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Ein Trauerspiel im Bergland. Was die von St. Peter gethan haben, erscheint dem Bergvolke selbst, erscheint der Welt unbegreiflich. Das Dorf wollte den schlagen, der ihm die größte Wohlthat erwiesen hat, den es mit Ehren wie seinen Erlöser feiern sollte. Unbegreiflich? – Als ob der Wechselruf »Hosianna!« und »Kreuziget ihn!« nicht die Jahrhunderte herab durch die Blätter der Geschichte jauchzte und klagte. Als ob es nicht bis in die blühende Gegenwart hinein der Beispiele genug gäbe, wo nicht nur ein kleines, weltfernes Dorf, sondern große mächtige, gebildete Völker sich unter dem Druck eines Zwangsgedankens verwirren und eine Weile den Weg der Vernunft nicht finden können. Als ob die Gestalt des bösen Narren, des Kaplans Johannes, der hetzend die dunklen Regungen der Volksseele mißbraucht, nicht überall auf der Lauer stehe, um seinen Bettelsack aus der allgemeinen Verirrung zu füllen und seine nächtliche Seele in den Bildern des Schreckens schwelgen zu lassen. – –
In bebender Zerknirschung liegt St. Peter.
Jahrhunderte hat sein Völklein unter dem Donner der Lawinen friedlich und still gelebt, Geschlecht um Geschlecht hat männlich getragen, was eine übermächtige Natur an Gefahren und blutenden Opfern über sein Dasein verhängte. Im Schoß des stillen Lebens blühten innige Sitten und Bräuche, die Wunderblume der Sage hielt ihre Kelche offen und atmete ihre Düfte aus. Da führte ein Feuerkopf die Unruhe, die Hast einer neuen Zeit in die Enge des Thales, in die Schmalheit der Volksanschauungen. Die Dörfler sahen, was Eltern und Altvordern groß und heilig gegolten, von einem Schwarm leichter Menschen, der kein Verständnis für ihr eigenartiges Fühlen besaß, mißachtet, in den Stimmen der Lawinen hörten die Geängstigten den Zorn des Himmels reden. Und siehe da – die Wunderblume der Sage vergiftete ihren Duft. In Fleisch und Knochen schlich sich, von einem geheimnisvollen Narren vertragen, das Fieber des Aberglaubens.
Die Stimmung ist vorbereitet. – Da geschieht das Unfaßbare, daß einer vom Dorf das Verhängnis lösen will, das wie Gottes Züchtigung darüber schwebt – da ereignet sich das Schreckliche, daß ein verborgener Mord, so glaubt das Völklein, ans Tageslicht kommt – eine tragische Folge der Umstände schaltet alle Hemmungen der Vernunft aus.
So hat das Entsetzliche geschehen können! – –
Zwei Abgesandte der Regierung sind da; der Hammer an der rettenden Leitung schlägt, von einem Fest zur Einweihung des Werkes spricht niemand.
Eine unheimliche Stille brütet über St. Peter. Mächtiger als die ernsten Patrouillen, die das Dorf auf und ab schreiten, spricht es in die Gewissen, daß das schöne alte Haus zum Bären in schwarzen Ruinen aus der weißen feierlichen Schneelandschaft ragt. St. Peter ist ohne den Bären nicht mehr St. Peter. Wer hat die Flamme hineingeworfen? – In der Gemeindescheune halten die herbeigeeilten Gerichtsbehörden an einem Tisch die Verhöre, zu denen ihnen der Verrat Bälzis die Unterlagen bietet. Mit finsteren, trotzigen Mienen kommt Bauer um Bauer und antwortet auf die Fragen. Daß er Kreuze aus dem Kirchhof ausgerissen hat, giebt jeder zu. Den Ahornbund aber verrät keiner. Und keiner nennt den Brandstifter, die Untersuchungsbeamten aber bestehen darauf, daß es irgend einer vom Bunde sei, und halten den Verdacht auf den Presi für eine Ausflucht. Sie fassen einen heißen Groll gegen das verstockte Dorf und drohen mit langen Einquartierungen auf Kosten der Gemeinde.
