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Zweiter Teil

Frankreichs Kriegserklärung an Preußen war abgesendet. Und nun begann jene heilige Raserei um sich zu greifen, die die Völker jäh und jäh zwingt, sich, Schaum der Begeisterung auf den Lippen, zuckend und singend in die große Blutschale hinabzustürzen, die der Krieg ihnen entgegenhält: ein wildes Amoklaufen hin zum Tode.

So fing es auch diesmal wieder an. In ganz Deutschland. Denn nicht nur Preußen gab Antwort auf die Kriegserklärung. Die Hetzer in Paris, die unermüdlich ihr »à Berlin, à Berlin« schrien, hatten sich verrechnet; Süddeutschland ging mit, und Hannover ging mit und Sachsen. Alles, was vorher sich befehdet hatte vom West zum Ost, vom Süd zum Nord der deutschen Länder, das war plötzlich zusammengeschlossen im gleichen Gefühl der Abwehr und der Wut gegen Frankreich. Ein einziger Schrei, dem Feinde entgegen, flog durch das sommerheiße Land. Zorn war in diesem Geschrei und Gebet, Werkstatthämmern und Glockengeläute, ein Aufrauschen von Fahnen, die entrollt wurden, ein Zischen von Säbeln, die aus der Scheide fuhren, ein starrer, entschlossener Mut und ein Rasen von Opfersüchtigen. Frauen warfen sich jauchzend ihren Männern an die Brust und küßten sie zu Helden, Mütter hängten, mit starren Augen lächelnd, ihren Söhnen die blutgierigen Waffen um, Mädchen schmückten den Helm des Liebsten mit Rosen. Und zwischen allem ein Singen überall, junge getroste Stimmen; die machten die alten Lieder neu und ließen sie klingen.

Ergreifender aber als dieses Singen, Rauschen und Klirren rundum war das tiefe Schweigen des Volkes Unter den Linden zu Berlin, wie es, lautlos eng gedrängt, eine ganze Nacht hindurch vor König Wilhelms Fenster stand und zu seiner Arbeitslampe hinaufstarrte.

Auch in Frankreich war zu gleicher Stunde die Kriegsbotschaft durchs Land geflogen, das Echo aber, das ihr antwortete, war kein einmütiges. In Paris freilich dröhnten die Boulevards von Jubel und Gesang. Das Militär, sonst nicht besonders beachtet, wurde jetzt Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Die Offiziere mit Käppi, Dreispitz, Persermütze oder Roßschweifhelm besetzten die Cafés. Sie plauderten vergnügt. Endlich einmal ging es los! Man würde Mut zeigen können. Neues erleben und bestehen! Die gallische Aktivität spritzte hoch auf. In den Arbeitervierteln ging es groß her mit Schimpfworten und Drohungen gegen diese frechen »Preußen, die den Krieg gewollt hatten«. In den Stadtteilen der Studenten zogen die jungen Leute mit ihren Mädchen singend durch die Straße.

Was aber fehlte bei alledem, das war der starke, kraftvolle Ernst hinter der begeisterten Gebärde, die Besonnenheit, die sich schweigsam und gefaßt an die Arbeit macht. Und was fehlte, war das spontane Gefühl der Zusammengehörigkeit von Herrscher und Volk; jenes Gefühl, das drüben in Preußen jeden Einzelnen hatte aufschreien machen bei der Kränkung, die man seinem König angetan. Aufschreien und ans Schwert greifen aus eigenem, heißem Entschluß. Hier in Frankreich war man nicht Soldat, nur wenigen ging es ans eigene Blut, wenn Krieg kam. Die paar Mobilgardisten zählten kaum. Die meisten fühlten sich als Zuschauer. »Die Armee wird's schon machen!« In der Provinz gar merkte man von der Begeisterung überhaupt nicht viel. Wohl veranstalteten die Bürger hier und da patriotische Kundgebungen, aber man bediente sich hauptsachlich dieser Flagge nationaler Entrüstung, wenn man Lust hatte, sein Mütchen an den lokalen Mißliebigen zu kühlen, an den Ausländern etwa, den Liberalen oder Protestanten.

Auch vor Baldes Hause machte sich eines Abends ein Häufchen Schreier laut. Als er aber seinen mächtigen grauen Kopf in die Gasse hinausstreckte und die Leute verwundert bei Namen rief, zogen sie befriedigt wieder ab.

Ihren großen Streik hatten die Arbeiter aufgegeben, sie sahen ein, daß der Augenblick schlecht gewählt sei, sich brotlos zu machen. Nun tobten sie sich in Umzügen und Marseillaise-Singen aus. Man hatte den alten Revolutionsgesang wieder freigegeben, und seine erregenden Rhythmen, die ehemals gegen die Fürsten geschleudert waren, tönten jetzt für die Dynastie. Aber in den rauhen Kehllauten der guten Elsässer bekamen die Worte doch etwas sonderbar Grollendes, das weit besser zu ihrem eigentlichen Inhalt paßte als das prahlende Geschmetter der Franzosenkehlen:

»Contre nous de la tyrannie
l'étendant sanglant est levé«

sangen sie. Sie ballten dabei die Fäuste. Und unvermutet gingen sie in das deutsche Volkslied über: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«. Das klang wehmütig.

Pfiffer-Schang saß in der Klostergasse auf der schmalen Bank am Stamme der Platane und ließ den Trupp an sich vorüberziehen wie eine Parade.

»Jo, jo, Soldätle spiele un uf d'r Gasse ummebrülle widder d' riche un vornehme Litt, sell g'fallt euch jetz. Awer im ›Luschtige Bruder‹, wo d'r Pfiffer-Schang 's nämlige proponiert hett, do sin sie mit d'r Fauscht uf'n losgange un han ihn halb tot g'schlage. Die elendige Chaibe, die net springe wolle, wie's d'r Pfiffer-Schang vorspielt!«

Schadenfroh sieht er die Gasse hinauf, in der sie verschwunden sind.

Revanchiere wird er sich scho! D' Madame Tränkele het'n geschtere z' Nacht scho Widder a document brocht üs'm Rathüs, do drinne steht: M'r hett Angscht z' Paris in de Tuileries vor dene Wackes im Ländle, un d'rwege soll d'r Maire recherches mache, ob m'r en cas de guerre dene Litt könnt Waffe in d' Händ gebe.

's brucht nix witer, als daß er auf Paris berichtet, was er grad g'hört hett, sell G'schrei un Manövre mit d'r Händ, un wie se gliech d'rno gsunge han wie d'Schwowe. Noch hitt z' Nacht wird er sin Schriewes mache un inüwer trage zum Préfet du Haut-Rhin. A güti récompense han sie'm versproche fir jede nouvelle.

Mit scharfen Augen sah er nach dem Haus hinüber.

Qui sait, er macht am End' noch wichtige découvertes!

Wie er da an der Platane hockt, zusammengeduckt in seinem schmutzigen, gelbbraunen Röckchen, gleicht er einer bösen Geschwulst an dem gesunden alten Baum.

Im Balde-Hause hatte man nicht viel bemerkt von dem, was draußen vorging. Jeder war mit sich beschäftigt. Ein großes Rüsten zur Abreise. Man hatte sich, wie jetzt immer, frühzeitig nach dem Nachtmahl getrennt. Jeder ging in sein eigenes Zimmer.

Bei den Dugirards wurde umständlich gepackt. Den Fabrikanten hielt es nicht mehr hier in der Provinz, seit er Paris voll Ereignis wußte. Er mußte dabei sein, auf den Boulevards stehen und den Zeitungsausrufern ihre noch nassen Blätter aus der Hand reißen, beim Absinthglas in den Cafés politisieren, dabei einmal wieder elegante Frauen sehen, Französinnen. Denn Paris würde nicht leer mehr sein, trotz des Sommers, die Welt würde dorthin zurückkehren wie er, um das Schauspiel der Kriegsrüstung zu genießen.

Er saß rauchend im Lehnstuhl, las in der Zeitung und ordnete an. Louison, von der kleinen Désirée aufs eifrigste gestört, lief hin und her mit Kartons, Wäsche, Kleidern, Lucile glättete an ihren Bändern. Sie sah nachdenklich aus. Hatte man sie nun eigentlich verlobt mit Victor Hugo oder nicht? Ihr Vater sagte ihr nichts, und der junge Mann selber zeigte sich zerstreut und nachlässig. Nicht einmal ein Geschenk hatte er ihr geschickt zum Abschied. Am Ende fand mamam doch in Paris eine bessere Partie für sie, mit einem richtigen Franzosen.

Auch Hortense drüben in ihrer Stube bereitete ein Köfferchen. Fieberhaft, unschlüssig, was sie wählen sollte für den kurzen Ausflug. Armand hatte telegraphiert. Er hatte Befehl, mit seiner Division über Altkirch nach Mülhausen und von dort weiter nach der Grenze zu marschieren. » Aimez-moi bien. Réponse,« schloß das Telegramm. Diese Antwort nun wollte sie selber sein. Und schön wollte sie sich machen für ihn, ihm nicht zeigen, wie enttäuscht sie war, daß er nicht nach ihr verlangte zum Abschiednehmen. Stolz, der sich versagen, und Liebe, die nicht länger entbehren wollte, ließen sie das eben eingepackte rosa Nachtkleid wieder herausreißen, auf das Bett werfen und wieder einpacken. Wer weiß, ob Armand nicht bis zum nächsten Tage in Mülhausen bleiben und im Hotel mit ihr zusammen sein könnte! Ihre Hände flogen und brannten. Sie war perlblaß.

Nebenan in Françoises Zimmer war es ganz still. Das junge Mädchen stand an der Kommode und kramte aus einer bunten Schachtel ihre paar Liebesschätze heraus: die Kornähre, die nun hart und trocken war, und den Zettel, den »Petit-Singe« ihr aus Bollwiller heimgebracht hatte, rasch mit Bleistift geschrieben, die Buchstaben unregelmäßig, wie fliehend. »Leb' wohl, bewahr' Dich mir.«

Sie nahm das Briefchen heraus, das sie von seiner Mutter hatte. Eine feine Jungmädchenschrift, die Briefbogen mit einem blauen Bändchen. Es wehte ein Hauch von Unschuld und Liebesbereitschaft durch diese Zeilen, der Françoise rührte. Unsicherheit zugleich und Würde sprachen aus den Worten, mit denen ihre künftige Schwiegermutter sie begrüßte. Zuerst hatte Françoises französisches Empfinden sich gewehrt gegen dieses deutliche Aussprechen von Beziehungen, die sie, ihrer Gewohnheit nach, als noch unberührbare eigenste Intimität betrachtete. Einen Brautstand kannte sie nicht bisher, nur Werbung und Heirat. Nun aber las sie wieder und wieder jede Zeile dieses sanften Mutterbriefes aus dem fremden deutschen, Lande: »Ich weiß, daß die Wahl, die mein Sohn getroffen hat, auch für mich die glücklichste sein muß. Heinrich hat mir bis heute noch keine einzige Enttäuschung, keine einzige trübe Stunde bereitet. Und gerade jetzt in dieser ernsten Zeit ist mir der Gedanke tröstlich, daß mit mir noch eine andere Frauenseele ihm ihre Ströme von Liebe und Kraft entgegenschickt. Ich bin des festen Glaubens, daß die ihn schützen und tragen werden und ihn uns gesund zurückbringen.«

Françoise küßte den Brief, ehe sie ihn wieder weglegte. Sie meinte in der gründlichen und gewissen Art, wie diese Leute liebten, etwas von dem zu finden, was auch in Gottfried Keller ihr sonderbar und ein ganz klein wenig hilfsbedürftig erschien. Sie schlug sich die Stelle auf, da der grüne Heinrich zu Judith, die er liebt, sagt: »Treue und Glauben müssen in der Welt sein, an etwas Sicheres muß man sich halten, und ich betrachte es nicht nur für meine Pflicht, sondern auch als ein schönes Glück im Hinblick auf unsere gemeinsame Unsterblichkeit, einen klaren, so lieblichen Stern für das ganze Leben zu haben, nach dem sich meine Handlungen richten können.«

Hätte nicht auch ihr Heinrich so schreiben können?

Und dann, wie ein bestes Gericht, das man sich auf zuletzt aufhebt, las sie noch einmal wieder all die lieben Worte, die er ihr geschickt hatte. Aus Jena. Hier war seine Schrift sparsam eng aneinandergereiht und steil, fast pedantisch. Aber die Worte waren wie Ströme von Zärtlichkeit. Sie durchbrachen immer wieder alle seine braven Versuche, vernünftig und zusammenhängend zu erzählen. Françoise erfuhr von seinen Rüst- und Abschiedstagen da oben bei den Seinen. »Abends singen wir alle meine Lieblingslieder, die Mutter mischt ihre kleine, müde Stimme in die der Jugend. Heute ist mein Schwager fortgegangen. Meine Schwester ist tapfer und tätig. Morgen gehe dann ich. Zuerst nach der Pfalz. Wohin weiter, erfährt man erst, wenn man auf dem Marsche ist.« Am Schluß dann noch einmal ein paar verhaltene heiße Liebesworte: »Wie kurz, wie kurz ist alles gewesen zwischen uns!« Und ganz zuletzt: »Wir glauben hier alle fest an den Sieg der gerechten Sache.«

Auch die letzte Karte las sie dann noch, schon aus der Pfalz. »Ich werde wohl nicht mehr direkt an Dich schreiben können,« hieß es da zuletzt. »Die Post befördert nicht nach Feindesland.«

Françoise nahm das Kärtchen in die Hand. Sie stieg auf den Fenstertritt und setzte sich da am Nähtisch nieder.

Nach Feindesland!

Drinnen pfiff jetzt Hortense, bubenhaft, wie sie als Kind gewesen, sich beim Packen ein Liedchen:

»Marlbourough s'en va-t-en guerre.«

Françoise blickte über Garten, Gassenschlupf, Dachfirsten und Bäume auf ihr liebes Land hinaus: Felder, Pappeln, Wälder und Berge.

Ihr schönes Elsaß!

Sie sah den Krieg vor sich, wie er über die Felder schritt, Bilder voll Roheit und unbekannter Schrecken. Sie sah die Heere kommen, sehnige Franzosen und wuchtige Deutsche, sah sie ringen miteinander, hier auf ihrem Heimatboden, sah sie die Erde zerfetzen mit ihren Tritten, Pferden und Kanonen, das Land verwundet und blutend zwischen ihnen, wie ein Tier, das zwischen aufgereckten Speeren hin und her ängstet. Und sie, sie selbst war dieses Tier, das man zerfetzte. In ihrem eigenen Herzen hatte man den Kampfplatz aufgeschlagen, auf dem die Schlacht entschieden werden sollte.

Sie neigte sich nach vorn. Ein entsetzliches Gefühl von Zerrissenheit, das sich bis zum wirklichen Körperschmerze steigerte, machte sie fast ohnmächtig. Sie erhob sich, sie kämpfte gegen das, was sie schwach machen wollte. Und als grenzenloses Glück ward ihr bewußt, daß trotz aller Scheidungen, die sich zwischen ihr und Heinrich auftaten, sie dennoch tief und sicher einander angehörten.

Niemals könnte sich das ändern, dachte sie.

Die Wärme kam ihr zurück, der Krampf war vertobt. Mit einer sanft ergebenen Gebärde schloß sie die bunte Schachtel. Lange Zeit würde sie nichts Neues mehr hineinzulegen haben. Sie öffnete das Fenster. Herrlich duftete der durch den Regen erquickte Garten herauf, porzellanen leuchteten die Lilien unten auf dem runden Weg vor ihren Fenstern, ganz voll Tropfen, die schwach blinkten. Die fernen Wetterleuchten am Horizonte hatten etwas Tröstliches, die krummen Birnbaumäste wanden sich schwarz und phantastisch wie feuchte Schlangen durch ihr grünes Laub, vom Dach floß singend die Rinne ins Regenfaß, alles draußen lockte und versprach Freude. Da band sie sich ihr Haar zusammen, tauschte ihr Kleid und ging in den von Sternen erleuchteten Garten hinunter. Sie liebte es, draußen so im Dämmer herumzuarbeiten. Sie band abgerissene Stauden frisch an ihre Pfähle, harkte dann ihre eigenen Fußtritte wieder glatt, schüttelte das Wasser aus den Rosenköpfen, schnitt welke Blüten ab, sorgsam bis zum nächsten Auge, und schüttelte sich wohlig, wenn ihr Büsche und Bäume Tropfen auf ihren warmen Nacken regnen ließen.

Die Arme voll Blumen, lief sie wieder ins Haus zurück. Vor des Vaters Glasvorbau blieb sie stehen und lugte hinein. Er war leer. Die Stubentür stand auf. Drinnen saß Martin Balde ganz allein bei seinem Arzneikasten. Er füllte und versiegelte Fläschchen.

Françoise beobachtete ihn eine Weile unbemerkt. Es lag etwas Einsames über seinem Wesen. Wo mochte maman bleiben, die ihm sonst immer Assistentendienste tat?

»Soll ich helfen, Papa?« rief sie und war bereits bei ihm. Er sah auf. Jetzt hatte er wieder sein altes Lachen im Gesicht. Françoise ließ sich anstellen. Der Vater erklärte ihr, er wolle auf die Dörfer im Umkreise die notwendigsten Medikamente schicken, damit Pfarrer und Bürgermeister sie im Notfall abgeben könnten bei Erkrankungen. Er sähe voraus, daß Post, Omnibus und gar Bahn in nächster Zeit nur für das Militär gebraucht würden. Auch an Binden und Salben hatte er gedacht. »Denn in dere hitzige Zitt fahre d' Litt gliech ufenander un schlage sich d'r Schädel bluetig, voilà

»Wo ist maman?« fragte Françoise.

Balde wies zu Blancs Stube hinauf. » Maman nimmt Abschied von ihrem cher frère. Er reist morgen. Schon a Stund lang stecke sie da owe.«

»Bist du jaloux, mon vieux?« Es hatte etwas Schmerzliches in seinem Tone mitgeklungen.

Balde sah sie überrascht an. »Ja, ich bin jaloux,« sagte er dann. »Nicht grad um deinen guten Onkel, mais vois-tu, Monsieur Blanc, das isch für deine Mamme la France, le protestantisme, son enfance, tout ensemble. Grad alles das, was mir net sin für sie, nous autres Alsaciens«.« Er wollte vielleicht scherzen, aber es gelang ihm nicht. Den Blick zu jenem Giebelfenster aufgerichtet, fuhr er fort zu sprechen, halb zu Françoise, halb zu denen da oben: »D' Kinderzitt, vois-tu, die geht immer mit eim. Meischt g'sieht m'r sie net. Sie haltet sich z'ruck. M'r hören ihre Stimm net in dem Lärm, wo mir selwer mache. Befallt uns awer Not, n'importe Krankheit, Alter, Zweifel – gliech isch sie do und redt uns an mit unsere alte Name d'autrefois. Maman isch a bitzi weng furt gange von uns in dene letschte Tag. Sie isch mit ihrem Bruder gange mit ihrer râce, a Stickle heimeszu, dans leur patrie à eux. Aber da isch sie, la voilà,–,« fügte er in munterem Ton hinzu. Er richtete sich gerade.

»Wünsche unserem Bruder gute Reise, lieber Freund,« sagte Madame Balde, die mit Blanc hereintrat, auf französisch. »Ah, aber ich bin Faulenzerin, ich habe meine Pflicht bei dir versäumt.«

Balde nickte ihr freundlich zu. »Du siehst, Françoise hilft mir. Sie reisen bereits heute nacht?« fragte er dann.

Blanc nickte. »Madame Blanc ist allein mit den Kindern in Straßburg, der Krieg wird ihr Furcht einflößen. Straßburg ist in größter Erregung. Die Fakultäten werden wahrscheinlich beurlaubt. Eine große Zahl der Studierenden gehört zur garde mobile. Meine Frau schreibt mir, die französischen Militärposten gegen den Rhein hin werden verdoppelt. Man fürchtet, daß die Badenser in Kehl die Schiffbrücke sprengen. Die Straße nach Kehl sei bedeckt mit Gepäckwagen und Reisewagen, Franzosen fliehen von Deutschland zurück und umgekehrt die Deutschen aus Frankreich. Auf dem Bahnhof ganze Berge von Gepäck. Diebstähle. Die kleinen Forts, in denen die Douaniers wohnten, sind rasiert. Punkt zehn Uhr abends schließt man die Tore.«

»Und werden Sie in Straßburg bleiben können?« fragte Françoise.

»Warum nicht? Frankreichs Sieg wird nicht lange auf sich warten lassen, und dann ist die alte Ordnung wiederhergestellt.«

»Nein, er wird nicht auf sich warten lassen,« wiederholte Frau Balde mit glänzenden Augen.

Martin Balde bog sich vor. Er betrachtete die beiden, die, Hand in Hand, erregt und heiß wie Liebende vor ihm standen. »Sie sind dessen gewiß? Um so schlimmer, wenn es diesmal anders käme. O, das ist möglich. Es sind junge respektlose Emporkömmlinge, die Leute von diesseits unseres Rheins, die mit ihrer Zungen Kraft euer geliebtes, feines, üppiges und gealtertes Land bedrängen werden.«

»Frankreich bedrängen? Das wird niemals geschehen, wir kommen ihnen zuvor!«

Sie blickten über die anderen hinweg, als wären nur sie beide, die wirklichen Franzosen, in dieser Frage zuständig.

»Morgen können wir die Prussiens auf der Spitze unserer Bajonette balancieren,« setzte Blanc mit blitzenden Augen hinzu.

Balde lächelte. – »Sieh da, wie der Krieg alles Verborgenste zutage bringt. Wer hätte in dem sanften, schmalschultrigen Pfarrer einen so kriegswütigen Soldaten vermutet? Aber es ist wahr« – er richtete sich auf und dehnte sich ein wenig – »es ist wahr. Jeder von uns Männern trägt wohl im Verborgenen ein Stückchen Wildheit mit sich herum in seinem Blute, eine Wildheit, für die in unserer bisherigen Kultur kein Platz war. Jetzt, da Krieg werden soll, fühle auch ich ganz deutlich in mir die uralte elsässische Rauflaust.«

Er machte eine scherzhafte Bewegung, als wollte er die Ärmel hochstreifen zum Kampfe. Frau Balde sah ihn betroffen an. Sie hatte, ohne ganz zu verstehen, eine verhaltene Drohung herausgehört aus den lächelnden Worten. Und jetzt tauschten Vater und Tochter einen Blick. Denselben Blick des Einverständnisses, mit dem sich die Geschwister vorhin umfaßt hatten.

Es war wie zwei Parteien, die sich trennen.

 

Ein Außenstehender, der in diesen Tagen das Städtchen Thurwiller besucht hatte, wäre vielleicht auf den Gedanken gekommen, man rüste eine große Hochzeit, oder es stehe sonst eine festliche Begebenheit bevor. Überall begegnete man froh aufmerksamen, erwartungsvollen Gesichtern, die Wirtshäuser waren gefüllt mit laut redenden Menschen, deren jeder ein Höhrrohr nach den Tuilerien zu haben schien, so genau wußte er Bescheid mit allen Wünschen und Absichten der Regierung. Die Damen gaben Nachmittagsgesellschaften, in denen es bei Kaffee und Süßigkeiten hochpolitisch zuging. Für die Dienstmädchen wieder bildete die Backstube des Frietags-Nazi ein Rendezvous. Immer war da große Versammlung, und die Brettkuchen, die im Ofen des Backhauses die letzte Weihe erhalten sollten, verbrannten häufiger in dieser Woche als sonst je.

Bäcker-Nazi mit seinem von der Hitze verbrannten Blute war ein leidenschaftliches Klatschmaul. Er wußte alles im Städtchen. Die Mädchen trugen ihm zu, und seine Phantasie tat das übrige. Angeregt wurde sie bereits in ruhigen Zeitläuften durch die Makulaturbogen der Gerichtszeitung, die er als Backunterlage von einer Kolmarer Druckerei bezog und eifrig studierte. Jetzt aber erreichte sie eine fast dichterische Höhe. Der schwitzende Mann hatte sich eine Papiertüte auf den Kopf gestülpt und hielt Vortrag. Seine lebhaften schwarzen Augen funkelten erschreckend umher unter den dicken, runden Brauen, wahrend er die Fürchterlichkeiten schilderte, die geschehen würden, wenn man dem Verlangen der Arbeiter nachgeben und sie für den Krieg bewaffnen würde. Er malte alle Verbrechen aus, die sie begehen konnten.

Er, der Bäcker-Nazi, war nicht eingenommen für die Besitzlosen.

Inzwischen herrschte in den Straßen eine Geschäftigkeit, die sonst hier ungewohnt war. Man sah tannengeschmückte Bretterwagen, gefüllt mit Tonnen und Paketen; manche der Wagen trugen frisch gemalte Schilder. »Patriotismes« stand auf einem, auf dem andern »Envoi de la ville de Thurwiller«. Vor der Apotheke bepackte man eifrig einen elegant gestrichenen Wagen, den die Firma Schlotterbach an die Grenze senden wollte zur Erquickung der hinüberdrängenden Truppen. Camille Bourdon hatte einige Fäßchen seines ziemlich sauern Weines hinzugegeben. Die Fäßchen trugen in großer Schrift seinen Namen. Es lag ihm daran, in breitester Öffentlichkeit seine französische Gesinnung zu offenbaren. Die Gastfreundschaft, die er dem deutschen Vetter bewiesen hatte, drückte ihn.

Und jetzt schlug die Kirchenuhr Sechs. Die Stunde, da die Pariser Postsachen anzukommen pflegten. Das war das Zeichen zu dem üblichen Rendezvous im Poststübchen, das sich dann fortsetzte und vermehrte unter den Stadthauskolonnaden, wo Tränkele die offiziellen Depeschen anklebte.

Heute war es im Pöstchen besonders lebhaft. Es hatte am Tage geregnet und war nun erst wieder hell geworden, ein ätherischer Dunst stieg aus dem Boden empor und kühlte die Luft. Die Damen, hübsch gekleidet für diese Stunde patriotischer Plauderei, gingen laut und schnell redend die Straße auf und ab, ihre Sonnenfächer zierlich in die Höhe haltend, mit klappernden Absätzen. Sie warteten auf Nachrichten, während drinnen Quine, Cerf, Rechtsanwalt Bluhm und der Curé die Postsachen durchwühlten, die ohne jedes Zeremoniell aus dem Sack auf Mademoiselle Célestines blauseidene Steppdecke ausgeschüttet wurden und nun da jedermann zur Verfügung lagen. Der Curé saß behaglich neben dem Bett auf dem schönen Louis-Quinze-Sessel und las den Volksboten. Er las daraus vor:

»Wenn die Vorsehung einem Kaiser, fünfmal wiedergewählt durch die Stimme des Volkes, die Gunst gewährt, mit einem Schlage der lateinischen Rasse und ihrer heiligen Kirche zum Siege zu verhelfen, auch in den Ländern, die ihr bisher am heftigsten widerstanden, so dürfen wir nicht fürchten und nicht klagen. Jeder gläubige Katholik wird mit Freuden die leichten Unbequemlichkeiten auf sich nehmen, die ein solcher Krieg von ihm verlangt. Unsere Soldaten werden unsere Religion und unsere Zivilisation zu den deutschen Barbaren hinübertragen und so der ganzen Welt, vor allem aber Gott, einen unermeßlichen Dienst leisten.«

Alle zollten Beifall. Avoué Bluhm, glatt rasiert, korpulent und beweglich, nahm seinen goldenen Kneifer ab und putzte ihn. »Immerhin ein Rückfall ins Mittelalter, solch ein Krieg,« sagte er, und sein Mund zuckte nervös seitwärts.

Cerf, in Napoleonspositur aufgepflanzt, widersprach lebhaft. »Und Sie fühlen wirklich nichts von der Wollust, die darin liegt, seinem Vaterlande mit seinem Blute zu dienen?« Die schöne Célestine, die am Fenster saß und stickte, sammelte in ihrem lächelnden Blick für ihren Bruder Bewunderung ein.

Bluhm bewegte unschlüssig die Schulter. »Ich für mein Teil, ich fühle das nicht. Vielleicht weil ich Jude bin.« Er sah verschmitzt zu dem so fromm katholischen Napoléon Cerf hinüber, den er noch als Abraham Hirsch gekannt hatte. Dann aber wurden seine unruhigen kleinen Augen glänzend, als er fortfuhr:

»Und dennoch, meine Damen, meine Herren, dennoch sind wir Juden es, die vor allen anderen Franzosen Frankreich am leidenschaftlichsten lieben; denn wir, gehetzt und mißachtet wie wir waren, wir verdanken ihm die Verleihung der Menschenrechte.« Sein Gesicht zuckte vor Bewegung. Er nahm seinen Klemmer ab und putzte ihn.

Die übrigen hatten einen Augenblick ernst-höfliche Gesichter gemacht, jetzt drängten sie sich zum Fenster. Ah voilà, die Bürgerwache vom Maire. Die Sache gehörte ins tägliche Vergnügungsprogramm. Es handelte sich um die Zuchthauswache, die Balde zusammengebracht hatte, da die Soldaten nun abgezogen waren und der Ersatz immer noch nicht in Sicht kam. Er hatte, ohne viel zu bedenken, die paar Leute ausgesucht, die sich aufs Schießen verstanden, und sie mit den alten Waffen aus Schlotterbachs Sammlung sowie aus den paar alten Pistolen von seinem eigenen Speicher ausgestattet, so daß die Kompanie einen recht bunten Eindruck machte. Außer dem alten Groff mit seinem sagenhaften Schießprügel aus der Zeit seiner Abenteuer waren da ein halbes Dutzend verwegene Kerle, meist Salzbohrer, der schöne Carlo unter ihnen. Das Witzige aber war, daß Balde sich nicht gescheut hatte, zu dem Wilddiebe auch Förster Rüsch und seinen Forstgehilfen zu bitten. Es war immer ein lustiger Augenblick, wenn die Todfeinde sich bei der Ablösung begegneten.

Eine zweite und nicht weniger beliebte Nummer des Programms war das Erscheinen der Toinette Groff inmitten der Truppe. Stark und braun, in Schoßtaille und Männerhose, nickte sie ins Postfenster hinein. Das wirre Haar fiel ihr unter einem roten Strohbarett, das sie trug, zigeunerisch ins Gesicht, die blanken Zähne blinkten.

Quine lachte. »Da hat unser Maire eine glorreiche Idee gehabt.«

»Sie finden?« Célestine zuckte die Schultern. »Ich für mein Teil, ich finde es ein wenig beleidigend für die Stadt. Man würde glauben können, sich in einem Zirkus zu befinden.« Die Männer antworteten nicht.

»Habe ich nicht recht, monsieur le curé

»Sie haben recht, Madame, sicherlich, aber es gibt in dem Leben der Gemeinden Zeiten und Konflikte, in denen auch die außerordentlichen Mittel erlaubt sind.«

»Und überdies« – Cerf bewegte seine schmale, rote Zunge – »das Mädel ist ja des plus belles

Célestine lächelte verzeihend.

Der kleine abenteuerliche Zug war gerade im Zuchthaus verschwunden, als man auch von der anderen Seite des Platzes her Taktschritte hörte. Ein unbekannter Offizier, mürrisch und schon alt, marschierte mit acht Mann vorbei nach der Kaserne. Die neue Besatzung war eingerückt. Lauter bejahrte, bärtige Männer.

Man sah sich enttäuscht an. »Mit denen werden unsere Frauen und Mädchen nicht zufrieden sein. Und es ist doch so amüsant gewesen, mit dem Wilddieb und der Toinette.«

Draußen riefen jetzt die Damen: sie wollten nach dem Stadthause hinübergehen, wo jetzt schon Tränkele auf der Leiter stand. Madame Bluhm, mehr breit als hoch, rollte ungeduldig ihre Kette von dicken Elfenbeinperlen über ihren Busen hin und her. Sie hatte zwei geputzte Kinderchen neben sich, schwarzäugig, grellstimmig und bunt wie kleine Papageien. Die Quine, nervös, trippelte bereits voran. Sie winkte Cerf zu sich. Madame Schlotterbach ging mit Quine, sie fragte ihn nach der kleinen Berthe, die im Kloster Masern bekommen hatte. Zuletzt kam noch Madame Bourdon herunter. Sie war in großer Sorge um ihren Sohn, der im Begriff schien, eine übereilte Heirat zu machen. Er war in Wissembourg bei einem befreundeten Apotheker zu einer Hochzeit geladen. Dort wollte man ihm eine Verwandte des Hauses präsentieren, deren Eltern seine Werbung gern sehen würden. » Une bonne dot, c'est vrai, aber's Maidele redt kei Wort Ditsch,'s kann uns net versteh, wann m'r Elsässerditsch rede.«. Sie jammerte laut, die Tabaksdose zitterte ihr in den fleischigen Händen.

