheint er im Raum, wo Onkel Just kauend am Tisch sitzt,
höchst unbillig rumort über liederlich säumige Wirtschaft:
Zucker fehlt ihm, es wird heißes Wasser serviert statt des Kaffees.
Alle Brötchen sind hart, die Butter versalzen und ranzig.
Was der Onkel damit bezweckt, scheint dem Neffen nicht unklar;
gibt sein Ärger zu tun, so kommt man nicht erst zur Besinnung
und vergißt ihn zu fragen, warum er denn das Missionsfest
abgebrochen und umgekehrt und so früh schon zurück sei.

Doch ein andres erstaunt ihn aufs tiefste: Was wurde aus Anna?
Welche Wandlung geschah mit dem Mädchen? Sie glich einer Sklavin,
Onkel Just ihrem Herrn: er befahl, und sie stand im Gehorsam.

Als der Onkel nun endlich sich einigermaßen beruhigt
und gesättigt, entfernte sich Anna und ging auf ihr Zimmer.
Und es dachte der Neffe daran, nun den Onkel zu stellen:
ausgestreckt lag er da und ziemlich befriedigt im Lehnstuhl.
Luzens Blick zu begegnen, Luz nur zu betrachten, vermied er.
Tief zerrissen und tiefer zerstöret, als irgendwer ahnte,
fühlte Luz, daß ein Augenblick unwiderruflich versäumt war.
Und ihm schwante noch mehr: ein Geschick, das um Anna sich ballte,
denn wie wären ihr sonst die Tränen vom Antlitz geträufelt?
Und er hatte zu schweigen, er durfte die Brust nicht erleichtern.
Also trieb es ihn fort. Da rief ihn der Onkel: »So bleib doch!«
Und er blieb. Denn am Ende, wen hatte man außer dem Onkel,
der bereit war und immer bereit war, von Anna zu reden.
Und er tat es auch jetzt. Er sagte: »Gott weiß, was dich aufregt!
Irgend etwas, was immer ich rede, das bringt dich in Harnisch,
und doch habe ich recht. Erinnre dich, wie ich dir neulich
davon sprach, daß man glaube, es hause in Anna ein Dämon,
und du hast dich empört und wahrscheinlich gemeint, Luz, ich selber
sei vom Teufel besessen. Nun also: es werden heut abend
mit den guten Verwandten zugleich so der Rechnungsrat Wendland
als zwei Brüder in Jesu Christ, Teufelsbanner, erscheinen.«

»Onkel, bist du verrückt?« entfuhr es jetzt Luz unwillkürlich.
»Oh, es macht nichts«, sprach jener, »und tu dir nur ja keinen Zwang an,
denn die Sache ist stark, ist, ich gebe das zu, fast unglaublich.

Blei und Tobler, zwei Missionare, der letzte ein Schweizer,
innig verbrüdert in Christo mit Rechnungsrat Wendland, sie waren
aufgetaucht mit dem Rat bei dem heutigen Feste in Diesdorf.
Und sie hatten den Fall Anna Wendland besonders erörtert.
Darum lief ich nach Haus«, rief der Onkel, »spornstreichs und kopfüber,
denn ich wollte dem armen Geschöpf, was heranzieht, verkünden.
Selbstverständlich ist wohl, daß ich hierbei ganz ihre Partei bin.«
Und er paffte erregter und sagte: »Es werden die Burschen
ihr die Hölle gehörig heizen! Sie hält, wie sie sagen,
viele noch ihrer Sünden geheim in entschloßner Verstockung.
Danach werden sie wühlen und angeln und krebsen und grapschen,
bis das arme Geschöpf, zerknirscht, nicht ein mehr noch aus weiß
und sich selbst, und wen noch, der ärgsten Vergehen bezichtigt.
Das nun darf nicht geschehn, sie dürfen die arme Person nicht
ganz vernichten: hier fühl' ich als Mensch und als Mann, der Vernunft hat.
Steh' doch ich, meine Wenigkeit, auch auf der Liste der Schächer,
und sie werden ihr Hokuspokus an mir auch erproben.«

Dunkel war es, der Abend brach an. Es bewölkte der Himmel
sich, es begannen im Laub erkältende Böen zu rauschen.
Fenster schlugen, man schloß sie. Es klagte der Wind um die Hauswand.
Anna hatte sich nicht mehr gezeigt. Und verschlossen im Zimmer,
unterwies sie die Magd in dem, was im Haus noch zu tun war.
Bei der Lampe saß Just, Tabellen berechnend, doch meistens
müßig kauend am Bart, in der Seele Gott weiß was bedenkend.
In sein Bette gekrochen war Luz, nur um ja nicht noch abends
jene Rüpel zu sehn und den Rat, diesen herzlosen Vater.
Jedes Glied wie zerschlagen am Leib, hat er doch keine Ruhe,
hört das kleinste Geräusch und spannt alle schmerzenden Sinne,
um, womöglich geschlossenen Auges, zu sehn und Geräusche
noch viel feinerer Art durch Dielen und Wände zu spüren.
Draußen regnet's. Es sprühen die Schauer zuweilen ans Fenster.
Später dann wird es still. Und es ist Luz, als hörte er Annas
Türe gehn und noch später dann knirschende Schritte im Garten.
Horch, nun rollen die Kutschen heran, und die lieben Verwandten,
hoch erbauet, rückkehren nun endlich von dem Missionsfest.
Und er springt aus dem Bette, als werd' er geschleudert, als werfe
eine Feder den Burschen, schon lehnt er, im Hemd, aus dem Fenster.
Dieses führt nicht nach vorne hinaus, es liegt seitwärts im Giebel:
also hört er nur Stimmen. Die Stimme der Tante, der Fremden.
Der jetzt brummelt, es ist gewißlich der Rechnungsrat Wendland.
So, nun ebbt das Geräusch und verstummt. Und es rücken die Kutschen
an und wenden und winden sich durch in den Hof gegenüber.
Aber im Innern des Hauses erwachen erstickte Geräusche,
welche Luzen mit Grausen erfüllen und mehr noch mit Abscheu,
denn sie stammen von blinden Zeloten: sie haben ihr Werkzeug
mitgebracht, um es morgen zum blutigen Opfer zu brauchen.

Was ist das? War das nicht ein hastiges Wort Onkel Justens,
tief im Garten? Und kamen nicht eilige Schritte von dorther?
Und nun rauschte ein Kleid, und dann klinkte die hintere Haustür.
Luzen sträubte das Haar sich empor, und es traf ihn ein Eishauch.
Nein, er hatte geträumt! Denn nun regte sich nichts mehr. Und lange
herrschte Stille und Nacht. Allein, nun bewegte sich zögernd
wer den Giebel entlang. »He, Onkel!« rief Luz. Und: »Ja, was denn?«
klang Justens Stimme zurück. Luz dachte: so ist er es wirklich.
Und es legte sich bleiern auf ihn, als er nun sich zurückzog.

 

Neunzehnter Gesang

Bleiern lag es auf allen im Hause am folgenden Morgen,
und es glich der Bewölkung der Seelen der Anblick des Himmels.
Nur in verschleiertem Ton sprach Rat Wendland, schon als man beim Frühstück
saß, und hob beinah nie die Blicke von Tasse und Teller.
Er war gut und mit Sorgfalt gekleidet und trug eine Brille.
Anna ging hin und her und betreute den Kreis ihrer Pflichten.
Niemals blickte der Vater sie an und so auch Anna ihn nicht,
dennoch war sie nicht mehr, die sie war, als der Vater das Haus nicht
mit dem Drucke der Autorität seines Daseins beengte.
Hilflos schien sie, sie schien ohne Stolz, ja durchaus wie entmündigt.
Ihre Miene war fast verlegen und bittend. Gehorsam
schien ihr einziges Glück zu bedeuten, fernab jedem Hochmut.
Die so trotzig zu blicken verstand, sie schien jetzt fast schüchtern,
nach der Schnur ihre Arbeit verrichtend, die Menschen zu meiden.
Luz schlich knirschend umher und von wirklichen Schmerzen gemartert,
schon allein die Verwandlung des Mädchens empörte ihn bitter.
Onkel Just fuhr vom Hause zum Hofe, von Scheune zu Kuhstall,
aus dem Keller zum Boden hinauf und von da in den Keller,
fuhr im Garten, im Hofe umher wie gehetzt und vergiftet,
doch er änderte nichts an dem erzenen Gang des Geschickes,
das im Haus sich vollzog, an der mahlenden Mühle, die langsam,
unaufhaltsam die Steine bewegte, gleichgültig beflissen,
Lebensrechte und menschliches Glück zwischen sich zu zermalmen.

