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Die Prinzenallee war eine der stillsten Straßen der ohnehin nicht sehr geräuschvollen Residenzstadt Weyringen. An diesem Herbstabend aber machte sie einen Augenblick lang beinahe den Eindruck einer Großstadtstraße. In langem Zug rollten Equipagen und Mietskutschen auf dem Fahrdamm daher, und auf dem kiesbedeckten Fußgängerweg herrschte ein Gedränge von Regenschirmen, unter denen sich schlanke Kavaliere, rosige junge Mädchen und würdige Matronen in pelzverbrämten Abendmänteln bewegten.
Die ganze Menge befand sich in einer Aufregung, die mit dem Ziel ihrer Wanderung nicht recht in Einklang zu stehen schien. Denn es handelte sich ganz einfach um eine Abendgesellschaft bei dem Hofrat Horn.
Diese Abende gehörten seit einem Jahrzehnt zum ständigen Programm der winterlichen Veranstaltungen. Der Hofrat hielt entweder selbst einen Vortrag oder er ließ seinen Gästen gute Musik vortragen, und zum Schluß gab es für die leiblichen Bedürfnisse ein kaltes Büfett. Also nichts, was nach Sensation schmeckte.
Und doch war es gerade das Gefühl einer bevorstehenden Sensation, was sich breitmachte im seidenausgeschlagenen Innern der Hofequipagen und was mitschwebte unter den wippenden Regenschirmen. Bei den meisten herrschte angenehme Neugierde vor, bei nicht wenigen aber auch ehrliche Entrüstung. Zu diesen gehörten die Eingesessenen, welche den Fall noch selbst miterlebt und die jetzt berühmte Schauspielerin Lydia Meyn noch als Lise Meyneburg, als die ungeratene Tochter des guten, alten Obersten von Meyneburg, gekannt hatten.
Und dies enfant terrible mußte nun gerade ans hiesige Theater engagiert werden! Und damit nicht genug, war der Hofrat Horn gezwungen, seine jetzige Schwägerin und einstige Flamme in seinem Hause zu bewillkommnen! Daß er sich dem nicht widersetzt hatte, begriff man schließlich. Denn seine vornehme Milde war allen bekannt. Doch warum hatte der Vater es nur dazu kommen lassen? Und wie mußte die Frau Hofrat, Lydias Schwester, darunter leiden! Es war einfach ein Skandal. Man ging auch nur hin, weil man nichts daran ändern konnte. Auch wollte man den liebenswürdigen Hofrat nicht vor den Kopf stoßen. Aber ein Skandal blieb es trotzdem.
Wenn aber irgendein Uneingeweihter fragte, was denn eigentlich Schreckliches passiert sei, so stockten die eifrigen Zungen. Man sah sich um, ob auch nicht junge Mädchen in der Nähe waren. Man flüsterte, wenn man sehr mutig war, einige nicht recht verständliche Andeutungen. Und dann wiederholte man: »Es ist und bleibt ein Skandal! – Diese Person mit einer solchen Vergangenheit! Und wenn sie zehnmal talentvoll ist. Das Talent ist doch keine Entschuldigung. Wo bliebe da die Moral?«
Indes hätte ein kundiger Beobachter bei seinem Eintritt in die Zimmer eine immerhin auffällige und zum Nachdenken anregende Tatsache feststellen können: die weiblichen Gäste hatten fast ausnahmslos eine Toilettenpracht entfaltet, wie sie sonst an solchen Abenden in diesem Hause nicht üblich war. Offenbar begnügte man sich nicht allein mit der moralischen Überlegenheit. Man wollte zeigen, daß auch der strengen Tugend in dieser Welt kein Aschenbrödeldasein beschieden ist. Und bei manchen der verheirateten Frauen war es vielleicht zugleich eine Vorsichtsmaßregel, daß sie im Glanz ihrer besten Rüstung erschienen, um den Kampf mit der unlautern Konkurrenz aufzunehmen, die sicher wie ein Pfau geschmückt auf dem Turnierplatz zum Verderben der leicht geblendeten Ehegatten antreten würde.