Unter den Kolonnaden standen schon die Stammgäste des »Lustigen Bruders«. Ungeduldig guckten sie zu Tränkele herauf, der mit dem Klebepinsel hantierte, während seine üppige und schlumpige Gattin ihm den Kleistertopf hielt. Der kleine, flinke Schneider, der gebückt zwischen den Leitersprossen hindurchguckte, teilte brockenweis mit, was er las: » Les jeunes gens de l'arrondissement, die junge Bueble vom Arrondissement, sin invitiert, daß sie sich solle inschkribiere als Volontärs in d'r Lischt z' Kolmar im Hôtel de ville

» Sacré nom!« Ein kleiner Bäckerbub, der da stand, jauchzte hoch auf. »Nix schaffe derfe d'r ganz Tag, ummeflaniere mit d'r fusil untrm Arm, und alles zahlt 's gouvernement

» Pas mal,« meinten auch ein paar Erwachsene. Der Älteste vom Justin, der Markttags in Thurwiller einkaufte, tat einen grellen Stromerpfiff, seine knochigen Hände krallten beutelustig ins Leere.

Jetzt kamen zwei Burschen an, Bauernsöhne aus der Umgegend, Vater und Mutter neben sich, jeder zwei Mädchen am Arm. Ihre Joppen waren an der Brust von Papier- und Stoffblumen dicht besteckt. Sie rochen weithin nach Kirschschnaps.

»Sie haben ihre Marschrouten bekommen,« erklärte Cerf den Damen. »Die Glücklichen!« Er hielt sich sein Taschentuch vor die Nase. Die Quine, reizend in einem grünseidenen, weit abstehenden Kleide und einem kleinen, wippenden Spitzenhut, ging auf die beiden Burschen zu. Sie nahm ein paar Rosen aus ihrem Gürtel und gab jedem eine davon. »Vive notre vaillante armée!« Sie hob anfeuernd den rechten Arm. Alle klatschten.

» A oroquer, la jeune femme,« sagte die Bourdon, »grad zum Fressen.«

Drüben hatte sich eine Rauferei entwickelt. Eines der hübschen Mädchen, die mit den Bauernburschen gekommen waren, hatte dem Friesen zugewinkt, der gemächlich herantrat und sie um die Taille faßte. Ihr Beschützer geriet in Wut. Er hielt dem Eindringling die geballte Faust unter die Nase. »Was häsch do umme z'tappe, animal, dreckiger Chaib, Prussien

Dreier-Tjark, breitbeinig, die Pfeife im Mund, lachte fröhlich. »Na, dann trekt man los und slagt euch wie die Swine, ich kehr mich da nich um. Ich« – er lachte verschmitzt – »ich bleib' daweil hier und pass' auf die Wichter.« Er zeigte auf die Mädchen. Dann nahm er die hübschere der beiden in den Arm.

Nun aber brach es los. Hochgehobene Arme, ein Geprassel von Schimpfworten. Im Grunde sah es gefährlicher aus als es war. Der Lärm hatte schon nachgelassen, als Toinette Groff, jetzt in Frauenkleidern und mit fliegenden Zöpfen, aus irgendeinem Winkel vorgestürzt kam und erst ihrem bien-aimé Tjark, dann dem Mädchen, das ihm gewinkt hatte, ein paar schallende Ohrfeigen gab. Geheul und das Krachen von ernsthafteren Schlägen folgte. Die Damen drüben schrien auf, und Cerf, der dicht neben der Leiter gestanden hatte, fuhr entsetzt zurück. Er drängte sich mit fuchtelnden Händen aus dem Gewühl. »Ich muß die Damen schützen.«

Frau Bluhm hatte sich bereits mutig gackernd vor ihren Kindern aufgestellt. Auch ihr Mann eilte herzu, nahm die Jüngste auf den Arm und streichelte die Größere. »Siehste du, das kommt davon, wenn die Frauen auf die Straße gehen.«

Sein Freiheitsbedürfnis machte halt vor seiner Familie, die er abgöttisch liebte und gern auf altorientalische Art von jedermann abgesperrt hätte.

Manche war inzwischen auf einen Prellstein gehüpft und lachte aus vollem Halse über die aufgebrachten Männer da drüben, die sich an der Gurgel packten und ab und zu aufbrüllten. So konnte Cerf seine Ritterdienste nur der kleinen Frau Schlotterbach angedeihen lassen, die sich hingebungsvoll an ihn schmiegte. »Welches Unglück, dieser Krieg! Und mein Bruder Jules, der keine Anstalten macht, sich einen remplaçant zu sichern. Papa würde ihm sicher das Geld dazu geben, aber er will nicht.«

»Bravo, ich liebe ihn deshalb,« sagte die Quine, die auch dort hinüberhorchte. »Und unser teurer Freund hier, ich bin davon überzeugt, wird genau ebenso mutig handeln wie Monsieur Jules.«

Drüben war jetzt der Streit im Zerlaufen, es gab nichts mehr zu sehen, aber Blanche fühlte sich da gut auf ihrem Stein, der sie vereinzelte für die Blicke. Mit lebhaften Gebärden fuhr sie fort: »O, ich sehe Sie vor mir, Monsieur Cerf, auf einem langen, schmalen Pferde mit weißen Nüstern, Ihr Mantel flattert im Winde, Sie schwingen den Säbel hoch in der Hand und fliegen gegen den Feind, mitten im stärksten Kugelregen.« Madame Schlotterbach schrie leicht auf. »Aber das ist ja Verbrechen, ihm in dieser Weise zuzureden. Das ist ja Wahnsinn!« Dann wurde sie vor Schreck über sich selber flammendrot, hilflos ballte sie zwei kleine Fäuste in die Luft. »Und zudem, Sie wissen, er ist unentbehrlich hier. Unentbehrlich für die Politik, die Wahlen. Nicht wahr?« Cerf lächelte vielsagend.

Blanche sprang mit einem Satze von ihrem Prellstein herunter. Sie stellte sich neben Cerf. Der aber, ohne sich ihr zuzuwenden, begann mit sanfter Stimme zu den Umstehenden zu sprechen.

»Es ist manchmal schwer, sehr schwer« – er machte Märtyreraugen – »zu wissen, wo unsere Pflicht liegt. Aber es gibt ein untrügliches Zeichen, das unsere Wahl bestimmt. Sie wird immer auf die Seite fallen, auf der die schmerzlichere und schwerere Aufgabe liegt.«

Frau Schlotterbach strahlte. Sie empfand diese Worte als eine Absage für die Quine, folglich eine Liebeserklärung für sie selbst.

»Dinieren Sie heute mit uns?« fragte sie Cerf, »es ist fast sieben Uhr.«

»Monsieur Cerf ist bei uns eingeladen,« sagte Blanche schnell, »es gibt einen vol-au-vent nach seiner Angabe. Und« – sie lachte laut auf – »sehen Sie doch, wie verängstigt er aussieht, weil ich ihn ins Feld schicken will. Ich bin ihm wirklich schuldig, ihn zu trösten, so gut ich kann.« Sie umarmte die kleine Schlotterbach. »Bon soir, chère.«

»Bon soir, chère amie« – und sie küßten sich auf beide Wangen. Dann zog Blanche de la Quine mit ihrem Napoléon ab wie mit einer Beute. »Lâche,« flüsterte sie ihm zu. Dann, als sie außer Hörweite waren, blieb sie stehen. »Wenn du willst, daß ich dich weiter lieben soll, Léon, so mußt du ins Feld ziehen. Es handelt sich nicht nur um Frankreich, es handelt sich ganz einfach um mich. Denn ich hasse diese Deutschen. Und eine Frau wie ich ist es wert, daß man um sie stirbt.«

Aber der liebe Léon machte ein ziemlich unglückliches Gesicht.

Am Wallgraben, der die blassen Gärtchen der Süßen-Winkel-Leute begrenzte, stand der zerschundene, vor Wut noch immer dampfende Dreier-Tjark und ließ sich von Toinette mit seinem eigenen rotgewürfelten Taschentuch eine kleine Halswunde verbinden. Sie schmeichelte ihm. »Hasch mr's iewelg'numme, sale type?« Sie lachte hell auf. »Awer die han a paar verwitscht. Jo, jo, wann mi d'r Zorn packt, kann i mi grad net losse. I han d'r défaut vom Babbe. Sunscht d'r beschte Mann, aber wenn'r g'soffe het, o Jesses, und wann ihm dann die Mamme alle Schand' sagt, dann git's Gebrüll und Gezänk de ganze Nacht. Sie anzupacken wagt er net, weischt, sie is en Ripp, en alte Katze, die Mamme.« Ihr Lachen dabei klang hell und rein wie ein Glöckchen. Dann verzog sich ihr Mund. »So leb i d'rheim, so sin se, min Babbe un mine Mamme. Woher soll m'r do de douceur herkriegen und de bonté?« Das starke Mädchen hatte dabei ein Weinen um den Mund wie ein Kind.

Tjark machte sich hart. »Ich cheh fort, chanz fort von der Fabrik. Das hier paßt mir schon lange nicht mehr.«

» Ah oui« – sie nahm eifrig seine Hand – »geh mer furt, weit furt. Das is amol ebbes Gescheites gebabbelt! Mir is au schon lang leid in der Fawrik, gradso wie dir.«

Er achtete nicht auf sie. »Man verhockt und verkäst hier bei euch im Lande. Bei uns ist Krieg! Ich cheh dahin, wo Krieg ist.«

»Mach' kei Plän'!« Sie schlang die Arme um ihn und küßte ihn. »I hab kei Angscht. Sie nehme dich ja nit. Du bis ja doch der Dreier.« Sie lachte siegesgewiß.

»Schad' is es do, daß du net Soldat mache kannscht,« meinte sie dann nachdenklich. »Der Monsieur, der bei uns war letztes Jahr in dem Zimmer, in dem du jetzt loschierst, der is im erste Linie-Regiment g'si, im zweite Jahr war er schon Sergeant. Der hätt mei Hochzitter werde könne, kam auch schon in Frack und Schibüs, aber die Mamme hat'n selber gern gehätt. Der is brosseur g'si. Das kannscht au werde.«

Er sah stier über das Kanälchen hin ins Ferne, als formten sich ihm da lockende Bilder.

»Oder se cheben mir bei die Tiers was zu tun. Die Beester mach ich chern leiden. Peerde. Suche dunkeln un starken, as da wo ik te Huus bün.« Sein Ton war ganz zärtlich.

Sie drängte sich wieder an ihn heran. » Eh bien, fais ça. Am End' nimmt di gar d'r General von Meckelen fir sine Stall. Er geht au mit, wann's Krieg git.«

»Ja, man bi de Franzosen! Nee, ich cheh na Huus.« Sein Kopf war immer noch von ihr abgewendet, die ihn umschlungen hielt.

Da ließ sie ihn los. Sie warf beide Arme über sich wie eine Unsinnige. »Was willsch? Zu dene sales Prussiens? Krieg mache willsch gege uns! Charogne!« Sie spuckte aus.

Er blieb ganz ruhig. Sein Blick, den er jetzt auf sie richtete, war wie aus der Ferne mit Bildern angefüllt, die sie nicht kannte. Und das arme Geschöpf da neben ihm spürte das. Mit ihrer ganzen Kraft riß sie ihn an den Schultern und schüttelte ihn, daß er aufschrie. Er fuhr nach der Halswunde, die wieder blutete, durch das Tuch hindurch. Sie sah es, riß das Tuch herunter, lief zum Wasser, wusch und rang das Tüchlein aus und kam damit zurück, riß Fetzen von ihrer Schürze ab und band ihm die über das nasse Tuch. Alles geschickt und sanft, während sie dabei mit zorniger, lauter Stimme, daß sich aus all den Häuschen Leute ansammelten, unflätige Schimpfworte auf ihn einschrie.

Als er fertig verbunden war, gab er ihr die Hand. »Nu cheh ich. Un ich dank auch noch vielmals für allens Chute. Un das annre – das soll ich ja wohl verchessen.«

Er ging durchs Gärtchen in das schmutzige zerfallene Haus hinein, schloß seine Türe zu und kramte eine Weile, während Toinette mit der Faust an die Türe donnerte. Die Mutter lachte, die Kinder johlten. Dann kam er heraus mit einem Köfferchen unter dem Arm und ging starken Schrittes, ohne sich umzusehen, der Kolmarer Straße zu. Die Hunde ringsum bellten ihm nach. Toinette heulte. Die Mutter nahm ein Holzbrettchen, auf dem mit fahler Tinte holperig geschrieben stand: »Schampre karni a louwée.« Dann ging sie ins verlassene Zimmer hinein, beschnupperte die Seife, die zurückgeblieben war, entdeckte einen vergessenen Schal, ein Paar Strümpfe. »Jetzt nimm i numme noch an Franzos, un frai Vrançais ins Loschieh,« sagte sie zu ihrer Zweiten, einer dumm aussehenden, fahlen Zwölfjährigen, der der Speichel auf die Ärmelschürze floß. »A Hochzitter für dich. Du därfsch m'r net mit so Schwowedings afangs wie's Toinette, der dumme Doddel!«

 

Victor Hugo und Arvède von Meckelen wanderten mit roten Köpfen, Arm in Arm, die stille Klostergasse auf und ab. Sie berieten die Fassung einer Kundgebung, die sie für ihr Lyzeum geplant hatten.

Sie waren sehr verschieden, die beiden. Der junge Meckelen von einem Blond, das die Stuben erhellte, mit naiven, blauen Augen und einem grüblerischen Mund; etwas schwer in Gang und Geste, der Kopf immer ein wenig gesenkt. Victor Hugo brünett und geschmeidig, impulsiv in jeder Bewegung. Der junge Schlotterbach hatte eines seiner Schulhefte in der Hand und las begeistert daraus vor, was er bereits entworfen hatte. Arèvde von Meckelen nickte. »Aber sage doch, mein Alter, ist es auch gutes Französisch?«

Victor Hugo dachte nach. »Du hast recht. Man muß jemanden befragen, aber wen? maman?« Er lächelte überlegen. »O, petite maman ist selber nie ganz sicher, ebenso Papa, Madame de Meckelen ist Deutsche, aber –«, er schnippte mit dem Finger – »wir sehen uns hier glücklicherweise vor Madame Baldes Hause. Sie ist Französin. Sie ist ganz das, was wir brauchen.«

So saß man denn wohl eine Stunde lang in Madame Baldes Boudoir beisammen und redigierte. Alle drei waren voll Feuer bei der Arbeit. Frau Balde, sehr gerade, wie gewöhnlich, an ihrem zierlichen Empireschreibtischchen, schön gemaltes Mahagoni, innen Helles Holz, zierlich bemalt. Den Kindern war dieser Schreibtisch, der, wenn man die Platte schloß, aussah wie ein Spinett, ein liebes Heiligtum. Kleine Porzellanbüsten von Rousseau und George Sand standen, sich spiegelnd, vor dem handhohen Zwischenaufsatz, ein blaues Glaskännchen mit Goldblättern geschmückt, das aus irgendeinem Badeorte stammte, eine winzige Schachtel aus Kokosnußholz geschnitzt, an dem ein Galeerensklave vierzig Jahre gearbeitet haben sollte, eine offene Onyxschale, in die Balde an Sonn- und Feiertagen seine Zigarrenasche abzustreifen pflegte. Alles war ein wenig Mysterium, betonte eine gewisse Entfernung der Hausherrin von den andern. An der Wand über dem Tisch hingen die Bilder von Frau Baldes Eltern, dazwischen eine Muschel, in der die Kreuzigung eingeätzt war. Und unter all dem Strengen, Kühlen stand unvermutet auf der oberen Pultgalerie eine reizende alabasterne Venus, ihre Tauben fütternd.

Den beiden jungen Leuten hatte das alles etwas Vollkommenes, das ihnen zu der Person der von ihnen verehrten Frau zu passen schien. Jetzt stand sie auf und las vor, was sie geschrieben hatte. Von den weißen Gardinen ihres großen Betts im Hintergrunde hob sich ihr Kopf streng und rein ab wie eine Kamee. Sie las elegant, jedes Wort ihres erlesenen Französisch genießend.

»Mein Herr Proviseur,

Im Augenblick der großen Ereignisse, die sich vorbereiten, und der allgemeinen Bewegung, die alle Herzen zur Verteidigung des Vaterlandes drängt, kann die Jugend der Lyzeen nicht die letzte sein, ihren Patriotismus zu beweisen. Wir haben den Krieg. Der Soldat wird mit seinem Blut bezahlen, der Bürger mit seinem Geld, sie schulden es Frankreich. Auch wir, in der Erwartung, einmal in einer tätigeren Art mitwirken zu können an der Verteidigung des Vaterlandes, auch wir sind im Begriff zu opfern, was wir Teuerstes haben: die Preise unserer Arbeit.

Wir verzichten auf unsere Auszeichnungen, um sie denen zu geben, die sich tapfer schlagen werden.

Wir bitten Sie daher, monsieur le proviseur, die Summe, die für unsere Preise bestimmt war, zu unterschreiben für die Sammlung zum Besten verwundeter Soldaten.

So klein auch unsere Gabe sei, so hoffen wir trotzdem, daß sie gut aufgenommen wird, und daß unser Beispiel – sollte man uns nicht bereits zuvorgekommen sein – nachgeahmt werde durch unsere Kameraden von den übrigen Lyzeen.

Die Schüler des Lyzeums von Mülhausen.«

»Nous renonçons à nos couronnes,« wiederholte Victor Hugo und ließ die Worte tönen. Er sah sich mit glänzenden Augen um. »Eh?« Die Knaben umarmten sich.

»Wir haben eine schöne Handlung begangen, eine schöne Handlung,« sagte der junge Schlotterbach und tanzte zum Takte seiner Worte im Zimmer umher. Meckelen blieb stumm.

Frau Balde erriet ihn. Sie wußte, daß der älteste Sohn der Meckelens in Nassau bei seinem Großvater, dem Freiherrn von Stein, erzogen wurde, und daß sein Vater ihn, der ganz Deutscher geworden zu sein schien, zurückverlangte, damit er sich in diesem Kriege Frankreich zur Verfügung stellte.

»Ist schon Nachricht da von Ihrem Bruder Germain aus Nassau?« fragte sie.

Arvède nickte. Er bekam Tränen in die Augen.

»Germain geht mit,« sagte er, »aber er geht mit Preußen.«

»Ah, und Ihre Eltern, wie nehmen sie es?«

Sein Mund zuckte. »Man spricht mit mir nicht darüber. Aber maman geht aus dem Zimmer, wenn Papa von unseren künftigen Siegen spricht –«

Victor Hugo umschlang ihn. Frau Balde aber stand auf. Sie war lange genug im Elsaß gewesen, um zu wissen, wie man hier zu trösten hatte. Sie holte eine Platte frisch duftenden Apfelkuchen von der Küche herein und bot den beiden jungen Helden davon an. Victor Hugo biß kräftig ein, und auch Arvède schien in der Leckerei einigen Trost zu finden.

Man sprach nun von dem Studiengang der beiden jungen Leute nach dem Kriegs.

»Germain wird natürlich das Gut übernehmen,« sagte Meckelen. »Dann werde ich wohl Jurist werden müssen. In den Kaufmannsstand zu treten, hindert mich ein wenig mein Name. Das heißt, Papa hätte nicht viel dagegen, die Steins aber, die Familie meiner Mutter, wehren sich. So werde ich wahrscheinlich nach Paris reisen und dort ein wenig studieren und danach, um meine deutschen Verwandten kennenzulernen, ein Semester nach Marburg gehen.«

»Marburg, wo liegt das?« fragte Victor Hugo.

»In Hessen, es gehört zu Preußen.«

»O ja, das wird herrlich.« Er hüpfte begeistert in die Höhe. »Bis dahin haben wir es ja erobert, dein Marburg, und es französisch gemacht. Dann studieren wir dort zusammen, nicht wahr?«

Als sie gegangen waren, sah Frau Balde ihnen fast zärtlich nach. Sie hatte sich immer so sehr einen Sohn gewünscht. Als ihre Töchter geboren wurden, hatte ihr die Hebamme beidemal auf ihre Frage geantwortet: »Kein Sohn, Madame, aber ein Schwiegersohn.« Und nun? Armand Dugirard machte ihr Kind nicht glücklich, und Françoises Erwählter war ein Deutscher! Vor ein paar Tagen noch wäre ihr das nicht als ein Unglück erschienen. Aber heute –!

Sie erhob sich. Mit ihrem schlanken, festen Schritt ging sie zur Küche, um Balde, der jetzt so angestrengt war, sein Lieblingsgericht zu bereiten. Eine dicke Abendsuppe, mit Bohnen. Sie liebten so derbe Speisen, diese Elsässer. – –

 

Hortense hatte Françoise gebeten, sie nach Mülhausen zu begleiten. Sie fürchtete das Alleinsein nach dem Abschied von Armand.

Schweigend und unruhig fuhren die Schwestern zwischen den schon kahlen Feldern und hitzeverbrannten Wiesen dahin. Allmählich aber atmeten sie auf. Der Tag war herrlich. Über die hohen Mauern herüber blühten weiße, offene Rosen. Durch den Weinbehang der Häuser leuchtete die Sonne. Soldaten begegneten ihnen, geschmeidig in ihren grünen Uniformen auf leichten, lustigen Pferdchen. Jedes der dunklen, eleganten Tiers trug zwei Heubündelchen am Rücken. Die Husaren grüßten, winkten und lachten den beiden Damen nach. Eine halbe Stunde später, vor einem Dorfwirtshaus, stand eine blauäugige, breite Wirtin und zerschnitt eifrig lange Brotstangen für einen Trupp Soldaten, der bettelnd herandrängte. Sie hatten seit Marseille nichts gegessen, sagten sie. Ein halbwüchsiger Bursche schenkte ihnen grünen Schnaps ein. Sie klatschten in die Hände vor Vergnügen. Die Wirtin wollte sich halbtot lachen über ihre Sprache, die sie nicht verstand. Ein Lothringer dolmetschte. Aber das: »I geb's umsunscht« und »Ihr derfen nix zahle« verstanden sie auch ohnedies.

Getröstet wirbelten sie ihre kleinen Schnurrbärte, schwatzten und sangen. Hortense ließ den Wagen halten und verteilte von den mitgenommenen Zigaretten an die Leute, was ihr ein begeistertes »vive« eintrug. Vergnügt fuhren sie weiter.

Der »Kronen«-Kutscher, der sie fuhr, redete ihnen zu, da sie noch viel Zeit hätten bis zur Ankunft des Belforter Zuges, sich in Mülhausen das Biwak anzusehen, das ein paar Minuten von hier im Tale lagerte. Zwei Bataillone von Jägern.

Schon am Saume des Wäldchens sah man allerhand Brettwagen stehen. Die Landleute, die sie hergebracht hatten, gingen Arm in Arm in langer Reihe hin und her und bestaunten die Menge weißer Zelte, die da auf der Wiese standen. Auf dem mittelsten bewegte sich leise im Winde die Trikolore. Soldaten kamen und gingen, einige lagen ausgestreckt und schliefen, andere rauchten, spielten Karten. Hier und da ging einer mit seinem Maidele untergefaßt. Sie küßten sich aus vollem Munde. Drüben stieg weißer Dampf in die Höhe. Der Wind, der herüberkam, brachte den Geruch von gekochtem Hammelfleisch mit.

Die Zelte der Offiziere befanden sich etwas seitwärts zwischen hohen, herrlichen Baumgruppen und Buschwerk. Beinahe kokett sahen sie aus. Hortense und Françoise waren langsam am Lagersaume hingetreten und betrachteten nun die hübschen Jungen da mit den roten Hosenstreifen auf den dunkelgrünen Uniformen und den kleidsamen schwarzen Brustschnüren. Die persischen Pelzmützen hatten sie neben sich auf den Boden gelegt.

Die beiden Damen waren jetzt zu einem Zelt gekommen, aus dem es lachte und sang. Hortense bog mit einem Rückfall in mädchenhafte Neugier die Ränder der Zeltteile etwas auseinander. Auch Françoise blickte hinein. Was man da sah, war ein Bild von Teniers. Die rötlich flackernde Beleuchtung, die ganze ländlich-festhafte Gruppierung dieser Männer und Frauen, die da auf langen, über Tonnen gelegten, schwanken Brettern saß: Bürger, Bauern, Jäger, Grisetten, alles durcheinander. Sie trinken, umfassen sich, lachen und gestikulieren. Eine Menge leerer Fässer in der Ecke. Noch gefüllte liegen auf einem Karren. Ein kleiner schielender Kantinier gießt ein. Alles beim Scheine einer schwelenden Lampe und zweier Lichter. Zwischen ein paar Jägern saßen ein paar schöne Mädchen. Das eine nahm sich eben ihr feuerrotes Halstuch ab und schlang es einem Soldaten um den Kopf. Sein Gesicht sah plötzlich fahl aus und entstellt, wie blutumströmt.

Hortense ließ die Zeltbahn wieder fallen. Nervös wie sie war, hatte der Anblick sie erschreckt.

In Mülhausen war die Stadt sonderbar leer. Alle Menschen auf den Bahnhof geströmt, die durchziehenden Truppen zu sehen und zu beschenken. Dort auf den Perrons breitete sich ein wahres Modejournal aus von Damen, die mit Blumen und Süßigkeiten auf den Zug aus Belfort warteten. Außerdem hatte die wohlgeordnete Stadt einen soliden Erfrischungsdienst eingerichtet, große dampfende Kessel mit Saucißchen waren aufgepflanzt, Karren mit Weißbrotstangen und Kaffeetöpfen. Dort bedienten hauptsächlich Herren der Gesellschaft. Françoise bemerkte Pierre Füeßli, der in seiner frischen und tätigen Art die Sendungen seines Hauses ordnete und an Austeiler vergab. Sein gesundes Lachen tat ihr wohl. Sie fühlte es als Schutz, ihn in der Nähe zu wissen inmitten dieses Wirbels und Gelärms. Jetzt drehte er sich um und erkannte sie. Sein ernst geschnittenes, einfaches Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an. Er begrüßte Hortense und neigte sich steif vor Françoise, die ihm die Hand entgegenstreckte. Die Tränen schossen ihr in die Augen. »Sie sind noch böse?«

Er mußte ein wenig lächeln über ihre Naivität. »Fräulein Balde würde nicht wünschen, daß man sie leichten Herzens aufgibt,« sagte er leise und gehalten. Sie senkte wie eine Gescholtene den Kopf. Hortense war fieberhaft erregt, die Augen nach der Richtung der Zugankunft gerichtet. Ungeduldig nahm sie Françoises Arm. » Vite, vite, man gibt schon das Zeichen.«

Pierre Füeßli war jetzt fertig mit seiner Anleitung. Da er sah, wie die beiden Damen von den neugierig Vordrängenden immer wieder zurückgeschoben wurden, stemmte er beide Arme in die Seiten, ging voran und bahnte ihnen so eine Gasse. So kamen sie vor den Zug, gerade da er eingefahren war, und Armand, hübsch in seiner schlanken Uniform, sprang leichtfüßig heraus. Mit lauten Ausrufen des Entzückens begrüßte er seine Damen, drückte dem vermeintlichen künftigen Schwager die Hand und plauderte auf das lebhafteste.

» Ça marche, ça marche, alles geht gut. Man sagt, daß dreißigtausend Franzosen Luxemburg besetzt haben. Von Bayern, Hessen und den anderen deutschen Ländern noch keine Nachrichten, aber es ist abgemacht, sie marschieren mit uns. Alle Welt ist in bester Laune. Bon jour, ah, bon jour.« Er begrüßte beständig Freunde. »O Dank, Dank, welche herrlichen Blumen.«

Hortense wandte kein Auge von ihm. »Und ihr geht an die Grenze? Man schickt euch nach Deutschland hinein?«

»O, was das anbetrifft, man sagt, solange die Nachrichten von Süddeutschland noch nicht angelangt sind, wird keine démonstration auf der rechten Seite des Rheins vorgenommen werden. Vorerst sollen wir nur die Grenzen bewachen. Tant pis, man wird sich langweilen. Man hatte sich gefreut, etwas Neues, Außerordentliches zu erleben.« Es hatte sich ein kleiner Kreis von Zuhörern um ihn gebildet, Hortense betrachtete diese Leute eifersüchtig. Sie fühlte förmlich, wie die kostbaren Minuten rannen, aus ihrem Blute rannen. Als man das Abfahrtszeichen gab, wurde sie weiß, sie hob beide Arme. »Ich sehe dich nicht wieder, du kommst nicht zurück.«

»Pauvre petite« – er nahm sie in die Arme – »wie ich dich liebe.« Sein Gesicht war von Tränen überströmt. Er flüsterte ihr ins Ohr. Der Zug bewegte sich schon, als er endlich hineinsprang. Er sah noch einmal hinaus. »Das war ein Sprung, he?« Die Sonne fiel auf sein schmales, liebenswürdiges Gesicht mit dem feinen Näschen. Er winkte und grüßte übermütig: »A bientôt, à bientôt.« Dann war der Zug fort.

»Keiner kommt wieder,« sagte Hortense. Sie wurde ohnmächtig. Von Pierre unterstützt, brachte Françoise sie nach dem Bahnhofsgebäude. Dort erholte sie sich langsam.

Man hatte ihnen ein kleines Damenzimmer aufgeschlossen und Pierre mit hineingeschmuggelt. Hortense saß in einem Sessel und trank starken Kaffee, während Françoise und Pierre mit halblauter Stimme plauderten. Sie wollten Hortense sich selbst überlassen.

Françoise fragte nach Pierres Tätigkeit, und wie man sich in der Fabrik seines Großvaters in die politischen Verhältnisse schicke.

Pierre antwortete: An Aufträgen fehle es nicht, aber man habe früher das Rohmaterial zum großen Teil aus Deutschland bezogen, und so werde sich wohl bald ein Stillstand fühlbar machen. Überhaupt sei für ihn selber nicht recht viel zu schaffen dort. Und zum Ornament eigne er sich nicht. Schon seit einiger Zeit, fuhr er lebhafter fort, sei ihm seine dortige Abhängigkeit von den Verwandten beschämend und lästig. Er habe sich daher seit langem mit dem Vorsatz getragen, die Vorschläge der Firma Schlotterbach in Thurwiller anzunehmen, die ihn zum Mitdirektor der dortigen Fabrik haben wollte. Aber nun –« er stockte und sah zu Françoise herüber, die in die Ferne hinausstarrte.

»Das waren so meine Luftschlösser,« sagte er hart. »Sie haben sie mir zerschlagen.« Eine unbehagliche Pause folgte. Dann aber, ritterlich das Schweigen brechend, das die Frauen peinigte, fuhr er fort: »Fürs erste bleibt man hier und tut das Nächste.« Er berichtete noch, er habe mit der Eisenbahndirektion vereinbart, daß er einen Wagen mit Lebensmittellieferung einstellen dürfe, und dann wolle er so weit wie möglich mit Pferd und Wagen zu den Kämpfenden hinausfahren.

Françoise strich sich das Haar aus der Stirn. Sie dachte an Heinrich, und daß alles, was hier geschah, zum Besten seiner Feinde sei. Das machte sie still und unteilnehmend. Dabei konnte sie sich doch der Sympathie für ihren abgewiesenen Freier nicht entziehen, dessen Art ihr nahestand wie die eines Bruders.

Es war schon dunkel, als die beiden Damen ihre Fahrt antraten. Wieder saßen sie schweigend beieinander. Sie hielten sich an den Händen, wie um einander zu trösten, aber ihre Gedanken waren weit getrennt.