Nach dem Frühstück erschienen die beiden Apostel aus Herrnhut,
die Gesichter bis unter die Augen mit Haaren verwachsen.
Kurze Hälse auf mächtigen Schultern und bäurische Fäuste,
dickes, wettergewohntes Zeug, trotz der Wärme der Jahrszeit,
ließ sie Händlern mit Schwarzvieh nicht unähnlich scheinen, als welche
auf der Straße bei jeglichem Wetter zu leben gewohnt sind.
Doch sie hatten in ihren Gesichtern den Ausdruck von Sanftmut,
und der Ton ihrer Stimmen war ebenfalls weich und verschleiert,
und sie hatten im Auge unleugbar ein seltsames Glänzen,
tief und gut und der sonst'gen Gestalt durchaus widersprechend.

Später dann, gegen Mittag, als Luz, auf seine Bette geworfen,
böser Ahnungen voll, sich fruchtlosem Grübeln anheimgab,
was denn wohl der Besuch dieses Rechnungsrats Wendland und seiner
Spießgesellen, besonders im Hinblick auf Anna, bedeute:
da begab sich's, daß sich im Zimmer des Mädchens – es lag ja
Wand an Wand mit dem seinen – zwei redende Stimmen erhoben.
Luz sprang auf, er verschloß seine Tür und – es wird ihm verziehen! –
schlich erbleichend zur Wand, um verhaltenen Atems zu lauschen.

Ohne Zweifel, es war der drübige Sprecher Rat Wendland.
Und es klang nicht wie Scherz, was er sprach, und belangloses Plaudern.
Ein Gebrummel, bald lauter, bald leiser, verriet, daß der alte
Bürokrat irgend wen nicht grade ganz sanft ins Gebet nahm.
Seine Tochter natürlich, wer anders sollte es sonst sein?
War es nun, daß im Hirne des Horchers die Ängste der Seele
Furchtgespenster erzeugten, die Geister unsinnigster Täuschung,
eins ist sicher, er meinte das Folgende deutlich zu hören:
»Du verkennst deine Lage. Begreif das!« So Vater zur Tochter.
»Dieser letzte Versuch ist gemacht und ist wieder gescheitert.
Du wirst sagen, er sei nicht gescheitert. Belüge dich selbst nicht,
Anna, ist meine Antwort darauf! Magst du selber ergründen,
dir beweisen, was mich zu ergründen und dir zu beweisen
ekeln würde, anwidern! Allein du darfst dich nicht täuschen:
wenn auch Schwarzkopps, die ausgezeichneten Menschen, nichts ahnen,
ist es ruchbar im Dorf und weit in der ganzen Umgebung!« –
»Es ist Lüge, und nichts ist geschehn mit Herrn – Just!« Oder war's ein
andrer Name, den Luz nicht verstand? Was sollte mit Just sein?
Woran lag es, daß Luz, so gespannt er auch lauschte, nun lange
Zeit kein Wörtchen mehr deutlich verstand? Vielleicht hatte der eine
Name Just ihn verwirrt oder gab ihm an sich viel zu denken.
Endlich aber verstärkte sich doch die Stimme Rat Wendlands
so gewaltig, daß Luz das Gesagte nicht konnte entgehen:
»Weisest du von der Hand, was die Stimme des Höchsten dir bietet
durch den Mund dieses heiligen Manns, ja in diesem Mann selber,
nun, dann nenne sich eine Verworfne nicht mehr meine Tochter!
Denn verworfen, das bist du, so ganz eine Beute des bösen
Geistes, daß du Verderben jedwedem bringst, welchen du anrührst.
Du verlockest zur Lust, ja, die böse Lust, du bist sie selber!
Deine Opfer trifft ewiger Tod! Und wir haben's erfahren.«

Eine Stille entstand nach diesen entsetzlichen Worten.
Wenig hätte gefehlt, und Luz vergaß sich und pochte
rasend gegen die Wand. Doch er ballte die Fäuste im Abstand.
Plötzlich drang an das Ohr des Empörten ein Weinen, das anwuchs
und sich endlich zu wildem, herzbrechendem Schluchzen verstärkte,
bittere Marter und bitterste Not eines Menschen bezeugend.

Was geschah im Gemüte des Jünglings, nachdem ihn das Schicksal
hier zum Zeugen gemacht des rätselvoll-peinlichen Vorgangs?
dieses Vorgangs, so wirr als bedrohlich in vielerlei Hinsicht!
Schon die Sprache des Vaters, die Luzen empört und entrüstet!
dann der Hinweis auf eine Verfehlung, mit welcher der Name
Just – wohl nicht Onkel Just? – auf unfaßbare Weise verknüpft ward.
Wie man schläft und erwacht von dem Schreck, den das Traumbild uns vortäuscht,
etwa, daß ein Geländer zerbricht an dem Umgang des Kirchturms,
ähnlich, gleichsam im Sturz in den Abgrund, erwachte der Jüngling,
als der Name des Onkels sein Ohr traf in solcher Verbindung.
Und noch war dieser Schlag nicht verwunden, der Sturz nicht vollendet,
da erhob sich bereits aus den heftigen Worten des Vaters,
die vom Wege der Rettung, dem einzig noch möglichen, sprachen,
ein Entsetzensgespenst, dessen Anhauch der eisige Tod war:
denn wie sollte man sie wohl anders verstehen, als daß man
drauf und dran war, die schöne Elevin dem einen der beiden
Gottesmänner, der Diener am Worte des Herrn, zu verkuppeln!
Nacht war plötzlich um Luz, er ächzte und tappte verzweifelt
wie ein Blinder erstickend umher, wenn die Wohnung in Brand steht.

 

Zwanzigster Gesang

Plötzlich saß er, kaum wußte er, wie an die Stelle gekommen,
hinter einem Glas Bier, Onkel Just gegenüber, im Kretscham.
Diesem füllte soeben der Gastwirt von neuem das Schnapsglas.
»Ja, mein Junge, es ist, ich will es nicht leugnen, ein Rückfall«,
rief der Trinker, »jedoch was tut's? Es sagt ja selbst Luther:
Sünd'ge frisch darauf los! Und überdas: nichts ohne Ursach'.«
Fliegen summten im Raum, der weit war und niedrig. Die Bank ging
rings herum an den Wänden. Es standen gescheuerte Tische
längs der Bank, doch kein Gast saß daran. Außer Luz und dem Onkel
war mitunter der Gastwirt zugegen, zuweilen ein Dorfkind,
das, von Hause geschickt, den üblichen Kornschnaps davontrug,
niemand sonst. Und es roch nach vergossenem Bier und nach Spundloch.

»Also nichts ohne Ursach', mein Sohn, wohlgemerkt!« sprach der Onkel.
»Alles hat seinen Grund in der Welt, lieber Luz, selbst der Kaffee.
Und es ist leicht gesagt: der und der ist ein Trinker, prost Mahlzeit!
Was ihn aber dazu gebracht, danach fragt meistens niemand.
Gott, sie haben sich Mühe gegeben, die guten Verwandten,
mich zu bessern. Ich wurde nach Basel geschickt in die Anstalt.
Auf dem Wege dahin, in Dresden war's, kam meine Barschaft
mir abhanden. Ein scheußliches Pech. Nun, ich schrieb Schwager Schwarzkopp
von dem Unglück, der mich aufs neue mit Mammon versorgte.«
Herzlich lachte er in sich hinein, bis er lachend so fortfuhr:
»Ahnungsloser, gottseliger Gustav, verzeih' mir der Himmel,
was ich damals dir aufgebunden, dir aufbinden mußte –
Briefpapier ist geduldig –, als ich in der Krone zu Dresden
festsaß, nicht einen Heller im Sack und gerupft wie ein Sperling.