Aber Lydia Meyn, nach der aller Blicke umherirrend suchten, war noch nicht erschienen.
Einstweilen mußte man sich mit dem Studium der Gastgeber begnügen. Nahe der Tür stand die Frau Hofrat. Liebenswürdig, anspruchslos und ein wenig apathisch bewillkommnete sie die Gäste. Und manch einer der Eintretenden dachte im stillen, daß man schon diese drei Eigenschaften besitzen müsse, um zu so bösem Spiel eine so ungetrübt gute Miene zu machen. Der Hofrat befand sich mit einigen Damen in angeregtester Unterhaltung. Dieser schlanke Mann in untadeligem Frack, von korrekter, nur etwas steifer Haltung, mit keilförmigem, schwarzem Vollbart und aufrechtem, flachgeschnittenem Haupthaar, mit regelmäßigem und für den oberflächlichen Blick ziemlich unbeweglichem Gesicht, das jetzt nur, so oft es die Gelegenheit gebot, ein konventionell freundliches Lächeln zeigte, war eine nicht ganz leicht zu katalogisierende Erscheinung: eine Mischung von Gesellschaftsmenschen, Pedanten und Künstler. Über seinen Augenbrauen verriet sich aus seiner sonst glatten Stirn eine geheime Sensibilität. Und seine dunkeln Augen selbst hatten etwas in die Ferne Verlorenes, etwas in irgendeiner entlegenen Gedankenwelt sich Umhertreibendes und ließen auf eine halbe Geistesabwesenheit schließen, wie sie denen eigen ist, die von ihrem Dasein nicht recht ausgefüllt sind.
Doch war dieser Ausdruck nur wenigen seiner Gäste aufgefallen. Die meisten, welche ihn jetzt heimlich beobachteten, fanden, daß nichts eine doch gewiß verzeihliche Unruhe verriet. Er plauderte lebhaft, brachte hier einen ritterlichen Handkuß an, tauschte dort einen Händedruck und schien von allen seinen Gästen der gelassenste und unbefangenste. Oder war er nicht doch ein wenig blasser als sonst? Und flogen nicht manchmal seine Augen in sekundenkurzem Erschrecken zur Tür hin? Vielleicht irrte man sich. Und doch wäre es seltsam, wenn es anders gewesen wäre.
Man drängte weiter. Die meisten der Anwesenden waren seit langem miteinander bekannt, aber viele sahen sich doch nach der sommerlichen Trennung hier zum ersten Male wieder.
Die Hofleute tauschten ihre Ansichten über die mutmaßliche Rückkehr der Herrschaften aus, die, wie immer, bis zum letzten Augenblick geheim gehalten wurde. Die Landedelleute sprachen über Dürre, Nonnenplage, Maul- und Klauenseuche und trostlose Ernte. Die Gräfin Zech pries die Vorzüge der belgischen Seebäder, der Medizinalrat Feustel begeisterte sich für die Büfette in Schweden, der Legationssekretär von Ohnesorg erzählte von einer Bergtour, bei deren Details ihm noch schwindliger wurde als seinen Zuhörern.
Aber wie munter das Gespräch auch wogte, darüber schwebte doch schwer, blitzschwanger die allgemeine Spannung.