Die Straßen, über die sie anfangs fuhren, atmeten noch Tagesstaub und Tageshitze in den kühlen Mond hinauf, bald aber wurde die Nacht immer frischer und herrlicher. Große Sterne kamen, glanzvoll gewölbt strahlte der Himmel über ihnen. Die Dörfer, durch die sie fuhren, bekamen etwas ganz Unwirkliches in diesem stillen Licht. Mondschein lag in Brunnen und Gossen und huschte geisterhaft zwischen den Waldbäumen. Ein paar Rehe kamen heran und standen wie Verzauberte. Ab und zu hörte man Marschieren auf den harten Straßen, begegnete einem Trupp von Arbeitern, erst halb eingekleidet, die müde, manchmal mit gewaltsam auflärmendem Gesang, dahinzogen. In einem der Dörfer waren noch alle Fenster hell, die Alten lehnten hinaus, die Jugend wartete auf der Gasse auf ihre »piou-pious«. Die kamen denn auch endlich, rasch, kurzschrittig, die Brust voll Papiersträußchen, Trommler und ein paar Blechbläser voran. Aus den Häusern rief man nach ihnen und winkte. Sie nickten und warfen Witze hinauf. Eine magere Frau, verhärmt und verzottelt, hing sich wie eine große wilde Katze ihrem Mann an den Hals. Er schüttelte sie ab und gab ihr einen Stoß, daß sie zurückflog. Alle lachten. Sie stand da, krumm und sehnig, mit geballten Fäusten und lachte vor Jammer. »So, loß sie numme geh, die arme Chaibe, sie gehn in d'r Tod.«

Alle wurden still. Dann eine Bewegung wie eine Woge, die zusammenschwillt und wieder auseinanderrinnt. Man hörte schluchzen. Einer aus dem Trüppchen schrie: »Sin doch zufriede, ihr Wiewer, 's Fleisch wird jetz billig, d' groß Metzig fangt a.«

Da warfen sich die beiden jungen Frauen im Wagen einander in die Arme und weinten aus Herzensgrund.

 

In Thurwiller kam man noch immer vor allen den kleinen Wichtigkeiten der lokalen Begleiterscheinungen nicht zum Bewußtsein der großen Bewegung selbst. Man hatte sich schnell recht behaglich eingenistet in den Kriegszustand, und die dazugehörige Erregung gab den für den Krieg eingerichteten Veranstaltungen erst die rechte Würze. Das eifrige Zeitunglesen von Leuten, die sonst nur den »Econome« oder ihr Modejournal gelesen hatten, das Charpiezupfen, Kistenpacken, Briefeschreiben, das Kannegießern in den Wirtshäusern war eine herrliche Abwechslung. Man vergaß ganz den Krieg vor all den interessanten Vorbereitungen.

Heute hatte die Quine ihre Freundinnen auf hübsch geschriebenen, bunten Blumenkärtlein zu einer großen »Charpievisite« geladen. »Monsieur Cerf wird patriotische Lieder singen,« lautete der Schlußsatz.

Nun war man in der Maison Centrale im Blauen Salon versammelt, aß Törtchen und Eingemachtes und trank süßen Wein dazu. Monsieur Cerf sang. Die Damen waren ziemlich scharf parfümiert, die Fenster geschlossen, aber alle schienen sich wohl zu fühlen in der gepreßten Luft. Sie hatten die Arbeit sinken lassen und warteten gespannt auf das hohe B, das jetzt gleich kommen mußte. »Mourir pour la patris – mou –riiiiiir.«

Aber ehe es noch ganz zu Ende vibriert war, riß jemand die Türe auf und schrie: »Victoire, victoire!« Victor Hugo sprang herein.

Die Damen hüpften von den zierlichen, vergoldeten Holzstühlchen auf. Man riß ihm das Zeitungsblatt aus der Hand, alle redeten, lachten, man umarmte sich. Dann las Victor Hugo noch einmal vor: »Großer Sieg in Saarbrücken über die Deutschen!«

»Saarbrücken, ist das eine Festung?« »Wo liegt sie?«

Cerf, als einziger Herr, meinte Auskunft erteilen zu müssen. »Eine Festung, natürlich,« sagte er mit schöner Selbstverständlichkeit, »und sie liegt, wie ich glaube, bei Cologne.«

Victor las vor: »Ungeachtet der Stärke der feindlichen Stellung ...« Und dann las er auch aus der Depesche vor, die, vom Kaiser an die Kaiserin gerichtet, unachtsamerweise veröffentlicht wurde: »Lulu hat die Feuertaufe erhalten. Er hat eine Kugel aufgehoben, die ganz nahe vor ihm niederfiel. Einige Soldaten weinten, ihn so ruhig zu sehen.«

»Ah, vraiment?!« Tante Amélie war aufgestanden. Ihr Gesicht sah beängstigend rot aus: »O, l'insolent, der Unverschämte.« Sie atmete wie eine Lokomotive. »Er wagt es, uns von seinem Sohn zu sprechen, anstatt uns zu sagen, welche Soldaten bei der Schlacht getötet wurden! Weiß er denn nicht, daß die letzte Bäuerin, die letzte Frau aus dem Volke ihren Sohn ganz ebenso liebt wie er seine marmotte von Thronerben, dessen Namen er beständig vor unseren Ohren klingeln läßt?!« Ein betäubendes Geschwatze antwortete ihr. Alle Stimmen erhoben sich gegen sie. Wolken von Charpie staubten auf, die dicke gute Madame Bluhm jagte ihnen nach und pustete sie zusammen. Victor Hugo lachte jungenhaft aus vollem Halse.

Schließlich beruhigte man sich. Die Bourdon setzte sich wieder, das Gesicht noch rot zum Platzen.

Inzwischen hatte die Quine die rotseidene Klavierdecke ergriffen, dazu ein Stück Leinewand, aus dem man Binden hatte schneiden wollen. »Wir brauchen eine Fahne,« sagte sie, »blau-weiß-rot. Aber das Blau fehlt.« Plötzlich lachte sie hellauf. Sie nestelte an ihrem blauen Musselin-Kleids. Mit einer reizenden Bewegung ließ sie den Oberrock fallen, schlüpfte heraus und stand nun in ihrem kurzen, weißgestickten Unterröckchen da wie ein kleines Mädchen. »Le voilà.«

Monsieur Cerf kniete vor ihr nieder. Die Frauen umringten sie mit Entzückungsrufen. Mademoiselle Nudele, die Wirtschaftskusine des Pfarrers, machte sich gleich heran, die Stücke zurechtzuschneiden. Bald saßen alle Damen wieder auf ihren zierlichen, goldenen Stühlen. Man schnitt und maß und heftete zusammen, die Hände zitterten vor Eifer, neue Süßigkeiten wurden angeboten, man plauderte voll Begeisterung. Selbst Tante Amélie hatte sich von ihrem Zorn erholt und tat mit.

Man sprach von den neuen Mitrailleusen, die man ins Feld führen würde, von den Bureaux für Franctireurs, die sich überall bildeten, und wie seltsam es sein würde, wenn Leute, die sonst nie Soldaten waren, nun, Gewehr über der Schulter, im Marschschritt durch die Straßen gehen würden.

Zuletzt war die Fahne fertig. Man schickte ins Zuchthaus hinein, damit Sträflinge sie auf eine Stange nageln sollten. Quine selber brachte sie mit Victor Hugo zusammen zurück. Er schwenkte sie wie ein Gladiator. Dann hing man sie zum Fenster hinaus. Blanche, jetzt in einem reizenden rosa Deshabillé, klatschte in die Hände vor Freude. »Ich bin die erste in der Stadt, die den Sieg feiert.«

Sehr befriedigt von der Veranstaltung, gingen alle auseinander.

Abends war dann die ganze Stadt beflaggt. Es standen Lichte in den Fenstern, Pompiers waren da und Musik, und Tränkele trommelte. Die Kinder zogen mit Stocklaternen hinterher. Man sang das alte Revolutionslied: »Steckt Lampen an, steckt Lampen an!« Immer wieder griff man zu diesen Liedern zurück, wenn man begeistert war. Und zuletzt war da auch wieder eine Strohpuppe, die Bismarck darstellte, und der man eine mächtige Spicknadel an die Stelle gebohrt hatte, wo das Herz sitzen, sollte.

Und über allem leuchtete in gewohntem stillen Schein Père Anselmes Fenster auf den Platz herab.

Dort oben stand jetzt der Alte mit seinem Patenkinde. Sie hatten beide dem Fenster den Rücken gedreht. Er am Schreibtisch, sie auf der alten Fenstertruhe neben ihm. Dumpf tönte das Trommeln herauf zu ihnen. Stimmgewirre und Schrittgetrappel.

Sartorius lächelte. »Das machen sie immer so. Ich weiß noch, damals im Jahre 1642 – – – «

Aber Françoise unterbrach ihn. »Ist es ein sehr großer, ein entscheidender Sieg, Père Anselme?«

Der Alte lächelte. »Das muß man sagen, Stilisten sind wir, wir Franzosen. Nicht übel gefaßt die Sache. ›Man hat über die Preußen in Saarbrücken gesiegt.‹ In der richtigen Übersetzung würde das heißen: Ein paar preußische Vorposten in Saarbrücken haben vor unseren zwei Divisionen, die hinübergingen, die Stadt räumen müssen. Aber unsere Zeitungen – – – pas mal!

»Also nicht entscheidend, Père Anselme?« Sie hatte einen raschen Sieg gehofft, der schnell das Ende bringen würde. Wie hätte sie dann ihren Heinrich trösten wollen!

Sie nahm dem Alten die Feder aus der Hand. »Erzähl' von Deutschland, Père Anselme!«

Es war das eine Gewohnheit der letzten Tage geworden zwischen ihnen, eine Art verstohlener Erbauung. Abends, wenn unten auf dem Platz die Leute zusammenströmten und sich gegenseitig gruseln machten mit Erzählungen von den bösen Prussiens, saßen sie gern hier oben und sprachen von dem frommen, treuen Deutschland, wie es in Père Anselmes Kopfe lebte.

Das Kinn auf die Hände gestützt, die Arme auf den Knien, saß das junge Mädchen da im Halbdunkel der Nische auf der großen wurmstichigen Truhe, die des Ratschreibers Tagesvorräte an Brot, Käse und Wein verwahrte. Ihr weiches, umschattetes Gesicht erschien dunkel unter dem blonden Haar.

»Erzähl' von Deutschland!« sagte Françoise wieder.

Da fing er an, was sie schon wußte, was sie aber nicht müde machte, immer wieder zu hören: vom Neckar und von Burg Lichtenstein, von den Studenten in Tübingen mit ihren großen Hunden, bunten Mützen, großen Bierseideln, langen Haaren und langen Liedern. Aber wie sangen sie die! Und wenn das Wort Deutschland fiel, dann hatten sie gezittert vor Begeisterung, waren einander in die Arme gefallen und hatten sich geküßt.

Und von den Professorenfrauen erzählte er, die große Schürzen trugen und über ihren glatten Scheiteln weiße Rüschenhauben. Den ganzen Tag stehen sie in der Küche oder auch wohl am Waschfaß. Abends aber setzen sie sich ans Klavier und singen Glucksche Arien oder spielen eine Beethovensche Sonate. Sie zogen ihre wollenen Strickstrümpfe aus den Beuteln, die Nadeln klapperten, während sie mit klugen, verklärten Augen dem Gatten zuhörten, der auf dem breiten, schwarzen Roßhaarsofa saß und vorlas. Ein wenig Küchengeruch hing ihnen vielleicht noch in den Kleidern, aber was sie sagten, war fein und edel, und die Männer hörten auf sie.

Er erzählte von jungen Leuten, die in der Dachkammer beisammensaßen, um bei ihrem Glase Zuckerwasser über Gott, Freiheit, Freundschaft zu philosophieren. »Un was man d'rno Dichtung g'heiße het un unsterblich, siescht, Maidele, das isch dort owe gebore worde beim Zuckerwasser im Dachstüble.«

Er faltete die Hände. Françoise dachte still nach.

Und unversehens flocht der Alte in sein Eigenerlebtes alte Geschichten ein: Mittelalter, Neuzeit und altes Germanentum, alles durcheinander. Er sprach von der Zeit, in der die Menschen zart träumten und derb handelten, die Worte Sitte, Frömmigkeit, Ehrbarkeit und Ehrfurcht noch Klang hatten. »Das Land könne mir Elsässer net vergesse, mir tragen's noch in uns, que veux-tu, wir lieben es.«

Der Alte hatte sich in seinen Sessel zurückgelegt. Er rieb sich die Hände. »Wie du dasitzest, Kind, könnt' man dich leibhaftig für die schöne Welserin halten, die ja so manches liebe Mal ihren Herrn und Eheliebsten hier besucht hat, den Erzherzog Ferdinand. Heimlich. Denn seine Sippe wollt' von der mésalliance nichts wissen. Sie hat drübe im Benediktinerkloster logiert. Du entsinnst dich wohl? Augenblicklich nennen sie's die maison centrale. Ja, ja.«

»Heimlich haben sie geheiratet?« Françoise betrachtete die schwarze, rauhe Truhe mit sinnenden Augen.

Der Alte nickte. »Warte mal, Kind. Ich habe da noch so ein altes Glas, am Fuße ist es ein wenig zersprungen. Daraus haben sie getrunken, die zwei.«

Er zündete ein vertropftes Licht an, das in einer Flasche auf dem Schreibtisch stand. Seine Bewegungen waren fast jugendlich geworden. Leise strich er beim Vorbeigehen mit seiner feinrunzeligen Hand über Françoises Haar. Sie stand auf, ihm behilflich zu sein. Aber er hatte schon gefunden: einen altersdunklen Glaskelch. Geschäftig brachte er aus der Ofenröhre eine leicht gestöpselte Flasche Obstwein hervor und wollte einschenken. Françoise wehrte lachend ab. Sie zog ihr weißes Tüchelchen aus der Tasche und wischte das Glas erst aus. Père Anselme schenkte ein, beide Ellbogen feierlich hochgehoben.

»Die Deutschen stoßen mit ihren Gläsern zusammen«, sagte er, »und wünschen sich etwas dazu, wenn sie miteinander trinken.«

Sie nahm das Glas.

»Auf den Frieden,« sagte sie.

Nun trank auch er. Dann nickte er still. »Frieden, der kommt aus uns selbst.«

Seine Löckchen schimmerten, die guten, blauen Augen sahen auf Françoise, als blickten sie auf alle ihre Geheimnisse. Es durchschauerte sie ehrfürchtig vor dem alten Männchen im verfleckten Rocke.

Und unter seinen Augen formte sich ihr Heinrichs Bild immer typisch deutscher. Jede Vorzeit Deutschlands gab ihm ihre besten Züge mit und machte ihn so immer vollkommener und würdiger aller Liebe. Sie warf nun auch den Gedanken weit von sich, dem sie erst wohl nachgehangen, ihn hierher nach dem Elsaß hinüberzuziehen. Sie konnte es ihm nicht zumuten, fühlte sie jetzt, im Lande der Sieger zu leben. Zu ihm hinüber wollte sie ziehen, in sein Deutschland hinein. O, sie würde sich schon hineinfinden in das fremde Land. Sie hatte dann ja ihn. Und sie würde gut sein zu den Leuten drüben, sie würde ihnen ein bißchen Kultur hinüberbringen, Geschmack, Leichtigkeit. Sie malte sich aus, wie sie sich kleiden müsse, um diesen Leuten ein Vorbild zu sein, wie sich die Haare arrangieren, und errötete dann in dem Gefühl, sie könne mit solchen Gedanken ihrem deutschen Heinrich oberflächlich erscheinen. So wie seine Landsleute sich immer die Franzosen vorzustellen pflegten! Und sie wollte doch auch darin zu ändern versuchen, soweit ihre Macht reichte.

Wäre es nur erst so weit!

Zu Hause fand sie ihre Schwester beim Lesen eines Briefes von Armand. Kapitän Dugirard schrieb kurz und schlechtgelaunt: »Wir haben noch keinen Preußen zu Gesicht bekommen. Das ist langweilig, und es ist gefährlich. Unsere Leute verlieren ihren élan, sie verlieren den Gehorsam; eine Tugend, die nie sehr stark bei ihnen war. Dazu die neuernannten jungen Offiziere, die sich nicht in Respekt zu setzen verstehen und alles verderben. Unsere Leute verschwinden und kommen wieder nach ihrem Gefallen. Man darf ihnen kein Wort sagen, sonst muß man befürchten, bei dem nächsten Marsch eine Mirabelle in den Rücken zu erhalten. Sie langweilen sich, auch sie, die armen Teufel. Das Schlimmste aber sind die Biskuits, die unser Déjeuner bilden. Es gibt die dicken, viereckigen, die man nicht beißen kann. Wir lösen sie in Wasser auf, und die runden, die man trocken genießt. Aber man bekommt Durst danach.« Zuletzt kam noch eine Nachschrift: »Eben eine gute Nachricht, aber eine sehr gute: die französische Flotte hat Berlin blockiert.« Hortense machte eine ungeduldige Bewegung. »Ah, der Unwissende, als ob Berlin am Meere läge!« Sie schämte sich vor Françoise.

Aber die streichelte ihr nur tröstend die Hand. »Hast du große Sorge um ihn?«

Und dann kam es, wie jetzt schon immer zwischen ihnen, sie hielten sich an den Händen und dachten hinaus in den Kampf, jeder zu einer anderen Seite hin. – –

 

Auch in den nächsten Tagen feierte man noch. Kein Mensch arbeitete, die »enfants de la patrie« verstummten nicht mehr. Heute rieselte ein dünner Regen. Trotzdem stand schon wieder der Kirchplatz voll Menschen. Man wartete. Irgendeine Neuigkeit lag in der Luft. Die Zeitungen waren nicht angelangt, aber man wußte, es ging etwas vor là-bas.

Bei Wissembourg wurde gekämpft. »Ein kleines Vorpostengefecht«, sagten die einen, »eine ernsthafte Affäre«, die anderen. Auf einmal Hallo und Lachen. Die Briefträgerin mit ihrer geflochtenen Tasche segelt über den Platz. Im Nu ist sie umringt. Jeder greift in ihren Sack hinein und zieht heraus, was er an Gedrucktem in die Finger kriegt. Jeder will der erste sein, der die Siegesnachricht verkündet. Die lesen können, stellen sich auf die Stadthaustreppe und werfen ihre Nachrichten auf den Platz hinunter. Mit tönenden Stimmen und runden Gebärden stehen sie da wie selber Siegende. Der Bäcker-Nazi ist der vorderste, dann folgt der bescheidenere Kirchensepp und der Älteste vom Justin, der die Lateinschule besucht. Zwanzigtausend Preußen seien bei Wissembourg geblieben, rufen sie, dreißigtausend gefangen, darunter der Kronprinz.

Ein Brausen von Jubel antwortet ihm. Es war, als habe jeder hundert Kehlen bekommen. Die Männer nehmen die Hüte ab. Im Nu, wie auf ein Zauberwort sind alle Fenster mit Fahnen behangen. Sie wehen sich blähend und einander berührend über die Gassen hinüber. Menschen strömen zu und ab. Man küßt einander, und die Stimmen sind wie Raketen, die nach oben steigen. Das geht so mehr als eine Viertelstunde lang.

Auf der Rathaustreppe, die wieder leer geworden ist, erscheinen jetzt, aus dem Stadthause heraustretend, der Maire, Quine und der Curé. Sie haben sonderbar verschattete Gesichter. Quine macht eine vage Schulterbewegung, der Curé breitet die Hände gegen die Versammelten, als wolle er sie beruhigen. Balde steht einen Augenblick ganz still. Mächtig und gedrungen erscheint seine Gestalt zwischen den zwei Geschmeidigen. Quine redet auf ihn ein, er wehrt ihn ab. Barhaupt im feinen Regen stehend, das feste, altmodische Gesicht geradehinaus gewendet, sagt er mit klarer Stimme: »Ihr sin kei Kinder meh, ihr solle 's Wahre wisse, alle mitnander.« Und dann nach kurzer Pause, in der alle Gesichter sich hell, wie aufgeschäumt zu ihm emporwenden: »Mac Mahon isch g'schlage, bei Wissembourg, vollständig g'schlage, un d'r General Douay isch tot.«

»Mac Mahon!« Erst ein Aufbrüllen, dann tiefes Schweigen. Mac Mahon geschlagen. Der Held von Sebastopol und Magenta. Sie fassen es noch nicht. Und auf einmal finden alle das verhängnisvolle Wort, das jedem Franzosen auf den Lippen liegt, sobald von einer Niederlage seiner Armee die Rede ist: »Verrat.«

»M'r sin verrote, nous sommes vendus.« Wild blicken sie um sich, als suchten sie einen, den sie verantwortlich machen könnten, aber sie sehen nur ihren Maire, der barhaupt da im Regen steht und schweigt. Der Curé streckt jetzt wieder beschwichtigend seine Arme aus. »Nichts ist verloren,« sagt er, »alles kann wieder gut werden.«

Und Quine fügt gleichfalls auf französisch hinzu: »Die Wahrheit! Wissen wir denn, ob diese Wahrheit nicht etwa eine schändliche Lüge ist, von unseren Feinden ausgestreut, uns hoffnungslos zu machen? Aber man wird sich täuschen. Derartige Ausstreuungen sind nur dazu geeignet, unsern Mut zu überreizen. Und vergessen wir doch nicht« – seine Stimme drang dünn und scharf in die Menge – »vergessen wir nicht, daß zwischen Nancy und Thionville eine Armee von fünfhunderttausend Mann steht, bereit loszuschlagen. Und die Elsässer marschieren dann als erste in den vordersten Reihen. Also ich wiederhole die Worte des Herrn Curé: Alles kann noch wieder gut werden, nichts ist verloren. Und unser Frankreich – nehmen Sie, meine Freunde da unten, das Wort eines Edelmannes: Frankreich wird in wenigen Tagen gutgemacht haben.« Seine Stimme klirrte und triumphierte, als sei er selber bereit, eine Armee gegen den Feind zu führen.

Und wieder einmal siegte die schöne Geste. Sehr leicht diesmal. Man war ja so froh, glauben zu dürfen. Man klatschte in die Hände, man begann wieder zu plaudern.

In diesem Augenblick fuhr, rumpelnd und klappernd, »Petit-Singe« mit seinem Milchwagen über das Pflaster. Der geschlossene Platz mit seinen lebhaft gegeneinander bewegten Gruppen, die Herren auf der Treppe und der langsam fahrende Wagen, um den sich Neugierige drängten, glich jetzt wirklich jenen Vaudevilles, von denen Père Dugirard liebenswürdig gesprochen hatte. Und wie auf dem Theater änderte sich die Szene plötzlich. »Petit-Singe« brachte Nachricht vom Kriegsschauplatze: »Wissembourg brennt in alle vier Ecke. D' Prussiens kumme üwer d'r Rhin. Alle Kinder nemme sie mit, b'sunders awer d' Büewe. Un selbscht 's Vieh.«

Ein tauber Zorn kommt in der Menge auf. Noch stumm, nur sichtbar in den zuckenden, wie kochenden Bewegungen. Und der kleine Franzose berichtet weiter: »Zwei Tage sind sie marschiert, die Soldaten, und haben nichts zu essen gehabt. A jeun, mit leerem Mage, sin se in d' bataille g'schickt worde.«

Nun bricht das Toben los. » A jeun? Sind' un Schand' isch es. In d' bataille ine un nix zum Fresse, ah oui, in d'r vordere Reih marschiere, wann's an d'r Fiend geht, d'rfür sin m'r racht, mir Elsässer, do därfe mir d' erschte si, awer wann's ans Fresse geht, do kumme d' Welsche voran.«

»Un an Munition het's g'fehlt,« sagt das Französlein.

»Nix zum Schieße un nix zum Fresse, oh ces traîtres

»Und hat 's net g'heiße, mir sin parat? Archiprêts? Wo hat 's jetzt die célèbres mitrailleuses?« Einer der Arbeiter lacht. »Die? Ha, die sin alle mitanander bi d'r gamin imperial, bi d'r prince royal

»Ah, ces animeaux, Viehchor isch' s. Um uns im Elsaß do derangiere sie sich net. Zitter zwei Woche promeniere espions prussiens in de Vogese umme, personne ne s'en fiche à Paris

Schmied-Louis streckt die starken Arme in die Höhe. »Flinte müsse m'r han, fusils

»Fusils, fusils,« brüllt's ihm nach. Dann, mit einem Male, wie Kinder, die, ermüdet, nicht mehr spielen wollen, gehen sie stumm und grußlos auseinander.

Der Platz ist leer. Schlaff hängen die naß gewordenen Fahnen, die man nicht abzunehmen wagt, unter dem grauen, düstern Himmel.

Die drei Herren waren inzwischen ins Rathaus getreten. Der Curé, Quine und Balde standen an Père Anselmes Fenster und schauten hinab. Quine hatte seinen guten Abgang nicht durch ein längeres Sichtbarsein verderben mögen. Der Curé war sehr aufgebracht. »Wir dürfen's nicht dulden, daß hier so gebrüllt wird.«

»Man sieht, wie recht sie in Paris haben,« sagte Quine hochmütig. »Unmöglich, solchen Leuten hier Waffen zu geben.«

Balde lächelte. »Man dürfte schon. Aber ich fürchte, man kann nicht, weil man keine hat.«

Der Curé sandte ihm einen schrägen Blick hinüber.

»Sie wollen also die rote Fahne der Revolution aufpflanzen?« fragte Quine.

Martin Balde fuhr sich mit der Hand über sein starkes Haar. »Ich habe dem Kaiser Treue geschworen,« sagte er dann ruhiger, »aber er hat mich zugleich auf diesen Posten gestellt. Solange ich ihn habe, werde ich meine Pflicht gegen meine Gemeinde erfüllen. Nun aber,« er sah nach der Uhr, »Ihre Herren Verbrecher warten auf mich, Monsieur de la Quine.« Er bewegte seinen Hut, den er in der Hand hielt, grüßend und ging.

»Dieser Herr macht mich krank,« sagte der Zuchthauschef müde.

Der Curé nickte. »Und mich beleidigt er. Hören Sie, wie er mir ins Handwerk pfuscht?« Er hob den Finger nach der Seite hin, wo jetzt ein Glöckchen zu läuten begann. »Monsieur Balde läßt seinen Eintritt ins Zuchthaus ankündigen, wie man nur das Allerheiligste ankündigt. Ich weiß, es ist, damit die Kranken sich versammeln – aber dennoch ...« Sein Gesicht, im Grunde heiter, bekam einen verbissenen Ausdruck.

Quine lächelte. »Ein Dämpfer könnte ihm nichts schaden, diesem selbstbewußten Herrn.«

 

Es war jetzt wieder sehr ruhig geworden in Thurwiller, so ruhig wie in Friedenszeiten. Aber diese Ruhe war nicht leer wie sonst, sie war mit Gespenstern gefüllt. Überall witterte man Preußen. »Die Pickelhauben haben den Rhein überschritten,« hieß es. »Sie sind uns schon ganz nahe.«

Und allmählich erhielt die Angst eine Kraft, die an Irrsinn grenzte. Der Präfekt des Oberrheins selbst war es, der diese Panik entfesselte. Er hatte an seine Bürgermeister ein Telegramm geschickt, man solle die Preußen mit Freundlichkeit aufnehmen, sie nicht unnütz reizen, für die Ablieferung aller Waffen sorgen, die etwa in den Gemeinden vorhanden seien. Vor allem aber wäre es geraten, die Knaben in Sicherheit zu bringen, da sonst die Preußen sie verschleppen und als Kanonenfutter vor ihre Front mitführen würden.

Balde legte diese Depesche still beiseite. »Wozu die Leute vorzeitig beunruhigen? Genug, daß man wacht!« Er legte ebenso die zweite Depesche fort, die der ersten folgte und sie widerrief. Die Ankunft der Preußen hier sei ein leeres Gerücht gewesen, hieß es darin.

Abends stieg Martin Balde auf den Kirchturm und hielt Ausschau. Françoise begleitete ihn. Beim Scheine eines Laternchens stiegen sie die enge, morsche, vielgewundene Treppe empor, von der der Staub aufflog. Draußen wusch und klopfte der Regen, im Sturm schwankte das Gebäude deutlich spürbar, Baldes Schatten fiel beruhigend über Françoise hin. Sein Kopfumriß huschte hin und her über ihrer Brust. Sie fühlte sich geborgen so.

Droben riß der Wind ihr das Haar zu einem Mantel auseinander. Balde hatte ein Fernglas mitgenommen, richtete es und schraubte es zurecht. Er blickte angestrengt nach Osten. Dann ließ er auch die Tochter sehen. Wie eine schlafende Herde lagen die Berge des Schwarzwaldes da. Unten blinkte hin und wieder ein Stück Rhein, Städte und Dörfer farblos, die Türme, die Dorfdächer wie ertrunken, nebeldünn, die Wälder wie schwarze, stumpfe Seen.

» Pas l'ombre d'un Prussien, nicht der Schatten eines Preußen, m'r kann ruhig schlofe.« Er nahm das Laternchen wieder auf. »Net Grille fange, Kind,« sagte er, ihr das Flatterhaar zärtlich zusammenfassend. »Nas' in d'r Wind, Auge hell, so g'hört sich's für a rechts Maidele.«

Sie nickte, die Augen voll Tränen. Dann sagten sie nichts mehr zueinander. Sie stiegen ruhig wieder ab in Staub und Dunkelheit auf der morschen, knarrigen, vielgewundenen Treppe, Balde voran, der Schatten seines guten, mächtigen Kopfes wie ein Schutz über ihr.

In dieser Nacht erschien plötzlich kurz nach Mitternacht im Baldeschen Hause eine fragwürdige Gestalt, schlotterig, in einem blaugemusterten Schlafrock mit schief gerutschter Nachthaube. Es war Mademoiselle Nudele, des Pfarrers Kusine. Sie hielt in der Hand einen langen weißen, vollgebeulten Strumpf, in dem ihre Louisdor und Franken steckten, und bat um Gottes willen, der Maire möchte ihr ihre Ersparnisse verwahren. »Man hat sie angekündigt noch für diese Nacht, die Pickelhauben, horreur!« Sie zitterte und weinte.

Wer es gesagt habe, fragte Balde, der im Schlafrock auf der Diele stand.

O, das wüßten alle. Sie habe schon im Bett gelegen, da sei die Magd hereingestürzt. Die hat es vom Bäcker-Nazi. In Kolmar auf der Place d'Armes ist ein französischer Offizier herumspaziert, den man nicht kannte, und als man ihm die Kleidung vom Leibe riß, – – war es ein Prussien! O, wenn der Herr Maire nur diesmal ihr helfen wolle, sie sei ganz allein im Hause und fürchte sich so sehr. Sie machte Anstalten, sich auf ihre fleischigen Knie niederzulassen. Françoise, die gleichfalls herabgekommen war, wehrte das mit ihrer ganzen Kraft ab. »Und der Curé?«

Ja, der sei mit Monsieur Cerf vor ein paar Stunden abgereist. Sie hätten wichtige Geschäfte in der Schweiz.

Balde nahm den Sparstrumpf. Françoise beruhigte die Aufgeregte und brachte ihr ein Glas Zitronenwasser. Dann machte sie ihr oben in Blancs nun leerer Stube ein Bett zurecht.

Françoise war noch mit ihr beschäftigt, als ein neuer nächtlicher Gast kam: Bourdon. Er brachte eine Ledermappe und ein Köfferchen. Ob der Maire so gut sein wolle, ihm das zu bewahren? Er selbst habe eilige Geschäfte in Basel. Und überdies – in jetziger Zeit – man könne nicht wissen!

Ob Madame auch reise, fragte Françoise.

Nein, sie nicht. Sie wolle das Haus nicht verlassen, ehe sie von Jules Nachricht hätte. Er selbst würde natürlich am liebsten auch hier bleiben, aber diese eiligen Geschäfte ... Er sah unruhig in alle Ecken.