Hätte ich dir die Wahrheit gesagt vom Verbleib meines Geldes,
guter Schwager, dir stünde noch heute der Mund vor Entsetzen
offen, offenen Munds erschienest du selbst am Gerichtstag.«
Lachend kippte der Ökonom außer Dienst jetzt sein Schnapsglas,
klopfte heftig damit auf den Tisch, bis der Gastwirt es füllte,
und fuhr fort: »Nun, man kennt dich ja, Luz, du bist wahrlich kein Mucker.
's ist mir lieb, daß wir endlich einmal so vertraulich hier sitzen.
Wir verstehen uns ja« – und er zwinkerte –, »Luz, du begreifst mich.
Nun, da gibt es in Dresden ein Haus. Es gibt viele Häuser
dort, natürlich: sonst wär' es am Ende ja wohl keine Großstadt!
Punktum! Aber dies war ein besonderes Haus« – und er schnalzte
mit der Zunge und mit den Fingern –, »es saß eine Dame,
weißt du, hinter der Tür. Doch dann gab es noch andre. Zum Teufel!
Die geringste darunter, Luz, war noch die schönste Prinzessin,
und die älteste … schlage mich tot, wenn sie schon majorenn war.
Schwer, bei Gott, war die Wahl: hier saß die pikante Französin,
dort bewegte die Böhmin … und Mensch, was für Hüften! im Tanzschritt.
Alles Ballstaat und bis an den Nabel herunter der Ausschnitt.
Eine Dänin war da, eine Spanierin, eine Schwarze –
Luz, ich sage nicht mehr, und du wirst mir das Weitre ersparen.«

Luz, im Innern zerquält und von dörrenden Gluten zerfressen,
eingesunkenen Auges und fieberhaft flackernden Blickes,
wußte kaum, weshalb er hier saß, die häßliche Beichte
des verkommenen Kerls, der sein Onkel war, ruhig erduldend.

Der indessen fuhr fort: »Behüte Gott! Luz, wie du aussiehst!
Käsigblaß! Mensch, was ist dir denn über die Leber gekrochen?
Hab' ich etwa was Dummes erzählt, das dir gegen den Strich geht?
Nun, verzeih: ich gestehe ganz offen, ich war nie ein Joseph,
eher, wenn ich's bedenke, das Gegenteil. Und was den Schwindel
anbetrifft, nun, in wem kommt nicht manchmal der Schweinhund nach oben?
Oh, das nenn' ich ein großes Kapitel: der Mann und der Schweinhund,
doch ein größeres noch: das Weib und der Schweinhund. Schluß! Sela!«

Und es seufzte der Onkel und leerte sein Glas, und man hörte
sein Gepoch' durch das Haus nach erneuter eiliger Füllung.
»Danke Gott, lieber Sohn, daß dir dieses Kapitel noch fremd ist«,
fuhr er fort, »und ich wünsche wahrhaftig die schlaflosen Nächte,
die mir dieses Kapitel gemacht, meinem blutigsten Feind nicht.
Lasten liegen auf mir unsühnbarer Schuld, wenn ich dieses
grauenvolle Kapitel betrachte, das leugn' ich durchaus nicht.
Doch was hilft es, der Geist ist willig, der Pfahl steckt im Fleische;
Buße sollte man tun in Sack und in Asche, statt dessen
häuft man immer noch Schuld auf Schuld, und wer wird sie einst tilgen?«

Jetzund schneuzte sich Just, und es rannen zwei wirkliche Tränen,
Trinkertränen, im schnellsten Sturze die Wange herunter.
Luzen stockte das Herz. Er fühlte, die Hand dieses Wichtes
hielt sein Leben so wie die Klaue des Bussards den Sperling:
Augenblicke vielleicht nur noch trennten ihn von der Vernichtung.
Trotzdem reizte der Sperling den Bussard. Ein furchtbarer Zwang trieb
Luzen an, sein Geschick zu der letzten Entscheidung zu treiben.
»Lieber Onkel, ich glaube, du flunkerst ein wenig«, begann er.
Doch da sah ihm der Onkel ins Auge und sagte nur: »Nein, Luz,
so weit ist es noch längst nicht mit mir, und du irrst dich gewaltig,
wenn du meinst, der paar Gläschen halb meinst, daß ich jetzt schon so weit bin.
Nein, mein Junge, wir plaudern nichts aus. Ob wir sonst auch verderbt sind,
willensschwach und charakterlos, hierin sind wir vom alten
Ehrenkodex der Schweigepflicht niemals und nirgends gewichen.« –
»Lieber Onkel, ich nehme nicht an, daß ich irgendwen kenne,
dessen Leid dein Gewissen beschwert, und es lag mir auch jene
Neugier ferne, was Namen betrifft«, antwortete Luz drauf.
Eigensinnig indes blieb der Onkel dabei: »Nimmermehr, Luz,
bringst du mich zum Verrat, und ich liefre dir niemand ans Messer.«

Bis zum Reißen gespannt war die Seele des armen Luz Holtmann.
Er hielt an sich, er wäre sonst Just an die Gurgel gesprungen.
Dieser ahnte vielleicht, ja erkannte den Zustand des Neffen,
denn er lachte jetzt laut und schlug einen anderen Ton an:
»Nichts für ungut. Ich komme ins Plappern, da spricht man viel Unsinn.
Keinesweges ist das der Zweck dieser Übung, die Hefe
aufzurühren, den häßlichen Satz in dem Becher des Daseins.
Neffe, reich mir die Hand« – er streckte die Rechte zu Luz hin –,
»du bist jung und ich alt, wenn dein Leben beginnt, ist das meine
aus und hin und vertan, doch freu' ich mich deiner Kam'radschaft.
Ungleich sind wir vielleicht auch sonst, doch ich hatte wahrhaftig
Ideale so gut wie du, wenn sie heut auch dahin sind.
Daß du hier bist, ich rechne es mir, und ich weiß, was das heißt, Luz.
Es liegt nah, daß man dich mit mir in denselbigen Topf wirft,
und der Topf ist voll niedrigen Schlamms, daran ist nicht zu zweifeln.«

Und Luz zweifelte nicht, indessen der Onkel so fortfuhr:
»Warum tat ich den Sturz und brach mein Gelübde? Ich habe
das Versprechen getan, mich des Alkohols ganz zu enthalten.
Schriftlich habe ich's niedergelegt und es selbst unterschrieben.
Und ich habe es mündlich gelobt in die Hand Schwager Gustavs,
ehrenwörtlich und bei dem Geist meiner seligen Eltern.
Warum tat ich den Sturz und brach das Gelübde und machte
selbst mich ehrlos? Denn was gebührt mir als höchstens ein Fußtritt?
Ja, du sitzest mit einem verächtlichen Menschen am Tische,
Schande ist es für dich, und Schande ist's für deine Mutter,
meine Schwester, vor allem jedoch, wie gesagt, für mich selber.
Vorbild sollte ich sein für den Sohn meiner Schwester. Du müßtest,
Luz, aufblicken zu mir mit Verehrung, ja, und in Ehrfurcht.
Schließ die Augen, mein Sohn, oder sieh ein abschreckendes Beispiel!

»Fort, nur fort«, sprach der Onkel darauf und entfernte sich schwankend,
und der Gastwirt erschien, eh er wieder ins Zimmer hereintrat.
Dringend bat er, Luz möge doch seinen Herrn Onkel bewegen,
fortzugehn, ihn womöglich stillschweigend nach Hause geleiten,
denn er habe sonst Schererei mit dem Herrn Oberamtmann
Schwarzkopp oder wohl gar am Ende noch mit dem Herrn Landrat,
denn er dürfe ja geist'ges Getränk dem Herrn Onkel nicht reichen.

Dieser kam nun mit Poltern zurück, und er rief schon von weitem:
»Warum tat ich den Sturz? Zum Satan! Ich wollte die Tollheit
dieser tollen, irrsinnigen Welt nicht mehr hören und sehen.
Und was treibt man denn anders im Haus der Verwandten als Tollheit.
Könnt' ich's ändern, ich säße nicht hier, und es geht ja auch dich an.
Guter Luz, du hast damals den Kopf ungläubig geschüttelt,
als ich dir von dem Anzug der Teufelsaustreiber erzählte.
Nun, die Burschen sind da, bereits schon am Werk, und der eine
schickt sich an, Beelzebub mitsamt dem Gehäuse zu schlucken:
deutsch gesprochen, er hat bei Rat Wendland um Anna geworben.« –
»Also doch«, fuhr es Luzen heraus. – »Daran ist nicht zu zweifeln«,
Just darauf, »und infolge davon ist es ebenso sicher,
daß der haarige Kerl, dem der Bartflechtengrind im Gesicht sitzt,
unter Glockengeläut und dem Beifall der ganzen Gemeinde,
dieser lausige Pudel, mit Anna ins eh'liche Bett steigt.«

 

Einundzwanzigster Gesang

»Wo ist Just?« fragte Luzen Frau Julie, als er nach Haus kam.
Gramverzehrt und verweint war das Antlitz der Tante. Auch Schwarzkopp
kam nun hastig herein mit dem Hute und fertig zum Ausgang.
»Wo ist Just?« rief auch er. Er habe im Gasthaus den Onkel
angetroffen, berichtete Luz, an die Wahrheit sich haltend,
und er deutete an, in welcher Verfassung. Da riefen
beide Schwarzkopps zugleich: »Das war zu erwarten, ja freilich!« –
»Nun, sei ruhig, mein Kind«, begütigte Julien der Gatte,
»Gott wird helfen. Ich gehe jetzt selber und werde das Meine
tun, um ihn zur Vernunft und womöglich zur Einkehr zu bringen.«

