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Eines Abends, als ich wie gewöhnlich mit meinem fröhlichen »Guten Abend« auf die Veranda des Schaffners trat, sah der Alte verstimmt aus, und seine kleine Mia murmelte einen kleinen kaum verständlichen Gruß und eilte ins Haus, ohne mir Zeit zu lassen, einen einzigen Blick auf ihr rosiges Gesichtchen zu werfen.
»Was fehlt dem kleinen Fräulein?« fragte ich den Schaffner.
»Oh nichts weiter, als daß es hier im Hause nun mit der Freude vorbei ist. Der Zeisig will aus dem Neste fliegen. Der alte Vater ist ihr nicht mehr genug,« antwortete der Alte mit einem Seufzer.
»Armer Blomdahl! Das ist nun einmal der Lauf der Welt.«
»Wenn sie sich wenigstens noch in einen richtigen Mann vergafft hätte! Doch »er« ist ein blutjunger Bursche von der Brigg Carolina, der erst in anderthalb Jahren sein Steuermannsexamen machen kann.«
»Nun ja, Maria ist ja auch noch jung, und Sie behalten sie noch ein wenig länger. Denkt nur, wenn er schon Schiffer wäre und eine eigene Jacht hätte! Dann wären Sie sie sofort losgewesen.«
»Daraus wäre nichts geworden! Es ist wohl meine Tochter!« brummte der alte Schaffner verdrießlich.
Ich mußte lächeln über diesen verzweifelten Versuch eines liebenden Vaters seinen Liebling festzuhalten.
»Ach ja, ich weiß recht gut, wie es gehen wird, wenn sie es sich nicht aus dem Sinne schlägt,« fuhr der Alte seufzend fort, »und von mir wollte ich auch nicht weiter reden, doch wer steht mir dafür, daß das Mädchen nicht falsch durch die Weiche gegangen und auf ein verkehrtes Geleise geraten ist. Wer weiß, ob Maria darin wirklich ihr Glück finden wird!«
»Die reine Liebe zweier junger Herzen ...«
»Schnickschnack, Herr! ›Junge Herzen‹ haben sich hinieden millionenmal geirrt, haben für Peter und Paul, für Elin und Lina gebrannt, weil sie entweder niemand weiter kannten oder ein wenig zu häufig zusammengetroffen waren. Es ist nicht gleich alles für bare Münze zu nehmen, was ›junge Herzen‹ sich in den Kopf setzen.«
Der Alte rauchte schweigend weiter und machte ein böses Gesicht dabei. Ich dachte schon daran, mich zu verabschieden, als er plötzlich aufblickte und fragte:
»Erinnern Sie sich aus den Zeitungen der jungen Dame, die vor sechzehn Jahren, als der Zug über die Stentorpaer Brücke ging, aus der Coupeethür in den See stürzte?«
Nein, das that ich nicht.
»Als ob der alte Blomdahl es nicht gelernt hätte, eine Coupeethür ordentlich zu schließen! Pfui Teufel, es kriecht mir vor Bosheit auf dem ganzen Leibe, wenn ich an das gemeine Verhör auf dem S–er Bahnhofe denke! Sehen Sie, Herr Redakteur, das war wieder einmal ein Weibsbild, dessen Herz ins unrechte Geleise geraten war.«
»Sprang sie selbst hinaus?«
»Ja, meiner Treu, die Haspe lag ja auf der Thür, und im Coupee war keiner, der sie hatte hinauswerfen können.«
»Wie ging denn das zu?«
»Sie wollen also auch heute, wo ich so verdrießlich bin, Ihre Geschichte haben? Nun, mir soll's recht sein.«
»Sehen Sie, Herr, auf dem Bahnhofe in S. war ein Assistent Blixtberg, ein stattlicher Mensch mit einem Schnurrbarte, dem an einer Viertelelle nicht viel fehlte, und großen, braunen Augen. Er maß seine guten drei Ellen, hielt sich bolzengrade und war bis über die Ohren in eine feine, junge Dame verliebt, die englisch und französisch sprach und auf einer Bank in den Bahnhofsanlagen ausländische Bücher las, denn der Bahnhofsinspektor war ihr Papa und hatte ihr eine »feine« Erziehung geben lassen.
Alles wäre auch gut gegangen, wenn nur die feine, junge Dame, an deren Ausbildung der Inspektor all sein Hab und Gut gewandt hatte, damit sie einst als Erzieherin hohes Gehalt beanspruchen könnte, nicht den Assistenten wiedergeliebt und die ausländischen Bücher überall auf den Bänken liegen gelassen hätte und dafür lieber mit Blixtberg im Walde herumspaziert wäre.