Es hatten viele Thurwiller eiliger Geschäfte wegen zu verreisen in den nächsten Tagen! Täglich wurden die Gerüchte von der Ankunft der Pickelhauben bestimmter. Freilich löste sich bis jetzt jedes einzelne als komisches Mißverständnis. Eine alte Dame mit ihrem Hündchen, die in Kolmar von der Bahn gekommen war und einen vorübergehenden Bürger am Ackerhof fragte: »Ist das die Kaserne?« wurde mit Schimpfworten verfolgt und polizeilich ausgefragt, was sie mit verkehrten Erwiderungen beantwortete. Schließlich stellte es sich heraus, daß sie taub war. Ebendort hielt man den Sohn des Kirchenarchitekten, der, bei seinem Vater zu Besuch, eins der alten Häuser der Stadt aufmerksam betrachtete, für einen Spion und mißhandelte ihn mit Regenschirmen. Mülhauser Arbeiter demolierten einen Zirkus, weil dort Deutsche bei der Musik angestellt waren. Schließlich wurde die Furcht vor den wütenden Arbeitern fast größer als die vor den Preußen. Die Bürger, um sich im Notfall zu verteidigen gegen sie, stürmten die Waffenläden. Man hielt sich in Bereitschaft mehr noch für den inneren als für den äußeren Feind. Viele Leute packten ihre Habseligkeiten zusammen, um auszuwandern, andere gruben ihre Wertsachen ein. Auch Théophile Schlotterbach ergriff höchsteigenhändig den Spaten und versenkte eine schwere Kassette im Garten. Er grub auch die besten Stücke seiner Waffensammlung da ein. Seins Frau lief unterdessen mit hellen Tränen treppauf und treppab. Sie bereitete ihren Sohn Victor zur Abreise. Die Preußen schleppten ja alle jungen Leute mit. Sie rissen sie von den Röcken der Mütter, sie suchten sie mit dem Bajonett im Stroh der Ställe!

Victor Hugo sollte zuerst nach Mülhausen gehen, dann mit Pierre Füeßlis Hilfe zu einem Geschäftsfreund nach Basel befördert werden, der dem Kleinen Zuflucht gewähren würde. Die Lyzeen begannen zuerst noch nicht wieder.

Victor Hugo selber widersetzte sich diesen Anstalten. Er wollte bleiben, erleben, womöglich handeln. Er lief zu seinem Freunde Arvède: »Wollen wir nicht nach Kolmar fahren und uns dort bei der Compagnie des Franctireurs anwerben lassen?«

Aber der junge Meckelen schüttelte den Kopf. Er könne das seiner Mutter nicht antun. Seltsam scheu und traurig brachte er das hervor. »Papa ist nach Châlons gefahren,« sagte er dann, »ins Hauptquartier zum Kaiser Napoleon. Du verstehst, ich muß ihn hier vertreten bei maman, Frankreich vertreten.« Sein zartes Gesicht war tief und schamhaft errötet.

Victor Hugo umarmte ihn schluchzend. »Auch unsere Zeit wird kommen,« sagte er pathetisch, »fügen wir uns der Notwendigkeit des Augenblicks!«

Aber er war nicht so recht zufrieden mit seiner eigenen Phrase. Langsam ging er die Landstraße zurück, die eintönig zwischen den abgeernteten Feldern hindurchlief. Es roch scharf, fast stechend nach verwesendem Kraut und feuchter Erde. Die Ferne verhängte sich, gerade als werde es schon Nacht. Trostlos war alles, sonnenlos und einförmig. Und draußen, vielleicht gar nicht weit von hier gab es rotes, lebendiges Leben, da lärmte und jauchzte der Krieg, da setzte man sich selber ein und gewann Ehre, Ruhm!

Victor Hugo sah sich dahinspringen mit hochgehobener Fahne, oder, noch herrlicher, im strahlenden Römerhelm, den schwarzen Roßschweif um die Schultern gepeitscht, hin und her jagen, wichtige Botschaft vermittelnd; oder mit geschwungenem Säbel als vorderster, auf die Feinde zufliegen, Blut und Tod in ihre Reihen bringend.

Die Feinde! Er versuchte sie sich vorzustellen. Immer aber sah er nur eine hohe, kräftige Gestalt mit breiten Schultern und dem blonden Jünglingskopfe, den er liebte: Heinrich Hummel, sein Rival. Er konnte ihn sich gut vorstellen, fest und unerschrocken, ohne viele Worte auf den Schlachtfeldern umhergehend, den Verwundeten zu helfen. Und einen Augenblick war es ihm fast lieb, daß er noch zu jung war, um gegen den Feind zu kämpfen, in dessen Reihen auch Hummel war. Aber gleich darauf kam die Abenteuerlust wieder über ihn. Das Blut seines deutschen Urahns, das er mit dem geliebten Feinde gemein hatte, regte sich in ihm. Warum war er nicht Soldat! Warum gehört er nicht mindestens zur Garde mobile? Oder durfte sich in die Ordnung der Franctireurs aufnehmen lassen. Aber das würden seine Eltern nie erlauben!

Ein paar Jahre nur älter sein jetzt!

Er hob die zusammengelegten Hände, als könne er's erbeten. Und der aufgeregte Knabe hatte das Gefühl, er würde gern seine Seele selbst dem Teufel verschreiben, wenn das ihn hineinbringen könnte in den bunten, heißen Wirbel, der jetzt allein Leben bedeutete.

Ohne weiter seiner Schritte zu achten im Gebrause der stürmenden Gedanken, war er doch zuletzt wieder nach Thurwiller zurückgekommen und ging nun langsam am Kanal entlang, dessen Weiden dunkel und grotesk da kauerten und ihre schwanken Zweige nach ihm hinbewegten.

Er bog in seinen schmalen Schlupfweg ein, den er damals mit Hummel gegangen war. Auch heute wieder starrte der alte, graugelbe Weidenstumpf mit grünwehendem Haar wie ein verwitterter Kopf auf langem Halse aus dem Wiesenkraut hervor. Plötzlich, nah einem Schlehenbusch, fühlte Victor sich am Jackenzipfel gehalten. Er meinte erst, es seien Dornen. Ohne sich umzuwenden, suchte er sich freizumachen und faßte – eine harte, geschmeidige Hand. Er schrie auf, eine zweite Hand, die nach Schlamm und Kräutern roch, legte sich auf seinen Mund. Entsetzt, mit aufgerissenen Augen warf er sich herum und stand vor seinem Vagabunden aus dem Frühjahr.

Der Mensch steckte noch in dem freilich jetzt arg beschmutzten und zerrissenen Jackett, das ihm Victor Hugo damals zugeworfen hatte. Er war entsetzlich vermagert, mit Augen wie ein hungriger Hund. Victor Hugo fühlte mit Unbehagen, daß Furcht in ihm aufstieg. »Was wollt Ihr von mir?« fragte er barsch. Er griff in seine Tasche.

Der Strolch hatte sich auf seinen Baumstumpf gesetzt. »Laßt's nur im Sack, Euer Geld, jeune homme, i begehr's heut net.«

»Und was sonst?«

»Was i begehr', monsieur?« Der düstere Kerl, der jetzt auf einmal jung aussah, erhob sich. »In d'r Krieg will i, voilà

Er hatte seinen Arm gestreckt und das Wort wie eine Brücke hinübergeworfen zu dem Abgewendeten. Der blieb denn auch willig wieder stehen. Der Strolch wies auf ein Bündel, das er neben seinen Baumstumpf gelegt hatte. Er bückte sich und tat es auseinander. Ein bunter Haufen kam zum Vorschein: Bauernhosen, Schuhe, Mäntel, ein paar Filzhüte, Reiterpistolen, Degen, Gewehre und Säbel. »Alles z'samme g'schtohle,« sagte er frech. »D' Flinte do, die sin vo d'r Bühn' vom Herr Maire. Es het do no meh, awer's isch nix meh mit, d'r Roscht het se g'fresse.« Er hatte eine verbogene Pistole hervorgezogen und legte den Finger an den Drücker.

Victor Hugo zwang sich stehenzubleiben. Aber das Blut sang ihm in den Ohren. Der Strolch nickte zufrieden. Er steckte die Waffe wieder ins Bündel. »Euer Babbe,« sagte er dann ruhig, »d'r Monsieur Schlotterbach, hat letscht in sim Garte allerhand so Dings vergrawe, 's kann sin, au Geld. Sorgt d'rfür, jeune homme, daß hit nacht d'r Hund net bellt. Gell? M'r könne net länger warte, jetz, 's ischt Zitt.«

Victor Hugo hatte schon den Ellbogen gehoben, dem Versucher einen tüchtigen Jungenspuff zu geben und dann davonzulaufen, da hielt ihn die Neugier noch einmal fest. »Mir – han ihr g'sait. Wer sin jetz d' andere?«

Der Strolch machte eine vielsagende Bewegung nach der Richtung des Kirchplatzes hin, hinter dem die Mauer der Maison Centrale sichtbar wurde. »I bruch nur z' pfiffe, d'rno sin se do.«

»Die do drinne?« Dem Patriziersohn lief ein Ekel über den Rücken. »Un wohin soll's gehn?« fragt er jetzt hochmütig, beide Hände in den Taschen. Er hatte keine Furcht mehr.

Der Strolch schwieg. Plötzlich hob er die Faust. »Krieg wider die, wo im Floribüs lewe un 's Geld han!«

Victor Hugo trat einen Schritt zurück. Er wußte, was der andere meinte. Eine jener wilden Banden wollte er zusammenbringen, die sich gleichfalls Franctireurs nannten, den Bauer und Bürger aber meist mehr schädigten als den Landesfeind, der ihnen den Vorwand geben mußte zu ihrem Rauben und Sengen. Und die Zuchthäusler sollten helfen? Wollte der Strolch sie befreien? Einen Aufstand anzetteln? Klare Pflicht war es, diesen Menschen festzunehmen, ihn zum Gendarmen zu bringen, ihn wieder einzusperren.

Mit Entzücken fühlte der Knabe, wie ein toller, rücksichtsloser Mut in ihm aufflammte. Mit dem Fuß stieß er in das offene Bündel hinein, daß Kleider und Waffen auseinanderstoben, dann trat er einen Schritt zurück, um sich mit aller Gewalt auf den gefährlichen Landstreicher zu stürzen. Da traf ihn von unten heraus ein Blick des schmierigen Burschen.

Victor Hugo machte eine sonderbare Bewegung mit der umgewendeten Hand nach seinem Arm hin. Etwas Blendendes und Brennendes, das ihn verwirrte, war auf ihn zugeschleudert worden aus den tiefliegenden Augen dieses zerlumpten Menschen. Von einer seltsamen Angst befallen, lief er, fiel er, raffte sich, immer wie in der Flucht vor etwas unaussprechlich Unheimlichem, wieder auf, lief weiter und wußte nicht, wovor er floh. Was er fühlte, war Bewunderung, Verachtung, Neid und Grauen, alles durcheinander.

Als er aber dann die Mauer des Château Schlotterbach wiedersah, war ihm das wie ein Asyl. Er atmete auf, säuberte geschwind Gesicht und Anzug mit seinem Taschentuche, strich sein Haar glatt und begab sich mit einem Seufzer der Erleichterung in die Gewohnheit zurück. Er hatte nun nichts mehr gegen die Reise nach Basel einzuwenden. Seinen Vater bat er an demselben Abend noch, seine Waffen und sein Geld sicherer zu bergen als in der Gartenerde, wo jeder Dieb es entdecken könne. Die Eltern waren entzückt über seine Umsicht. Verraten aber tat er seinen Strolch nicht.

Bevor er sich von Vater und Mutter trennte, mußte er ihnen mit einem heiligen Schwur versprechen, sich niemals in die Liste der Franctireurs einschreiben zu lassen. Er tat es, aber er reiste mit zerrissenem Herzen ab. Eine Sehnsucht nach Leid und Gefahr war in ihm geblieben, die ihn quälte und ihm die Sicherheit des Tages verleidete. Er kam sich feige vor, unwürdig und beschämt. Das Bild des Strolches wuchs immer größer in ihm auf mit einem Glanz von Unerschrockenheit und Abenteuer. Als er die Türme von Basel sah, beschloß er, sich zu verbergen. Aber die Gastfreunde hatten ihn schon gesehen. Er war verloren, denn er war in Sicherheit.

 

Françoise war mit Hortense und der Kleinen in die Kirche gegangen. Sie hatte den Blick auf das Allerheiligste gerichtet und dachte dabei an ihre Kinderzeit, da sie beim Anblick der Dreieinigkeit und des Ewigen Lämpchens vor Andacht und Hingebung verging. Heute saß sie stumm, fast abwehrend da. Der Mann, den sie im Herzen trug, war Protestant, sie wollte keine Inbrunst mehr an etwas wenden, das er nicht mitempfinden konnte; vielleicht nicht billigte.

Sehr gut entsann sie sich noch der Qualen, die sie ausgestanden hatte, wenn maman zur Feier des Fronleichnams mit in die katholische Kirche kam. Maman war ja eine Ketzerin, maman mußte in der Hölle brennen. Während sie im weißen Kleidchen, ein Kränzchen im Haar, mit den anderen kleinen Mädchen beim Umzug die goldenen Bänder eines Banners hielt, erwartete sie jeden Augenblick den strafenden Strahl von oben auf das liebe Haupt fahren zu sehen. Und wenn dann die anderen kleinen Mädchen zu ihren Eltern gingen, stand sie mit Hortense allein da. Papa ging niemals in die Kirche.

Später hatte sie sich dann mit besonderem Eifer den kirchlichen Anforderungen gewidmet, keine Messe, keinen Gottesdienst versäumt, hatte jeden Fronleichnam die Madeleine gemacht, alles im Gefühl, sie müsse ihre Eltern bei Gott vertreten. Dann war auch das vergangen. In dem Maße wie ihr eigener Glaube stiller und innerlicher wurde, begann sie die Überzeugungen der anderen zu achten. Hortense war weniger tolerant. Auch war ihr der Katholizismus gleichsam eine Frage der gesellschaftlichen Rangordnung. Außer ihrer Mutter, die sie liebte, und Pierre Füeßli, den sie achtete, mißtraute sie ein wenig den Leuten, die nicht der alleinseligmachenden Kirche angehörten.

Inzwischen sang man die Messe. Unmerklich bekamen die wohlbekannten, eintönigen Melodien Gewalt über Françoise. Sie ließ sich tragen von einer angenehm feierlichen Wonne, die Ruhe brachte und Vergessen alles Zeitlichen. Eine süße Müdigkeit bemächtigte sich ihrer. Es störte sie nicht, daß sie sah, wie der kleine Justin, der Meßnerdienste tat, zwischen den Knixen ungezogene Gesichter schnitt, oder daß die Bauern ringsum schliefen. Der Duft des Weihrauchs, das Aufblitzen der Weihgefäße, wenn sie hin und her geschwungen wurden im heiligen Dunste, die Bewegung ihrer Ketten hatte etwas unbeschreiblich Beruhigendes für sie.

Nun begann der Curé seine Predigt. Die Stimme des Mannes war ihr unangenehm, sie hörte ihr nicht zu, sie träumte weiter. Einzelne Worte, die sie von sich wies, kamen in ihr Ohr: Krieg müsse sein, um der Herrlichkeit des Höchsten zu dienen und sie zu offenbaren, um die Überhebung der Irreligiösen zu zerstören. Gerade hier im Elsaß habe in letzter Zeit der Unglaube erschreckend um sich gegriffen.

Françoise dachte einen Augenblick flüchtig, nun müsse der Krieg auch noch dazu dienen, die alte Leier des Curé neu zu vergolden. Jetzt hörte sie die Worts »Voltairianer, Ketzer, Liberaler«. Zugleich hatte sie die Empfindung, als würden sie von den Leuten in den Bänken angesehen. Aufblickend, sah sie Hortensens Gesicht totenblaß und hochmütig starr in die Luft gerichtet.

»Dreimal wehe aber,« sagte der Curé, »wenn die Obrigkeit selber sich auf ihr eigenes Urteil verläßt, anstatt sich Kraft in der Kirche zu suchen für die schwere Zeit, die uns bevorsteht.«

Hortense riß ihr Kleid an sich heran. »Laß uns gehen,« sagte sie ziemlich laut auf französisch. Sie hob ihr Kind, das die Händchen zusammengelegt, artig in die Lichter starrte, von der Bank und zog es an sich.

Françoise folgte. Draußen stand ein Trupp Männer vor der Kirche und warteten auf ihre Ehefrauen und Liebsten. Hortense, ihrer selbst nicht mächtig vor Zorn, rief ihnen zu: »Do drinne können ihr's höre, die grande nouvelle: eure Maire gehört ins Narrehüs!«

Die Leute sahen sich an. Dann, neugierig geworden, drängten sie sich in die Kirchentür und horchten.

In den Wirtshäusern dann nachher wurde es ausgemacht: Mit dem Maire war ebbes net racht. »M'r kann's net wisse, am End' isch er gar espion. Un sine Madam, die isch jo fascht so gut wie a Prussienne. Sie glaubt net an die saints sacraments.« Aber sie beruhigten sich wieder. Martin Balde hatten sie alle gern.

 

Die Pickelhauben waren nicht gekommen, dafür langte französische Einquartierung an. Ein Jägerregiment, leichtfüßig und fröhlich mit heiteren clairons. Sie lachten und sangen. Alle Thurwiller traten vor die Türen, um zu sehen. Man war außer sich vor Vergnügen. Jeder freute sich, der einen der lustigen, hübschen Schnauzbärte ins Haus bekam. Bald roch das ganze Städtchen nach Speckomelette und Wein. Aber die Leutchen hatten kein Geld zu bezahlen. So gab man ihnen denn umsonst. Es schmeckte ihnen herrlich, sie waren so dankbar. Und der Sold sowie die Proviantwagen mußten ja sogleich nachkommen. Man wartete geduldig. Einen Tag, zwei – aber sie kamen nicht. Die Thurwiller ließen ihre armen Schelme von Soldaten nicht entgelten. Das Salmele dachte an ihren Ventzenker, und wahrend drinnen im Eßzimmer die Offiziere mit der Herrschaft tafelten, strich sie dem brosseur die Marmelade noch einmal so dick aufs Brot, in der Hoffnung, der Lohn für ihre gute Tat werde ihrem Fernen im fremden Lande zugute kommen. Auch die kriegerischen Gäste in den Herrschaftszimmern hatten es vortrefflich. Frau Baldes Gang und Gesicht war deutlich belebt, seit sie mit ihren Landsleuten französisch plaudern konnte. Auch Hortense ließ sich gern von ihnen erzählen, fragte sie nach dem Biwakleben aus, nach den Quartieren, und zeigte sich ihnen, die nur Angenehmes zu berichten wußten, liebenswürdig dankbar. Selbst Balde war empfänglich für die heiteren Gäste, wenn er von verdrießlichen Arbeitsstunden nach Hause kam. Einzig Françoise hielt sich zurück. Sie tat hausfraulich ihre Pflicht, nahm aber an den Unterhaltungen nicht teil. Die Prahlereien und Witze der jungen Leute, die alle ihre Spitzen gegen »ces pauvres Prussiens« richteten, vertrieben sie.

Sie lernte jetzt pflegen und verbinden beim Vater. Sie wollte Verwundete pflegen.

Inzwischen gingen die Umtriebe für die Wahlen immer weiter. Mitte August endlich fiel die Entscheidung. Die Listen des Curé hatten fast überall gesiegt. Auch Cerf war als Kandidat aufgestellt gewesen, aber er war nicht zurückgekehrt nach Basel. Die Zeitungen druckten einen Brief von ihm ab:

Während unsere Soldaten auf den Schlachtfeldern für die Ehre Frankreichs kämpfen, tun wir es im Innern des Vaterlandes. Denn es handelt sich bei der Vertretung unseres Kreises nicht um Straßenpflaster oder neue Trinkbrunnen, nein, es handelt sich um unsere heilige Religion selbst. Weg mit dem Einfluß der Freimaurer und Protestanten, die uns obligatorische Schulen aufzwingen wollen mit einer heidnischen Freiheit des Lehrmaterials. Marschieren wir, die wir in treugläubigem Herzen den Sieg vorbereitet haben, marschieren wir ihm fest und einig entgegen, Hand in Hand.«

Aber Monsieur Cerfs Phrasen machten nicht sehr viel Eindruck. Man war im Augenblick nicht gut zu sprechen auf die »Plebisziter«, die dem Volke ihr »Ja« für Napoleon abgelistet und es dadurch in diesen Krieg hineingeführt hatten, der viel mehr Unbequemlichkeiten und Sorgen mit sich brachte, als man sich vorgestellt hätte. Denn immer wieder hörte man von Niederlagen. Nichts ganz Bestimmtes – die Zeitungen kamen unregelmäßig – aber man erfuhr doch allmählich von Fröschweiler, von Forbach, man hörte, daß Metz angegriffen wurde, daß Nancy sich an vier Ulanen ergeben hatte. Und das Allerschmerzlichste: Straßburg wurde beschossen! Die Eisenbahnlinie von Mülhausen nach Paris war abgeschnitten. Man kam sich vor wie im Exil.

Balde richtete eine Art Heimatsverteidigung ein, hauptsächlich zur Aufrechterhaltung der Ordnung, wenn wirklich einmal feindliche Truppen hier in seinen Winkel kommen sollten. Damit gab er auch den noch immer erregten Arbeitern, von denen mehrere entlassen und nun beschäftigungslos waren, eine Ablenkung. Die Leute sollten der Kompagnie der Franctireurs angegliedert werden, die auch versprochen hatte, für die Bewaffnung zu sorgen. Vorerst übte man mit Stöcken.

Die Jäger waren abgezogen, und neue Einquartierung kam. Aber die Todmüden und Finsteren, die da hereinschlurrten, abgehungert, entnervt, zerlumpt, das waren nicht mehr die lieben lustigen »piou-pious« der ersten Zeit. Ihre Tornister, die ihnen beim eiligen Rückzug zu schwer geworden waren, hatten sie abgeworfen. Viele auch die Waffen. Den Feind hatten sie noch nicht gesehen, aber immer hatte es geheißen: zurück, zurück. Sie schimpften auf Napoleon, auf die Generale, die sie verraten hätten, verkauft an Preußen. Und sie bettelten. Ihre Proviantwagen, die nachkommen sollten, erschienen niemals.

Man gab auch ihnen, was man hatte, ohne Bezahlung, denn sie hatten kein Geld. Als aber die Vorräte verbraucht waren, kam es zu täglichen Gewaltszenen. Die Soldaten wetterten gegen die »maudits Alcasiens«, die »bêtes d'Allemands«, mit denen man nicht einmal Französisch reden konnte. Sie zerstörten aus Wut den Leuten, die ihnen nichts mehr zu essen geben konnten, Gerät und Haus.

Auch sonst führten die Bürger Klage über sie. Abends hörte man am Wall im Süßen Winkel die Mädchen kreischen. »Sie hausen wie die Kosaken,« klagte man, »die Preußen könnten es nicht schlimmer machen.«

Die Thurwiller waren sehr traurig über alles das. Bisher hatte man in jedem Franzosen, der herüberkam, das große Frankreich verehrt, in jedem Soldaten die französische Armee, nun war es plötzlich, als sei man götterlos geworden, heimatlos. Wie Schutzsuchende drängten sich die Leute um Balde, alles sollte er schlichten, allen raten. Der Vorgarten seines Hauses war wie ein Zeltlager. Er hatte Vorräte kommen lassen aus Kolmar und Mülhausen, die teilte er aus. Seine Frau und die Töchter kochten auf dem Vorplatz an offenem Feuer für die Soldaten.

Dazwischen hatte man die Offiziere zu belehren. Sie hatten eine Karte von Deutschland mitbekommen, aber nicht von Frankreich; nun mußte man ihnen klarmachen, daß die Hardt, über die sie durchaus eine Brücke schlagen wollten, kein Fluß, sondern ein Wald des Elsaß sei, man mußte ihnen sagen, wo der Schwarzwald liegt, und wo der Rhein fließt, und sie versichern, daß Kolmar nicht zu Preußen gehört, sondern eine französische Stadt sei.

Inzwischen wartete Balde immer noch auf die versprochenen Waffen. Er hatte den Bescheid aus Paris bekommen, man könne dem Ersuchen der Franctireurskompagme leider nicht nachgeben, da bei der Regierung der Argwohn bestünde, die Arbeiter möchten die Waffen zu einer regierungsfeindlichen Demonstration benutzen.

Diesen Bescheid warf Balde in seinen Papierkorb. Dorthin beförderte er auch die unsinnigen Depeschen, die ihm zur Veröffentlichung überbracht wurden. Die eine besagte, es seien vierzigtausend Preußen in die Steinbrüche von Jaumont gestürzt und dort umgekommen, die andere erzählte geheimnisvoll von drei Särgen, die man durchs Gebirge hatte tragen sehen, geschmückt mit den preußischen Königszeichen, von großem Gefolge begleitet.

Zu diesen »Veröffentlichungen«, die im Papierkorbe des Maire ihren Daseinszweck verfehlten, kam Ende August eine wichtigere und bedenklichere, über die Martin Balde erregt mit seiner Frau beriet« Es war ein »Mahnruf« des deutschen Generals von Beyer an die Bewohner des Elsaß, in zwei Sprachen angefertigt. Dis Präfektur in Kolmar fügte dem feindlichen Schriftstück eine Nachschrift hinzu, man möge mit der Veröffentlichung noch zwei Tage warten und sie unterlassen, falls in dieser Zeit eine für Frankreich günstige Wendung eingetreten sei. Der Aufruf selbst war knapp gefaßt. Er warnte in ernstem, fast väterlichem Ton die Bürgerschaft vor Feindseligkeiten gegen die Soldaten und wies auf die Folgen derartiger Handlungen hin. Zum Schlusse hieß es: »Ich befehle, daß diese Mahnung an die Rathäuser aller Städte und Dörfer angeheftet wird.«

Balde war das Blut ins Gesicht gestiegen. »Ein badischer General gibt uns Befehle! Und le croirait-on – dem ersten Mann des Departements, dem Präfekten, fällt gleich das Herz in die Hosen.«

Seine Frau las still die Proklamation. Am Fenster des Studierzimmers stehend, hob sich ihr Kopf streng und rein vom Hintergrund der Büsche ab. »Oh non!« Ihre Augen flammten. Sie richtete sich höher auf. »Oh non!« wiederholte sie mit aller Kraft. »Wir Frauen protestieren,« sagte sie auf französisch und fuhr dann ebenso fort mit tönender, bebender Stimme: »Wir protestieren gegen dieses uns unverständliche Recht des Säbels, das uns verbieten will, unsere Erde, unsere foyers zu verteidigen, nur weil wir nicht das Kleid der militärischen Konvention tragen.« Sie zerriß das Dekret in tausend kleine Stücke.

Balde sah ihr zu. Ihr Zorn hatte ihn beruhigt. »Ordnung muß ja sein,« sagte er, sich selber zügelnd, »und man wird schon dafür sorgen. Aber aus eigenem Pflichtgefühl: nicht auf Befehl!« Es lag dabei ein bäuerlicher Trotz in seinem Ton.

Frau Balde hob den Kopf. Sie sah ihren Mann mit einem seltsamen Blick an. »Wie ihr immer Schranken ziehen könnt zwischen Recht und Unrecht,« sagte sie dann leidenschaftlich.

»Ihr? Wen meinst du?«

Sie antwortete darauf nicht. »Ihr sucht euch immer Gründe für eure Empfindungen. Moralische Gründe.« In ihren Augen glomm es auf wie Haß. »Ob ich im Recht bin oder im Unrecht, was geht mich das an? Mit diesen Händen würde ich...«

Plötzlich zuckte sie zusammen, schrie auf und fiel zu Boden. Ein Stein, mit Kraft vom Gassenschlupf geschleudert, hatte sie an der Schläfe getroffen. Der ganze Teppich war sogleich voll Blut. Balde, selber totenblaß geworden, mühte sich um sie und rief zwischendrein nach Helfenden. Die Stube füllte sich mit mysteriöser Plötzlichkeit, wie mit Leidtragenden. Die Blutung war schnell gestillt, die Wunde erwies sich als gutartig. Aber erst nach einer halben Stunde bekam Frau Balde ihr Bewußtsein wieder. Sie lag auf dem Sofa, matt und herbe unter ihrem weißen Verbande, und las den Zettel, den man an den Stein gebunden hatte:

»Die verdammt luthrisch Madam, wo uns die Prussiens uf d'r Hals hetzt, muß dra glauwe.«

Sie lachte auf. »Und gerade in diesem Augenblick! Niemals war ich mehr Französin als in diesem Augenblick, da man mich als Vaterlandsfeindin bedroht.« Sie verlangte, man dürfe Balde den Zettel nicht zeigen. »Er braucht es nicht zu wissen, daß man Feinde hat. Er meint es so gut mit allen.«

Aber Balde hatte längst gelesen. Als man mit ihm beraten wollte, was zur Verfolgung der Täter geschehen solle, lehnte er alles ab. »Die Schuldigen trifft man doch nicht.« Aber er hatte seinen guten treuen Kinderblick verloren seit jenem Nachmittag.

 

Das Leben ging weiter. Balde hatte viel zu tun mit seinen Rekruten. Immer mehr meldeten sich. Es zeigte sich jetzt hier im Elsaß im deutlichen Unterschied zu den flammenden, müßigen Tiraden der französischen Zeitung ein gut beharrlicher Mut, der nicht viel Redens machte, sondern zu Taten schritt. Aber neben dem Mut stand die Wut. Sie galt nicht dem unbekannten Feind, gegen den man sich rüstete, man dachte kaum viel an ihn, sie galt den Generalen, denen man die Schuld gab an den Niederlagen draußen, den Staatsmännern, die den Krieg nicht verhindert hatten, dem Kaiserhause, für das man sich opferte. Mit zusammengebissenen Zähnen übte man à droite, à gauche und schulterte die Stöcke. Die Jüngeren bewahrten einen gespannten Ernst, die Älteren gaben sich Ausbrüchen einer spöttischen Heiterkeit hin, wenn sie einander in dieser ungewohnten Situation betrachteten.

Die übrige Bevölkerung hatte sich irgendwie in den Alltag wieder hineingefunden.

Françoise saß im Drogenstübchen bei Tante Amélie. Sie hatte solche Sehnsucht gehabt nach diesem Winkel, in dem Heinrich gesessen hatte, solche Sehnsucht, die Dinge dort, die sie kannte, mit seinen Augen neu zu betrachten. Nun war sie da hineingeschlüpft und hielt verstohlen Rundschau. Sie streichelte die Garnwinde, an der Madame Bourdon wieder wickelte, vergriff sich flüchtig an dem Spieldöschen, daß ein paar Töne von »Freut euch des Lebens« herauskamen, tippte an Camilles Hauskäppchen und Pfeife und sog den Kamillen- und Äthergeruch ein, den ihr Liebster einmal geatmet hatte. Dann kam es über sie, wie fern das alles jetzt war, wie weit fort von ihm und ihr alle diese friedliche Enge und Gleichmäßigkeit. Jetzt war Sturm.

Sie horchte auf das Gewitter, das draußen prasselte und polterte. Fürchterliche Regengüsse, Blitze, Donner. Es war fast dunkel in dem grün umwachsenen Stübchen. Tante Amélie hatte sogar die Vorhange zugezogen. Sie konnte nicht blitzen sehen. Sie jammerte über ihren Jules, von dem sie keine Nachricht hatte. Sie zeigte dem Gast das Bild des Sohnes, das am Fenster hing. »Jetzt lugt er andersch üs wie sellemol, gell, wo ihr nix von ihm habt wisse wolle.«

Françoise wurde rot. Sie war noch ein Kind gewesen, da hatte Vater Camille bei Balde angeklopft wegen einer späteren Heirat zwischen Jules und ihr. Balde hatte den Vorschlag rund abgewiesen. Er hielt nichts von der alten Art. Seine Kinder sollten selbst wählen. Der Groll des Pharmacien gegen den Arzt hatte zum großen Teil seinen Grund in dieser Affäre. Françoise selbst hatte erst ganz vor kurzem davon erfahren. Jetzt, eingehüllt in das Glück ihrer starken, heimlichen Liebe, strich sie wie abbittend der alten Frau über die warme, gemütliche Hand. Liebenswürdig ging sie dann noch einmal zu Jules' kleinem Bilde und lobte sein gutes Aussehen. »Der Henriquatre steht ihm à merveille.« Dabei schielte sie auf das Bildchen des »tollen Hummel«, das da gleichfalls hing. Sie meinte, Heinrich müßte ihm gleichen, jetzt, da er in Uniform war. Dann aber fiel es ihr schwer aufs Herz: ihr Heinrich trug ja weder Dreispitz noch Käppi. Die preußische Uniform kannte sie nicht. Es machte sie ganz traurig, daß sie sich keine Vorstellung von seinem jetzigen Aussehen machen konnte.