»Gustav, alles ist hier vergeblich. Es bleibt keine Hoffnung.
Was ist alles geschehn, ihn vom Rande des Abgrunds zu reißen!
Immer hofften wir wieder aufs neue. Nun bin ich am Ende!«
So die Tante. Allein es küßte sie Gustav und sagte:
»Denke, Kind, was der Heiland befohlen, wir sollen dem Nächsten
einmal, zweimal, wir sollen ihm hunderte Male vergeben …«
Und er wandte sich wieder zum Gehen, als Luz ihm erklärte,
daß zugleich mit ihm selber der Onkel das Wirtshaus verlassen,
daß er ihn eine Strecke begleitet, dann aber urplötzlich
abgebogen im Anblick des Hauses und quer in die Felder
sich geschlagen – und taub durchaus jedem bittenden Zuruf.
»Um so mehr noch ist Eile geboten«, sprach Schwarzkopp, und seine
Schritte hallten bereits im Hausflur und dann auf der Treppe
nach dem Garten. Es knirschte der Kies, und dann hörte man nichts mehr.

Luz bewohnte nunmehr das Zimmer allein. Alles Suchen
nach dem Stubengenossen, es blieb bis zum Abend erfolglos.
Es war gut so, denn Luzens Zustand war äußerst erbärmlich.
Während seines Gespräches bereits mit dem Ehepaar Schwarzkopp
war ein winziger Punkt ihm im Sehfeld der Augen entstanden,
einer winzigen Spore vergleichbar, umgeben von Härchen.
Diese Spore nahm zu und behinderte Luzen am Sehen.
Lehnen sah er von Stühlen, mitunter auch nur ihre Beine,
Köpfe, die in der Luft hinschwebten und ohne die Körper,
Körper, kopflos und so nur Trümmer, bis daß er ganz blind ward.
Eh die letzte der Lücken sich schloß vor dem Auge des Jünglings,
war's zur Not ihm geglückt, sein Zimmer und Bett zu ertappen.
Dort nun lag er, vollständig geblendet, mit wütendem Kopfschmerz.
Niemand fragte nach ihm, und er hatte sich keinem verraten.
Dieser seltsame Zustand und Anfall war Luzen nicht unlieb.
Er empfand ihn beinah wie Triumph, und sofern er jetzt stürbe,
würden alle erkennen, er sei an der Liebe gestorben –
und vor allem sie selber, die Sünderin, Anna, o Anna!

Es bewegten Gestalten sich längs des geschlossenen Vorhangs,
der die äußere Welt dem Jüngling verschloß. Er erblickte,
wie in hastiger Flucht, die Bilder des Fernsten und Nächsten.
Oft beängstigten ihn diese Züge von farbigen Schatten,
die der Tiefe des Raums allseitig entquollen: Gesichter,
Herren, Damen, bald nahe Verwandte, bald vollkommen Fremde.
Ihre Zahl Legion! Es war, als erschienen sie alle,
aufgescheucht aus dem Stande der Ruhe gleich Scharen von Vögeln,
die ein Schuß oder sonst ein plötzlicher Schrecken verstört hat.

Gut, ich sterbe, so denkt er, die hastenden Völker des Traumes
tragen wehenden Krepp. Sie kommen zu meinem Begräbnis.
Kaum gedacht, so erscheint ihm der liebliche Kirchhof von Dromsdorf
und im Winkel das Grab Erwins, und es läuten die Glocken.
Und er steht am geöffneten Grabe des Vetters, doch dieser,
der im Sarg liegt, er steht ihm höchst seltsamerweise zur Seite.
Und Luz sagt: Lieber Erwin, ich bin von der nämlichen Krankheit
hingerafft wie du selbst, und dort tragen sie schon meinen Sarg her.
Lieber Vetter, ich gönne dir Anna. Es ist mir begreiflich,
daß sie niemand als dir sich in innerster Seele geweiht hat,
denn du hast dir aus Liebe zu Anna das Leben genommen.
Luz schrak auf und erwog, er hatte den Gymnasiasten,
der gestorben um Annas willen, mit Erwin vermenget.
Trotzdem war er sogleich von der nämlichen Täuschung befangen.
Und er sprach: Wir sind drei, die bei Annas Begräbnis heut trauern.
Seltsam, wahrlich, ist dieses Begräbnis. Erscheint doch die Tote
selber köstlich geschmückt, wenn auch düsteren Prunkes und aufrecht;
und sie schreitet einher wie die magdliche Mutter des Heilands,
voller Hoheit und bittersüßer, berückender Schönheit.
Und sie lächelt Luz zu auf dem Wege zum Grabe, und wieder,
wie schon einmal im Traum, berührt seine Seele das Urweh
des Entsagens, er weiß jenen ehernen Richtspruch, der Menschen
grausam eint, um sie dann, grausamer, für ewig zu trennen.

Luz erschrak und erwachte. Er hörte sich zischeln und flüstern.
Todesstille lag in der Luft. Ferne grollten Gewitter.
Draußen trafen vereinzelte Tropfen die Blätter des Birnbaums.
Und Luz weinte. Er ward von Schluchzen geschüttelt. Es krampfte
seine Brust sich zusammen, es wollten sich heftige Schreie
ihr entringen, und Luz erstickte sie kaum in den Kissen.
Du bist rein, du bist rein! klang in Luzen der wortlose Wehlaut.
Oder wär' es dem stinkenden Satan gegeben, den Cherub
zu besudeln? – Und wärest du unrein, die Kraft meiner Liebe,
Anna, würde dich weißer brennen und reiner als Demant.
Und es stürzte sein Weh ihm stromweis hervor aus der Seele.

Und er hatte sich satt geweint und erwogen, er wolle
nicht mehr träumen, um nicht immer neu aus dem Schlafe zu schrecken.
Und es quälte ihn auch ein besondres Gesicht, das sich immer,
sichtbar oder gefühlt, in die anderen Traumbilder einzwang.
Fido war es, der räudige Pudel. Er kreuzte fortwährend
hin und her seinen Weg und sah ihm dabei in die Augen.
Immer hin, immer her schlich das Tier und vertrat ihm die Straße.
Immer her, immer hin schlich der Pudel, er war wie sein Schicksal,
und er schien ihn für immer vom Ziel jeder Sehnsucht zu trennen.
So gedenkt er bei sich: Wahrhaftig, ich wache doch lieber,
als dem quälenden Pudelgespenst wiederum zu begegnen.

Und er horcht auf die Laute im Haus, auf das Brummeln und Murmeln,
auf das Knarren der Stiege und auf das Geklapper der Küche.
Denn so Schweres auch sonst geschieht, man vergißt nicht der Atzung.
Das ist Onkel, er holt aus dem Keller den Wein für das Nachtmahl.
Annas Schritt aber ist nicht zu hören. Es scheint, daß Rat Wendland
immer noch mit dem starren Gemüt seiner Tochter zu tun hat.
Oh, wie königlich ist, wie unbeugsam, so denkt er, ihr Wille.
Blickt sie nicht so verschlossen, als habe der Herrscher des Himmels
und der Erde in ihr sein tiefstes Geheimnis versiegelt?
Ist ihr Wesen nicht so unnahbar, als habe sie täglich
Gott geschaut und sei weltenferne dem Treiben der Menschen?
Trotzdem wagt dies Geschmeiß, das den Adel nicht fühlt, sie zu knechten,
wagt's, zu trüben den Glanz, den göttlichen, der von ihr ausgeht:
und doch spaltet kein Blitz dieses Haus und legt alles in Asche?
Anna! Hättest du mir dich vollkommen erschlossen! Ich wäre
heute selber der rettende Blitz und wir beide geborgen.