Sehen Sie, eine nicht erwiderte Liebe kann nie so viel Unglück anrichten wie eine erwiderte, wenn zwei Menschen auf einmal verrückt werden und die äußeren Verhältnisse dagegen sind.
Der Inspektor war anfangs natürlich außer sich, denn er hatte seine Betty nicht nach der Schweiz und nach Paris geschickt, um sie einem Assistenten mit 120 Kr. monatlich an den Hals zu werfen, aber da Blixtberg ein tüchtiger Mensch war, und der Alte ihn wie seinen eigenen Sohn liebte, so mochte es denn in Gottes Namen geschehen. Und Fräulein Betty sollte erst noch nach England reisen, wo ihr die Schweizer Schulvorsteherin eine gute Stelle besorgt hatte, und dort vier Jahre bleiben. Unterdessen würde Blixtberg wohl zum Bahnhofsinspektor avancieren.
Dies hatte Perrondiener Pettersson von dem Dienstmädchen des Inspektors erfahren und mir brühwarm wiedererzählt. Ich wußte also schon Bescheid, als ich sie eines Tages bei Ankunft des Zuges Arm in Arm auf dem Perron auf und abgehen sah.
Vierzehn Tage später schloß ich sie in ein Coupee zweiter Klasse ein, wobei sie weinte, als wollte ihr das Herz brechen. Sie war eine hochgewachsene, hübsche Brünette, und wenn in ihren schwarzen Augen, mit denen sie den auf dem Trittbrett seufzenden Blixtberg anschaute, nicht Liebe glühte, so habe ich in meinem ganzen Leben nicht begriffen, was eigentlich Liebe ist.
Die Inspektorin und die Kleinen weinten so krampfhaft, daß sie am ganzen Leibe bebten, und der Alte, der erstens ein Mann war und zweitens Dienst hatte, biß sich in den grauen borstigen Schnurrbart und blickte finster vor sich nieder, um nicht ebenfalls anzufangen. Pettersson läutete zum zweiten Male. Da fiel der Assistent ihr um den Hals und flüsterte: »Vier Jahre! Eine Ewigkeit! Doch ich vertraue auf Dich von ganzem Herzen!« Jetzt mußte ich dem Inspektor das Zeichen geben, daß alles zur Abfahrt bereit sei, doch als ich in mein Coupee stieg, hörte ich sie noch immer von »Ewigkeit« und »Sehnsucht« reden.
Alle Frauen im Zuge steckten den Kopf aus dem Fenster und fanden dieses Gebahren schön und rührend; ein Passagier in der ersten Klasse, ein alter Engländer, sagte jedoch so laut: » Shocking!", daß man es auf dem ganzen Perron hören konnte.
Die Zeit verrann. Der Alte wurde immer grauer, und die Inspektorin, die immer ein bischen krumm gegangen war, sah nun wie zusammengeklappt aus, Fräulein Bettys kleine Geschwister aber wuchsen heran, und die eine war jetzt beinahe ebenso hübsch und groß wie die feine Erzieherin in England, und Blixtberg war bald hier, bald da, und auf der ganzen Abteilung wurde gesagt, daß er bei der nächsten Vakanz Bahnhofsinspektor werden würde.
Da stehe ich eines schönen Tages im Anfange des Sommers in der zweiten Klasse und koupiere ein Billet, und als ich von dem kleinen Handschuh, der mir das Billet wieder abnimmt, aufblicke, stehe ich grade vor Fräulein Betty.
Die Fabrikbesitzerin dort unten in der »Kuranstalt« ist fein, doch das sagt nichts. Zeug kann man ja kaufen, und hat man Geld, so kann man auch etwas an seine Toilette wenden; aber Styl und Schnitt und Eleganz sind nicht in dem Laden zu haben. Betty war eine der feinsten von allen den Engländerinnen, Schwedinnen und Amerikanerinnen, die ich während meiner achtundzwanzig Reisejahre gesehen habe. Doch, Herr Du mein Schöpfer, wie war sie mager geworden! Und wie ernst sah sie aus! Und sie war auch älter geworden, als es sonst im Alter zwischen zwanzig und dreißig der Fall zu sein pflegt, wenn man hohes Gehalt und gute Beköstigung erhält! Als sie mich erkannte, sagte sie freundlich:
»Nein, sieh, Herr Blomdahl! Fahren Sie noch auf dieser Strecke?«
»Jaha. Guten Tag, Fräulein, und willkommen im Vaterlande! Jetzt verstehe ich, weshalb gestern in T. so gefegt und geputzt wurde. Zu Hause sind alle gesund und munter.«
»Danke!« sagte sie und nickte mir zu, aber in den großen, schwarzen Augen sah ich einen seltsamen Blick, und es kam mir so vor, als sähe sie überhaupt nicht so aus, wie es bei gewöhnlichen Menschen der Fall ist, wenn jede neue Rauchwolke des Lokomotivenschornsteins sie dem Liebsten, das sie auf Erden besitzen, näher bringt.