Madame Bourdon machte sich inzwischen mit Marmeladen und Kuchen am Tisch zu tun. Der Besuch des jungen Mädchens tat ihrem zärtlichen Herzen wohl und weckte die eingeschlafenen Hoffnungen. Sie hätte das schöne Kind noch immer sehr gern zu ihrer Schwiegertochter gehabt an Stelle der Fremden, der Französin. Und aus dem beneideten Konkurrenten Martin Walde würde dann auch ein Mann werden, der ihnen selber in die Tasche arbeitete.

Schnaufend vor Aufregung ging sie im Stübchen auf und ab', »'s isch arg scheen von d'r Demoiselle, daß sie amol d'r Weg g'funde het zu mir.« Ihre Arme bogen sich mütterlich, als hielte sie ein ganzes Nest kleiner Lebewesen darin gefangen. Plötzlich schrie sie auf. Ein Schritt klang auf dem Steinflur. Die Tür ging auf. Triefend und sich schüttelnd trat ein fremder Mensch auf die Schwelle. Er hatte einen zu weiten Rock an, dazu eine kleine gestrickte Mütze, sein Gesicht war unrasiert. Madame Bourdon starrte einen Augenblick, dann fiel sie dem, Vagabunden um den Hals: »Jules, mon pauvre Jules!«

Jules lachte: »Bon jour, maman, bon jour, mademoiselle.« Et hatte seine Mütze vom Kopf gerissen, die jetzt einem nassen Schwamm glich, und schwenkte sie, daß die Tropfen flogen, während er die unaufhörlichen Küsse seiner Mutter mit ebensolchen erwiderte. Und dann als erstes fragte ihn Frau Bourdon, was alle Mütter ihre Söhne fragen, wenn sie nach so langer Abwesenheit wiederkommen: »Hasch Hunger, willsch ebbes z' asse?«

Jules Bourdon nickte eifrig. »Du hasch's g'rote, Mamme, je me meurs de faim.« Er hatte ein liebenswürdiges, sorgloses Jungenlachen dabei. Dann fragte er nach Papa, sagte Françoise schnell eine Artigkeit über ihre »bonne mine« und füllte das ganze Zimmer mit heiterem Geräusch. Madame Bourdon ließ die verliebten Augen nicht von ihm.

»Un wo kummsch her?« Sie kramte schon im Vorratsschranke und zauberte ein halbes kaltes Huhn, Brot und Wein auf den Tisch, rief der alten Brigitte in den Garten hinunter, sie solle g'schwind Salat rupfe, und war schon wieder bei ihm, brachte ihm Vater Camilles Schlafrock und stellte ihm dessen Pantoffeln hin. Françoise half inzwischen Teller und Besteck auflegen und den Tisch ordnen.

Jules machte es sich behaglich. »Wo ich herkomme? O, c'est, une affaire, mais, une affaire!«

In diesem Augenblick hörte man ein sonderbares Geräusch. Ein zweiter Donner, schwächer und doch fürchterlicher als der erste.

»Jo, was isch jetz däs?«

Jules horchte auf. » Diantre, das kenn' i guet g'nug. Das sin canons prussiens

»Awer wo denn, pour l'amour de Dieu, wo sin se denn?«

» Que sais-je? In Brisach, in Neuenbourg, un peu partout. Awer hab' nur kei Angscht, maman, n'aie pas peur, do sin se noch net, ces maudits Prussiens. Et d'ailleurs« – er schlürfte mit Behagen seinen Wein – » il sont des gens charmants, i kenn' sie güet, méme trés bien« – er lächelte verschmitzt. »Noch geschtere bin i prisonnier g'si bi de Prussiens

»Prisonnier!« Sie schrie gellend auf, stürzte sich ihm um den Hals, daß er fast sein Glas verschüttete. »Han se dir ebbes macht, ces animaux?« Sie befühlte mit ihren zitternden Händen sein Gesicht, seine Schultern.

»Wie sin Ihr loskumme?« fragte Françoise interessiert.

»Une farce de Coquelin!« Jules machte eine lustige Grimasse, stieß einen komischen Zischton zwischen den Zähnen hervor und machte mit den Händen die Bewegung des Fortlaufens.

Die Mutter schlug die Hände vors Gesicht. »Déserteur! Mon Dieu, mon Dieu! Un sin se dir nochg'loffe?« Sie umschlang ihn von neuem, ihn mit ihrer breiten Sorgfalt schützend.

Jules wehrte sie ab. »I bin net déserteur, oh non« – er war blaß geworden. »I han jo noch net amol min service g'macht. I bin net Soldat g'si. Mais pensez, mes dames« – und er begann zu erzählen, immer von seinen eigenen Lachsalven unterbrochen.

Die Geschichte des guten Jules war in der Tat ziemlich amüsant:

Trotz des Kriegszustandes war er nach Wissembourg gefahren, um dort bei dem ihm befreundeten Apotheker eine Hochzeit mitzufeiern. Man wollte ihm bei dieser Gelegenheit eine junge Verwandte präsentieren, deren Eltern eine Werbung von ihm gern sehen würden.

Er kam, feierte, aß, trank, drei Tage lang. Bei Tisch disputierte man darüber, ob es für das französische Heer besser sei, über Straßburg in Baden, Württemberg und Bayern einzufallen oder von Metz aus durch das Nahetal und über Saarlouis durchzudringen. Man hörte von dem großen Siege von Saarbrücken. Nun feierte man erst recht. Man blieb beisammen, erregte sich patriotisch, und die künftige mariage war so gut wie beschlossen. Jules telegraphierte seinen Eltern. Weitere Nachrichten vom Kriege erhielt man nicht. Dafür zogen Truppen durch, braune Kerle in bunten Kostümen, verwahrlost und hungrig. Man schob alles auf die Eile des Aufmarsches. Vor den Toren der Stadt entwickelte sich ein großes Lager: Turkos, Zuaven. Es war wie eine Schaustellung. Es gab große Einladungen hinüber und herüber. Auch der Apotheker veranstaltete ein kleines Turko-Frühstück. Die Eingeladenen, um die Höflichkeit sofort zu erwidern, luden den Gastgeber und seine Familie zur Besichtigung des Lagers hinaus. Durch irgendeinen Zufall wurden Monsieur und Madame noch im letzten Augenblick verhindert, und Jules ging allein. Kaum hatte er mit seinen braunen Begleitern die Stadt hinter sich, da wurden die Tore geschlossen. Jules war ausgesperrt. Zugleich hörte er ein unbekanntes Zischen und Brummen in der Luft. Er sah Leute, die sich seltsam duckten, einige, die gar nicht wieder in die Höhe kommen wollten. Ächzende, Blutende, Tote. Die Turkos liefen heulend nach ihren Plätzen. Jules stand allein mitten im preußischen Kugelregen. In seinen Zivilkleidern von den Vorrennenden hin und her gestoßen, befand er sich einen Augenblick mitten unter den Kämpfern. Er sprang in einen leidlich trockenen Graben und verbarg sich darin, aber die Kugeln, die niederzuregnen begannen, verscheuchten ihn. Kriechend und sich hinter jedem Busch verbergend, den Kugeln von Freund und Feind ausgesetzt, brauchte er so vier Stunden, um die nahe ferme Schafbusch zu erreichen. »Und stellen Sie sich vor, meine Damen,« sagte er, jetzt wieder ganz der vergnügte Plauderer von früher, » imaginez-vous, mon petit ventre rond, admirablement rempli de dindon aux truffes et de toutes les autres friandises. Oh, ich versichere Sie,« fuhr er, immer Französisch sprechend, fort, »das Vergnügen, diese Leckerbissen zu verzehren, war größer als dasjenige, sie jetzt durch schmutzige Gräben spazieren zu führen.«

»Habt Ihr die Schlacht gesehen?« fragte Françoise atemlos.

»Mehr als genug. Und unsere Leute haben sich bewunderungswürdig geschlagen. Manchmal freilich bekam ich Besuch da in meinem Graben, ein Tornister, ein Gewehr flog mir auf den Rücken, ein Tschako – man lief davon, man machte es sich bequem.«

»War es nicht schrecklich, alle diese Verwundeten zu sehen? Diese Sterbenden?«

»Ein Ballett in der Großen Oper sieht sich lieblicher an, obgleich man da ja auch viele verrenkte Gliedmaßen zu sehen bekommt. Eins aber« – er wurde ernst und totenblaß in der Erinnerung – »eins werde ich nie vergessen, es ist schlimmer als alles, was ich sah und hörte. Das ist dieses grauenhafte Hurra, mit dem die Prussiens vorwärts stürmen. Es scheint nicht aus menschlichen Kehlen zu kommen. Die Knie werden einem weich davon. Man ist gezwungen sich niederzuwerfen, wie vor dem Heulen einer aufgescheuchten Bestie, die näher kommt.«

Die Frauen schwiegen. Auf einmal war der Krieg da in ihr Stübchen hereingekommen, fürchterlich unter der leichten Frivolität der Worte, die ihn verhüllen sollten.

»Et toi, et toi?« sagte endlich die Bourdon.

Da erzahlte er weiter von seinem Ausruhen in der ferme, die von allen Seiten umtobt war. Die Leiche des Generals Douay hatte man gleichfalls dorthin gerettet. Jules hatte ihn liegen sehen, den Säbel in der Hand, einen Zug von Verzweiflung in dem toten Gesicht. Dann kamen die Preußen. Todmüde, wie er war, ließ Jules sich von ihnen mitnehmen.

Madame Bourdon küßte ihn. »Un d'rno, un d'rno?«

Jules war wieder nach Weißenburg hineingebracht worden. Die Stadt hatte von Uniformen gewimmelt. Bayern, Pommern, Sachsen, Elsässer und Franzosen, jeder redete in seiner Sprache. Dazu die Turkos. In der Hauptkirche war ein Höllenlärm. Einhundertneunzig gefangene Franzosen waren da untergebracht. Sie schimpften über Napoleon, über Mac Mahon und nannten die Summe, für die man sie an Preußen verkauft hätte. Dabei kam es für Jules zutage, daß die Schlacht verloren war. »Ich spüre eine Wut gegen die Preußen, um sie in Stücke zu reißen. Aber was tun? Wir haben keine Waffen. Weiber aus der Stadt kommen an die Tür. Sie bringen den Gefangenen Suppe, Braten, Wein. Köstliches Eingemachtes. Wir sind bewacht von bärtigen Leuten mit niedrigen Mützen, Leute, die sich den ganzen Tag mit den Franzosen gerauft haben. Aber sie haben Gemüt, diese armen Teufel. Sie bringen uns das Essen heran, ohne selber einen Mundvoll davon zu genießen.«

Françoise sprang auf. »Ist das nicht schön, ist das nicht wundervoll?«

Jules zuckte die Achseln. »Sie haben keine Leidenschaft, diese Leute. Daher werden auch nicht sie es sein, die den Krieg gewinnen.«

Einem der Soldaten, der ihm Essen gegeben, habe er heimlich Geld zugesteckt, damit er ihn herauslasse. »Aber da hätten Sie ihn sehen sollen, meine Damen. Er warf alles hin. Den Wein, den ich ihm angeboten hatte, goß er aus.«

Françoise sagte nichts mehr. Sie starrte ins Weite. Ihr Gesicht hatte einen verzückten Ausdruck.

Jules erzählte von dem Transport nach Rastatt. »Wir hatten es nicht schlecht, auf dem Marsche durch die Dörfer, warfen uns die Bauern über die Köpfe unserer Wächter Kartoffeln und Käse herüber. Und dann ist es mir gelungen – ich bin ganz einfach davongelaufen. Ein junges Mädchen, dem man einige Artigkeiten sagte, verschaffte mir diesen Anzug, den sie mir in einem Korbe mit Lebensmitteln brachte. Et me voilà.«

Wieder betastete ihn seine Mutter. Sie schien es noch nicht fassen zu können, daß er da war.

Françoise verabschiedete sich jetzt. Ihr war, als habe sie ein Geschenk bekommen, das sie so bald als möglich in Sicherheit bringen müsse. Immer sah sie die Szene vor sich, wie der Soldat den Verräterwein ausgegossen hatte; oder wie die Deutschen, selber hungernd, die Gefangenen speisten. »Ja, so sind sie, Heinrichs Landsleute!«

Aber als sie jetzt unter ihrem Regenschirm durch die leere Straße ging, verschwand diese kurze Fröhlichkeit.

Man besiegte Frankreich! Sie mußte sich diese Worte zweimal vorsagen, so unmöglich schienen sie. Ihre ganze Empfindung wehrte sich dagegen. Sie fühlte sich verwundet als Patriotin und zugleich als Weib. Frankreichs Sieg hätte auch sie persönlich erheben sollen. Vor Hummel. Im Heimlichsten ihres Stolzes hatte sie es ihm nie vergessen, daß er fortgegangen war, ohne sich von ihrer Liebe beschenken zu lassen. Die ganze Zeit her hatte sie auf das Glück gewartet, ihm, der traurig und besiegt heimkehrte, in vollem Triumphe zu Füßen knien und Trost sein zu dürfen. Jetzt war sie arm. Und die alte Demütigung brannte wieder auf.

Ohne zu ihrem Hause einzulenken, ging sie weiter, der Biegung der Landstraße zu, weit über Thurwiller hinaus. Unter einem Schuppenvordach blieb sie stehen und legte beide Hände auf ihr trauriges Herz. Wie schlecht sie war! Nur an sich selber dachte sie bei den Unglücken ihres Landes! Sie seufzte. Dann, die Schultern vorgebeugt, wie gealtert, ging sie nach Haus.

 

In Thurwiller traute keiner mehr dem andern. Der Förster hatte im Walde an einer ganzen Reihe von Bäumen Zeichen vorgefunden, ein »A« und dann wieder in einer andern Reihe den Buchstaben »R«: »Avancer« und »Retourner« übersetzte er sich das. Man wußte, allerlei Spione liefen herum, die den Preußen die Wege weisen wollten. Schmied-Louis schlug sich vor die Stirn: Tränkele hatte bei ihm vor einiger Zeit einen kleinen Hammer bestellt, in den sollten hohl zwei Buchstaben eingeschlagen werden: »A« und »R«.

Wütend rannte er zum Stadthaus. Aber der alte Mann hatte ein schlechtes Gedächtnis. Endlich entsann er sich: das konnte nur für den Prussien gewesen sein, der damals in der Apotheke drüben gewohnt hatte, aber man müsse um Gottes willen den Mund darüber halten, sonst bringe man den guten Pharmacien am Ende noch in Teufels Küche.

Schmied-Louis ließ sich denn auch beschwichtigen. Aber Tränkele ging am Abend hinüber in die Pharmacie und setzte der armen Tante Amélie dermaßen zu, daß sie ihm eine hübsche Summe Schweigegeld gab und die ganzen nächsten Tage nicht mehr von ihrem Rosenkranze loskam.

Sie glaubte ihm das Märchen.

Inzwischen drängten sich die Sensationen in Thurwiller. Schon wieder gab es ein Attentat. Auf einen der alten, mürrischen Wachtsoldaten war geschossen worden. Der Mann war nur leicht verwundet. Er erzählte, der Schuß sei aus der Ill heraufgekommen, die freilich jetzt nach den letzten heftigen Regengüssen stark angeschwollen war und brauste wie ein großer Fluß.

Das Ereignis gab der hochgespannten Erregung der letzten Tage neue Reibung. Die Besitzlosen betrachteten es als Vorboten der Gewalttaten, die sie selbst zu begehen wünschten, die Wohlhabenden und Begüterten bekamen Furcht. Aber sie wußten sich zu helfen. Sie stellten einfach einen Blitzableiter auf ihr Dach. Mochte es dann wettern und krachen draußen.

Zu diesem Blitzableiter hatte man Balde erwählt.

Allabendlich saßen in der »Krone« der Curé, Quine, Schlotterbach jeune und Bourdon, der zurückgekehrt war, manchmal auch Jules. Sie sprachen über die letzten Vorgänge.

Seltsam, daß der Gendarm den Burschen, der geschossen hatte, nicht auffand. Natürlich wäre es Sache des Maires gewesen, sich darum zu kümmern. Und der – na, man wußte ja. »Ein Mann, der niemals in die Kirche geht.«

»Der immer die Partei der Arbeiter nimmt.«

Der gute Maire! Jedenfalls war er Zeiten wie den jetzigen nicht gewachsen. Wichtige Depeschen warf er einfach in den Papierkorb. Quine wußte das genau. Namentlich war da eine gewesen, die große Erfolge der Franzosen berichtete, aus der hatte der alte Groff, der sowohl bei Baldes wie bei Quine Faktotum war, sich einen Fidibus gemacht. Madame de la Quine hatte das Stück Papier auseinandergefaltet und gelesen, was noch unverbrannt war. Von vielen tausend preußischen Gefangenen hatte da gestanden. Wahrhaftig, es war doch merkwürdig, daß man solche guten und tröstlichen Nachrichten ...

Ja, und war es nicht Balde gewesen, der zuerst den Bericht über die unselige Schlacht bei Wissembourg gegeben hatte? Recht geflissentlich, vor aller Welt. Fast so, als mache es ihm Freude?

»So ist er immer,« zeterte Bourdon dazwischen. »Wenn ich ein Rezept verschreibe – – – « Er wurde durch seinen Sohn unterbrochen, der, scheinbar unvermittelt, eine seiner Kriegserzählungen anfing, die sich bereits im Laufe dieser wenigen Tage zu wahren Heldenmären ausgestalteten, deren tätiger Mittelpunkt er selber war. Der Vater, als sei er selber mit dabei gewesen, half ein und überbot ihn noch. Ab und zu grollte Kanonendonner, aber sehr fern. Und man hatte sich auch schon daran gewöhnt.

Unverjagbar aber tanzte über ihren weinheißen Häuptern die Wolke böser Worte, die sie gegen Balde ausgesendet hatten, ein blutgieriger Insektenschwarm, der zum Fenster hinausschwirrte. Und sich auf sein Opfer stürzen will.

Unten an der Ill stand ein Haufen Leute. Da war eine Knabenjacke angeschwemmt worden, hell und gut gemacht. Der Schneider erkannte sie. Es war ein Jackett von Victor Hugo, das er vom Lyzeum mitgebracht, und zu dem er, der Schneider, ein Paar Hosen gemacht hatte. Seltsamerweise stak in der Tasche des Jacketts eine alte Reiterpistole, die Balde gehörte, dazu ein Papierfetzen, der nach dem Trocknen sich mit einer groben, unorthographischen Schrift bedeckt fand, aus der man folgendes entzifferte: »Am 28. mittags, bald dem Doktor sein Glöckchen läutet. Wir uns alle auf die Wärter werfen. Ihr inzwischen die Wache abtun.«

Am Achtundzwanzigsten war auf den alten mürrischen Wachtsoldaten geschossen worden. Jetzt war's klar. Die Gefangenen hatten einen großen Aufstand geplant gehabt. Irgend jemand von außen hatte ihnen dabei Dienste geleistet. Am Achtundzwanzigsten aber – spürte man dabei nicht sichtbarlich Gottes Finger? – am Achtundzwanzigsten war zum ersten Male auf des Curés Vorstellungen hin das Läuten in der Maison Centrale unterblieben und somit das verabredete Signal für die Revolte nicht ertönt! –

Die Leute raunten und zeterten. »Wenn d'r curé 's Läute net verbotte hätt, d'rno hätte d'prisonniers sich revoltiert, und so müßte mir jetz alle mitnander verrecke. Grad an dem Tag het's solle passiere.«

»Ha, c'est vrai, was brücht er für sich läute z'losse, d'r Maire? Sell isch blasphémie, Gotteslästerung, het d'r curé g'sait.«

»Jo, jo, d'r Herr Maire, der traut sich ebbes. Sunscht isch er jo a rachter, güeter Herr. Awer d' Litt rede so Dings.«

Pfiffer-Schang war der Eifrigste. Er trieb es so arg, daß die Leute unzufrieden wurden. »Schandmül, dreckiges! Nix als Gift hett er in d'r Gosch.«

Sie dringen auf ihn ein. Er wehrt sich. Und auf einmal fällt etwas klirrend zu Boden, ein kleiner Hammer. Man nimmt ihn auf. Auf der einen Seite ein »R«, auf der anderen ein »A« eingehöhlt. Schmied-Louis brüllt auf. Mit einem Griff hat er den schmächtigen Menschen gepackt und ihn wie einen Strohwisch in die Höhe gehoben. Ein Schrei der Wut folgt dem seinen. »Der isch's g'si, der het uns verrote an d' Prussiens.« Sie werfen sich auf ihn, sie reißen ihm die Kleider vom Leibe; aber Schmied-Louis läßt ihn nicht los.

Als der Maire mit Tränkele herankam, war es schon zu spät.

An der alten herrlichen Platane in der Klostergasse haben sie ihn zuletzt noch aufgehängt, schon mehr tot als lebendig.

 

Diesem ersten unwürdigen Opfer des Krieges folgte bald ein edleres und schmerzlicheres.

Es war an einem Tage, da man ängstlicher als sonst auf das Grollen der Kanonen horchte. Nicht daß es näher gekommen wäre, im Gegenteil, es klang schwächer als da man es von Breisach hörte, viel, viel schwächer, nur der erregtesten Aufmerksamkeit wahrnehmbar. In dem Herzen jedes Elsässers aber hatte es Donnerklang. Straßburg wurde beschossen, das schöne, vielgeliebte Straßburg, das Herz, das Hirn des Landes. Ganz Thurwiller stand auf der Straße. Mit blassen, tiefbetroffenen Gesichtern starrten alle vor sich hin. Man sprach nicht miteinander, klagte nicht. Zum erstenmal trat auch in die fröhlichsten und behaglichsten Genießergesichter ein Zug von Ernst, fast Größe.

Und auf einmal geschah etwas, das auf alle einen tiefergreifenden, fast schauerlichen Eindruck machte. Père Anselme, den jedermann nur kannte, wie er im Stadthause in seinem Lehnstuhle saß oder mit Papieren raschelnd in den großen Sälen hantierte, von dem jeder immer das Gefühl hatte, er müsse zu Asche zusammenfallen, wenn man ihn an die freie offene Luft brächte, Père Anselme erschien auf der Straße. Er lief. Sein Röckchen, fleckig, altersglänzend, wogte. Das weiße Haar flatterte wie Spinnwebfäden hinter ihm drein, sein Gesicht war totenblaß. »Oh ces barbares, ces monstres,« schrie er »oh ces barbares.«

Was aber das Schrecklichste war: er weinte. Kein Weinen wie von einem alten, schwachen Manne, ein Weinen, das aus ihm schrie und in ein zitterndes Brüllen ausartete. Seine Augen hatten eine tiefe Röte angenommen. Sie sahen aus wie Wunden.

»Die Bibliothek,« schrie er, »die Straßburger Bibliothek. Niemand hat die Bibliothek gerettet. Alles verbrennt, alles ist verloren.« Er taumelte und fiel aufs Straßenpflaster. Er war tot. Man hob ihn auf und trug ihn nach dem Rathause hinauf. Er war leicht, wie ausgehöhlt. Oben setzte man ihn in seinen großen Stuhl.

Als Françoise heraufkam, saß er da, fast wie sonst. Ein wenig mehr zusammengesunken wohl, aber mit jenem Schimmer im Gesicht, den sie an ihm kannte, wenn er ihr von Elsaß' früheren Zeiten erzählte. Vom Elsaß der deutschen Zeit.

Im Nebensaale standen die Männer: ihr Vater, der Pfarrer, Bluhm und die Stadtältesten. Sie berieten über Aufbahrung, Begräbnis und Feier. Zwei Lichter, in schnell herbeigeholten Gläsern stehend, brannten vor ihm auf dem Schreibtisch, zu beiden Seiten seines dicken, unordentlich gebauschten Manuskripts. Sie brannten still und fahl im Sonnenlicht. Eins der Gläser war das der Welserin, aus dem Françoise vor wenigen Tagen getrunken hatte.

Françoise schloß die Tür zum Nebensaal. Nun waren sie allein. Sie setzte sich auf ihre alte Truhe und streichelte seine beinweiße, gekrümmte Hand, die noch die Feder zu halten schien. Sie starrte ihm in das stille Gesicht, bis sie vor Tränen nicht mehr sehen konnte. Der Tote und sie, sie hielten gemeinsam Trauerwacht. Sie hatten heute beide ihren großen, verehrten Helden verloren: den Deutschen. Vielleicht hatte er längst nirgends anders mehr gelebt als eben nur noch in dem Toten da und in ihr. Jene Deutschen aber, die da drüben Straßburgs herrlichste Wissens- und Schönheitsschätze verwüsteten und verbrannten, das waren ihre Deutschen nicht. An ihnen war Père Anselme gestorben.

Ein leichter Wind blätterte gespenstisch im Manuskript. Ein Zettel flatterte heraus. Françoise hob ihn auf. In französischer Sprache stand da:

»Und so gleicht denn unser armes Elsaß so recht eigentlich jenen alten Pergamenten, die man Palimpseste nennt, und auf denen die alte gotische Schrift mit lateinischer übermalt wurde, bis es endlich einer kundigen Hand gelang, die verborgene Schrift wieder zu Licht zu fördern. Damit dieses Wunder auch bei uns geschehe, müßte aber schon der liebe Herrgott selber herunterkommen und ein großes Wecken blasen.« Darunter stand: »Gespräch beim Besuch des jungen Deutschen, am 10. Juli 1870.«

Françoise kniffte das Blatt zusammen. Sie steckte es ein. Nach Frauenart machte sie sich keine Gedanken wegen der Veruntreuung.

 

Seltsam verwaist schien die Stadt nach dem Tode des silberhaarigen Alten, der da oben jahrzehntelang auf sie herabgeblickt hatte, unveränderlich ruhig und doch so innig zugehörig, ein erdenfernes Gestirn, das unsere Tagesstunden ordnet. Es war, als fehle nach dem Tode des unscheinbaren Männchens, dessen man kaum geachtet hatte, der Zuschauer, für den allein man sein tägliches Werk auf sich genommen hätte, und als lohne sich nun alles kaum.

Martin Balde war am deutlichsten getroffen. Er hatte das Manuskript in Verwahrung genommen und ein wenig Ordnung schaffen lassen da oben. Nun sah das Zimmer fremd aus. Er vermied es. Aber auch zu Hause war ihm fremd zu Sinne, auch da war eine böse leere Stelle: Frau Walde war noch immer leidend. Äußerlich freilich hatte ihr der Steinwurf merkwürdig wenig Schaden angerichtet, der Schreck aber und der nachfolgende Zorn schien das schöne Gebäude ihrer Harmonie verrückt und erschüttert zu haben. In den ersten Tagen sprach sie unaufhörlich sehr laut vor sich hin, anklagend, fieberhaft schnell. Sie, die niemals an sich selbst gedacht hatte, schien nun für nichts anderes mehr Sinn zu haben als für die tiefe Ungerechtigkeit, die man ihr angetan. »Ich eine Prussienne? Sind wir nicht die allerbesten Franzosen, gerade wir Protestanten? Wer anders als wir hat Straßburg groß gemacht? Ihr hier im Elsaß, ihr seid mindere Franzosen. Nicht einmal die Sprache versteht ihr richtig zu sprechen. Nichts in euch scheint der lateinischen Rasse anzugehören, die in uns lebt. Und diese Elsässer, die wir verachten, haben es gewagt –« So ging es weiter. Weinend bald, bald drohend. Stundenlang.

Françoise trat zu ihr, sie zu beruhigen. Da geschah das Jammervolle, daß die Mutter den Arm ihrer Tochter von sich wegstieß. Ihr Blick bekam etwas Fremdes, Abweisendes. »Du möchtest ja doch nur, daß deine Deutschen uns allesamt totschlügen.« Danach weinte sie bitterlich.

Françoise war zurückgewichen, aber die Mutter kam ihr nach, bat mit einer schwer erträglichen, ängstlichen Demut um Verzeihung und setzte sich dann mit ihrer Handarbeit still ans Fenster.

Von diesem Tage an wurde sie wortkarg. Sie weinte viel und las in ihrer kleinen französischen Mädchenbibel, die all die Jahre her unbenutzt gelegen hatte. Im übrigen trieb sie sanft mit freundlichem Lächeln ihre gewohnten Hausgeschäfte und saß dann abends still mit einer seinen, nutzlosen Handarbeit unter den Ihrigen, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Selbst um die kleine Désirée, die sonst ihre große Freude gewesen war, kümmerte sie sich nicht mehr.

Anfangs hatte man sich gescheut, vor Frau Balde über die traurigen Nachrichten zu sprechen, die allmählich durch die Beschönigungen und offenbaren Lügen der offiziellen Presse hindurchtropften: Bazaine geschlagen, die Turkos aufgerieben und vor allem das Elsaß im Begriff, vom Feinde überschwemmt zu werden. Noch war er nicht bis Mülhausen und Kolmar gedrungen, aber man erwartete das stündlich. Die Bürger verließen massenhaft ihre Heimatsstädte und retteten sich nach der Schweiz.

Balde blickte forschend auf seine Frau, als er das berichtete, aber ihr Gesicht behielt den freundlich teilnahmlosen Ausdruck.

Man saß wie fast immer zur Vesperzeit unter dem Birnbaumdach. Die vorausgegangene Hitze und der nachfolgende Regen hatten die harten, schmalen Blätter gefärbt, daß sie wie metallen schienen, ein Golddach unter feuchtgrauem Himmel. Françoise hatte den Tisch abgeräumt und eine große irdene Schüssel mit Pflaumen vor sich hingestellt, die sie zum Einmachen vorbereitete. Sie sah ein wenig bleich aus, ganz licht in ihrem hellen Haar, mit der weißen Schürze. Hortense, schon etwas unbehilflich, saß auf einem Korbstuhl, vor den man ihr eine Fußbank gestellt hatte, Désirée spielte unter Salmeles Aufsicht auf dem Rasen. In ihrem brennendroten, geblähten Kleidchen flog sie wie eine große Mohnblume hin und her zwischen dem Grün.

Balde umfaßte mit seinem Blick das Friedensbild. Es war dasselbe fast wie vor wenigen Wochen, da Heinrich Hummel hier unter das Birnbaumdach trat, die erste helle, sich unschuldig gebärdende Welle einer gefahrvollen Flut. Heute schon drohte sie draußen vor den Toren. Und auch die Friedensinsel hier war nicht viel mehr als Scheinbild. Gespannt und erregt waren die Gesichter alle, die damals harmlos geblickt hatten, und die Lippen schmalgeworden vom vielen Schweigen.

»Hast du Nachrichten von Armand?« fragte Balde. In Gegenwart der Mutter sprachen sie, wie früher. Französisch. Gewissenhafter sogar, so als fürchteten sie, es voreinander einzugestehen, daß Frau Balde keinen Teil nahm an ihren Gesprächen.

Hortense hatte aus ihrem Arbeitskästchen zwei Briefe genommen, die zu gleicher Zeit an sie gekommen waren. Der erste, noch aus dem Hauptquartier Châlons, in strahlender Laune geschrieben. Den las sie zuerst.

