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Der Bewahrer dieses Tagebuches stammt aus einer französischen Flüchtlingsfamilie. Seinen Namen verrate ich nicht, da er ihn mit dem versiegelten Manuskript, das sein Nachlaß enthielt, nicht in Verbindung gebracht sehen will. Deutlich gesprochen: er verleugnet das hier zum erstenmal der Öffentlichkeit unterbreitete Tagebuch. Mit welchem Recht, entscheide ich nicht. Über die Gründe ließe sich streiten. Ich würde im gleichen Falle nicht so handeln. Leben, Lieben, Leiden ist allgemeines Menschenlos, und indem man dem Leben, Lieben und Leiden Worte verleiht, spricht man im Persönlichen doch nur das Allgemeine aus. Gewisse Dinge mit Schleiern verhüllen? Warum nicht, wenn es reiche und farbige Schleier sind! Aber dann nicht dort, wo es Wahrheit zu entschleiern gilt. Und dies, nämlich der Zwang dazu, das Bestreben, der Wahrheit ins Auge zu sehen, sich mit Wahrheit zu beruhigen, ist in den Selbstgesprächen dieses Tagebuches nicht zu verkennen.
Der Urgroßvater des Mannes, der diese Aufzeichnungen hinterließ, hat bereits eine Deutsche geheiratet, der Großvater, ein geschätzter Architekt, ebenfalls, der Vater eine Holländerin. Dies führe ich an, weil die so bedingte Blutmischung zu einer gewissen Schwere der Lebensauffassung, wie sie in den Meditationen zum Ausdruck kommt, recht wohl stimmen würde. Überhaupt: der Verewigte möge mir verzeihen, wenn ich ihn schließlich doch nicht für den Verwalter, sondern für den Verfasser des Tagebuches halten muß und seiner Blutmischung auch das wunderliche Versteckenspiel im Verhältnis zu seinem postumen Lebensdokument zuschreibe. Denn wollte er, wie während des Schreibens, Selbstgespräche zu Papier bringen, die das ewige Schweigen bedecken sollte, so liegt schon darin ein Widerspruch. Sie konnten freilich ein Atmen seiner Seele sein, das ihn vor dem Ersticken bewahrte. So mochte er sie immerhin dem Feuer überantworten, wenn sie ihren Dienst getan hatten. Statt dessen siegelte er sie ein.
Wer etwas einsiegelt und verwahrt, wünscht es natürlich zu erhalten. Erhalten aber sind diese Selbstgespräche nur dann, wenn sie eines Tages, von Siegel, Schnur und Umschlag befreit, lebendig hervortreten. Es verstößt also keinesfalls gegen die Pietät, das scheinbare Nein des Erblassers zu übergehen und, indem man seinen einsamen Seelenmanifestationen den Resonanzboden schicksalsverwandter Allgemeinheit gibt, seinen uneingestandenen wirklichen Letzten Willen zu erfüllen.
Das Manuskript ist nicht vollständig abgedruckt. Es lag mir daran, das Haupterlebnis herauszuschälen: ein Schwanken zwischen zwei Frauen, das sich seltsamerweise über zehn Jahre erstreckt, obgleich auf dem ersten Blatt scheinbar der Sieg einer von beiden entschieden ist. Dieser Fall ist verwickelt genug und darf nicht, wie es im Original geschieht, vom Gestrüpp des Lebens überwuchert werden, wenn man ihn in seinem organischen Verlauf begreifen soll.
Ich möchte übrigens glauben, der Verfasser des Tagebuches würde in ebendieselbe Krisis verfallen sein, falls die beiden Frauen, hier Melitta und Anja genannt, zwei ganz andere gewesen wären. Er unterlag vielleicht einem Wachstumsprozeß seiner sich im Umbau erneuernden und ewig steigernden Natur und hätte, um nicht dabei zu scheitern, Anja erfinden müssen, wenn sie nicht glücklicherweise vorhanden gewesen wäre. Jedenfalls wird, wer bis zum Schlusse des Buches gelangt, unschwer erkennen, daß die Lebensbasis des Autors eine andere als die am Anfang ist. Sie ist höher, breiter und fester geworden. Auch die Welt um ihn her hat ein anderes Gesicht: das konnte nur ein Jahrzehnt harter innerer Kämpfe bewirken.
Agnetendorf, Oktober 1929.