Sie war unterwegs allein im Coupee. Auf den Bahnhöfen sah ich sie in einem kleinen Notizbuche schreiben oder eine Photographie betrachten. Doch je näher wir der Heimat kamen, desto bleicher wurde sie, und auf der letzten Station vor T. lag eine solche Todesangst in ihren Blicken, daß mir wirklich bange wurde und ich sie beinahe gefragt hätte, ob sie krank sei.
Zwischen Holm und T. – gerade in der Mitte – führt eine lange Eisenbahnbrücke über den Stentorpasee, die sich wohl acht Fuß über den Meeresspiegel erhebt. Als wir ungefähr mitten auf der Brücke waren, übertönte ein entsetzlicher Schrei das Rasseln der Wagen, und als ich ausgucke, schlägt eine Thür des Zweiterklassenwagens hin und her ...
Ich gab das Notsignal, und zwanzig Minuten später saßen wir in einem Boote und führten Bettys Leiche ans Land. Das schöne Haupt war an dem Wellenbrecher des Brückenpfeilers zu einer unförmlichen Masse zerschmettert worden, von der man nur noch das herrliche dunkle Haar erkennen konnte.
Auf dem Bahnhofsgebäude in T. flatterte die blaugelbe Fahne im lauen Sommerwinde, alle Fenster waren mit Blumen geschmückt, und die Alten standen mit Blixtberg und allen Kindern auf dem Perron.
Das war der entsetzlichste Augenblick meines Lebens. Am Sterbebette meiner Frau bin ich natürlich viel trauriger gewesen; hier aber empfand ich ein solches mit Schrecken gemischtes Grauen, daß mir das Herz still zu stehen drohte.
Wenn Sie dies niederschreiben wollen, Herr Redakteur, was Sie gern thun können, denn die Alten sind tot und Blixtberg ist in Amerika untergegangen, so können Sie ja den Jammer und das Entsetzen der Alten ein wenig ausmalen und beschreiben, wie sich der Assistent über die Leiche warf, die dunklen Flechten küßte und schrie, als wäre er selbst unter die Räder der Maschine geraten, – oder was Ihnen sonst einfällt.
Ich aber weiß nichts davon, garnichts, rein garnichts! Ich war wie betäubt, und muß mich noch heute besinnen, ob ich an jenem Tage wie gewöhnlich die Coupeethüren geöffnet habe. Das Einzige, dessen ich mich deutlich erinnern kann, ist die Untersuchung am Abende im Abteilungsbureau in T., wo der Betriebsinspektor mich durchbohrend anblickte und fragte:
»Wie konnten Sie nur vergessen, die Haspe außen an der Thür vorzulegen, Blomdahl? Sonst hätte dies ja garnicht passieren können!«
»Bei meiner Seelen Seligkeit, Herr Betriebsinspektor, ich habe die Haspe ordentlich vorgelegt,« antwortete ich, und dann mußte ich eine ganze Stunde lang mit anhören, wie die Herren an meiner Aussage zweifelten, und sehen, wie mich der alte Inspektor mit überströmenden Augen anblickte und mich wortlos für den Tod seiner Tochter verantwortlich machte.
Am nächsten Tage wurde auf der Bahn, kurz vor der Brücke, ein Damensonnenschirm mit einer Krücke gefunden. War die Haspe damit entfernt worden? Und weshalb?
Die Antwort darauf gab mir das kleine Buch, in dem ich Fräulein Betty hatte schreiben sehen und das ich, gleich nachdem der Sonnenschirm abgegeben worden war, im Coupee unter dem Sitze an der Thür fand.