Und er sah die Geliebte wie vordem mit Nadel und Weißzeug
und durchlebte die Stunde, in der sie ein wenig sich aufschloß,
damals in der Kanzlei. Da waren die formlosen Hände,
die geliebten! Da klang ihm am Ohr das bezaubernde »Bitt' schön«.
Also mußte im Kreise der himmlischen Heerschar erklingen
für die Ohren der Engel und Gottes das Kyrie eleison.
Doch da war er ja wieder, der Pudel, und kreuzte die Straße
hin und her, her und hin, wie ein hämischer, neidischer Dämon.
Stockend schritt Luz, fortwährend gehemmt und in dumpfer Gewißheit,
daß er so sein ersehnetes Ziel niemals könne erreichen.
Als am folgenden Tag Luz Holtmann erwachte, empfand er
Stärkung, blickte umher und war im Besitz seiner Sehkraft.
Unberührt war das Bett Onkel Justs und er selbst nicht im Zimmer.
Draußen rauschten die Gossen. Es hatte die Nacht durch geregnet.
Und es regnete noch. Luz fühlte am Kopf einen Umschlag,
nahm ihn fort und sann nach: wie war er dahin wohl gekommen?
Sicher hatte ihn Luz sich nicht selber besorgt. Und da stand ja
auch ein Glas, halb geleert und halb Limonade enthaltend.
Ganz allmählich besann sich Luz Holtmann, es habe die Magd ihn
gestern abend besucht. Sie hatte auch manches gesprochen:
daß Frau Julie mit Tobler gebetet und ebenso Anna
mit dem andern Apostel. Und völlig in Tränen gebadet
sei das Mädchen ins Zimmer geflüchtet und nicht mehr erschienen.

Und Luz sann. Er sann weiter und griff sich verdutzt an die Schläfe.
Ja, gewißlich, er hatte geträumt, und ein Tohuwabohu!
Was ihm nun im Gedächtnis erschien, konnte das wohl auch Traum sein?

Schlagen hatte er noch gehört die Dominialuhr.
Wie ihm vorkam, so schlug sie unendlich. Es war ihm unmöglich,
bis ans Ende zu zählen. Es mochte, so schloß er, wohl zwölf sein.
Überm Schlagen entschlief er und sank in die üblichen Träume.
Auch der räudige Hund war wiederum da und verlegte
ihm die Bahn. Plötzlich aber vernahm Luz Geflüster und hörte
eine weibliche Stimme, sie sagte: »Herr Holtmann hat Fieber.«
Hab' ich dieses geträumt? Doch nein, warum sollte die Magd nicht
nochmals haben zum Rechten gesehn? Allein, zu wem sprach sie?
Diese Frage stellte ich mir auch heut nacht, eh die Traumflut
überm Haupt mir aufs neue sich schloß. Doch was nun kam, ist seltsam.
Ich lag wach, und ich wußte nicht, wann noch wodurch ich erwacht war.
Totenstill war die Luft, doch mit einemmal wachte mein Ohr auf,
und ich hörte das Rauschen des Regens, der wolkenbruchartig
in die sausenden Wipfel des dämmernden Gartens herabschoß.
Und ich wußte, es war jemand da, jemand bei mir im Zimmer.
Ihn verriet kein Geräusch, und ich konnte von ihm auch nichts sehen.
Jetzt erst griff ich, nach längerer Zeit, diese nasse Kompresse,
und da habe ich ganz gewiß zweimal »Anna« gerufen.
Alles schwieg. Lag ich längere Zeit, eh ich abermals einschlief?
Ich empfand jedenfalls einen seltsam wohligen Frieden.
War's das niedergegangene Wetter, der Umschlag, was immer –
jedenfalls war mein Kopfweh gelindert, und auch jener Vorhang,
der die Sehkraft mir nahm, ich fühlte, war nicht mehr vorhanden.
Ja, nun weiß ich's genau: Es war Licht! Nur ein knisterndes Nachtlicht!
Und mir hob eine Hand den Kopf, jemand gab mir zu trinken.
Das geschah, als ich wieder erwacht. Oder war es ein Traumbild?
Groß erschien die Gestalt der barmherzigen Mutter. Sie deckte
mir das winzige Licht, doch das machte um sie eine Glorie.
Und ich fühlte mich nie so geborgen, als da mich der Atem
dieses mächtigen Schattens getroffen und hörbar umwehte.
Anna? – Nein! – Wäre sie es gewesen, ich könnte nicht zweifeln.
Also war es die Magd. Dann hätte mein Traum sie vergottet.
Wagt' ich doch kaum zu atmen, von wortlosem Staunen gelähmet
und zugleich so unsäglich verzückt wie zum siebenten Himmel.
Es sei besser, so dacht' ich, daß dieses alles nur Traum sei,
um die bezaubernde Täuschung so lange wie möglich zu halten,
als für wirklich es nehmen und dann der Enttäuschung erliegen.
Nein, es war nicht die Magd, sondern war Anna Wendland. Sie war es
wirklich! Fühl' ich doch jetzt: die Gestalt, die so lange am Fenster
stand und stumm in die Nacht hinaussah, war sie. Und ich wußte,
daß sie's war, niemand sonst. Trotzdem wagte ich nicht, es zu glauben,
nicht, zu reden im Banne der Nacht und des seltsamen Hirnzwangs,
angstvoll fürchtend, die Wundererscheinung wie Spuk zu verscheuchen.
Und sofern sie es war, was dann? Was hat dieses Zeichen
zu bedeuten? sinnt Luz. Wenn ruhlose Seelen aus Gräbern
sich erheben und nächtlich umhergehn und jemand erscheinen,
ist es dann nicht, um Hilfe von ihm zu erflehen und Rettung
aus dem schwefligen Pfuhl des Abgrunds? – Luz sprang aus dem Bette
auf die Füße, mit beiden Händen die Schläfen sich pressend:
Du grundgütiger Gott, du allmächtiger, gibst du es wirklich
deinen Kindern im Schlaf, also denkt er, oh, hättest du mich doch
auch rechtzeitig geweckt, ich hätte mein Glück nicht verschlafen.
Und er knirscht, und es packt ihn die Wut der Verzweiflung: so nahe
war das Glück, und ich lag wie ein Sack und vergaß es zu greifen.

 

Zweiundzwanzigster Gesang

Also Luz. Nachdem die Entdeckung des nächtlichen Vorfalls
im Gemüt sich vollendet, die erste Erregung darüber
sich gelegt, fing er an, das Erlebnis genau zu erwägen.
Und er sprach zu sich selbst: Sie war bei dir alleine im Zimmer.
Diese Nacht ist die erste, da Onkel es nicht mit dir teilte.
Du warst krank, und das hat ihr die Magd höchstwahrscheinlich berichtet,
deshalb kam sie. Sie kam, um nach deinem Befinden zu sehen.
Darin läge an sich nichts Besondres: doch sagt dein Gefühl dir,
schwerlich hätte sie diesen Anlaß in einer Bedrängnis
wie der ihren, in solcher Zeit ohne weitres ergriffen,
wenn er ihr nicht gelegen gekommen! Und also: sie liebt dich!
Es durchtobte den jungen Menschen ein Sturm neuer Hoffnung,
als er endlich zu diesem beglückenden Schlusse gelangt war.

Also auf! Auf zum Kampf – warum stockt ihm jetzt plötzlich der Herzschlag?
Fido kratzte ja nur an der Tür und erbettelte Einlaß.
»Unsinn«, sagte Luz laut, doch das linderte nicht seinen Herzschmerz,
der ihn zwang, auf die linke Brust beide Hände zu pressen.
Und er öffnete nur einen Türspalt und schlug mit dem Stocke
blindlings zu, daß der Pudel, getroffen, aufheulend davonlief.
»Bestie!« flüsterte Luz in ihm selbst fast befremdlichem Jähzorn.
Und es ging ihm mit einemmal auf, wie das höllische Auge
des dämonischen Tiers, so wie es im Traum ihn belästigt,
Justens Auge, des Onkels, gewesen, durchaus und kein andres.
Justens Seele, sie schien inkarniert in dem hündischen Nachtmahr,
eingesargt in den wandelnden Grind, in das schleichende Unflat –
und schon wieder reviert's und ging um in Luz Holtmanns Bewußtsein.

Luz ergriff einen Stein, in Gedanken, das Untier zu scheuchen;
doch es blieb; seiner Treue verschlug weder Steinwurf noch Fußtritt.
Scharrend stand es, die Schnauze im Müll, oder schlenkerte Därme
mit entblößtem Gebiß oder tat irgendwie seine Notdurft.