Im zweiten Zimmer ließ der Oberst von Meyneburg, ein prächtiger alter Herr mit scharlachrotem Gesicht und schlohweißem Haar, die Ungeduld, mit der er die Tochter erwartete, offen erkennen. Alle paar Minuten zog er die Taschenuhr und machte eine ingrimmige Miene. Doch im nächsten Augenblick strahlte er wieder. Jeden Gast begrüßte der Gutherzige heute mit noch erhöhter Liebenswürdigkeit, und sein kräftiges Händeschütteln schien zu sagen: ›Ich weiß, es ist 'ne dolle Zumutung. Aber kolossal nett von Ihnen, daß Sie mich nicht im Stich lassen. Schließlich, man ist doch der Vater …‹
Nun öffnete sich wieder die Tür und die Baronin Grunstedt erschien, eine verwitterte Siebzigjährige, in einem altmodisch breiten Schleppkleid, mit weißem Lockenkopf, aber mit lebensvoll funkelnden Augen. Sie, die hier fast ihr ganzes Leben verbracht hatte, war mit den Schicksalen dieser Gesellschaft verwachsen wie kaum eine andere Frau. Auch über den Fall Lydia Meyn wußte sie genau Bescheid. Was würde sie dazu sagen? Jedenfalls war sie die Frau, die mit ihren Ansichten am wenigsten hinter dem Berge hielt.
Und wirklich, kaum hatte sie ihre Bekannten begrüßt und sich durch das Gewühl in eine ruhigere Ecke gefunden, als sie sich an den Regierungsrat Benzmann wandte: »Hören Sie, lieber Regierungsrat, ist das wahr, was man mir erzählt hat?«
Der Angeredete versteckte den Ausdruck seiner natürlichen Verschmitztheit mit Taschenspielergeschwindigkeit hinter unbefangener Verwunderung. »Was soll wahr sein, meine gnädigste Frau?«
»Die Spatzen pfeifen es ja von den Dächern. Die Lise Meyneburg soll wieder hier sein.«
Der Regierungsrat wiegte sich lächelnd auf seinen Lackschuhen. »Nein, die Lise Meyneburg ist nicht hier. Das Fräulein von Meyneburg existiert überhaupt nicht mehr. – Aber Frau Lydia Meyn – denn inzwischen hat sie ja geheiratet, ist allerdings schon wieder verwitwet, soviel ich gehört habe – die wird allerdings hier erwartet.«
»Lydia Meyn – was geht mich diese falsche Etikette für den Theaterzettel an? Das kommt mir vor, als wenn jemand sagte, Bratkartoffeln gibt's nicht, aber Sie können pommes frites haben. Guten Tag, mein lieber Felix.«
Sie reichte ihre welke Hand dem rundlichen Kammerherrn von Uhlen zum Kuß. »Wir sprechen gerade von der Lise Meyneburg. Sie ist wieder hier.«
»Ja – ja. Ich denke, sie wird ein sehr erfreulicher Zuwachs für unser Theater sein.«
»Seit wann sind Sie denn auch solch ein Theaterfex? Das steckt wohl an? Ein sehr unerfreulicher Zuwachs für unsere Gesellschaft ist sie. Das wäre noch das wenigste. Aber – hier!«
»Ja, ja, sie wird hier erwartet,« sagte Herr von Uhlen heftig nickend. Und die Hand an den Mund legend, flüsterte er: »Wenn's nur kein Skandälchen gibt. – Ich hätte Cécile am liebsten zu Hause gelassen.«
»Wie ich Cécile kenne, würde sie da wohl erst recht gekommen sein,« versetzte Frau von Grunstedt spöttisch. »Was sollte es auch für einen Skandal geben? Die's angeht, schlucken ihr Empfinden hinunter. Und das ist viel schlimmer, viel grausamer als ein Skandal. Nie und nimmer hätte man das dulden dürfen. Ich begreife Meyneburg nicht.«
»Was sollte er machen, Baronin?« mischte der Regierungsrat sich ins Gespräch. »Der Fürst wünscht das Engagement nun mal.«
»Er hätte klipp und klar mit ihm reden sollen: mein gnädigster Herr, es geht nicht. Meine Tochter darf die Stadt nicht mehr betreten, in der mein Schwiegersohn wohnt. Dann hätte der Fürst nachgegeben. Denn was für ein Theaternarr er auch ist, so hat er doch das Herz immer noch auf dem rechten Fleck.«
»Ach ne, ne,« sagte der Kammerherr, »in diesem Fall hätte das nichts genützt. Er war ja ganz verschossen, als er die Meyn diesen Sommer bei den Goethefestspielen sah. Eine geschlagene Stunde hat er sich mit ihr unterhalten. Ich war ja selbst dabei. Und denselben Tag mußte noch an Giebichen telegraphiert werden, daß er sie um jeden Preis engagiert.«
»Daß sie sich wieder hierher getraut, nach dem, was vorgefallen ist! Daß sie sich nicht scheut, unsern Freund an das Leid zu erinnern, das sie ihm zugefügt hat!«
»Es ist ja so viel Wasser ins Meer geflossen,« beschwichtigte der Kammerherr.