In dem blutigen Lichte der nachträglichen Beleuchtung war es ein unheimliches kleines Buch. Ich hätte es nicht lesen müssen, das weiß ich; doch wer hätte es an meiner Stelle nicht gethan? Sie, Herr, der Sie Bücher schreiben, hätten es sicher nicht bleiben lassen!
Wenn die Engländer unser Land durchreisen, machen sie keinen gefährlichen Eindruck, denn in der Regel sind sie kahlköpfig, rotbärtig und großkarriert. Doch bei sich zu Hause mögen sie wohl anders sein. Vielleicht sind sie nicht so, ehe sie soviel Geld erworben haben, daß sie sich in der Welt umsehen können. Zwischen den Blättern des kleinen Buches lag das Bild eines solchen. Er war hübsch und kleinkarriert, hatte noch alle seine Haare und ein zierliches Schurrbärtchen.
Und es waren auch wohl seine Heldenthaten in einem armen schwedischen Mädchenherzen, die in einem Buche aufgezeichnet worden waren, wo auf jeder Seite » My dear Arthur« stand, während Assistent Blixtberg doch Carl hieß. Auf jedem Blatte stand der schneidende Angstruf eines verirrten, verzweifelten Herzens. Der Kleinkarrierte hatte sich augenscheinlich ihres ganzen Sinnes und ihrer ganzen Seele bemächtigt, und Gott weiß, ob er sich überhaupt mit der Seele allein begnügt hatte, denn Fräulein Betty fragte sich in dem Buche verschiedene Male, wie sie nur ihrem wartenden Bräutigam würde begegnen können, da sie ihm ja nicht ohne glühende Scham in die Augen sehen könnte. Und doch zeugten auch die letzten Reihen, die sie kurz vor der Stentorpabrücke geschrieben haben mußte, noch von leidenschaftlicher Liebe zu dem Kleinkarrierten; er war noch im Tode ihr Alles, obgleich er sie wahrscheinlich schändlich verlassen hatte.
Und alles dies in vier kurzen Jahren, wenn man noch jung ist, noch Zeit zu warten und einem andern Treue geschworen hat! Oh nein, der Bischof Tegnér kannte die Frauen, als er schrieb: »Und Wankelmut wohnt unter den Lilienhügeln.«
Am liebsten hätte ich das Buch verbrannt, doch es galt, mich vom Verdacht, Bettys Tod verursacht zu haben, zu befreien. Ich durfte ihrem Andenken nicht das Opfer meines Schweigens bringen und gab deshalb dem alten Inspektor das Buch mit der Bitte, nicht länger zu glauben, daß seine Tochter in den See gestürzt sei, weil sie sich gegen die »nicht vorschriftsmäßig verschlossene« Coupeethür gelehnt hatte.
Doch als ich sah, welchen entsetzlichen Eindruck die gräßliche Wahrheit auf den Alten machte, bereute ich es bitter, ihm das Buch gegeben zu haben. Ich glaubte, er würde es nicht überleben, und ich kam mir wie ein erbärmlicher Mensch vor, weil ich zu meiner Rechtfertigung seine Sorge noch vergrößert hatte. Schließlich erhob er sich, reichte mir die Hand und flüsterte:
»Vergeben Sie mir, Blomdahl! Seien Sie barmherzig und lassen Sie Blixtberg nichts davon erfahren! Der arme Bursche! Es würde sein Tod sein. Ich werde dafür sorgen, daß niemand Sie in ungerechtem Verdacht haben soll.«
»– Da sehen Sie, Herr Redakteur, daß man sich nicht immer darauf verlassen kann, wenn ›junge Herzen‹ einander ewige Liebe schwören, und wenn man es dazu noch mit einem Jungmann zu thun hat, der um die Erde herumfährt ...«
Auf dem Rückwege zur »Kuranstalt« sah ich auf einer Anhöhe unter einer Zwergbirke, die sich mühsam an der Klippe festhielt, etwas Blauundweißes schimmern. Das Weiße erinnerte mich lebhaft an Marias weiße Bluse, und das Blaue war einer Seemannsjacke nicht unähnlich. Da legte sich plötzlich ein blauer Rand von der Breite eines Jungmannsärmels über das Weiße, und die Farben gingen immer mehr in einander über. Im Verein mit Purpurlippen und roten Wangen mußte das Ganze eine hübsche Tricolore bilden, eine Tricolore, die trotz aller abschreckenden Fehlgriffe, aller warnenden Beispiele, siegreich von einer Generation zur andern die Welt durchzieht, so lange noch junge Herzen klopfen und junge Sinne glühen.