»Sei verflucht«, sagte Luz. »Du bist von dem nämlichen Blute
wie der Andre, nach dem das Tintenfaß Luther geschleudert.«

Luz begab sich, bedeutend verspätet, hinunter zum Frühstück.
Und es hatte bereits das heimliche Wesen im Hause
seinen Fortgang genommen. Er hatte gehofft, Fräulein Anna
bald zu sehn und womöglich zu sprechen. Es war seine Absicht,
ihr entschieden den Vorschlag zu tun, mit ihm eine Wandrung
nach dem Kirchhof von Dromsdorf zu unternehmen. Er wollte
auf dem Wege sich ihr vollständig erklären, ihr Pläne
kühnster Art unterbreiten für eine Entführung und Rettung.
Doch einstweilen war Anna nicht sichtbar. Ihm blieb unbenommen,
einen Fluchtplan mit leeren Taschen und Luftschloß auf Luftschloß
aufzubauen nach Herzenslust, mit dem Mut der Verzweiflung.

Tante Julie kam, eine Bunzlauer Schüssel mit Schoten
unterm Arm, denn sie mußte sich heut um die Küche bekümmern.
Unterredungen ernstester Art nahmen Anna in Anspruch,
wie sie sagte. Mehr sagte sie nicht. Es war das, was Luz wußte.
Denn man hörte Gebrummel im Zimmer, das rechts lag vom Eingang.
Bruder Blei war darin, der Rat Wendland sowie seine Tochter.

Julie schien wiederum recht gefaßt, obgleich sie sehr blaß war.
Freilich seufzte sie oft, die Schoten auspellend, und flüchtig,
wie es üblich bei ihr, ward ihr Antlitz zum Schmerze verändert.
Und sie fragte leichthin, ohne Aufblick zum Neffen: »Wie geht's dir?« –
»Danke, Tante«, sprach Luz. – »Ich höre, du hast etwas Kopfschmerz!«
fuhr sie fort. Und er drauf: »Nicht der Rede wert, Tante!« – »Du weißt doch«,
sagte sie, »daß mein Bruder noch immer nicht wieder zurück ist?«
Danach schwieg sie. Es hing ein schicksalbeladnes Gewölke
schwer beklemmend herab ins Haus, und es rangen die Herzen.

Unwillkürlich entglitt es Luz: »Ja, ich muß nun bald wieder
an die Arbeit.« – »Gewiß«, sprach Julie, »das läßt sich wohl denken.
Wann beginnt denn der Unterricht wieder in Breslau?« Ich bin hier
lästig, falle zur Last, denkt der Neffe mit Recht, und sie sagt mir
so sub rosa: man soll die Gastfreundschaft niemals mißbrauchen.
Ob sie ahnete, was in ihm vorging? Beinah schien es nicht so.
Oder wußte sie es und vermied doppelt peinlich, jedweden
Anlaß ihm zu gewähren, womöglich sein Herz ihr zu öffnen?
Thea kam, als die Tante gegangen. Sie war einer Klette
zu vergleichen und hing Luz an, wo sie ihn nur erwischte,
ihm zur Pein! Denn es brachte ihr stürmisch-wildzärtlicher Zudrang
ihm nur bitterer ins Bewußtsein das, was er entbehrte.
Und dabei hieß es hangen und bangen und harren in Ohnmacht.

Plötzlich stockte Luz Holtmann das Herz. Es befiel ihn Entsetzen.
Fremde, völlig unmenschliche Laute erschollen im Zimmer,
wo der Rat und der geistliche Mann und die Sünderin weilten.
Was dort vorging, Luz wußte es nicht, und trotzdem ergriff ihn
ein fast tödliches Weh, als würden in dieser Sekunde
seine Jugend und alles Glück seines Daseins ermordet.

Und es stapften herein ins anstoßende Zimmer die Tritte
rauher Stiefeln. Es klangen bewegte, befriedigte Stimmen:
Bruder Bleiens verschleierter Baß und das Flüstern des Rates
mit dem freudig bewegten, wohltätigen Stimmklang Herrn Schwarzkopps.
Auch Frau Juliens Organ war nun deutlich zu hören, Luz lauschte.

Und es sprach Bruder Blei: »Also trog meine Hoffnung mich doch nicht,
Gott hat Gnade gegeben und unsre Gebete erhöret,
ihr verstocktes Gemüt hat sich gänzlich erweicht und gereinigt,
und nun scheint mir der Boden bereitet für glückliche Aussaat.
Überraschend selbst mir, mit gewaltiger Macht, kam die Wendung,
diese Umkehr vom Wege der Schuld auf den Heilsweg der Buße.
Die Zerknirschung ist groß, die Reue ist voll und aufrichtig.«
Wendlands Stimme erklang: »Wie meinen Sie, Bruder, ich denke,
es sei Zeit, Bruder Tobler zu rufen.« – Es hauste der Bruder
in dem Schulhaus des Orts, nicht weit vom Gehöfte der Schwarzkopps.
Dorten saßen zwei exemplarische Christen, der Lehrer
und noch mehr seine Frau: dieser fehlte nur wenig zur Heil'gen.
Ihrem Scharfsinn allein gelang zu ermitteln, was Anna
überführte, sie hilflos den rettenden Richtern dahingab. –
»Ja, warum nicht«, sprach Blei, »doch möge sich Tobler gedulden,
bis der läuternde Sturm ihrer Brust sich ein wenig gelegt hat.
Deshalb hab' ich sie auch sich selbst überlassen, damit sie
Sammlung finde, nachdem sich die Flut ihrer Seele geglättet,
und im Stande der Gnade sich finde und gleichsam befest'ge.
Denn die Wiedergeburt in unserm Herrn Christo ist wahrlich
kein Geringes, und heißt es, den Christen im Menschen gebären,
wird der irdische Leib nicht selten von Grund aus erschüttert.«

Plötzlich schluchzte Frau Julie auf: »Doch mein Bruder, mein Bruder!«
Schmerzlich spannte sich Luzens Gehör, ja, es gab keine Faser
seines Leibes, kein Glied, das nicht angespannt horchte. Was war das,
dies »Mein Bruder, mein Bruder«? Was hatte die wilde Zerknirschung
Anna Wendlands nun wieder gemeinsam mit Onkel Justs Trunksucht?

»Julchen, Julchen«, so tröstete innig der Herr Oberamtmann,
»furchtbar ist diese Sünde gewiß und überaus schändlich.
Unser Haus ist entehrt, und wir haben hinreichenden Grund, Kind,
vor dem würdigen Mann, vor Ihnen, Herr Rat, uns zu schämen.
Denn Sie brachten Ihr Liebstes zu uns in dem festen Vertrauen,
daß der Geist unsres Hauses die sicherste Hut ihm verbürge.
Darin wurden Sie gröblich getäuscht. Gewiß, auch wir selber
wurden häßlich und gröblich getäuscht, doch das tilgt unsre Schuld nicht,
denn wir hatten die Pflicht, uns vor solcherlei Täuschung zu schützen.«
Doch es dankte der Rat mit beweglichen Worten Herrn Schwarzkopp,
bat ihn dringend und herzlich, doch ja nicht von Schuld mehr zu sprechen,
vielmehr habe er sich einen Gotteslohn reichlich verdienet,
er sowohl als die hochverehrliche Frau Oberamtmann.
Und er schloß: »Wie denn wollten Sie wissen, was Ihnen mit Anna
für ein Geist in das Hauswesen trat? Mir war's nicht verborgen.«

Höllen webten um Luz. Es war eine grünende Hölle
draußen, die durch das Fenster mit Wiesen und Wipfeln hereinsah.
Überflüssig und fremd, ja störend erklangen die Stimmen
der gefiederten Sänger, aufreizend das Rufen des Kuckucks.
Seelenlos, ohne Anteil und vollständig fühllos erwies sich
dieser Frühling, dem man die Kraft zur Beseligung nachrühmt:
Hätte ich nie diesen Frühling erlebt, wär' ich niemals geboren!

Wie war Luz in die atlasgefütterte Kutsche geraten,
neben Schwarzkopp? Sie rollte bereits, von zwei Gäulen gezogen,
langsam fort über Land unterm lerchendurchjubelten Himmel.
Dumpf und heiß war der Raum, trotzdem man die Fenster geöffnet.
Wie war Luz in den Wagen gelangt, und wohin ging die Reise?
Mit der Wahrheit gesprochen: es hatte ihn Schwarzkopp höchst dringlich
aufgefordert, ihn bei der Suche nach Just zu begleiten.
Wollte er nur bei der peinlichen Fahrt den Begleiter nicht missen
oder Luz aus dem Hause entfernen, damit sich ein Etwas
dort in Ruhe und ohne sonst mögliche Störung vollzöge?
Oder lag ihm daran, aus Gründen, die er geheimhielt,
seinen Neffen nicht aus den Augen zu lassen? Wer weiß es!