»Aber Blut ist auch geflossen, lieber Felix. Und das vergißt sich nicht. – Er hat's auch nicht vergessen. Sein ganzes Leben krankt an dieser Wunde.«
»Blut?« fragte der Regierungsrat mit hochgezogener Stirn. »Davon wußte ich ja nichts.«
»Es war wohl auch vor Ihrer Zeit,« warf Frau von Grunstedt ein.
Nun, die Sache war die: unser Freund« – der Kammerherr sprach in einem nur für den engsten Kreis vernehmlichen Flüsterton – »war mit der Lise Meyneburg verlobt. Oder was man so nennt. Sie waren ja beide noch halbe Kinder. Und eines Tages hat er sie in den Armen von Herrn Reubke, unserm frühern Heldendarsteller – übrigens ein recht annehmbarer Schauspieler – überrascht. Zu vertuschen gab's nichts mehr. Und das hat sich der arme Junge so zu Herzen genommen, daß er – na – knipste.«
»Wen? Den Schauspieler?«
»I ne. Der hatte schleunigst seine Koffer gepackt und war über alle Berge. Sich selbst!«
»Und wie man ihn im Park gefunden hat, da hat man ihn zu mir ins Haus getragen,« fuhr Frau von Grunstedt fort. »Blutüberströmt! Ich dachte, er würde mir unter den Händen sterben. Über zwei Wochen hat er bei mir gelegen, ehe man ihn zu seiner Mutter schaffen konnte.«
»Schrecklich!« murmelte der Regierungsrat.
»Nu, lebensgefährlich war die Wunde gerade nicht.«
»Die nicht!« sagte Frau von Grunstedt. »Aber der Knacks, den er innerlich weg hatte. Die Wunde in seinem Selbstgefühl und in seinem Glauben an die Menschen.«
»Ei ja, das ist aber auch 'ne fatale Geschichte, wenn einem das gleich bei der ersten Liebe passiert,« bemerkte der Kammerherr.
»Sie können sich nicht vorstellen, was für ein strahlender Mensch er vor der Katastrophe war. Und hinterher –«
»Nu, ich habe eigentlich keinen Unterschied bemerkt.«
Als wäre ihr Blick von dem Bild, das in ihrer Seele auftauchte, nach innen gelenkt worden, hatte Frau von Grunstedt ihre Augen geschlossen. Nun öffnete sie sie wieder und fuhr fort, ohne sich darum zu kümmern, daß der Kammerherr, dem bei dieser Unterhaltung nicht recht geheuer zumute gewesen war, sich sacht zu einer andern Gruppe geschlängelt hatte:
»Er war mit seiner Mutter den ganzen Sommer über auf dem Lande gewesen. Wenige Tage nach seiner Rückkehr besuchte er mich. Ich saß gerade auf dem Sofa, auf das ich ihn damals im ersten Augenblick gebettet hatte. Und wie ich ihn nach diesem und jenem frage, da fällt mir auf, daß er immer so eigentümlich die Kante vom Sofa ansieht. Ich wurde so nervös, daß ich schließlich fragte, was er eigentlich hätte. ›O nichts,‹ antwortet er. ›Ich dachte nur: die kleinen Spritzerchen da, die sind doch wohl noch von mir. Von meinem Blut!‹ – In meinem Schreck sagte ich nur: ›Daß Sie das aber auch gleich sehen müssen, was selbst mir entgangen ist.‹ ›Ja,‹ erwidert er, ›ich habe seitdem wohl etwas wie den bösen Blick bekommen.‹ Und so ist er innerlich geblieben. Nicht mit bösem, aber mit trübem Blick sieht er seitdem das Leben an.«
»Ist es wirklich so schlimm, Baronin?« fragte der Regierungsrat etwas zweifelnd. »Er macht doch eigentlich 'nen ganz vergnügten Eindruck. Und er kann wirklich von Glück sagen, daß er nicht auf diese Schwester hereingefallen ist. Die andere ist doch eine zehnmal wertvollere Frau. Übrigens machen die beiden einen tadellos harmonischen Eindruck.«
Frau v. Grunstedt wiegte nur schweigend den Kopf. Mit der Hartnäckigkeit des Alters hielt sie an ihrer einmal geäußerten Ansicht fest. Aber sie fand es wohl nicht ratsam, jedenfalls überflüssig, zu widersprechen.