Da tritt erschüttert der Garde herein: »Ich kann euch die Untersuchung erleichtern. Keiner von denen, die ihr verhört habt, hat den Bären angezündet. Das hat ein Vater für sein Kind gethan. Ich sage es euch im Auftrage des Presi Peter Waldisch, der soeben gestorben ist.«
O, die da sitzen und die Not eines Dorfes schreiben, sie haben den Presi schon gekannt, den gewaltthätigen Mann, der, die anderen alle um Haupteslänge überragend, nie klein gewesen in seinem Zorn, aber auch so groß in seiner Liebe, daß ihm die That wohl zuzutrauen ist.
Sie sprechen bewegt: »Immer war er der Presi – sich selbst getreu bis in den Tod – in der Enge der Berge, wo der gewaltige Mann überall anstieß, hat er werden müssen, wie er war – in der Welt aber wäre er nach Kopf und Herz ein Großer geworden – denn Kernholz, aus dem das Volk seine starken Führer schnitzt, war an ihm von der Sohle bis zum Scheitel.« Während sie noch flüsternd dem toten Presi ihr Kränzlein winden, tritt Josi Blatter an den Tisch und wünscht wegen Thöni Grieg verhört zu werden. Ruhig und fest erzählt er den Hergang im Teufelsgarten, ruhig und fest antwortet er auf die Kreuz- und Querfragen, die Gesichter der Untersuchenden, die zuerst wohlwollend auf den Helden der heligen Wasser blickten, werden ernst. Die Darstellung klingt unglaubwürdig.
»Ihr besteht darauf, daß es nicht Totschlag in Notwehr war?«
»Ich bestehe darauf.«
»Ihr habt das Werk an den Weißen Brettern nicht zur Sühne gebaut?«
»Nein, meiner Braut Binia Waldisch zu Ehren.«
»Ihr verzichtet auf die altgebräuchliche Rechtswohlthat, die seit Matthys Jul denen zugebilligt wird, die für die heligen Wasser an die Weißen Bretter steigen?«
»Ich verzichte!«
Josi steht – es geht nicht anders – unter der Anklage, in Notwehr Thöni Grieg erschlagen zu haben – aber wenigstens so hart sind die Männer des Gerichtes nicht, daß sie ihm eine Haft auferlegen. Sein Ehrenwort, sich der Untersuchung immer zur Verfügung zu halten, genügt.
Kaplan Johannes ist nicht zurückgekehrt. Von seinen eigenen Anhängern zuletzt in die Enge getrieben, hat er sich auf die Felsen geflüchtet, die vom Neuschnee schlüpfrig waren, er ist gestürzt und erst im Frühjahr hat man seinen zerschmetterten Leichnam in einem Abgrund gefunden.
Während der Untersuchung über die Vorfälle in St. Peter, die mehrere Tage in Anspruch nimmt, ist der alte Pfarrer zurückgekommen und hat seine Siegel von der Kirche genommen. St. Peter kann seine Toten begraben, heute in aller Stille Thöni Grieg, morgen in herzlicher Trauer den Presi, der den Dörflern nie bewunderungswürdiger schien als in seinem Tod. Man hat die Kreuze und Scheiter des Kirchhofs gesammelt und wieder in die Gräber gesteckt. Der Pfarrer hat sie neu geweiht, und wie nun die Glocken zum Begräbnis des Presi wieder erklingen, da geht ein aufschluchzendes Weinen der Zerknirschung, doch auch neue Lebenshoffnung durch das Dorf.
Am Schluß der Grabpredigt sagt der alte Pfarrer: »Ich weiß, daß auch ich schuldig bin und euch nicht hätte verlassen sollen, und vor den Behörden der Kirche will ich für euch um ein gnädiges Urteil bitten. Ich lasse euch als Vermächtnis meiner Amtsthätigkeit, die ich niederlege, die Schlüssel zum Gotteshaus und den Glocken zurück. Hoffentlich für ewig. – Eine junge starke Kraft möge euch besser führen, als es mir altem kraftlosen Manne gelungen ist!« – –
Langsam schreitet der Prozeß, es ist, als könne sich das arme Dorf nicht mehr erheben aus seiner Schande, als müsse es daran zu Grunde gehen.