 

Dreiundzwanzigster Gesang

Eh man abfuhr und noch an der Haustür, erschien Bruder Tobler,
käseweiß im Gesicht überm apostolischen Vollbart,
seine Nase war weiß, und es zuckten ihm bläulich die Lippen.
Tobler blickte voll Demut und Angst empor zu Herrn Schwarzkopp,
eine brennende Frage im Auge, die aber nicht laut ward,
durch die Gegenwart Luzens gehemmt und im Busen gebunden.
Dennoch hatte Herr Schwarzkopp die Frage verstanden. Er sagte:
»Lieber Bruder, es scheint, daß der Herr Ihre edele Absicht
segnen will. Man erwartet Sie drin, und so seid Gott befohlen!«
Und es war Luz nicht anders, als schleppte man ihn auf den Richtplatz
und es warteten Schwert oder Galgen auf ihn. Onkel Schwarzkopp,
was er immer auch ahnte, er konnte unmöglich ermessen,
ganz ermessen, wie schlimm es um Luz, seinen Neffen, bestellt war.

Noch bis jetzt hatten beide kein Wort miteinander gewechselt,
hin und her auf dem ausgefahrenen Feldweg geschüttelt.
Endlich aber begann der Onkel und sagte verdrießlich:
»Noch zu allem unsagbaren Kummer, den Just uns bereitet,
scheint er förmlich darauf erpicht, jede Wendung zum Bessern
zu durchkreuzen. So traf heute morgen dies Telegramm ein,
drin Graf Heuer mich bittet, dem Schwager zu sagen, er habe
unter zwanzig Bewerbern den Posten für ihn reservieret.
Heut ist Freitag. Am Montag schon soll er die Stelle beziehen.«

Darauf schwieg er, und ebenso schwieg auch sein Neffe, Luz Holtmann.
Doch nach einiger Zeit begann Schwarzkopp wieder und sagte:
»Ohne Gott ist kein Segen, so wenig im Diesseits wie Jenseits.
Das hat Just zu erfahren gehabt, doch er kommt nicht zur Einsicht.« –
»Warum gibt ihm denn Gott nicht die Einsicht«, sprach Luz, »lieber Onkel?« –

»Das sind Fragen«, drauf jener, »auf welche zu antworten schwer ist,
ja, sie geht über Menschenvernunft, und wir fallen in Sünde,
wenn wir etwa mit Hartnäckigkeit auf der Lösung bestehen.«
Wieder schwieg man, denn Luz, gepreßt in die Kutsche, war dennoch
fern von ihr und in Höllen gesperrt. Dorten ward er gemartert,
ward mit glühenden Zangen gezwickt und stieß gräßliche Schreie
aus der Brust, die der Onkel, ihm körperlich nah, doch nicht hörte.
»Ist dir etwa nicht wohl, lieber Luz?« fragte dieser ihn endlich.–
»Ganz, ganz wohl«, sagte Luz. »Nur war ich die Nacht ziemlich schlaflos.«–
»Das Gewitter natürlich«, sprach Schwarzkopp, »das sonst ja sehr not tat.«
Er versuchte zu lachen: »Nun, Luz, bald bist du ja wieder
mittendrin in dem Dienste des Schönen und kannst dich den Künsten
wieder widmen, statt hier, bei den armen Verwandten, verbauern.«
Und Luz atmete tief und dachte: Was soll ich erwidern?

Dem Verborgenen kam der Gedanke, noch mehr zu verbergen
das Verborgne und so hinter jenes Verborgne zu kommen,
das er ahnungsweise begriff, jedoch ohne Bestät'gung.
Und er fragte, als sei er durchaus unbeteiligt: »Ist's richtig,
daß Bruder Tobler dran denkt, trotz des Vorfalls mit Onkel, um Anna
anzuhalten, will heißen, mit ihr in die Ehe zu treten?«
Leicht befremdet sah Schwarzkopp ihn an. »Ach, du weißt von den Sachen!
Nun, so kannst du ermessen, wie groß diese Prüfung von Gott war.
Denn es fällt ja doch auch auf uns andre der Schatten der Schandtat.
Unverdient für uns alle nun hat der allgütige Vater,
ja, man sage getrost, seinen Engel gesendet, um endlich
die hauptsächlich Betroffne zu sich und zum Guten zu leiten:
Bruder Tobler! – Es ist Bruder Tobler seit mehreren Jahren
Witwer. Bei der Geburt eines Kindes verlor er die Gattin.
Dieses Kind aber lebt. Es ist unter sechsen das jüngste,
während das ältste, ein Knabe, das siebente Jahr überschritten.
Bruder Tobler nun war eines Tags zu Besuch bei Rat Wendland.
Tobler hatte schon oft und in heißen Gebeten inständig
Gott ersucht, daß er ihm doch womöglich mit deutlichem Hinweis
sage, was in betreff der Waisen, der Kinder, zu tun sei.
Ist er selber, der Bruder, doch meistens auf Reisen und kann nichts
andres tun, als die Kinder daheim Gott dem Herrn zu empfehlen.
Und er hat überdies eine ältliche Frau zu besolden,
die, soviel sie auch koste, sagt Tobler, den Kindern nur gram ist.
Als er nun, wie gesagt, um Rat Wendland und seine Familie
in der Hoffnung auf Christum zu stärken, bei jenem zu Gast war,
gab ihm Gott einen Wink: er solle nicht länger mehr ledig
bleiben, solle nicht um die verewigte Gattin mehr trauern.
Diese selber erschien ihm des Nachts, und sie sagte, es habe
ihr die Heilige Trinität selbst den Auftrag erteilet,
ihm, dem einstigen Gatten, die älteste Tochter Rat Wendlands
zu empfehlen: sie sei nach dem Willen des Höchsten erkoren,
Mutter ihrer mit Tobler gezeugeten Kinder zu werden
und, so schloß die Erscheinung, dem einstigen Gatten ein Eh'weib.«

Und der Onkel fuhr fort: »Diese Eingebung hatte zur Folge,
daß sich Tobler verpflichtet hielt, ihr genau zu entsprechen.
Er eröffnete sich schon am folgenden Morgen Rat Wendland.
Lange haben sie dann miteinander gebetet, und endlich
kam Gewißheit in sie, daß die nächtliche Stimme von Gott war.
Und auch Anna, sie hat sich gebeugt und erkennt diese Stimme
nun als das, was sie ist, und erwartet in Demut ihr Schicksal.«

Werde ich dies überstehn? dachte Luz, als im dämmernden Abend
Rosen wieder sich nahte die Kutsche. Es schlief jetzt der Onkel.
Eine Reihe von Dörfern war abgefragt, und man hatte
Onkel Just wohl gesehen, doch wußte man nicht, wo er hin war.
Seine Spur ging von Gasthaus zu Gasthaus. Es hatten die letzten
seine Zeche mit Kreide gebucht, denn er hatte kein Geld mehr.
Diese Kreide ward ausgelöscht durch die Börse Herrn Schwarzkopps,
aus Glasperlen, gestickt, mit dem Kreuze geschmückt von Frau Julie.
Und es röchelte schwer und schnarchte der Herr Oberamtmann,
Schweiß entrollte der Stirn, und er stammelte traumhafte Worte,
wie sie Kummer und Sorge des Tages im Schlafe ihm eingab.
Plötzlich scheuten die Pferde ein wenig. Der Kutscher hielt stille,
kroch vom Bocke und sagte, ans Fenster getreten: »Da liegt was!«
Luz stieg aus. Doch der Schläfer schlief weiter den Schlaf des Gerechten. –
Und man sah einen Klumpen, gelagert im grauenden Zwielicht
in der Mitte des Wegs, einer breiten, vergraseten Straße;
tot und wenig benutzt schien die grade Allee, und so hatte
wohl schon lange der Klumpen inmitten der Gleise gelegen.
»Und was meint Ihr denn nun, was es ist?« fragte Luz jetzt den Kutscher.
Drauf der zahnlose Knecht: »Nu was denn, 's wird halt a Mensch sein.«
Wirklich war es ein Mensch. Luz fror. Es gingen ihm Ströme
Eises kalt durchs Gebein. – Nun genug: dieses war der Gesuchte!

Schnarchend lag er, ein atmender Tod, in dem eignen Gespeie,
überkrochen und rings umsummt von Dungkäfern und Fliegen.
Mühsam lud man ihn auf, diesen Unflat, den einen der Sieger,
den sich Eros gekrönt, und brachte den Ärmsten nach Dromsdorf,
wo der freundliche Lehrer, Herr Krause, sich seiner erbarmte,
erst ihn wusch und ihn dann auf dem Bett in der Kammer allein ließ.