Wenn man das heikle Thema in den anderen Gruppen und Zwiegesprächen auch nicht einmal andeutungsweise erwähnt, sondern jene oberflächlich auf- und niederschwellende Unterhaltung geführt hatte, die dem Knistern eines Strohfeuers gleicht, so verriet sich das, was alle beschäftigte, doch durch manche rasch hingeworfene Bemerkung, wie: »Kommt sie eigentlich?« »Wird noch jemand erwartet?« durch manches vielsagende Lächeln und manchen lauernden Blick nach der Tür. In dieser an äußerste Pünktlichkeit gewöhnte Gesellschaft hatte die Erwartung sich allmählich bis zur Ungeduld erhitzt. Mit harmloser Miene und lächelndem Blick wandte Alexander Horn sich an seine Frau: »Unerhört!«
»Ich versteh auch nicht, daß sie nicht kommt.«
»Das ist der Dank dafür, daß man ihr sein Haus öffnet«
»Um Gottes willen, wenn dich jemand hört.«
»Ich lasse anfangen.«
Gerade wollte er einem Diener den Befehl geben, die Rolltür zu einem dritten Zimmer zu öffnen, als etwas um ihn herum vorging. Alle Köpfe wandten sich in eine Richtung, die Unterhaltung stockte, ja selbst der Atem schien stillzustehen. Es war, als wenn eine kaum fühlbare und doch unwiderstehliche Kraft ihn ebenfalls zwänge, sich umzudrehen. Er machte eine mechanische Bewegung, fühlte, wie sein Herzschlag aussetzte, wie sein Blut zurückebbte, ein tiefes Staunen lag in seinem Blick, und tief in seinem Innern sagte etwas: ›Noch schöner geworden.‹ Aber im nächsten Augenblick schoß die rote Welle mit aller Kraft gegen seine Stirn und trug ein brodelndes Gemisch von Qual, Haß und Neid herauf.
Es hatte sich vor Lydia eine förmliche Gasse gebildet, wie vor höchsten Herrschaften oder Verfemten. So wurde ihr Eintreten zu einem förmlichen kleinen Bühnenauftritt. Und wie vor einem solchen hatte sie gezittert. Nun aber, im entscheidenden Augenblick, fühlte sie sich im Besitz ihrer ganzen Unbefangenheit.
Mit raschen Schritten ging sie auf ihren Vater zu, der ihr zunächst stand. Leicht küßte sie ihn gerade auf die geschwollene Stirnader. Strahlenden Blickes sah sie ihm in die Augen. »Nicht böse sein, Väterchen. Ich bin ohnehin ganz verängstigt. Ich konnte wahrhaftig nichts dafür.«
Dann bemerkte sie im dichten Gewühl ihren Schwager. »Oh, guten Tag! Guten Tag! Schaust du aber prächtig aus! Verzeih mein Zuspätkommen. Meine Jungfer ist mir vor 'ner halben Stunde durchgebrannt. Hinterläßt mir einen Zettel: sie kann die Luft hier nicht vertragen. Eine echte Berliner Pflanze. Aber ich fühle mich himmlisch hier. Die Ruhe! Wo ist denn Anneke? Ach, da bist du ja.«
Und als gäbe es kein Gedränge, als wäre es selbstverständlich, daß alles ihr Platz machte, eilte sie der Schwester entgegen.