»Abends und morgens spielt die Musik. Man speist in den kleinen gemütlichen Restaurants für allerdings viel Geld ganz vorzüglich.« Er schrieb ausführlich Menüs und Preise, erzählte amüsante Tischgespräche, schickte Karikaturen, von einem Kameraden gezeichnet. Ein großer Turko mit einer Menge kleiner Prussiens auf dem Gewehr, an der Leine eine Bulldogge führend, die Bismarcks Züge trägt. »Die Mädchen des Dorfes haben uns zu einem Tänzchen eingeladen. Es sind ein paar niedliche darunter, mager und dunkel, voll Feuer. Aber habe keine Sorge um mich, meine arme liebe Hortense. Ich umarme Dich und Désirée mit Leidenschaft.«

Der zweite Brief war zwischen den Märschen geschrieben:

»Wir marschieren auf die Maas zu, man bietet uns überall Lebensmittel an. Wein so viel, daß die Leute in exaltation geraten. Ich habe Mühe, sie in der Reihe zu behalten. Alle Augenblicke verschwindet der eine oder der andere in einem der Wirtshäuschen, die am Wege stehen. Man sieht sie nie wieder. Und man hat Lust, es ihnen nachzumachen. Die Sonne brennt, der Küraß drückt, der Pferdeschweif peitscht die Ohren. Die Zeit des Déjeuners ist längst überschritten.«

Und das letzte Briefstück aus der Nähe von Sedan:

»Hier sind die Obst- und Gemüsegärten bereits von unseren Truppen verwüstet, keine Erfrischung zu haben. Alle Welt ist müde, zerbrochen. Man schilt auf unsere Generale, die uns in dieses Elend geführt haben. Aber jetzt ist nicht Zeit, darüber nachzudenken. Reisende erzählen, daß man sich schlägt. Wir hören deutlich das Geräusch der Kanonen. Auch wissen wir, daß Preußen ganz in der Nähe sind, vielleicht in diesen Wäldern. Wenn es diesen Herren beliebte, herauszuspazieren, die Zigarre im Munde, wir würden in einem Moment geliefert sein, denn wir haben keine Aufklärposten ausgestellt, nicht einmal eine Wache. Manchmal hört man ganz in der Nähe ein Geräusch, dann rufe ich ›saluez‹, und die Leute bücken sich. Das ist alles. Man prophezeit auf morgen die Schlacht. Sei es drum. Wir alle haben nur das eine Verlangen, Abrechnung zu halten mit diesem miserablen Bettelpack in baumwollenen Hemden, die sonst, wenn sie nach Frankreich kamen, unsere Stiefel mit ihren breiten Bärten abwischten, und die nun hier sind, um unsere Pendülen zu stehlen und die Millionen unseres sparsamen Volkes auf ihre Karren zu packen. Aber sie haben nicht mit unseren Mitrailleusen gerechnet. Wenn Frankreich die Zivilisation nicht anders retten kann, als indem es diese Teutonen zertritt, so muß man sich eben nachher sorgfältig seine Stiefelabsätze abputzen.«

Françoise sprang auf, ganz weiß im Gesicht. »Warum liest du mir das, Hortense? Und Monsieur Dugirard – er kennt die Deutschen nicht. Wenn du gehört hättest, was, Père Anselme –«

Hortense hob den Kopf. Ein scharfes Feuer glomm in ihren Augen. »Du bist nicht mehr Französin, wie es scheint, du Arme. Aber ich – seitdem dieser Krieg ist, weiß man erst, wie heiß man Frankreich liebt. Eine Mutter, die leidet« – ihre Stimme zitterte – »sie braucht unsere Liebe mehr als eine gesunde. Ich möchte alles, was an mir elsässisch ist und an Deutsches erinnern könnte, von mir stoßen. Und wenn ich mich dabei verstümmeln sollte.« Ihre Bewegung war wild und schön.

Frau Balde sah sie verwundert an mit jammervoll sanftem, verständnislosem Lächeln. Dann stichelte sie weiter an ihrer Stickerei.

Hortense, sich beherrschend, fuhr fort: »Armand hat recht. Wir haben um Frankreich geworben, auch wir Elsässer. Immer noch. Wir haben es bewundert wie etwas Fremdes und haben uns dadurch lächerlich gemacht vor den Franzosen. O, ich weiß. Ich habe genug gelitten. Von heute aber wird das alles aufhören, von heute ab sind wir Franzosen, nichts als Franzosen.«

Die Leidenschaft stieg wieder hoch in ihr und machte sie beben. Franchise faßte besorgt ihre Hände. Sie wärmte sie in ihren.

»Schilt mir nicht uns Elsässer,« sagte Balde und versuchte zu lächeln. »Unser Land ist eben noch jung, jünger als Frankreich. Es zeigt die Fehler seines Alters. Sache der Jugend ist es, die Vorzüge anderer schwärmerisch zu bewundern und zu versuchen, sie nachzuahmen. Nun wohl. Ebenso aber ist es weit eher ein Zeichen von Altwerden als von Reife, wenn man das nicht mehr vermag. Vielleicht freilich sollten wir Elsässer, ebenso wie der Deutsche, wirklich einmal aufhören, ewig nur unsere Mängel zu bekämpfen. Es wird Zeit für uns, damit anzufangen, unsere eigensten Vorzüge zu kultivieren. Wer das nicht kann, wird im Leben kein rechter Kerl. Hoffentlich sind wir bald endlich so weit.«

Er nahm die Mappe unter den Arm, die er mit hierher gebracht hatte aus dem Rathaus, und ging über den Hof hinüber in sein Zimmer ...

Auch Françoise hatte sich gerettet. Sie war nach dem Wald gelaufen. Das tat sie jetzt oft, wenn ihr das Herz überzuquellen drohte. Im Walde wurde sie immer ruhiger. Da fand sie sich zurück zu sich selber, denn da fand sie ihn, den sie liebte.

Auch heute. Sobald sie über die Bachbrücke trat, wurde ihr Herz fast ruhig. Sie pflückte auf den Wiesen, die nach dem Regen wieder in ihrem unverwelklichen Vogesengrün leuchteten, ein paar dürre Kelche der Frühlingssternblume und dachte daran, wie Heinrich gemeint hatte, sie könne ertrinken unter den hohen weißen Blumen. Sie bückte sich, bog eine Wildfalle auf und erinnerte sich, daß sie damals Feiertag gemacht hatte, Rettungstag für die Tiere, weil er bei ihr war. Sie sah Onkel Blanc vor sich, wie er seinen Brief hervorzog. Jetzt saß er im belagerten Straßburg. Sie sah da an der Thur Vater Dugirard angeln; die Weiden streichelte sie, die wieder feucht und tränenvoll waren wie damals. Sie faltete die Hände: wenn nur er ihr erhalten bliebe! In diesem Augenblick war es ihr gleich, ob Frankreich oder Deutschland Sieger würde.

Sie hob ihr Kleid beim Weiterwandern. Es war feucht da an der Thur. Das Waldgras stand voll bunter Schwämme und lila Herbstzeitlosen, das Laub der Birken hing schon fahl.

Françoise ging den Weg, den sie mit Heinrich gegangen war. Bis zum Tannennest ging sie, das jetzt voll Wasser stand. Plötzlich horchte sie auf. Aus dem Gebüsch drüben kam ein Geräusch von brechenden Zweigen, als stieße ein wundes Tier sich durch Gestrüpp. Dann wie Murmeln einer Menschenstimme. Es kam naher. »Schrecklich, schrecklich,« sagte es, und dann: »Ich muß es tun.«

Françoise hielt sich ganz still. Wieder ein Knacken, diesmal heftiger. Sie sah blondes, zerwirrtes Haar, ein paar entsetzte blaue Augen: Arvède von Meckelen. Er stieß einen schwachen Schreckensruf aus, da er Françoise sah, blieb einen Augenblick wie festgewachsen, die vortastende Hand noch erhoben, in sonderbarer Duckstellung. Dann verzog er sein junges, blasses Gesicht, in dem eins Verzweiflung stand, zur Höflichkeit. »Ah, Mademoiselle Balde.«

Sie erhob sich. Sie faßte ihn bei der Hand, zog ihn vor. Er sträubte sich nicht. Eine Schwäche schien ihn zu überkommen. Er senkte das nun völlig erblaßte Gesicht.

Françoise betrachtete ihn genauer. Sein Anzug war voll Dornen, seine Hände verschrammt. Und noch etwas sah sie: sein Bubenkittel, seltsam vorn in die Höhe gebeult, verbarg nicht vollständig, was er bei sich trug. Da er sich eben bewegte, so daß ein Sonnenstreifen auf ihn fiel, blitzte es stählern auf. Ein Pistolenlauf.

Françoise hielt ihren Aufschrei zurück. Sie trat heran und nahm ihm fest und vorsichtig die Waffe aus der Bluse. Der junge Meckelen wehrte sich nicht. Er sah sie an. Dann warf er sich auf die Erde. Er schlug beide Hände vors Gesicht. Er weinte nicht, er lag nur da wie ein Tier, das sich tot stellt, bis seine Verfolger vorüber sind. Françoise kauerte sich bei ihm nieder. Sie nahm ihm die Hände vom Gesicht, sie strich ihm über die Wangen. Sie hatte dabei die guten, klugen Bewegungen ihres Vaters.

»Warum?« fragte sie leise.

Arvède antwortete nicht, er hielt die Augen geschlossen.

Françoise wartete. »Monsieur Arvède,« fing sie wieder an, »lassen Sie uns beide einmal zusammen reden wie zwei alte verständige Leute! Wir, die wir fast noch Kinder sind.«

Ein schwaches Lächeln kam, aber er antwortete nicht. Dann nahm sie seinen heißen, schmalen Kopf zwischen ihre beiden Hände und zwang ihn aufzublicken. Er tat's, und sein Gesicht füllte sich beängstigend mit Blut. Er schämte sich. Mit einem Sprung war er in die Höhe. Er streckte seine Hand nach der Pistole aus. Françoise wehrte ihn ruhig ab. »Sie müssen sprechen,« sagte sie. Sie wunderte sich selbst, wie zwingend es klang. »Also warum?« fragte sie wieder.

Er sah in die Luft. »Ich habe solche Angst ein Mann zu werden,« stieß er dann heraus.

»Ein Mann,« sie sah ihn überrascht an.

»Ja. Heute, nicht wahr, Mademoiselle Balde, heute bin ich noch ein Kind. Ich habe nicht nötig, mich zu entscheiden. Dann aber ...«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll,« fing er wieder mit verzweifelter Stimme an. »Papa und Mama, sie hoffen beide auf mich. Jeder für sein Land. Mama ist wieder ganz zur Deutschen geworden seit dem Kriege. Mein Bruder Germain ist bei den Deutschen eingetreten, bei den Hessen, seine Ausbildung ist schon bald beendet, Mama zittert um sein Leben. Als unsere große Siegesnachricht kam, wagte ich keine Fahne herauszustecken aus Furcht, sie zu betrüben. Unsere Leute aber taten das. Papas Schloß durfte nicht ohne Fahne sein. Papa ist im Hauptquartier beim Kaiser Napoleon, auch für ihn zittert Mama. Sie geht umher wie eine Gestorbene vor Angst. Nur wenn sie am Bett des Schwesterchens sitzt, lächelt sie einmal. Und ich liebe sie, o, ich liebe sie. Alle beide liebe ich sie. Und wenn ich eben für Frankreich gebetet habe, dann wünsche ich wieder Preußen den Sieg, weil mein Bruder dafür kämpft und meine Mutter dafür leidet. Jetzt bin ich noch ein Kind, ich brauche mich nicht zu entscheiden, aber bald – – Ich habe Furcht ein Mann zu werden. Solche Furcht!«

Françoise hätte sich wieder niedergelassen. Sie blieb jetzt, das Kinn in die Hand gestützt, ruhig sitzen, bemüht, sich unbefangen und nüchtern zu zeigen. »Wenn es nur das ist, Monsieur Arvède,« sagte sie lächelnd, »so können Sie in der Tat ruhig sein. Denn das, was Sie soeben vorhatten, war so ganz kindisch, daß mir scheint, Sie haben noch einen recht langen Weg bis zu dem gefürchteten Augenblick des Mannseins. Nein, mein armer Freund,« – sie nahm seine Hand – »das Mittel, das Sie anwenden wollten, um Ihren beiden Eltern gerecht zu werden, ist so verzweifelt töricht, daß man nur darüber lachen kann.«

Er sah, den Kopf gesenkt, unter den dichten, langen Wimpern auf sie nieder. Mechanisch begann er dann sich die Dornen von seinem Rocke abzulesen. »Ich bin ein Miserabler,« brach er plötzlich aus. Er zog sein Taschentuch und schneuzte sich heftig. Dann gab er sich einem hilflosen Weinen hin.

Françoise ließ ihm Zeit. Mehr als sie zeigte und sich selbst gestand, erschütterte sie das Begebnis. Dieser Knabe litt ihr eigenes Leiden. Sie betrachtete ihn schweigend.

»Ich habe Furcht Mann zu werden,« sagte Arvède wieder, eine Phrase, die er sich tagelang wiederholt haben mochte. Sie schien eine Art Gebetsformel für ihn geworden zu sein. Schon aber war sie nicht mehr ganz echt, war ihm nur ein Schild, hinter dem er sich zu verbergen suchte. Es vergingen mehrere Minuten. Endlich erhob sich Françoise.

»Wissen Sie, Arvède, was ich mir manchmal für unser Land ausmale? Für dieses arme Land, das ein Grenzland ist, ein Kampfplatz, Wall und Glacis, das man jetzt zertritt! Ich denke es mir nach dem Frieden als einen Garten zwischen zwei großen Flüssen, von beiden fruchtbar gemacht. Die Samen beider Länder jenseits und diesseits der Flüsse mischen sich in ihm, allein in ihm, und bringen neue, fremde Gewächse hervor, die neue, fremde Früchte tragen. Beiden zutragen. Oder ich denke es mir als eine Brücke, die vermittelt zwischen dem Leben der beiden Länder, ihren Austausch fördert, ihr Verständnis.«

Sie stand da, beglänzt und schön, eine überraschende Klarheit in dem sanft geformten Gesicht.

Arvède faßte ritterlich ihre beiden Hände, beugte sich und küßte sie voll Dank. Sie kam zu sich, sah den Revolver neben sich auf dem Rasen liegen, bückte sich rasch, fingerte daran herum und entlud die Waffe. Es sah drollig aus, wie sie furchtsam die Augen schloß dabei. Sie lachte selbst darüber, und es war beiden wohl, dadurch von ihrer heiligen Rührung loszukommen. Wortlos reichten sie sich die Hände und trennten sich. Françoise blickte noch einmal zurück.

Hier an diesem Platze, wo man sie einst so tief demütigte, hatte sie heute im Triumph ein fremdes Leben zurückerobert.

Seit langer Zeit einmal wieder war sie mit sich zufrieden.

 

Françoise hatte das Städtchen vermieden. Sie war von der hinteren Landstraße her in ihre Gasse hineingelangt, trotzdem aber spürte sie, daß da drüben wieder Erregung war. Man hörte reden und laufen. Ein paar Bauernwagen fuhren in ungewohntem Trab daher, Hunde bellten laut, als brachen Diebe ein. Die Häuser, die die Straße begrenzten, schienen alle leer. Auf den Gartenmauern jagten sich verwilderte Katzen.

Zu Haus fand sie das Salmele mit rotem Kopf und aufgeregten Bewegungen. »Der Krieg isch aus,« schrie sie ihrer Mademoiselle entgegen, »se han der empereur verwitscht. Fini!«

Françoise ging nach der Mutter Zimmer. Frau Balde saß, sehr gerade wie immer, auf ihrem Nähtischstuhl und stickte. Hortense stand am Fenster. Als sie sich umwandte, war ihr Gesicht hart und schmerzgespannt, der Mund zusammengepreßt. Sie hielt ihr Taschentuch in der Hand, aber sie weinte nicht.

Françoise begann zu zittern. »Was ist? Was ist geschehen?«

»Ein großes Unglück. Vierzigtausend Franzosen bei Sedan gefangen.«

»Bei Sedan? Und dein Mann?«

Sie achtete nicht auf die Frage. Ihre Stimme bebte, als sie sagte: »Der Kaiser hat sich freiwillig ergeben. ›Freiwillig‹ steht im Telegramm, von allen Ministern unterzeichnet.«

»Und Armand?«

»Was weiß ich, ob er lebt? Ob ich nur wünschen darf, daß er noch lebt? Er, der dabei war.« Wie eine Meduse sah sie aus.

Françoise schauderte vor dieser Härte. Die Schwestern schwiegen. Seltsam traulich tickte die Uhr an der Wand.

»Wollt ihr nicht zu Abend essen?« fragte Frau Balde, »ist es nicht Zeit?«

Hortense rief dem Mädchen. Die Mutter sollte ihre Abendsuppe heute hier oben essen. »Sie hat es da ruhiger.«

»Wo ist Papa?« fragte Françoise.

»Auf dem Rathaus. Sie haben die Bilder von Kaiser und Kaiserin aus dem Saale herausschleppen wollen und zerreißen. Er läßt sie zurückbringen.«

Ein lautes Aufrauschen kam durch die stille Gasse von der Hauptstraße her. Francis« öffnete das Fenster. Weit hallend wie der Durchbruch eines Stromes der Ruf: » Des armes, des armes

Das Salmele kam hereingestürzt: »I ha so Angscht, so Angscht.«

Man hörte lautes Sprechen einer einzelnen Stimme, irgendeine Nachricht. Dazwischen immer wieder dieses sonderbare Rauschen, wie zusammengeflossen aus all dem kleinen Plätschern und Raunen ringsum. Und jetzt ein gewaltiges Hochströmen in einem einzigen Schrei: »Vive la république!«

Die Schwestern sahen sich an. Auch Madame Balde horchte auf. »Was rufen sie?« Sie stand auf und ging zum offenen Fenster, was sie seit jenem Steinwurf nie mehr getan hatte, sie lehnte sich hinaus. »Bravo,« rief sie hinunter.

Françoise zog sie erschreckt vom Fenster weg.

Das Gesicht der Mutter war heiter.

»Es geht gegen Charles-Dix,« sagte sie dann erklärend, so die Eindrücke ihrer ersten Kindheit mit der Gegenwart vermengend. »O, ihm geschieht recht, dieser Jesuitenfreund, der!« und sie drohte. Dann ließ sie sich ihre Abendsuppe schmecken. »Komm hinaus,« sagte Hortense fiebernd und nahm schnell Françoises Arm. »Hier erstickt man. Man muß hören, sehen.«

Es war dunkel geworden draußen, windig und kühl. Die Sterne waren da, aber kein Mond. Die Straßen, selber schwarz wie krumme Kanäle, spiegelten alles Blanke. Und Menschen überall! Menschen blinzelnd und ungewiß, wie aus Höhlen gekrochen. Hier und da eine Ansammlung, ein Redner. »Flinte müsse m'r han, fusils, des armes,« schrie es aus dem Haus.

Bäcker-Nazi saß vor der Tür, rot zum Platzen, und redete immerfort zu einer Gruppe wilder Weiber und Kinder, die ihn umstanden und seine Witze auf den Kaiser mit Stürmen von Gelächter begleiteten. » Badinguet bon yoyage, ich wünsch 'm a gute Reis, d'r weggeloffene empereur.« Er machte einen Fußstoß in der Richtung nach Westen. »Marsch, marsch, alles plus vite que ça

»Vive la république,« brüllten die Leute. Ein Zug junger Burschen lief durch die Straßen. Ihre Holzschuhe klapperten. Es klang wie ein Trupp Pferde. Sie sangen die Marseillaise und die »lampions«. Sie amüsierten sich.

Oben am Fenster der Maison Centrale saß Madame de la Quine mit Schlotterbach jeune wie in einer Theaterloge mit Schal und Fächer und sah auf die Menge herab. Durch Hortenses hohe, fruchtbare Gestalt ging es wie ein Stoß. »Wir müssen heute Heldinnen sein und nicht Salondamen,« sagte sie laut. Ihre Wangen glühten.

Françoise zog sie besorgt weiter fort.

Aber Hortense machte sich von ihr los. »Der Krieg isch net fertig, er fangt erscht an. Willkommen die Republik,« rief sie mit erhobenem Kinn, als riefe sie's den Sternen.

Man begann sich um sie zu scharen. Mit ihrem hohen Leib im faltigen Gewande, die Enden ihres Fichüs ihr nachflatternd, stand sie da wie eine gesegnete Charlotte Corday. »Willkommen die Republik!« rief sie noch einmal. »Sie wird das Schwert aufnehmen, das dem Kaiser entfallen ist. Was bedeutet uns jetzt noch der Kaiser? Ein einzelner Mann! Frankreich hat mit ihm nicht aufgehört zu existieren. Ihr alle hier, die ihr waffenfähig seid, macht euch auf, jetzt schlagt ihr euch nicht mehr um der Sicherheit der Dynastie willen, ihr schlagt euch für euch selbst, für Weib und Kind. Ihr schlagt euch für mehr als das: für Frankreich.«

Wütendes Händeklatschen ringsum. Trotzdem die wenigsten ihr Französisch verstanden, wirkte doch der Ton auf sie begeisternd. Aber auf einmal gab es ein verlegenes Verstummen, man trat ein wenig auseinander. »D'r Herr Maire.«

Balde sah sehr ernst aus. Er stützte sich auf seinen Stock, den er sonst nur immer lose in der Hand hielt. Keinen Blick warf er auf die Seite, wo seine Tochter stand. Aber seine Stimme war fremd, als er im Gegensatz zu ihrem Pathos sehr leise sagte:

»Mesdasmes, messieurs«! Mi Sach isch's net, z'untersuche, ob 's gouvernement güet gsi isch oder schlecht, 's isch g'falle! Assez. Mi devoir awer isch's, daß i d'r souverain net beschimpfe loß', dem wo i d'r Eid g'schwore han.«

Ein unzufriedenes Gemurmel, das anhub, unterbrach ihn.

» Quant à moi, i muß uf'm Platz üshalte, wo mir d'r empereur a'gwiese hett, üshalte muß i,, bis a neues, rachtmäßiges gouvernement mir d'r congé git un d'r serment ufhebt.«

Wieder Gemurmel.

»Denkt dran, messieurs, 's sin nur a paar Monat, daß ihr Stimme g'sammelt han für d'r Kaiser. So han doch Reschpekt vis-à-vis von eurer eigene opinion, wann ihr ewe die Dynastie net reschpektiere wolle.«

In diesem Augenblicke wandten sich alle Blicke nach der Apotheke. Ein Dachfensterchen war da aufgestoßen worden, und es erschien eine Fahne, die, anstatt des kaiserlichen Adlers an der Spitze, den revolutionären Hahn trug. Camille Bourdon, der in höchsteigener Person da oben hantierte und halben Leibes aus dem Fenster hing, sah mit Erstaunen lauter breitlachende Gesichter zu sich emporgerichtet. Der alte Groff gebärdete sich wie unsinnig, rannte umher und zeigte jedem den »coq«, der von seinem Vierundzwanziger Tschako stammte. Bourdon hatte ihm die Kokarde abgekauft.

»Diese Fahne ist eine Wetterfahne,« sagte jemand boshaft.

Das Murren hatte sich in Lachen verwandelt.

Balde knöpfte seinen Rock zusammen und ging mit festen Schritten aus dem Haufen heraus, der ihm schweigend Platz machte. Vor seinen Töchtern blieb er stehen. »Ihr begleitet mich wohl nach Haus?« Er gab beiden den Arm.

So, in trügerischer Eintracht, schritten sie dahin, während vom Platze her das Schreien und Brausen ihnen folgte.

Inzwischen war aus der Maison Centrale eine ganze Gesellschaft herausgetreten: Quines, Jules und alle Schlotterbachs, sogar der Alte, den die Republik-Erklärung berauscht hatte. Zum Entsetzen seines eleganten Schwiegersohnes schneuzte er sich laut in ein buntgewürfeltes Taschentuch. Madame Schlotterbach winkte abwehrend hinüber: »Mais, papa!« Die kleine Frau hatte rotgeweinte Augen. Sie hatte seit einigen Tagen keine Nachricht mehr aus Basel über Victor Hugo.

Jetzt erschien auf der Treppe der Pharmacie der alte Camille. »Han i's euch net immer g'sait,« rief er schon von weitem, »do han m'r d' résultats vom plébiszit.‹«

Lautes Lachen und Höhnen antwortete ihm.

»Doktre Euch doch selwer a médicament z'samme üs Euere phiols, monsieur le pharmacien, – ein's gege's Vergasse!«

»Was meinen Ihr?« Der lange Mann bebte. Schmied-Louis stellte sich breit vor ihm auf, so daß Jules sich schützend dazwischen schieben mußte. » Nundedié, wer isch denn mit dene Lischte ummeg'rennt: M'r soll ›Ja‹ stimme?«

Der alte Bourdon hatte seine Schlauheit wiedergefunden.

»Jo, wohr isch's,« sagte er bescheidentlich, »g'sammelt han i scho für das ›Oui‹, awer« – seine Stimme wurde schmetternd, als er pathetisch auf französisch fortfuhr – »wie ich selber gewählt habe, mesdames, messieurs, das weiß nur ich allein und mein Herrgott droben im Himmel.«

Allgemeines Gelächter. Man war dem alten Spitzbuben dankbar für das Bonmot. Jules wandte seine Augen beschämt zum Hause hinauf, aber seine Mutter war nicht daheim. Sie pflegte im Kloster die kleine Berthe. Madame Blanche fürchtete für sich die Ansteckung.

»Merde Napoléon!« brüllten die Leute.

Quine stand mit seiner Gesellschaft am Rathause. Er blickte verächtlich um sich. »Die Stadt Paris hat nicht das Recht, uns ein Gouvernement aufzudrängen,« sagte er zu Théophile Schlotterbach.

»Pst,« machte der vorsichtig – er sah gelb aus und faltig wie ein altes Lederetui. »Großer Gott, welch ein Tag! Der Tag des 4. September 1870 wird in der Geschichte aufgezeichnet bleiben.«

Diesen leeren Ausspruch, mit dem jede Partei zufrieden sein konnte, wiederholte er ein paarmal selbstgefällig.

Man rief nach dem Curé. Als man hörte, er liege krank zu Bett, machten sich einige auf, ihn zu holen und auf den Platz zu bringen. Er sollte reden.

Quine sah hochmütig in die Menge.

»Die Republik erklären,« sagte er laut, »das heißt, wieder einmal die Canaille regieren lassen. Merci bien. Wir haben genug davon gehabt!«

Zum erstenmal lag etwas wirklich Edelmännisches in seinem Hochmut.

Théophile lächelte nervös. Er wehte sich mit seinem Hute Kühlung zu. Blanche de la Quine lachte hell auf. »Die Republik, das amüsiert mich. Man wird sich gegenseitig Bürger und Bürgerin titulieren. Bon soir, mon cher bourgeois.« Sie sah kokett zu Jules auf. Aber der achtete nicht auf sie. Hortenses Worte hatten ihn entflammt. Er hatte inmitten des unwürdigen Geschimpfes einen Entschluß gefaßt. Er wollte tun, was sie gesagt hatte, wollte kämpfen für sein Land, für seine Freiheit. Gleich jetzt wollte er seinen Koffer packen, fortgehen ohne Abschied, ehe noch seine Mutter zurückkam. Er dachte dabei an Françoise und an die Heldenaureole, die er in ihren Augen erhalten würde.

Der alte Schlotterbach berichtete, zahnlos und ironisch, im »Souveränen Wahlmann« habe es gestanden, noch am Dreißigsten habe Napoleon dreißigtausend Mann von Mac Mahon begehrt, um den Prince Royal zu schützen. Er habe sich dann an Palikao gewendet, aber die Soldaten, die sich so der Dynastie geopfert sahen, hatten es vorgezogen, sich Preußen auszuliefern.

Bluhms Vater, im Jahre Achtundvierzig nach Frankreich eingewandert, klein, verwachsen, der zufällig aus Metz bei seinem Sohne zu Besuch war, erzahlte: Eugénie sei aus Paris geflohen und nach Belgien gegangen. »Nichts bleibt vom Kaiserreich als die große Staatsschuld, der drohende Bankerott, die fürchterlichen Menschenverluste und die Invasion.«

Wie ein Strudel seine Massen immer wieder in dasselbe Loch hineintrichtert, so fanden die erregten Gemüter immer wieder neue Verwünschungen und Flüche für das abgesetzte Kaiserhaus. Einmal schrie einer auch: »Merde la Prusse«, aber niemand stimmte ein. Man hatte über dem Toben gegen den gestürzten Kaiser den eigentlichen Feind vergessen. Triumphzüge bildeten sich, Tambour und Bläser voran, die unausgesetzt »Vive la république« schrien, die Kinder holten ihre alten Stocklaternen wieder vor, die sie zur Feier des »Sieges« in Saarbrücken bekommen hatten, und liefen mit. Man sang die Marseillaise. Die Wirtshäuser waren bis ins letzte Winkelchen voll Menschen gepfropft. Sonderbar nahmen sich darunter die drei Achtundvierziger aus, die der gemeinsame Freiheitsrausch für heut abend zusammenführte: Schlotterbach ainé, Bluhm und der alte Groff. »Jetzt kommen wieder wir an die Reihe,« sagten sie ab und zu und schenkten sich ein.

Hortense hatte recht gehabt. Der Krieg war nicht aus, er fing erst recht an. Draußen und drinnen. Auch hier in Thurwiller. Jetzt erst bekam er Wirklichkeit und Gestalt für das Städtchen. Tränkele ging mit der Trommel umher und verkündete, die diesjährige tirage au sort falle aus, die ganze Klasse werde aufgerufen. Unaufhörlich wirbelte der Staub in die Höhe unter den schweren Schuhen junger Bauernburschen, die, von den nächsten Dörfern kommend, in Thurwiller noch einmal »la fête« begehen wollten und sich mit den Mädchen, Tanz und Musik lustig machten.

Auch sonst machte das Volk sich laut. Bei Schlotterbachs brach ein Brand aus. Man verhaftete zwei Arbeiter als Schuldige und mußte sie wieder loslassen, weil ihre Genossen, denen unter der Republik üppig der Kamm schwoll, sich drohend zusammenrotteten. Die »Kronen«-Wirtin, die zu den wenigen gehörte, die ihren Imperialismus nicht verleugneten, kam weinend zu Balde. Man hatte ihr Schmähzettel an die Gardinen geheftet, und Monsieur Bourdon grüßte sie nicht mehr auf der Straße.

»Petit-Singe« brachte aus Bollwiller immerfort neue Nachrichten vom Vorrücken der badischen Prussiens gegen den Rhein. Man sprach wieder von einem Überschreiten des Flusses, ganz in der Nähe. Auf der Regisheimer Straße kam ein junger Bauer mit verhängten Zügeln gesprengt und erzahlte ein paar alten Weibern, die er da fast über den Haufen rannte: Ein badisches Armeekorps, etwa fünftausend Mann stark, beschieße Kembs und die andern Ortschaften da am Rheinufer mit Kanonen. Deutlich habe man von Hornburg das Schießen gehört. Alle Bauern wollten die Waffen ergreifen und ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen.

Die Spittelweibchen gingen ins Städtchen zurück und erzählten. In wenigen Minuten standen unter jeder Türe schweigende Männer mit entschlossener Miene, in der Hand ein Beil, ein Messer, ein Handwerksinstrument, über eine Stunde standen sie so. Feierlich, ohne zu reden. Sie warteten. Neue Bauern kamen und bestätigten die Nachricht. Die Preußen waren in Hornburg. Man hörte schießen von dort. Pariser Franctireurs, die gerade in Mülhausen waren, seien ihnen entgegengekommen. Dazu ein Extrazug mit Nationalgarden und Pompiers. Der alte Füeßli hatte es sich nicht nehmen lassen, mitzufahren. Zuletzt war auch noch sein Enkel Monsieur Pierre aufgestiegen auf die Lokomotive zum Heizer, um den Alten zu behüten.

Und dann kam ein großes Gelärme, man hatte in der Totenkapelle des Zuchthauses die von Balde bestellten Gewehre entdeckt, die der Curé hatte abfangen und nachts heimlich in dieses Versteck bringen lassen.

Der Curé in seinem Bett tat sehr entrüstet, als man ihn zur Rede stellte. Es seien alte Systeme, durch den Mund zu laden, alle fünf Minuten eine Kugel. Man würde nur Unheil angerichtet haben mit den alten unbrauchbaren Dingern.

Aber er fand es doch geraten, in aller Morgenfrühe des nächsten Tages sich seiner angegriffenen Gesundheit wegen nach einem Badeorte in den Vogesen zu begeben und dort den weiteren Verlauf der Geschehnisse abzuwarten.