 

Vierundzwanzigster Gesang

Alle schliefen, als Onkel wie Neffe ins Gutshaus zurückkam.
Dieser legte sich nieder, zerschlagen, und doch war sein Bette
ihm ein glühender Rost. Und er schloß bis zum Morgen kein Auge.
Wieder jagten sich Bilder des Tags in dem Raum seiner Seele.
Doch vor allem erschrak er bei jedwedem Knacken des Holzes,
denn er war so verblendet zu hoffen, es könne sich Anna
nochmals zeigen, von Reue und inniger Liebe getrieben.
Doch es blieb bis zum Morgen die Stille des Grabes im Hause.
Luz erhob sich und ging ins Freie mit Aufgang der Sonne,
denn es litt ihn nicht mehr auf dem Foltergestell seines Lagers.
Und es zog Luz hinaus in die Felder. Ein wenig geöffnet
stand das Fenster im Raume der schönen Elevin. Es durfte
durch die Spalte einströmen die Luft und die Liebste umfächeln.
Bald betrat er die Kirschenallee in der Richtung auf Dromsdorf.
Dorthin zog's ihn. Ich habe dich neu in die Seele geschlossen,
Erwin, schuldloses Kind, denn du bist nun nicht mehr mein Rivale,
also denkt er. Auch sonst: ihn dürstet nach Reinheit und Unschuld.
Oh, wie hatte er doch mit Ehrfurcht die Stunde erwartet,
wo das dunkel Gefühlte sich endlich ihm würde entschleiern,
jenes höchste Geheimnis, die mystische Weihung der Liebe.
Und sie hatte sich ihm offenbart in vollkommenster Reine,
Paradiese dem Jüngling gezeigt und ihm wieder entzogen,
daß er nun ein Verstoßener war in den Bulgen des Daseins.
Und er watete fort durch den sumpfigen Unrat des Lebens.
Nein, da winkte ja schon in der Ferne das Kirchlein von Dromsdorf,
und beim Anblick allein umwehte ihn seltsam der Friede.
Oh, da war ja die Bank und die Hütte, hier hatte ja Anna
ihn zu einem Maß Kirschen genötigt und mit ihm gegessen.
Einsam war es. Kein Mensch in der Nähe. Er küßte inbrünstig
jede Stelle, die Anna berührt, und dann ließ er sich nieder,
um, den Kopf auf dem Tisch, in wilder Verzweiflung zu weinen.
Und er küßte das Tor, als es endlich erreicht war, des Kirchhofs,
wo er jene Erscheinung gehabt von dem kommenden Cherub.
Und sie hatte ihn doch geliebt, ihn allein, rief sein Innres.
Oh, was hätten wir doch für ein seliges Leben begonnen!
Oh, du schleichender Wicht, Onkel Just, o ihr Stillen im Lande!

Und er trat an das Grab, wo der Strauß Fräulein Annas im Efeu,
ganz vertrocknet, noch stak; und er kniete und preßte sein Antlitz
tief hinein in das raschelnde Stroh zwischen geilendem Efeu.
Lange stand er danach und erzählte dem seligen Knaben,
dem Gespielen, umständlicherweise sein schmerzvolles Schicksal.
Stärker hatte er nicht geweinet und heißere Tränen
nicht vergossen, als Erwins Sarg in die Grube versenkt ward.
Freund, du hast dir das bessere Teil in den Himmeln erwählet!

Deutlich war zu erkennen, daß Tobler mit Anna verlobt war,
als sich Luz um die Mittagsstunde im Gutshause einfand.
Und es wurde ihm auch durch Frau Julie und Schwarzkopp bestätigt.
Tobler durfte es wagen, ihr zuzunicken, er durfte
ihren Scheitel sowie ihren köstlichen Nacken berühren.
Deutlich konnte man sehn, wie der Mann seines Kaufes höchst froh war.

Und die Stunde des Abschieds ist da. Vor der Tür steht der Wagen.
Regen nieselt, der Himmel ist grau wie der herrschende Alltag.
Die Effekten hat Luz auf den Kutschbock gestellt, und er wartet.
Wie so ganz ohne Sang und Glanz, denkt sich Luz, ist mein Abschied.
Fühllos geht man dem Alltage nach. Es scheint niemand zu ahnen,
daß man hier einen tödlich verwundeten Menschen hinausstößt
in die Wüste der Welt, wo nicht einmal mehr Wasser und Brot ist.
Wo ist Anna? Sie zeigte sich nicht. Und Luz nimmt einen Anlauf,
geht und suchet und findet zuletzt die Gesuchte im Kuhstall,
wo, die Stirne gelehnt an die Wampe der Kuh, einer Kuhmagd
gleich, sie milkt. Er erkennt selbst im Dunkel das Gudrunenantlitz.
»Ach, Sie reisen? Adieu«, sagt Anna und wischt sich die Hände,
um alsdann mit der Rechten die Luzens ganz kühl zu berühren.
Und er spricht so wie sie: »Nun adieu, Fräulein Anna!« Es klingt wie:
Guten Abend, Herr Müller, Herr Schulze, wie geht's? Und so geht er.
Luzen rinnet das Blut, als dies Salz in die Wunde gestreut wird.
Jetzt erscheinen im Ehrengeleit von Frau Julie und Schwarzkopp
Blei und Tobler; der Wagen, er ächzt unter ihren Gewichten.
»Guter Luz, grüß die Eltern«, sagt Tante. – »Jaja, auch von mir, Luz«,
ruft der Onkel. Und Luz kriechet fröstelnd hinauf auf den Rücksitz.
Süßlich lächeln die Brüder ihn an, dick vermummt in die Mäntel.
Er muß denken: Was kostet ein Ferkel? Wie steht jetzt das Schwarzvieh?
Und bei alledem quälet ihn neu, nach dem eben Erlebten,
jener Zweifel, ob Anna ihn liebe, ihn jemals geliebet.
Was verschlug es, da doch hier alles und alles verspielt war?
Trotzdem, wenn er nur dieses erführe! Es packt seine Seele
Ungewißheit so stark als nur je. Er verlöre sie nochmals,
würde ihm das Bewußtsein entwendet, es sei auch in Anna
höchsten Daseins Erfüllung in köstlicher Knospe zerstöret.
Denn er glaubte dies eine verstanden zu haben mit Hellsicht:
die den Gymnasiasten einst trieb in den Tod ohne Absicht,
die sich Sünderin fühlte zudem und als solche geachtet
und verachtet, sie wollte die Reinheit in ihm nicht besudeln,
und je heißer und reiner sie liebt', erst recht um so wen'ger.

Tobler blickte ihn an mit verstohlenen Blicken und forschend,
doch nicht anders, als sei er ein seltsames Tier und gefährlich.
Ob er Witterung hatte von etwas? Wer sollte das wissen?
Doch da sagte Frau Julie laut: »Wo bleibt denn nur Anna?«
Tobler aber: »Frau Schwarzkopp, wir haben schon Abschied genommen.
Walte sie ruhig im Kreis ihrer Pflicht, denn das ist mir am liebsten,
wird das Leben, das ihrer einst wartet, doch Gleiches verlangen.«
Der Apostel war noch nicht zu Ende mit Reden, da stand sie
neben Julie und blickte hinein in den Wagen. O Augen,
meerfarb schillernd, denkt Luz, wem denn gilt euer Blick? Und es steigt ihm
Urschmerz wild aus der Seele empor, als er wieder die Hände,
die anklagenden Hände, erblickt dieses schönsten Geschöpfes,
rauh und plump und entstellt und durch Hörigenmühsal gehärtet.
Und es wechselt sein Blick durchdringend von dort: in die Augen
Toblers. Untertan sei dem Manne das Weib, eine Sklavin
brauchst du für deinen Wanst, deine Kinder und für deine Geilheit!
denkt er. Tobler blickt weg, er kann diesen Blick nicht ertragen.
Und der Wagen rückt an. Ade! Räder knirschen im Kiessand.
Eine glühende Kugel steigt Luz in den Hals, und sie brennt ihn
furchtbar. Nun, was ist das? Ade! – Doch sie liebt dich, sie liebt dich!!
will es jubeln in ihm. Denn sie liegt in den Armen Frau Juliens,
ihres Stolzes vergessend, von maßlosem Schluchzen geschüttelt.
Und ihm kommt die Erleuchtung: Nicht Tobler, der ganz ungerührt bleibt,
gilt der mächtig ausbrechende Schmerz, nicht dem flüchtigen Abschied,
nein, dem Abschied auf ewige Zeit und auf Nimmerbegegnen.

 


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