Enttäuscht und abgekühlt bis zum Frösteln sah Alexander Horn ihr nach. Was für eine leere Komödiantin sie doch war! … Mit dunkler Scham erinnerte er sich der Unruhe, die das Warten auf dieses Wiedersehen während der letzten Tage in ihm hervorgebracht hatte. Hatte er nicht noch heute morgen im Geist eine lange Aussprache mit ihr gehabt – eine Verständigung und Versöhnung, in der sie sich die Hände reichten als die neuen Menschen, die altes Leid ehrlich begraben wollten! Und nun begrüßte sie ihn so strahlend, daß es fast wie Hohn aussah, und keine Regung in ihrem Gesicht erinnerte an die Vergangenheit. Sie verstellte sich nicht einmal. Diese sichere Liebenswürdigkeit der Weltdame verbarg keine niedergekämpften Empfindungen. Sie besaß einfach kein Gefühl. Sie war eine hübsche Larve, weiter nichts … Alexander sagte sich, daß jede Stunde, die er sich mit ihr beschäftigt hatte, verschwendet war. Und er beschloß, nicht mehr an sie zu denken.
Unterdes war Lydia von ihrer Schwester den Gästen vorgestellt worden, tauchte bald tief nieder und begnügte sich bald mit einem hoheitsvollen Kopfnicken, je nach dem Rang der Gäste.
Die Frau des Intendanten von Giebichen erhielt einen besonders feierlichen Knicks. Dafür erglänzte deren Vollmondgesicht im mildesten Schein, als sie sagte: »Es freut mich, gnädige Frau, Sie hier zu begrüßen. Mich ganz besonders.«
»Auch ich bin glücklich, Exzellenz. Ich habe schon Seiner Durchlaucht gesagt, wenn ich an sein Theater käme, so wäre es in erster Linie wegen der vornehmen Leitung durch Exzellenz von Giebichen.«
»Ich hoffe. Sie recht bald bei mir zu sehen.«
»Das glückte!« flüsterte Lydia ihrer Schwester zu. »Ich will bei der Alten verkehren, damit sich die Kollegen ärgern.«
Inzwischen gingen die beiden Schwestern auf Frau von Grunstedt zu. Diese reichte Lydia frostig die Hand. »Was führt Sie eigentlich her?«
»Ich bin auf Wunsch Seiner Durchlaucht hier am Theater engagiert.«
»Muß man denn alle dessen Wünsche erfüllen? Ich an Ihrer Stelle hätte abgelehnt. Es kann Sie hier doch eigentlich nichts fesseln.«
»O doch! Zum Beispiel, daß meine Gegenwart hier manche Leute ärgert.«
Dann machte sie einen Knicks und schwebte weiter. Ihre Schwester war vor Scham und Zorn dunkel errötet.
»Warum hast du das gesagt?« fragte sie leise.
»Mein Gott, es fuhr mir so heraus. Ich wollte gar nicht.«
Die Rolltür wurde auseinandergeschoben, und die Gäste suchten Platz auf den Reihe hinter Reihe stehenden Stühlen. Ganz unauffällig ging es streng nach der Würde. Die erste Reihe war mit lauter Exzellenzen garniert. Es war Zufall und sah doch wie Absicht aus, daß Lydia außerhalb des Gevierts auf einem einsamen Stuhl an der Seitenwand sich niedergelassen hatte. Dadurch wurde sie das Ziel aller Blicke.