Wie aber vor dem Volk des Berglandes die Gestalten Josi Blatters und Thöni Griegs durch die Untersuchung in immer schärferen Umrissen erscheinen, wie der gefälschte Brief Thönis bekannt wird, wie man den Leidensgang und die hohe Treue der Liebenden erfährt, da fliegen ihnen alle Herzen zu, der gerechte Sinn des Volkes erwacht. »Selbst wenn er eine That des Zornes begangen hätte,« spricht das Volk, »müßte er freigesprochen werden, sie wäre Gottes Gericht über den Schuft.« Es ist aber keine That des Zornes geschehen. – Und für Josi und Binia spricht mit glühendem Feuer der Garde, der Ehrenmann des Dorfes, der in aller Verwirrung wie ein Fels des Rechtes dagestanden ist.
Tausend Umstände zeugen für das Paar.
Im Winter noch steigt Josi ein paarmal zu seinem Werk empor, prüft es, vollendet noch da und dort etwas – sobald er aber das gerichtliche Verfahren hinter sich hat, will er mit Binia über das Meer ziehen und in einem fernen Erdenwinkel Glück und Vergessen suchen.
Eines Tages aber erhält er den Besuch seines Freundes Felix Indergand. Der spricht nicht mehr von Beate, dagegen redet er Josi herzlich zu: »Ziehe nicht fort, Josi! – Siehe, wer zwischen den Bergen geboren ist, findet nur zwischen den Bergen das volle Lebensglück. Wir beide haben es erfahren, wie öde und leer das Herz in der Fremde bleibt, das deckt alle Liebe nicht zu. Thue es deiner herrlichen Braut nicht an, das Bergkind würde in der Ferne rasch welken. Komm, wenn du doch nicht zu St. Peter bleiben magst, zu uns ins grüne Oberland, ich will ein Gütchen für dich erhandeln. Dort lebe in meiner Nähe und sei glücklich mit deinem Weib.«
Josi geht die warme Rede seines Freundes zu Herzen – er willigt ein.
Endlich, wie schon die ersten Frühlingsblumen blühen, ist der Gerichtstag für ihn und die von St. Peter da, das Landvolk ist wie an einem Markttag auf der Fahrt in die Stadt.
Die Tribünen des Gerichtssaales sind gefüllt und zweimal entsteht eine mächtige Bewegung unter den Zuschauern. Das erste Mal, wie eine hoheitsvolle jugendliche Gestalt in tiefer Trauer als Zeugin vor die Schranken tritt. Manchmal, wenn ihre Liebe zu Josi vor der Menge zur Sprache kommt, erbebt sie, Blutwelle um Blutwelle geht über das seine Gesicht und hilflos fragt sie: »Ja, muß ich das auch sagen?« Auf manche harmlose Fragen antwortet sie in so heißer Scham, dann mit einem blitzenden Wahrheitsmut, daß die Schauer der Ergriffenheit durch den Zuschauerraum gehen.
»Der Garde von St. Peter hat recht,« flüstert sich die Menge zu, »Binia Waldisch kann keine Unwahrheit sagen!«
Und dann, wie ein eben eingetroffener Brief aus Indien zur Verlesung kommt:
»Josi Blatter, über den Sie mich gerichtlich anfragen, hat sich in fünf Jahren als ein Mann ohne das geringste Falsch bewährt. Er ist so fest und treu wie Ihre Berge, und die wanken nicht. Sie würden eine Schmach auf Ihr Land laden, wenn Sie ihm nicht vollen Glauben schenken und einen Makel auf ihm ruhen ließen. George Lemmy, Oberingenieur der britischen Regierung in Indien.«
Ein Stündchen später ist der volle Freispruch da.
Ein kleiner, schluchzender Schrei bebt durch den Saal: »Josi, mein Held,« und Hunderte schluchzen mit und ein Jubelruf pflanzt sich fort durch die Straßen der Stadt.
»So geht ihr nun ins Oberland, ihr Vielgeprüften!« sagt der Garde, der mit Vroni und Eusebi dem Paar die Hände reicht, »wenn zwei glücklich werden können auf dieser wandelbaren Erde – so seid ihr es, ihr heißen Herzen von unwandelbarer Treue.« – Auch St. Peter hat keinen bösen Tag.
Die Richter wissen, daß es jetzt nicht gilt, das arme, verirrte, von einem Wahnsinnigen verführte Dorf, für das der alte ehrwürdige Garde mit Thränen in den Augen bittet, noch tiefer in Unglück und Schande zu drücken, sondern zu beruhigen und zu versöhnen, sie legen leichte Strafen auf die Grabschänder, und willig tragen die Dörfler das verhängte Maß. – –
Wie ein reinigendes Gewitter haben der »böse Tag« und seine Folgen auf die von St. Peter gewirkt. Ein Jahrhundert ruhiger Entwickelung hätte die Sinnesart des Völkleins nicht so geändert und geweckt wie der Sturm.