Unterdessen hatten die Bürger ihre Handwerkszeuge weggeworfen, die Waffen ergriffen und begonnen auf die Hardt zuzumarschieren. O, man wird sich nicht überfallen lassen von den Prussiens, man wird zeigen, daß man zu sterben weiß für das Vaterland!

Jeder einzelne dieser Plumpen, Schwerfalligen sieht mutig aus wie Saint George.

Die Stadt ist wieder still geworden nach ihrem Abzuge. Im mondhellen alten Garten der »Zwei Schlüssel« unter den beiden mächtigen Nußbäumen sitzt eine Anzahl Männer und berät. Eine halbpolitische Versammlung, die sich schlüssig machen möchte, welches Betragen man zu befolgen habe unter den veränderten Verhältnissen. Handwerker, Fabrikangestellte, Landbesitzer. Ein Zahnloser, ein kleiner Rentner aus Kolmar, der bei Thurwiller sein Sommerchâlet hat, hält eine kleine Rede, während ihm der Schnupftabak vom Rockkragen in sein Weinglas hineinstäubt, das er in der Hand hält wie ein Hochzeitsredner. Er schlägt vor, daß man sich jede Woche hier treffen und beraten solle, und zieht eine Liste aus der Tasche, auf der verzeichnet ist, wen man zu diesen monatlichen Reunions auffordern solle. Muß man nur reine Republikaner einladen? Solche, die es immer waren? oder auch solche, die, obgleich nicht als Republikaner bekannt, doch beständig Proben liberaler Gesinnung gegeben haben? Man nennt Balde, den alten Schlotterbach. Bourdon? Man lacht. Der Wirt geht umher und schenkt ein. Er ist interessiert wie im Theater. Denn jetzt erzählt jeder irgendeine Anekdote für, meistens aber gegen einen, der zur Reunion vorgeschlagen. Eine schreiende Diskussion hat angefangen. Jeder sucht den andern durch Brüllen zu überzeugen, faßt ihn am Rock, pafft ihm seine Pfeife ins Gesicht. Endlich steht der Zahnlose wieder auf, fordert Ruhe und setzt auseinander, daß es sich jetzt nicht darum handle, sich auf Persönlichkeiten festzunageln, sondern daß es jetzt wichtig wäre, über die Hauptprinzipien zu reden, über die dringendsten Reformen. Er wirft ihnen das Wort entgegen, das man schon hie und da in Paris und Kolmar rufen höre: »Trennung von Staat und Kirche.«

Tiefes, betroffenes Schweigen. Niemand hat Lust, sich mit wirklich sozialen Dingen zu befassen. Der Redner selber nicht, denn er setzt sich erleichtert wieder hin. Ein Fabrikangestellter, ein fester, dunkelhäutiger Mann mit schwermütigen Augen, erklärt, während er mit der breiten Hand auf bei Tisch trommelt, daß man jetzt auf jeden Fall den Klerus bekämpfen müsse, und daß dazu die geeignetsten Mitkämpfer der Bürger die Arbeiter seien. Es ist wie auswendig gelernt, was er sagt. Und wie ein Schulkind nach Beendigung seiner Aufgabe setzt er sich wieder teilnahmslos auf seinen Dreifuß. Die Bäume lauschen, zwei kleine Vögel klagen zueinander, der Mond schifft langsam zur Höhe. Die guten eifrigen Bürger hier an ihrem Tische sehen nachdenklich einander an. Sie fühlen dumpf, daß sie Gefahr laufen, zwischen der mächtigen und sanktionierten Kraft der Kirche und der noch unbestätigten, aber frischeren und ebenso unbedenklichen Kraft des Arbeitertums mitleidlos plattgequetscht zu werden, wie die Flintenkugel zwischen Hammer und Zünder.

Man war bereits zu jenem Punkte der Erregung gelangt, da jeder sich bemüht, seinen eigenen Charakter dem andern zu erklären, als vom Haufe her eine breite, ruhige Gestalt auf dem nun nur noch vom Laternenschein erhellten Sandwege sich zeigte. Es war Doktor Balde, der von einem an Masern erkrankten Söhnchen des Wirtes herkam. Man begrüßte ihn mit respektvoller Freude und zog ihn unter die Nußbaume. Man bat ihn, ein paar Worte zu sagen, die man, damit diese erste Versammlung nicht allzu nutzlos verlaufe, als eine Art Kundgebung nach Paris senden könnte.

»Ah, une adresse de dévouement, eine Ergebenheitsadresse?« fragte Balde, und seine Mundwinkel zuckten gutmütig spöttisch. Aber er kam heran, zog seinen Notizblock und fing ohne Besinnen an zu schreiben.

» Salut et fraternité, muß darunter stehen,« sagte ein Alter, »so gehört sich's für Republikaner.«

Balde schrieb in französischer Sprache:

»An das Gouvernement der Défense Nationale im Hôtel de Ville in Paris.

Bürger! Das Volk von Paris hat die Republik proklamiert. Unsere Stadt schickt Ihnen durch das Organ der Bürgerschaft ihren Gruß und die Bitte, den Feind von unserm Boden zu verjagen durch – wenn es denn nicht anders sein kann – die Freiheit. Frankreich hat sich gerettet. Aber man lasse nicht Elsaß den Preis dafür zahlen. Die Stimmen mehren sich, die behaupten, man gehe mit dem Gedanken um, Elsaß deutsch zu machen. Diesen Gedanken bekämpfen wir Elsässer. Wir wollen, wie bisher, für Frankreich Elsässer bleiben, für das übrige Europa aber Franzosen. Wenn die Republik uns das ermöglicht, dann stimmen auch wir aus patriotischen Herzen ein: Vive la république!«

Er riß das Papier ab. Beim Hinreichen machte er eine Bewegung des Zauderns. Was er da geschrieben hatte, war seine eigene Ansicht, sicher aber nicht die der guten Bürger, die um ihre Behaglichkeit bangten. Aber er schüttelte das ab, mochten sie doch tun damit, was ihnen paßte.

Nach seinem Weggange las der Zahnlose laut und langsam vor. Geräuschvolle Mißbilligung erhob sich. »Passez-moi la liste,« sagte ein dicker Hauseigentümer zitternd. Dann zog er einen breiten, rachsüchtigen Strich durch Baldes Namen. Der übrige Teil der Sitzung war ein Autodafee für ihn ...

Balde ging sorgenvoll weiter. Er dachte an die Bewachung der Maison Centrale, die ganz aufhören würde, wenn der Feind einrückte und jeder französische Soldat verschwinden mußte, kein Bürger mehr Waffen tragen durfte. Eben war er deshalb bei Quine gewesen. Der aber packte seinen Koffer. Er hatte sein Abschiedsgesuch eingereicht. Sein Aristokratentum sträubte sich dagegen, ein Angestellter der Republik zu sein. Blanche war in bester Laune gewesen. Sie zeigte ihm ein Hütchen, für Thurwiller zu auffallend, das sie nun in Paris tragen würde. Sie umarmte ihn. »Lieben Sie mich ein wenig und vergessen Sie nicht Ihre pauvre Blanche!«

Er seufzte. Alle gingen sie fort. Am liebsten hätte er selber alles hingeworfen und wäre auch gegangen. Müde war er und sehr traurig.

Förmlich gebeugt sah er aus, wie er so dahinschritt ...

Mitten in der Nacht gab es Lärm in den Straßen. Die nach dem Rhein Entsandten kamen zurück. Mit ihnen eine Anzahl der Franctireurs. Sie sahen aus wie Operntenöre in ihren blauen Blusen und schwarzen Sammethosen und roten Seitenstreifen. Den weichen Filz mit der malerischen Hahnenfeder trugen sie tief in die Stirn gedrückt oder befestigten ihn wie einen dunklen Heiligenschein am Hinterkopf. Betrunkenes Lachen füllte die Stadt. Man lachte über sich selbst, um den Spott zu entwaffnen. Die Schüsse in Hornburg waren Flintenschüsse gewesen, nicht Kanonen. Sie rührten von französischen Soldaten her, die sich im Scheibenschießen übten. Das Rheinüberschreiten bestand darin, daß die Deutschen ein paar alte Kähne, die auf französischer Seite standen, weggenommen hatten. Als man das sah, schoß man hinüber. Die Preußen schossen zurück. Immer nur von den Ufern aus. Man flößte sich gegenseitig Schrecken ein, aber ein Franctireur hatte irgendwie dabei eine Schramme bekommen.

Der Verwundete, ein hübscher Bursch mit verlebten Zügen, ließ sich feiern. Er trug den Arm in einer Binde und hatte das lustigste der Fabrikmaidele auf dem Schoß. Er spielte den Helden bis zum Morgen, dann zogen die Franctireurs nach Kolmar weiter. Eine große Menschenmenge gab ihnen das Geleit.

Die Leute waren noch nicht weit gekommen, als sie einem Bauern begegneten, der erzählte, ein Trupp badischer Ulanen sei eben an ihnen vorbeigehetzt. Zu Tode erschrocken, kehrten die Thurwiller um.

Kurz vor dem Städtchen blieben sie alle plötzlich stehen. Sie blickten auf den Kirchturm. Da flatterte eine Fahne. Aber seltsam, die Farben standen nicht wie gewöhnlich quer zum Tuch, sondern liefen mit ihm. Und das war ja auch nicht Blau-, das war Schwarz-Weiß-Rot, die deutsche Fahne.

 

Nun war der Krieg also auch nach Thurwiller gekommen. Dicht heran. Aber noch immer nicht schien seine Gestalt so furchtbar, wie die Phantasie der Aufgeregten ihn sich gemalt hatte. Die vier Reiter, die da in aller Schnelligkeit und doch fast Gemütlichkeit Besitz ergriffen hatten von der Stadt, trugen nicht einmal die berüchtigten Pickelhauben. Sie hatten die flotten, graziösen Ulanenhelme auf mit der fast kokett schiefen Stirnspitze, und sie sprachen ein Rheinisch, das ein wenig an Elsässisch erinnerte. Die Kinder liefen lachend und vergnügt zwischen den Pferden mit, und die Frauen sahen durch die Herzlöcher der geschlossenen Läden. Einige öffneten sogar die Fenster und lehnten sich neugierig weit heraus. Man wurde sich vor den vier schlanken hübschen Burschen gar nicht recht klar, daß dies der Feind sei. Stattlich sahen sie aus auf ihren blanken, dunklen Pferden, alle vier mit blondem Haar und verbrannten Gesichtern, aus denen die Augen hell herausblitzten. Im Galopp, ohne sich umzusehen, waren sie bis vor das Stadthaus geritten, geradeswegs, als ob sie im Städtchen zu Hause wären. Dort stiegen sie ab. Zwei ritten weiter, zwei gingen ins Gebäude hinein. Auf der Treppe fanden sie die erschreckte Madame Tränkele, die sie nach dem Maire schickten.

Als Balde erschien, fand er unten vor den Kolonnaden eine Rotte Buben, die die Pferde des Feindes an den Zügeln hielten und streichelten; zugleich aber kam, von der schönen Célestine geschickt, der kleine Charles mit fliegenden Locken herbeigerannt. In dem unsäglich schmutzigen Fäustchen hielt er eine Reitpeitsche, die wohl von Quine stammen mochte, und die er gewaltig schwang. Der Dreikäsehoch ging mutig auf den hochbeinigen Braunen los, der ihn mit großen, glänzenden Augen wohlwollend ansah. »Verdammtes Schwoweroß,« rief er mit seiner grellen, hohen Kinderstimme. Das Pferd zuckte und sah fragend zu ihm herunter. Als der Kleine zu einem zweiten Schlage ausholte, hob Balde ihn hoch, nahm ihm die Peitsche aus der Hand, setzte ihn wieder zu Boden und gab ihm dort eine kleine väterliche Züchtigung. Der Bub schrie wie besessen. Zugleich sah er nach der Posttüre hinüber, in der neben seiner Mutter Monsieur de la Quine sichtbar wurde.

Balde ging zum Rathaus hinauf. Die Treppe wurde ihm heute schwer. Er mußte zweimal stehenbleiben und Atem schöpfen.

Er traf die preußischen Offiziere im großen Saal, sie betrachteten bewundernd die alten Schnitzereien an Tür und Decke. »Gutes sechzehntes Jahrhundert,« sagte der Bärtigste. Dann gaben sie sich einen Ruck, der Balde komisch schien, und standen sehr gerade da. Man begrüßte sich. Die Offiziere nannten ihre Namen: Hauptmann von Cleß und Leutnant Bertow.

»Sie wissen, Ihr Land steht unter unserer Verwaltung,« sagte der Hauptmann. Seine Stimme klang scharf und streng.

»Ich weiß es, mein Herr.« Er sprach aus irgendeinem Trotz heraus Französisch.

»Haben sie Franktireure in der Stadt?«

Balde verneinte. Seine kleine Garde rechnete ja noch nicht. Leider!

Der Hauptmann sah ihm scharf ins Gesicht. »Wie steht es mit den Quartieren? Sie werden Einquartierung bekommen. Sechs Offiziere, hundertdreißig Mann, siebzehn Pferde. Für jedes Pferd täglich sechs Kilogramm Hafer, zwei Kilogramm Heu, anderthalb Stroh. Jeder Soldat siebenhundertfünfzig Gramm Brot, fünfhundert Gramm Fleisch, zweihundertfünfzig Fett, dreißig Kaffee, sechzig Tabak oder fünf Zigarren, ein halb Liter Wein oder ein Liter Bier. Zahlung bar.«

Balde nannte ihm aus dem Kopf und schnell die Leute, die in Betracht kamen, schrieb die Quartierzettel, sich selbst teilte er zwei Offiziere, zehn Mann und Pferde zu, ebenso Schlotterbach und Bourdon.

Die klare und bestimmte Art der Fremden gefiel ihm wider Willen. Sie glich seiner eigenen. Der Hauptmann winkte jetzt den Leutnant herbei. Der zog eine Verordnung aus der Tasche, die in Deutsch und Französisch gedruckt war, und reichte sie dem Maire. »Dies ist auf der Stelle zur Veröffentlichung zu bringen.«

Balde las: »Jeder Bewohner der von den Deutschen okkupierten Städte und Dörfer wird hiermit aufgefordert, die Gewehre, mit Namen und Straßennummern versehen, bis nachmittags fünf Uhr auf dem Rathause abzuliefern. Die Waffen werden nach dem Kriege zurückgegeben. Die Nationalgarde in Uniform und die Pompiers müssen die Erlaubnis zum Tragen der Gewehre beim jetzigen Kommandanten der Stadt Kolmar, General von Schmeling, einholen.«

»Und was wird mit meiner Bürgerwache?« fragte Balde. Er setzte kurz auseinander, wie es damit stand. Die Herren sahen sich an. Der eine zog ein Notizbuch und Bleistift aus der Tasche. Er warf ein paar Worte auf Papier und reichte sie Balde. »Telegraphieren Sie sogleich!«

Balde las: »An den Befehlshaber der Armee des Oberrheins General von Schmeling. Maire von Thurwiller bittet um Übersendung von zehn Mann als Zuchthauswache. Hauptmann von Cleß.«

»Die Leute werden um fünf Uhr hier sein,« setzte er hinzu.

Balde stieg das Blut ins Gesicht. »Deutsche Soldaten? Ich soll sie herrufen?«

Der Offizier machte eine abschließende Bewegung« »Ich kann mich darauf verlassen, daß die Befehle des Kommandanten prompt ausgeführt werden?« fragte er dann. »Wir halten uns an Sie, Herr Bürgermeister. Und Sie sehen mir aus,« – hier machte er verbindlich eine kleine Kopfneigung – »als würden wir dabei gut fahren. Habe ich recht?« Wieder dieser scharfe, durchdringende Blick.

Balde schwieg, dann sagte er mit fester Stimme: »Mein Herr, als Mensch werden Sie in mir immer und überall den unbeugsamen Franzosen finden, als Maire dagegen einen Beamten, der alles tun will, um seine Stadt vor Kämpfen und Unglück zu bewahren.« »Nun, das ist ja die Hauptsache.« Es lag jetzt Ärger in seiner Stimme. Er drehte an seinem langen Schnurrbarte. »Es ist natürlich wichtig,« fuhr er mit lauter Stimme fort, »daß wir uns mit den Führern der Bevölkerung verständigen. Und wenn die deutsche Verwaltung erst einmal durchgeführt ist –«

»Die provisorische, meinen Sie, mein Herr.« Leidenschaftlich hatte er den Arm des Offiziers gepackt. Der schüttelte die Berührung unwillig ab.

»Zuerst natürlich die,« antwortete er dann. »Aber schließlich wollen wir das Elsaß doch auch endgültig vom französischen Joch befreien und es seinem alten Mutterland zurückgeben.«

»Ohne es zu befragen, ob es das will, mein Herr?« Balde zitterte vor Zorn. Jetzt mischte sich auch der Dunkle, Schmale ein, der einen mächtigen Vollbart trug. »Allerdings, mein Herr,« er ließ sein Augenglas fallen, »denn Graf Bismarck wird wohl nicht allein danach fragen, was Ihren Herrn Elsässern angenehm ist. Er wird sich ganz einfach einen Wall verschaffen, auf dem wir uns in Zukunft wehren können.«

»Und dieser Wall sind wir? Menschen, denen man wie einer Herde Vieh von einem Tag zum andern einen neuen Herrn geben will!« Sein Gesicht war ganz verändert, weil es, vielleicht zum erstenmal in Baldes Leben, alle Farbe verlor. Es war etwas Schreckliches darin. Selbst seine Hände, schienen in ihrem Ausdruck etwas Tragisches zu bekommen als er jetzt in seiner Tasche herumfingerte. Er zog ein Kästchen heraus, das er aufriß. Ein deutscher Orden lag darin, der Kronenorden, den er vor ein paar Jahren bei einer Landwirtschaftlichen Ausstellung von Preußen erhalten hatte. In sinnloser Heftigkeit schleuderte er den Orden auf den großen Eichentisch. »Nehmen Sie ihn zurück, meine Herren Preußen, ich will nicht die Dekoration einer Nation bewahren, die mein Land vergewaltigt.«

Auch der Offizier war erblaßt. »Wissen Sie, daß wir Sie sofort verhaften lassen können?« sagte er leise vor Zorn. Der Hauptmann war ans Fenster getreten. »Lassen wir die Sache ruhen! Wir wollen es Ihnen und uns ersparen, daß unnötiger Lärm entsteht. Aber nehmen Sie sich für künftig besser zusammen, Herr Maire! Wir werden Sie nicht aus den Augen verlieren.« Damit gingen die beiden sporenklingend hinaus.

Balde stand noch eine Weile unbeweglich. Er schämte sich, daß er sich hatte fortreißen lassen. Er starrte auf den Platz hinaus. Da sah er etwas, was ihn erstarren machte: Was da oben auf dem Kirchturm zuckte und winkte, was jetzt flatterte und drei breite Längsseiten zeigte, Schwarz-Weiß-Rot, das war die deutsche Fahne.

Martin Balde hielt sich unwillkürlich beide Hände vors Gesicht. Er bekam einen bitteren Geschmack im Munde, sein Herz tat ein paar sonderbare Schläge, als möchte es nicht mehr weiter. Auf einmal brach er da in dem großen, öden Saale in Schluchzen aus. Tränen, die sich schon seit Wochen bei ihm angesammelt haben mußten, strömten ihm aus den Augen.

Endlich faßte er sich zusammen. Mit noch zuckenden Lippen ging er zur Post hinüber, die Depesche an den deutschen General aufzusetzen.

In der Post traf er Célestine allein. Auf der Schranke lagen die neuen deutschen Briefmarken und die deutschen Stempel. »Sie haben mich nicht einmal angesehen, diese Barbaren!«

Sie hatte offenbar für die Prussiens in aller Eile noch einmal Rot aufgelegt, und das schwarze Spitzengekräusel ihres Mieders war voll Puder.

Balde schrieb ihr die Depesche auf, die sie befördern sollte, dabei entdeckte er des kleinen Charles verheultes Gesichtchen hinter dem Bett. Er zog ihn hervor und machte ihn lachen mit einem verspäteten Marienkäferchen, das ihm übers Papier gelaufen war.

Er hörte die Uhr schlagen. »So früh noch?« Seine eigene war dreiviertel Stunden später. Célestine nickte schmollend. »Sie han m'r d'Zitt verkehrt, ces monstres.« Balde preßte die Lippen zusammen. Er begriff. Man hatte ihnen die deutsche Zeit aufgedrängt. Es gab ihm einen unbeschreiblichen Schmerz. Er achtete nicht auf Célestine, die krampfhaft mit ihm plauderte, » Ah, ces cochons. ›Wir stehen früher auf als eure Franzosen,‹ han sie gsait, wo sie d' Uhr verstellt han. Ich han lache müsse. Enfin, c'est une affaire politique, cela ne me touche pas, tralala.«

Als Balde gegangen war, nahm Mademoiselle Célestine das Telegramm in die Hand. Ihre Augen funkelten. Ah, dies würde sie nicht für sich behalten, Quine mußte das wissen und Schlotterbach und Bourdon. Ganz Thurwiller, aber erst wenn das Telegramm unterwegs war. Ihr freilich hatten die Prussiens ganz gut gefallen, und ein paar Männer brauchte man ja wirklich in der langweiligen Stadt, aber –,« sie zog den kleinen Charles zu sich heran, »er hat dich geschlagen, cet animal, je me vengerai

Es war plötzlich Mittagszeit. Die Frauen hatten die Kohlsuppe noch nicht fertig und brieten die Omelette. Da schon schlug es Mittags-Zwölf. Das trieb die Frauen hinaus. Man mußte »regardez voir«. Und dann sah man! Man war starr. Die Essensstunde verändern! Welche Unverschämtheit!

Madame Bourdon stand in großer Armelschürze da und schwang den Schaumlöffel gegen die unsichtbaren Übeltäter. »Brigands, animaux, assassins!« Die Pfarrerskusine, Madame Tränkele, alle Hausfrauen und Mägde am Gerichtsplatz stimmten ein Geschrei an. »Net g'falle losse, ah! mir solle dîner à la Prusse? Mir revoltiere, nous autres femmes

Zum erstenmal hatten sie verstanden, was es heißt: »Krieg«. Mit ihren breiten Röcken hin und her schwankend, sahen sie aus wie eine Ansammlung wandelnder Glocken.

Sie lärmten noch dort, als nacheinander Quine, Bourdon und Théophile Schlotterbach sich nach der Post begaben. Die Botschaft Madame Célestines hatte gewirkt.

Nachmittags lud dann die Quine zum Vesper viele Damen ein. Man wollte die Ereignisse besprechen. Die Baldes lud sie nicht. Sie schickte um Gebäck zum Bäcker-Nazi. Xavier blieb lange aus. Ein dichtes Publikum umstand ihn und flüsterte untereinander: über den Herrn Maire, der den Feind in die Stadt ruft. »Sunscht a rachter Mann!« Aber daß er den Feind in die Stadt ruft! Fäuste ballten sich. Man fluchte. Alles das berichtete er seiner Madame. Bald wußte es die ganze Stadt.

 

Françoise hatte die letzten Ereignisse in Thurwiller nicht miterlebt. Sie war kurz nach der Republik-Erklärung nach Sulz gefahren, um dort Frau von Meckelen bei der Einrichtung eines Lazaretts auf dem Schlosse zu helfen. Jede der beiden Frauen suchte Beruhigung für fürchterlichen Zwiespalt in dieser Kriegszeit, die Franzosen sowohl wie Deutschen zugute kommen sollte. Man hatte bereits einen Arzt verpflichtet. Krankenpflegerinnen waren berufen, man hatte sich bei den überfüllten Lazaretten des Unterelsaß gemeldet wegen Überweisung von Verwundeten. Arvède war bereits mit zwei großen Wagen unterwegs, die die Pfleglinge hierher überführen sollten. Sein letzter Brief war fast übermütig gewesen. Er hatte ein junges Mädchen kennengelernt, Französin, eine entfernte Kusine von ihm, die Krankenpflege lernte. Yvonne war ihr Vorname. Sie trage ein schwarzseidenes Kindermützchen, habe große dunkle Augen und goldbraune Löckchen.

Die Mutter lächelte zufrieden, wenn sie diese Briefe las. Sonst aber war sie unnahbar ernst. Selbst mit der kleinen Madeleine, die Balde vor ein paar Wochen ins Leben geschafft hatte, spielte sie nur selten. Sie lebte in den Fernen. Ihr Mann war in Metz von den Preußen eingeschlossen, seit Wochen hatte sie keine Nachricht mehr von ihm; ihr Sohn Germain kämpfte als hessischer Jäger mit. Sie wußte nicht, wo. Ihr Vater war im preußischen Generalstab, sie selbst im eroberten Land, das ihr zur Heimat geworden.

Françoise und sie verstanden sich schweigend. Sie arbeiteten, um nicht denken zu müssen. Und Françoise, die manchmal früher über die unanmutige Frau gelächelt hatte, die steif und schwerfällig schien, sah jetzt mit Bewunderung auf sie, wie sie gleichmäßig fest durch die drei großen Säle ging, deren seidene Tapeten sie mit Leinewand überspannen ließ. Françoise sah sie widergespiegelt in einem der großen goldgerahmten Kaminspiegel, die wie Seen zwischen den grauen Leinwandbahnen hervorguckten. Achtlos, ohne sich zu betrachten, stand sie da, mit den aus der Stirn gerissenen Haaren und der breiten Flechte, in der Mitte zum Diadem verdickt, deren Unzugehörigkeit zu dem seinen, schmalen Köpfchen sie durchaus nicht zu verbergen suchte. Sie trug sie, wie sie ihre haselnußgroßen, schwarzen Elfenbeinperlen trug, wie sie klaglos alle anderen Unbequemlichkeiten und Leiden auf sich nahm, die die Mode von ihr verlangte. Diese Frau hat sicher niemals danach gefragt, ob ihr dieses oder jenes steht, dachte Françoise. Und sie fühlte auf einmal ganz stark das Vornehme dieser anscheinenden Geschmacklosigkeiten.

Während sie sachgemäß die Instrumente, die der Arzt geschickt hatte, putzte und in die Schränke ordnete, während sie Binden riß und wickelte, genoß sie es an sich selber, daß sie heute alles besser verstand und mitfühlte, was ihr früher als deutscher Hochmut, deutsche Kaltherzigkeit erschienen war.

Das war Heinrichs Schuld, die Schuld ihrer Liebe für ihn.

Ruhig, aber rastlos ging die Arbeit fort. Abends standen sechs Reihen Betten weiß und kühl in den lichten Räumen.

Nach dem Nachtessen wanderte Françoise in dem großen, wundervollen Park umher, der das Schloß und allerlei kleine Einzelgebäude, Kioske, Wirtschaftshäuser, Ställe, Remisen dicht und dunkel umarmte und sich dann noch wie ein Wald weiter ins Tal hineinstellte.

Françoise war wohlig müde und mit sich zufrieden. Sie ging umher mit stillen, zärtlichen Schritten und ließ sich willig durchströmen von der Schönheit ringsum. Die Taxusallee duftete. Das »refugé«, ein alter moosbewachsener Turm, stand ernsthaft und beglänzt in der lauen Nacht, herrliche Blumen bildeten auf samtenen Rasenplätzen Herzen oder Sterne, andere auf langen Stielen standen frei und in Rabatten die Büsche entlang. Eine steingefaßte Quelle silberte aus dem Dunkel heraus. Hinter ihr wurde zwischen zwei hohen Bäumen der Mittelgiebel des Schlosses sichtbar mit seiner Fahne vom Roten Kreuz. Hier hält der Haß still, dachte Françoise, hier ist die Brücke gebaut zwischen den feindlichen Ländern, von der ich zu Arvède sprach.

Jetzt hörte sie Schritte auf dem Kies. Frau von Meckelen trat aus dem Hause. Sie setzte sich auf einer Bank da nieder, die zwischen hohen Hortensienkübeln stand. Sie sah Françoise nicht. Ihre Haltung nahm etwas Einsames, Versunkenes an. Sie schien die Hände zusammengelegt zu haben. Betete sie für den Sieg? Für wessen Sieg? Ein Kinderstimmchen klang klagend herüber, Madeleine war aufgewacht. Frau von Meckelen wandte nicht einmal den Kopf danach. Draußen hörte man einen Bretterwagen über das Pflaster rumpeln. Sollten schon Kranke anlangen? Die Hausschelle tönte. Frau von Meckelen stand auf. Gerade und mit ihrem gewohnten starken Schritt ging sie ins Haus zurück. Françoise folgte.

Ein Mann war da, der einen dicken Brief brachte. Die Preußen, für die er in seinem Wagen Kartoffeln fahren mußte, hatten ihm das Schreiben mitgegeben. Er erzählte laut und aufgeregt, wie er unterwegs hätte Wache stehen müssen gegen die eigenen Landsleute, die heranschlichen und den Wagen bestahlen.

Frau von Meckelen war auf ihr Zimmer gegangen. Sie kam nicht wieder. Françoise ging hinauf. Die Türe war geschlossen. Allmählich versammelten sich im Vorflürchen die Dienstboten. Man hatte Seufzer gehört, Töne, von denen man nicht wußte, ob wirklich die gelassene strenge Frau da oben sie ausstoßen konnte. Françoise ging noch einmal hinauf. Die Stubentüre öffnete sich. Da stand die Meckelen, groß, weiß, wie taumelnd. Sie bewegte beide Hände in der Luft. »Germain ist gefallen.« Françoise stand das Herz still vor Mitleid. Sie streichelte die Hände, die kalt waren und glatt wie Elfenbein. Frau von Meckelen wandte sich ihr zu. Aber noch im Ansehen verloschen ihre Augen. Sie machte mit der Hand eine hoffnungslose Bewegung, dann richtete sie sich auf und ging durch die schweigsame Dienerschaft hindurch in Germains Zimmer. Da hörte man sie auf und ab schreiten die ganze Nacht.

Françoise stand an ihrer Tür und horchte, klopfte manchmal leise an und wartete wieder, aber sie wurde nicht gerufen.

Am Morgen öffnete und erschien die Meckelen. Sie stand wie angesaugt am Getäfel der hohen braunen Tür. Auf dem Tisch lag Kinderspielzeug, eine Pferdeleine, ein Bilderbuch, daneben ein Kasten voll Briefe. Als Françoise zu ihr trat, reichte sie ihr die beiden Briefe, die sie gestern abend erhalten hatte.

»Lesen Sie!«

Es war ein Brief aus Nassau von der Frau von Stein, Frau von Meckelens Mutter. An sie hatte man die Todesnachricht geschickt. Erst nur die Depesche des Hauptmanns, dann nähere Berichte. Die hessischen Jäger hatten in einem Dorfe bei Gravelotte abgekocht, da kam der Befehl zum Vormarsch. Die Franzosen hatten im Halbkreis auf den Höhen Aufstellung genommen. Nach überhetztem Aufmarsch glaubte Germains Regiment einen Augenblick auf der unvollendeten Bahnlinie Metz-Verdun im Schütze des Dammes rasten zu können. Da kam Flankenfeuer. Germain hielt noch sein Butterbrot in der Hand, als man ihn fand. Ein deutscher Arzt schleppte ihn auf seinen Armen mit eigener Lebensgefahr aus dem Feuer.

Françoise schloß die Augen. Ihr war, als habe man ihr das von Heinrich erzählt. Dann ging sie zu der Unglücklichen hinüber, die noch immer das alte braune Holz da an der Tür mit ihren Tränen wusch, brachte sie, die jetzt willenlos war und schwach, zu Bett und pflegte sie. Am Nachmittag kam Frau von Meckelen wieder herunter. Sehr gerade, fahl und wie mager geworden. »Nichts reden,« sagte sie zu Françoise. Sie ging an ihre Arbeit wie vorher. Nicht einmal ein schwarzes Kleid hatte sie angelegt.

Die Leute in Sulz zeterten über sie: »Voilà une Allemande, elle n'a pas de coeur.« Hätte sie geschrien und gejammert, man hätte ihr verziehen, daß es ein Feind war, um den sie weinte.