Alexander Horn wartete, bis kein Seidenrock mehr rauschte, kein Stuhl mehr knarrte, kein Flüstern mehr vernehmbar war, ehe er begann.
Man hörte dem Hofrat gern zu. Ohne daß er je mit eigenen Schöpfungen hervorgetreten wäre, galt er als ein geistvoller Vermittler alles dessen, was auf den verschiedenen Gebieten des Schönen und Wissenswerten geleistet wurde. Für die bildenden Künste tat er das in seiner Eigenschaft als Direktor des fürstlichen Museums. Aber auch der Literatur und der Musik hatte er in seinem Hause eine Pflegstätte bereitet und in der Gesellschaft ein dankbares und zahlreiches Publikum dafür gefunden.
Denn Weyringen gehörte zu den mitteldeutschen Residenzen, die größer sind als ihre Einwohnerzahl. Durchreisende Fremde fanden die Stadt oft still. Das war sie auch in dem Sinne, daß der kräftige Pulsschlag eines großzügigen Industrie- und Geschäftslebens nicht zu spüren war, und daß es auch an rauschenden großstädtischen Amüsements fehlte. Aber gerade diese Stille beförderte die Regsamkeit des geistigen Lebens. Die Gesellschaft war gebildet und anspruchsvoll, dabei durchaus nicht engherzig in ihren Anschauungen. Nur auf eines hielt sie streng: auf die Wahrung der guten Formen. Nicht umsonst befand man sich in der Nähe eines Hofes und fühlte sich als Vertreter alten, vornehmen Kulturlebens.
Aber gerade, was die Form seiner Ausführungen betraf, hatte Alexander Horn heute einen unglücklichen Tag. Er, der Meister des sorgfältig abgewogenen Wortes, vergriff sich wiederholt auf beklagenswerte Weise in seinen Ausdrücken. Offenbar kam die bis dahin beherrschte Nervosität jetzt doch zum Ausbruch.
Dabei hatte er nicht einmal ein heikles modernes Thema zu seinem Vortrag gewählt, sondern er sprach über die weiblichen Pole in Goethes Leben: Frau von Stein und Christiane Vulpius. Die jungen Herren hatten schon mehrmals verschmitzt gelächelt, die würdigen Familienväter dagegen krause Mienen gezogen. Und selbst die älteren Damen, die sonst die Kerntruppe seiner Verehrerschar bildeten, sahen sich mit verwunderten, ja geradezu verstörten Gesichtern an. Nur die jungen Mädchen behielten ihre anmutigen und ahnungslosen Mienen bei, wie schöne Blumen, die hinter Scheiben blühen.
Lydia war ganz in ihren Ärger versunken.
Daß sie zur großen Überraschung ihres Agenten, der Kritik und des Publikums dieses wenig vorteilhafte Engagement an der kleinen Hofbühne angenommen hatte, entsprang zum Teil einer Aufwallung ihrer Mutterliebe. Sie besaß eine sechsjährige Tochter, um die sie sich bis dahin wenig bekümmert hatte. Das Kind war bei einer Dame in der Umgegend von Dresden aufgewachsen, die Pflegemutter starb, und Lydia mußte es wohl oder übel eine Zeitlang zu sich nehmen. Impulsiv und heftig in ihrer Neigung, gewöhnte sie sich an das Kind bald so sehr, daß sie glaubte, es nie mehr entbehren zu können. Doch wollte sie es auch nicht im Komödiantenmilieu aufwachsen lassen, gegen das sie gerade wieder einmal einen stürmischen Abscheu empfand. Denn wenn sie sich eine Weile recht zügellos im Bohêmetum getummelt hatte, erwachten gewöhnlich die Instinkte der Dame aus der guten Gesellschaft in ihr. In dieser Stimmung war die Rückkehr in ihre Vaterstadt ihr als eine glückliche Lösung erschienen. Durch ihre Verwandten durfte sie hoffen, für sich und die kleine Walpurga den passenden Umgang zu finden.