Und sonderbar, wie sich das Urteil über den toten Presi gewendet hat. Seinen einst so verhaßten Namen nennt man in St. Peter in glühender Ehrfurcht. Vor dem frommen Glauben der Bergleute hat nicht Peter Thugi, der jüngere, im letzten Augenblick den Schlag des Kaplans vom Haupt Binias gewandt. Nein, aus dem alten Fluch, daß eine Jungfrau über der Befreiung St. Peters von der Wasserfron an den Weißen Brettern sterben müsse, hat sie die Aufopferung des Presi gerettet; indem er selber in den Tod ging, schützte er das Leben seines Kindes und bewahrte das Dorf vor noch entsetzlicherem Unglück.
Als ein Held erlösender Vatertreue steht er im Gedächtnis des Berglandes.
Sogar sein Werk, die Einführung des Fremdenverkehrs in das Thal, ist nicht untergegangen. Ein Jahr stand der Bären als eine Ruine da. Dann kam denen von St. Peter die Ruine und die Ruhe der Sommer, die man so geliebt hatte, wie eine Anklage vor. Die Gemeinde wünschte, daß das Haus von einem tüchtigen Wirt wieder aufgebaut würde. Die Fremden falterten darauf wie einst durch das Glotterthal und die Bevölkerung hat nichts wider sie einzuwenden.
Von den alten Sagen spricht niemand mehr gern, wie man die schönen einst geliebt hat, verabscheut man sie.
In einem Thal des Oberlandes aber lebt ein junges Ehepaar in halber Verborgenheit und tiefem Frieden.
Nach einigen Jahren indes findet doch ein kleiner Zug von Männern, an ihrer Spitze Hans Zuensteinen, der alte Garde, und der jüngere Thugi, der neue Garde, den Weg in den Winkel des Glücks.
Die Männer drehen vor Josi Blatter und seiner schönen jungen Frau verlegen die Hüte und der alte Garde spricht: »Josi Blatter, es ist vieles anders geworden in unserem Dorf, aber den rechten Frieden und die rechte Freudigkeit haben mir noch nicht. Es ist uns, St. Peter sei noch nicht ganz aufgerichtet, so lange du und Binia uns fehlen. Wir wissen, daß dein Werk gut ist, die Gemeinde will dich in Ehren halten und zum Zeichen haben dich gestern die hundertzwanzig Bürger von St. Peter einstimmig zu ihrem Presi gewählt. Denn ich bin alt und den Aemtern nicht mehr gewachsen. Wir brauchen einen starken, aufrechten Mann. Josi, versage uns die Freude und Ehre nicht!«
Die anderen bestätigen die warme Rede: »So ist es, wir bitten dich.«
Josi will antworten, aber er kann nicht – er geht zur Thüre hinaus – in einer stillen Ecke schluchzt er: »Hört ihr es, Vater – Mutter – ich, euer verachteter Bub, Presi von St. Peter.« – Wie er sich aber gefaßt hat und den Männern sein »Nein« entgegenbringen will, da fällt ihm Binia um den Hals: »Josi, ja, wir wollen nach St. Peter zurückkehren, dessen Kinder wir sind und wo die Gräber der Eltern liegen. Ich stelle mich zu den Männern.«
Mit einem Jawort ziehen sie.
In St. Peter waltet Josi Blatter seit vielen Jahren als Presi in Stärke und Weisheit. Das Dorf hat sich vollends aus seiner Schande erhoben, es blüht unter seiner Führung und unter dem Segen des guten Beispiels, das die seine Binia den Frauen von St. Peter giebt.
Die Blutfron an den Weißen Brettern, der Lostag, die Schreckensarbeit des Kännellegens tönt einem jungen Geschlecht wie eine Sage ins Ohr und langsam verrosten in der Kapelle zur Lieben Frau die Unglückstafeln. Das Werk Josis hat sich bewährt. Die Wildleutlaue mag donnernd gehen, die heligen Wasser fließen, sie rauschen und spenden Segen.