Aber wenn sie hier Boden fassen wollte, so mußte sie sich dem Ton der Gesellschaft anpassen, mußte sich vor allem die Menschen gewinnen. Und schon hatte sie bedenkliche Fehler gemacht. Zuerst ihr Zuspätkommen. Dann ihre freche Antwort an die Baronin Grunstedt. Die war nun ihre Feindin. Und sie kannte deren Einfluß.
Nun wütete sie gegen sich selbst. Aber wie das bei Menschen, deren Temperament stärker als ihre Vernunft ist, zu gehen pflegt, in kürzester Zeit verwandelte ihre Reue sich in Feindseligkeit gegen ihre Umgebung. Sie musterte die Gesellschaft und bedachte sie mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken. Ihre innere Rebellion steigerte sich. Sie verwünschte den Tag, an dem sie sich hatte verleiten lassen, hierher zu kommen. Sollte sie es ihrer Jungfer nachmachen und Hals über Kopf nach Berlin zurückreisen?
Da erschrak sie aber denn doch über ihre Gedankensprünge und zwang sich, dem Redner zuzuhören.
Ihr Schwager erzählte gerade von der ersten Begegnung Goethes und Christianens, »des Mädchens mit den schönen rundlichen Formen«. Es blieb nicht bei gelegentlichen Zusammenkünften. Er grub das Pflänzchen mit allen Würzelchen aus und nahm es zu sich ins Haus, um es wie ein sorgsamer Gärtner zu pflegen und zu hegen.
Die würdigen Familienväter machten bedrohliche Gesichter. Wohin sollte das noch führen? Die älteren Damen wagten kaum zu atmen.
»Welche Gluten diese neue Leidenschaft in dem Dichter entfachte, das können Sie in den römischen Elegien und den venezianischen Epigrammen nachlesen.«
Ein hörbares Räuspern ging durch die Reihen. Zwanzig Mütter beschlossen sofort, den betreffenden Goetheband einzuschließen. Jetzt merkte der Redner endlich, daß er auf Abwege geraten war.
»Aber Sie dürfen nicht denken, meine verehrten Damen und Herren,« – fuhr er beschwichtigend fort – »daß nur die niedrige Leidenschaft an diesem Verhältnis Anteil gehabt hätte. In den entscheidenden Augenblicken verwandelte sie sich stets in rein dichterische Phantasietätigkeit.«
Da ertönte ein helles melodisches Lachen, das in diesem Augenblick aber mißtönender klang als ein schriller Pfiff im Theater, erschreckender, als das dumpfe Dröhnen einer Sturmglocke.
Entsetzt, empört blickten alle die Schuldige an. Lydia, einen Augenblick lang erschrocken, saß jetzt mit hoheitsvoller Miene da, so daß viele zweifelten, ob sie es wirklich gewesen war.
Aber der Redner stockte und schwieg – schwieg. Man sah, wie sich Perlen von Angstschweiß auf seiner Stirn bildeten. Endlich sagte er: »Es ist hier sehr heiß!«
Ein Leutnant sprang auf und öffnete geräuschvoll ein Fenster. Da gelang es ihm endlich, mühsam seinen Vortrag zu Ende zu bringen.
Aber als er geschlossen hatte, umdrängten ihn nicht wie sonst die Damen, um ihn zu beglückwünschen. Nur die alte Gräfin Zech, von der alle wußten, daß sie stocktaub war, drückte ihm die Hand. »Wundervoll! So schlicht und klar! Ich muß entschieden wieder mal den Faust lesen,« sagte sie.
Den Rest des Abends herrschte eine Stimmung, als wäre die frostige Herbstkälte durch die Fenster gedrungen. Lydia war unter die Fittiche der Frau von Giebichen geflüchtet. Später ließ sie sich von einigen Leutnants den Hof machen.
Die Erklärung des Dieners, daß die Wagen warteten, wirkte als Erlösung.