 

Die Maison Centrale war also nun wirklich unter der angekündigten feindlichen Bewachung. Wie vorausgesagt, waren mit dem Schlage Fünf zwölf Ostpreußen in Pickelhauben eingerückt, groß, blond und schweigsam in ihren blauen Uniformen. Sie hatten nicht rechts und links gesehen, ihre Tornister und Mäntel in der Kaserne abgelegt und sogleich angefangen, dort mit Besen und Seife zu wirtschaften, während ihre Kameraden bereits auf der Zuchthausmauer die Gewehre schulterten, als wären sie ihr Lebtag nie an anderem Ort gewesen.

»Sie tun, als ob sie hier zu Hause wären,« sagte das Salmele. Aber sie kochte doch einen mächtigen Topf Kaffee für die Feinde, weil die Kantine ja inzwischen eingegangen war und die Sammlung, die der Maire zur Ernährung für die Prussiens veranstaltet hatte, keinen Erfolg aufwies. Nun hatte er eine Eingabe an den General von Schmeling gemacht, die die Sachlage darstellte. Inzwischen übernahm er selber die Beköstigung. Frau Balde hatte damit unerwartet ein neues starkes Interesse bekommen. Sie war von früh bis abends spät in der Küche beschäftigt und hatte sichtlich Freude daran. Toinette Groff, die immer noch in Männerkleidung umherging und auch ihren Stutzen noch nicht abgeliefert hatte, fand sich gleichfalls zur Atzung ein. Das Salmele schalt, sie äße so gewaltig jetzt, weil sie in Hoffnung sei vom Dreier-Tjark. Sie leugnete es nicht. Hohläugig und wild ballte sie oft die Faust gegen die Richtung hin, wo sie sich ihn dachte. Er solle es nie erfahren, sagte sie, daß er ein Kind hatte hier im Elsaß. »I gunn's ihm net, dem – dem – dem Prussien!« Um die Kaserne herum machte sie einen großen Bogen. Sie spuckte aus, wenn sie einem der Wachtsoldaten begegnete. Auch die anderen Fabrikmaidele taten leidlich stolz dem Feinde gegenüber. Sie hielten sich die Ohren zu vor den schrecklichen Querpfeifen. Man schauderte davor. Die lustigen clairons der lieben »piou-pious«, die lauteten doch anders! Man lachte auch über ihr »ewiges Vaterland«. Man stellte sich auf wie zu einer Komödie, wenn sie bei der Ablösung mit starren Augen und verrenkten Gliedern wie Hampelpuppen genau im Takts in die Stützen traten, in die die abgelösten dann ebenso hart und komisch stoßweise einrückten. Aber man wagte doch nicht allzu laut zu werden gegen sie. Es lag etwas Erschreckendes in der ruhigen Art, mit der diese großen Männer den Lachenden ins Gesicht blickten, und schlecht sahen sie nicht aus, tout autrement, eigentlich ein paar prächtige Mannsbilder, diese verdammten Prussiens.

Die Arbeiter aber, wenn sie aus dem Wirtshaus kamen, rannten in die Klostergasse und lärmten vor Baldes Haus. Mehr um sich zu amüsieren als aus wirklich böser Absicht. Aber irgendwie wuchs die Unruhe doch täglich stärker an und gebärdete sich stiller und verbissener. Gerade als würde sie, sobald sie erlöschen wollte, von außen immer wieder aufs neue und immer stärker angefacht. »Sales Prussien« und »traître«.

Die Baldes hörten nicht groß darauf. Das abendliche Schreien da draußen war ihnen schon zur Gewohnheit geworden. Im übrigen hielten sie sich ziemlich abgesondert, seitdem Françoise verreist war, die in letzter Zeit fast das einzige Bindeglied gewesen war zwischen ihnen und der Stadt. Jetzt lebten sie wie auf einer Insel.

Im, Bibliothekzimmer unten aßen die preußischen Offiziere. Es war bequemer so, als ihnen das Essen hinüberzuschaffen. Man hatte sich nicht über sie zu beklagen, sie sprachen kein Wort mehr als nötig zu dem bedienenden Salmele und trieben das Essen eilig und ernsthaft wie eine Pflicht. Draußen in der Küche hielt das Salmele sich dann schadlos an dem Burschen der bei ihnen einquartierten beiden Leutnants, einem geschwätzigen Sachsen, der ihr tausend Spaß vormachte, ihr deutschen Unterricht gab und selber von ihr »Franzeesch« zu lernen versuchte. »Gaveegebbchen«, sagte er ihr vor und wies auf die elsässische große Schüsseltasse, die sie ihm mit Kaffee gefüllt hatte. Sie dagegen lehrte ihn ein höfliches »Bermeddire Ihr« und »Adje binander«, von dem sie glaubte, es sei Französisch.

Am fünften September etwa erhielt Hortense, da sie mit Balde in seinem Zimmer Zeitung las, einen Brief von Armand. Er trug den Stempel der deutschen Feldpost. Hortense hielt ihn lange in der Hand, ohne ihn zu öffnen. Dann las sie:

»Meine teure Hortense! Ich weiß nicht, ob Du von den Ereignissen der letzten Tage schon gehört hast. Jedenfalls will ich, um Dir jede Sorge wegen meines Befindens zu nehmen, Dir sagen, daß ich weder verwundet noch sonst krank bin, und daß wir auf den herrlichen Wällen der Festung Sedan in der Sonne umherspazieren, auf weichem Rasen, mit Bäumen bepflanzt. Man sieht hier über die Gräben in das Land hinein. Freilich sieht man auch die Leichen von Menschen und Pferden die Mauer entlang, Tornister, zerbrochene Säbel. Wir haben sie zerbrochen bei der Gefangennahme, damit der Feind sie uns nicht abnehmen soll.

Gefangennahme! So ist es denn gesagt, teure Freundin. Wir sind das Opfer eines tragischen Verhängnisses geworden. Es war ein verbrecherischer Fehler unserer Heeresleitung, sich auf die Festung Sedan zu verlassen, die ehemals wohl eine ansehnliche Festigkeit darbot, nun aber gegen die weite Tragkraft der Kanonen, die auf den umgebenden Höhen aufgepflanzt sind, machtlos ist. Unser Regiment wäre sonst befähigt gewesen, eine glänzende Rolle in dieser Schlacht zu spielen, denn der Kampfeifer war groß, obgleich die meisten meiner Leute noch niemals im Feuer gewesen sind.

Es war ein heißer Tag für uns, aber die Leute waren bewunderungswürdig. Um fünf Uhr morgens stiegen wir von den Höhen herab, durchquerten das Tal und hörten schon die Kanonen von allen Seiten. Vor uns defilierten die Turkos, ihre weißen Turbane leuchteten. Sie liefen wie zu einem Fest. Wir werfen uns in ein abgeerntetes Feld. Die Sonne brennt auf unsere Köpfe, da liegen wir stundenlang. Man hört die preußischen Kanonen, die französische Artillerie wird schwacher, eine Kugel schneidet meinem Pferde, das hinter einer Deckung steht, das Ohr ab, ich behalte kaltes Blut. Man ruft mir Bewunderung zu. Ein paar Leute werden verwundet. Man kann sie nicht fortschaffen, endlich gebe ich den Befehl, vorzurücken. Man reißt noch schnell ein paar Karotten aus, den Durst zu stillen, der Sergeant hat Sauerampfer gepflückt ›für die Abendsuppe‹. Gleich darauf eine Rückbewegung bei den vorderen Truppen, ohne daß man weiß, warum. Ein Adjutant überbringt uns den Befehl zum Weitergeben des Rückzuges. Er ist schwierig. Man will sich hinter ein Boskett von Weiden verstecken, in einem Moment ist es rasiert. Es bleibt nur der Aufstieg in die Terrassengärten, die den Hügel hinter uns bedecken, eingezäunt durch hohe Hecken. Die Zügel lösen sich augenblicklich. Ohne jede Ordnung läuft jeder, sich zu retten. Unmöglich, die Leute zusammenzuhalten. Man klettert über Mauern, kriecht durch Hecken, die Kugeln verfolgen uns, überall Stöhnen und Schreien, das Fallen der Körper. Mein Pferd ist irgendwo da unten geblieben.

Wir gehen in den Obstgärten daher, pflücken Apfel, unsern Durst zu stillen. Plötzlich steht ein Mensch mit großem, blondem Bart vor uns und ruft: ›Hände in die Luft‹. Wir betrachten ihn verblüfft: ein preußischer Offizier. Hinter ihm einige Soldaten, die umhergingen und Gefangene machten. Man sagte uns, daß der Kampf zu Ende ist. Ein Waffenstillstand ist beschlossen. Bazaines ganze Armee geschlagen. Mac Mahon verwundet. Was tun? Der Friede wird gemacht werden. Erst am andern Tage hörten wir, der Kaiser selbst hat sich ausgeliefert. C'est fini.

Man hat uns freigestellt, ob wir nach Deutschland als Gefangene geführt werden wollen oder unser Ehrenwort geben, nichts Feindliches mehr gegen Deutschland zu unternehmen. Ich dachte an Dich, meine Teure, an unsere kleine Tochter und an den Sohn, dem Du das Leben geben willst, und ich schwankte nicht in meiner Pflicht. Es wäre mir süß gewesen, Frankreich befreien zu können, es hat nicht geschehen sollen. Armes, unglückliches Frankreich! Die Tränen kommen mir in die Augen, wenn ich an Dich denke. Man wird uns vorerst auf die Halbinsel Iges führen und dann wohl von dort aus entlassen.

Wer hätte gedacht, daß dieser Krieg so enden würde? Es sind schändliche Verrate dabei im Spiel gewesen, und wir, wir haben es entgelten müssen. Nun ist man wenigstens davon erlöst, sich nutzlos durch Staub und Hitze zu schleppen und niemals den Feind zu sehen. Als Gefangener nach Deutschland zu gehen, wäre Grausamkeit gegen sich selbst und unpatriotisch gegen das Vaterland. Mich schaudert vor dem Gedanken an die harten Betten dort und an das saure schwarze Brot. Dies aber sind Kleinigkeiten, gegen den Vorteil genommen, den jeder Gefangene dort dem Feinde bietet, da er ihn ja gegen einen seiner in Frankreich gefangenen Landsleute auslösen kann. Urteile selbst, liebe Freundin, ob ich wohl anders handeln konnte, als so, wie ich handle. Ich werde, sobald es mir möglich ist, zu Dir, nach Deinem stillen friedlichen Thurwiller kommen. Dort in der Stille werden wir endlich wieder die erhabenen Freuden friedlicher Häuslichkeit genießen. Küsse für mich die kleine Désirée. Ich umarme Dich mit Leidenschaft. Mut, kleine Frau, auf bald.

Dein Armand.«

Hortense las den Brief langsam und genau, dann reichte sie ihn Balde. Sie sah weiß aus wie ihr Spitzentuch.

»Er muß wieder die Waffen ergreifen für Frankreich.«

»Aber er hat sein Ehrenwort gegeben, Kind.«

»Dann muß er es brechen.«

»Sein Ehrenwort brechen, ein Offizier?« und da sie nur die Achseln zuckte: »Sei froh, Kind, in all dem Elend, daß du ihn lebendig wieder hast!«

Sie schüttelte den Kopf. Feierlich hob sie die Hand. »Wenn er sein Ehrenwort nicht bricht, ist er in meinen Augen ein Ehrloser, zu dem ich nicht mehr zurückkehren werde.«

Sie wartete nicht ab, was ihr Vater etwa ihr noch zu sagen hatte. Auf steifen Füßen schob sie sich zur Türe.

In dem gleichen Augenblick flammte ein großer roter Schein herein. »Jésus Christ, Désirée,« schrie Hortense, »maman.«

Balde hatte denselben Gedanken. »Sie hat in der Küche etwas mit dem Feuer angestellt.« Beide stürzten hinaus. Flammenschein, Brandgeruch, Hitze, von oben her floß ein Feuerstrom über die Treppe. Es prasselte und krachte. Staub dampfte auf und machte fast blind. Aus voller Kehle rufend, tappten Vater und Tochter sich zur Küche. Frau Balde stand da und rührte in einer Kasserolle. »Es brennt,« sagte sie verwundert.

»Wo ist Désirée?« rief Hortense.

»Ich habe sie mit dem Salmele Pilze suchen geschickt.«

Balde griff sie hart an. »Zum Garten hinaus, schnell, schnell.«

Sie wehrte sich. »Ich will nur erst das Frikassee –« Sie hustete vor dem Rauch, der jetzt auch hier hereinströmte. Es war höchste Zeit. Wassergüsse kamen von draußen herein, Soldaten drangen ins Haus. Gesicht und Hände in nasse Tücher gehüllt, rissen sie mit Stangen und Haken an den brennenden Gardinen, Leitern wurden angestellt, Balde sprang zum Küchenfenster hinaus und hob dann mit Hortensens Hilfe die sich immer noch sanft wehrende Mutter aufs Fensterbrett und ins Freie. Dann ließ er die Frauen in den hinteren Garten, der nach den Gemeindefeldern hin völlig geschützt war. Er selbst lief durch das Haus hindurch nach der Klostergasse.

Das Rettungswerk war schon in vollem Gange. Die Wachtsoldaten aus dem Zuchthause und Neugierige, die streng herangeholt wurden, schleppten Wasser. Jetzt kam auch Tränkele mit der Spritze. Die Seitenflügel des Hauses standen noch fest und dunkel nach vorn. Im Mittelbau schien alles weich und glutend, die Dachsparren über dem Speicher bloßgelegt. Beständig flogen brennende Holzstücke durch die Luft, platzten Glasscheiben. Balde ließ sogleich die Straße sperren und dirigierte den dünnen Wasserstrahl der Spritze, den der zitternde Tränkele ungeschickt mitten hinein in die Zuschauer gewandt hatte, schleppte mit den andern Möbel und Hausrat auf die Straße und war überall. Auf einmal sah er etwas, was sein Blut stocken ließ: Oben am Fenster von Blancs Giebelstube stand seine Frau. Sie war unbemerkt zurückgelaufen aus dem Garten und hielt nun ein paar gerahmte Bildchen in der Hand, unschlüssig, ob sie sie herunterwerfen sollte. Balde stieß einen Mann von der Leiter weg, die zu kurz war, rief nach einer zweiten zum Anbinden, rannte zurück ins Haus über die nasse, triefende Diele nach der Treppe, die, halb verkohlt, von triefenden Trümmern versperrt war. Nun wieder zurück nach der Hausfront, wo die Soldaten bereits die Leiter verlängert und angestellt hatten. Er stieg hinauf, er streckte warnend und beschwörend die Arme aus nach der ahnungslosen Gestalt, die ihm entgegenlächelte. Und jetzt stand sie plötzlich ganz groß im Fensterrahmen. Sie mußte drinnen auf einen Stuhl gestiegen sein. Sie neigte sich mit zufriedenem, wie erlöstem Lachen nach vorn. Aus ihren Kleidern fiel ein Garnknäuel, das wie eine glühende kleine Maus das schräge Sims entlang sprang und verkohlte. Balde sieht den Körper seiner Frau an sich vorüberfliegen, ganz umloht, wie von einer Flamme getragen. Er erkennt noch die großen, sanft erstaunten Augen, die ihn ansehen, dann scheint alles weich zu werden und zu glühen, ringsum ein Schrei. Er steigt sinnlos noch einmal höher ins flammenflutende Leere, fällt – und fand sich irgendwie im Grase liegend unter laut weinenden Frauen. – –

Als Françoise zurückkam, lag noch Brandgeruch in der Luft. Sie schrie auf, als sie ihr Haus sah, feuergeschwärzt mit entblößten Sparren, davor die kahlgesengten Platanen. Sie fand Hortense und den Vater mit der Kleinen in der »Krone«. Ein kleines Kindersärglein, das Maître Zwisler, der Tischler, gerade fertig gehabt, und in das man die wenigen aufgefundenen Reste der Mutter gesammelt hatte, stand in der Kapelle der Maison Centrale. In der Kirche war kein Platz für die Protestantin. Das Grab hatte man im Baldeschen Garten gegraben, inmitten des Bosketts, das die versengte Kastanienallee abschloß. Hohe, stille Kerzen brannten in den grauen Tag hinein. Alle Bekannten waren gekommen, der Beerdigung beizuwohnen. Die Quine weinte laut, wie eine Schuldige. Aber dann sah sie neugierig auf die deutschen Wachtsoldaten, die, gleichen Glaubens wie die Tote, den Sarg herbeitrugen, ehrfurchtsvoll und ernst, als bestatteten sie einen ihrer Generale. Sie sangen auch. Ihre heimischen Gesangbuchslieder, laut, mit harten, frommen Stimmen. »Befiehl du deine Wege« und »Wenn ich einmal soll scheiden«. Und dann, als der Sarg versenkt war, las der jüngste der Offiziere, ein großer Blonder mit fast weißen Augenlidern, die seine Augen unheimlich tot erscheinen ließen, wenn er niederblickte, den Text des vorigen Sonntags, wie er das hier im katholischen Lande jeden Sonntag morgen den Kameraden tat. »Lukas achtzehn, Vers achtundzwanzig« las er, »vierzehnter Sonntag nach Trinitatis.« Alle Hände falteten sich.

»Da sprach Petrus: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolget. Er aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, es ist niemand, der sein Haus verlässet oder Eltern oder Brüder oder Weib oder Kinder um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfältig wiederempfahe in dieser Zeit, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.«

Die unbekannten Worte, von den fremden, lauten Stimmen eintönig herausgeschleudert, schienen Orakelsprüche voll geheimnisvoller Kraft. Françoise schluchzte laut auf. »Der ein Haus verlasset!« Sie fühlte sich eins mit dem Schicksal der Toten wie noch nie.

 

Die Hauptstraße hatte wie auf Verabredung die Fensterläden geschlossen, als die deutsche Einquartierung einrückte. Kein Mensch ließ sich sehen. In den Stuben aber stand man auf Fußbänken und Stühlen und lugte durch die Spalten. Trommeln hörte man, die entsetzlichen Querpfeifen und das »Vaterland«, und plötzlich war die ganze Straße voll Stampfen, Brüllen, Klirren. Scharfe deutsche Befehle pfiffen wie Peitschenhiebe durch die Luft, zackige Bewegungen gingen durch die Reihe. Alles rasch und wuchtig. In zwei langen Reihen standen sie jetzt in der Hauptstraße, in Straßenmitte Pferd an Pferd, längs den Häusern die abgesessenen Leute. Die Gewehrläufe bildeten einen breiten, blitzenden Streifen in der Luft, die Hände einen braunroten an den weißen Hosen.

Ein paar Offiziere auf schönen Pferden, den Arm in die Hüfte gestemmt, blickten streng aus hellen, ruhigen Augen. Ein Fahlblonder gähnte unter seiner Hand.

Im »Bourdon d'or« stand Mutter Amélie gefährlich balancierend auf einem Fußschemel, vom Brigittle mit beiden aufgehobenen Armen von hinten unterstützt, und lugte durch die Ladenspalte, wahrend Camille Bourdon sich im Hintergrunde hielt.

Draußen ging jetzt ein dicker, bärtiger Mann mit Brille, dem der Uniformrock über dem Bauch zu eng war, von Soldat zu Soldat. In einem Nu hatte jeder einen kleinen weißen Zettel in der Hand, an dem er studierte. Jetzt marschierten sie los mit hin und her pendelnden Armen, die Beine hochgeworfen, »als wollten sie sich in zwei Stücke reißen,« sagte das Brigittle.

»Psst, psst,« machte der alte Camille ängstlich, »net a so laut.«

Unten ging alles weiter im Takte, ohne Übereilung. Man hörte Lachen und Schimpfen, badische Schimpfworte. Das Salmele hüpfte auf, daß die weiche Masse ihrer Herrin fast zu Boden gefallen wäre. »Des sin jo Badenser, die mache uns nix.«

Von neuem klirrende Hufeisen und schwere Stiefel, ein Rhythmus, der mitriß. Etwas Herrisches, Furchtbares lag darin. Man konnte sich vorstellen, wie man sich zerstampfen ließ von diesem gewaltigen Takt. Aber das Brigittle wiederholte getröstet: »Badenser sin's, die mache uns nix.«

Madame Bourdon fuhr auf. Es hatte einer von draußen an die Läden gepocht, und jetzt trat der Dicke, Bärtige in die Haustüre. Man hörte ihn im Flur. »Einquartierung,« rief er mit lauter Stimme. Er kündete an, daß außer ihm noch ein Leutnant und zwei Mann kommen würden. Dann trat er stampfend und bolzengrade zurück, daß dem Brigittle schon das Lachen wieder in die Kehle stieg.

Der kleine fahlblonde Leutnant erschien.

Bourdon verbeugte sich beflissen vor ihm. »Depêche-toi,« sagte er zum Brigittle, »beeile dich, führe d'r Herr in die chambre von meim deutsche neveu. Depêche-toi, nom d'un nom,« – er war sehr aufgeregt.

Das Brigittle grinste breit, als sie dem Quartiergast voranging. Madame Bourdon sah den Dreien nach. »Hasefuß,« murmelte sie verächtlich gegen ihren Eheherrn. Dann ging sie in die Küche. Und bald briet und backte sie mit dem Brigittle zusammen so voll Lust, als gelte es dem eigenen Sohne.

Auch die übrigen Thurwiller vermochten ihre Feindschaft dieser vertrauten und verwandten Art gegenüber nicht festzuhalten. Gleich am ersten Tage hatte ein Soldat einem kleinen Mädchen seine Hand entgegengestreckt, um ihm ein Täfelchen Schokolade zu geben, das er bei sich trug. Die Mutter hatte es dem Kinde aus der Hand gerissen und das Geschenk in den Schmutz geworfen. Mit funkelnden Augen sah sie auf den Soldaten. Sie kam sich heldenhaft vor. Der aber bückte sich, »schad' um die liebe Gottesgabe«, da mußte die Mutter lachen.

Jeden Tag gewöhnte man sich mehr an die neuen gemütlichen Feinde. Man brachte ihnen Wasser, wenn sie heiß und verstaubt vom Marsche kamen, und man brachte ihnen Schnaps. Das aber verboten die Unteroffiziere. Nun bedauerte man die Leute. Man bedauerte sie auch wegen des barschen Tons, den die Vorgeordneten gegen sie anschlugen. Man begriff nicht, daß sie sich nicht unglücklich fühlten deshalb. Man nahm heimlich ihre Partei. Und gerade das kittete. Man verstand sich fast besser mit diesen Leuten als damals mit den eigenen Soldaten. Diese hier waren sauber und ordentlich, bezahlten, was sie verbrauchten, und liebten dabei außerhalb des Dienstes einen saftigen Scherz. Auch gegen die Offiziere konnte man eigentlich nichts sagen. Sie hielten darauf, daß den Einwohnern ihr Recht wurde, und waren, trotz ihrer kurzen, strengen Art, die sie im Dienste anlegten wie eine Verkleidung, keine Kinderfresser.

So war man im Grunde recht zufrieden in Thurwiller. Aber diese Zufriedenheit verheimlichte man voreinander. Man fürchtete unpatriotisch zu erscheinen. Man fuhr fort, sich als Märtyrer der Zeit zu gehaben, wagte aber dabei nicht, einander ins Gesicht zu sehen. Zuletzt vermied man fast, sich zu treffen. Im übrigen aber hatte man mit der dem Elsässer eigentümlichen Liebe für Behagen und Freude auch aus dieser neuen Phase wieder Honig saugen können.

Die einzigen, die das nicht vermochten, waren die Baldes.

Der Brand des Hauses, das stand jetzt fest, war von unzufriedenen Arbeitslosen angelegt worden. Aber keiner im Hause zweifelte daran, daß diese Leute nur die ausführende Hand darstellten für andere im Hintergrunde. Ganz Thurwiller bemühte sich, dem Maire und seinen Töchtern Mitleid und Freundschaft zu erweisen, man vergaß in blinder Selbstverzeihung rasch alles, was man früher gegen ihn gesagt und gedacht hatte. Aber Frau Balde blieb tot. Und zwischen den beiden Seitenflügeln, die einst so liebreich zu umarmen schienen, war gräßliche Öde. Vater und Töchter wohnten wie auf der Reise im oberen Stockwerk des linken Flügels unter eilig zusammengetragenen, zueinander nicht passenden Möbeln. Nichts um sie herum war gewohnt und vertraulich. Fremd lebten sie mit den fremden deutschen Hausgenossen, die man im unteren Stockwerk eingerichtet hatte, und mit denen sie keine Gemeinschaft pflegten. Nur das Salmele vertrug sich auch mit diesen Neuen wieder vortrefflich.

Manchmal in der Dämmerung hörte Françoise aus dem Wohnzimmer unten Gesang herauftönen. Dann schlich sie sich unter Herzklopfen hinunter, um zu lauschen. Eben erst hatte sie die beiden Offiziere, die jetzt da drinnen zweistimmig Mendelssohn sangen, mit strengen Gesichtern, staubig, todmüde auf ihren Pferden heimkommen sehen, nun zerschmolzen sie in Tönen:

»O säh' ich auf der Heide dort
im Sturme dich, im Sturme dich,
mit meinem Mantel vor dem Sturm
beschützt' ich dich, beschützt' ich dich.

O wär' ein König ich und wär'
die Erde mein, die Erde mein,
du wärst in meiner Krone doch
der schönste Stein, der schönste Stein.«

Françoise fühlte unvermutet, daß ihr Tränen auf die Hände flossen. Der Gesang hatte etwas weggetaut in ihr.

Der eine schien während des Singens im Zimmer herumzugehen. Seine Stiefel knarrten und tappten ungefüge hinein in den Gesang, aber der wurde nur schmelzender und inniger dabei.

»Und wär' ich in der Wüste, die
so braun und dürr, so braun und dürr,
zum Paradiese würde sie,
wärst du bei mir.«

Françoise hielt sich nicht mehr. Mitten auf der Treppe, die sie nach ihrem Zimmer zurücklief, blieb sie stehen, legte den Kopf auf das Geländer und überließ sich einem Sturm von Weinen; einem Sturm, der an ihr riß und löste wie Frühling. Sie trocknete sich die Augen. Die Gewißheit kam ihr zurück, daß das Leben immer noch ein Glück für sie bewahrt halte, und daß sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um es zu halten. »Wärst du bei mir!« Aber der Krieg konnte ja nicht ewig dauern. Mit einem Lächeln auf den Lippen kam sie zu den Ihrigen zurück, die mit ungetrosten Gesichtern beieinandersaßen und Hortenses Abreise berieten. Sie wollte in die Vogesen gehen nach dem kleinen Badeorte Gérardmer.

»Mein Sohn soll in Frankreich geboren werden. Und man muß ja jetzt die Heimat verlassen, wenn man in seinem Vaterlande bleiben will. Vengeur will ich ihn taufen,« sagte sie zu Françoise, »er soll uns rächen an diesen da.«

Sie wies nach dem Garten hinaus, wo die Soldaten mit Tabakspfeifen saßen, flickten und lasen. Schwer in sich versunkene, derbe Menschen mit Riesenfüßen in faltigen Stiefeln und mit struppigen Bärten. »C'est dégoûtant,« murmelte Hortense. Und ihr edles Gesicht verzerrte sich.

Françoise sah sie fest an. »Sie tun ihre Schuldigkeit, man muß sie immerhin achten.«

»Ah?« Es lag eisige Verachtung in diesem einen Wort, das scharf wie ein Messer jede schwesterliche Gemeinschaft zu zerschneiden schien.

Martin Balde richtete seine jetzt immer traurigen Augen auf seine beiden Kinder. Seine noch immer verbundenen Hände griffen erst nach Françoise, dann zu Hortense hinüber. Françoise neigte sich über seinen Sessel und küßte sein graues Haar. Sie preßte die Hand aufs Herz.

Ja, das Leben hielt noch immer das Glück bereit für sie, aber durfte sie es ergreifen? Ein Glück, das aus dem Unglück all der Menschen aufgebaut war, die bislang die Ihrigen gewesen sind?

Von unten scholl das Lachen der Offiziere. Dann ein neues Duett, bewegte sanfte Rhythmen:

»Wohin? Wir ahnen es selber kaum,
es führt uns ein holder, ein süßer Traum.«

Jetzt aber schüttelte sie das Weiche, Schwimmende des deutschen Singens da unten von sich ab wie etwas Gefährliches.

 

Gerade an diesem Tage erhielt Françoise ein »an den Maire von Thurwiller« adressiertes deutsches Feldpostpaket von Heinrich. Ein Brief und sein Tagebuch. Sie wurde fast ohnmächtig vor Freude. Erst jetzt fühlte sie, wie sehr sie sich um ihn gesorgt, sich nach ihm gesehnt hatte.

Der Brief war vom ersten September. Fünf vorhergehende, von denen er sprach, waren nicht in ihre Hände gelangt. Auch diesen glaubte er vergeblich geschrieben. »Man befördert nicht nach Feindesland.« Nach den trockenen ersten Berichtworten kam dann mit völlig veränderter, wie fliegender Schrift:

»Nein, man befördert nicht nach Feindesland, mein Lieb, aber jetzt geht deutsche Feldpost zwischen uns, jetzt sind wir uns nahe. Eben da ich Dir schrieb, wurde ich durch Jubel unterbrochen, donnernde Hurras, dann Musik. Die Luft zitterte. Ich lief hinaus. Der König mußte gekommen sein oder der Kronprinz. Aber nein, so jauchzt man Menschen nicht zu!

Und da hörte ich's ja denn, der Krieg ist aus, Napoleon gefangen, die ganze französische Armee hat kapituliert.

Man umarmt und küßt sich. Unsere Verwundeten weinen vor Glück. Alle Leiden sind vergessen. Jetzt ist der Krieg aus. Und nicht umsonst ist all das junge Blut geflossen. Sieg, Sieg, Heimkehr, Frieden. Ringsum von den Bergen klingen Freudenmärsche. Diese Stunde ist ein Leben wert. Warum kann ich sie nicht mit Dir teilen?

Aber warte nur, bald werden wir alles gemeinsam besitzen und erleben. Elsaß gehört wieder uns. Elsaß kehrt zu seinem Ursprungsland zurück. Unser beider Elsaß jetzt!

Das, was ich in ganz kühnen Stunden hoffte, wenn ich hier im Felde Deiner dachte, hat sich erfüllt: Wir haben jetzt ein gemeinsames Vaterland, wir zwei. Der Krieg ist aus, bald komme ich. Dich mir zu holen, mein blondes deutsches Mädchen. Nachschrift. Morgen bringe ich meine Verwundeten aus Toul nach Nancy.«

Françoise ließ den Brief sinken. Ihre Lippen verzogen sich.

Ihr gegenüber im Spiegel sah sie ihr Bild. Sie hatte sich in Schloß Meckelen für die Krankenpflege ihr Haar abgeschnitten. Kühn und knabenhaft schaute sie sich aus dem Glas entgegen. Und er schrieb an sein »blondes deutsches Mädchen«. War sie das? Und war sie das überhaupt, an die er schrieb? Diese Sanfte, Geduldige, die sich über den Sieg der deutschen Waffen freute, über das Deutschwerden des Elsaß freute?

Sie nahm sein Tagebuch, blätterte erst darin, las sich dann fest und las drin viele Stunden. Und während sie so las, war sie wieder ganz bei ihm, alles Trennende versunken.

Das Buch begann mit den ersten Tagen des Ausmarsches. Der Umschlag trug innen ihren Namen und ihre Adresse, dazu die Bemerkung, daß man es im Falle seines Todes ihr zustellen sollte.

Also nicht seiner Mutter, sondern ihr! So zusammengehörig fühlte er sich mit Françoise. Das Gesicht brannte ihr.

Heinrich schrieb nur Tatsachen. Meist mit Bleistift in Eile und Müdigkeit, knapp aufgezeichnet, später ausführlicher und manchmal schildernd.

Heinrich erzählte die Eisenbahnfahrt durch Süddeutschland. Das neue Gefühl des Zusammenhaltens, das Norddeutsche und Süddeutsche verband. Dann die Grenze. »Ich überschreite sie als Feind, aber ich bin dadurch wieder der näher, die ich liebe.« Und überall ruhiges Selbstbewußtsein ohne Ruhmredigkeit.

»Französische? Sieg bei Saarbrücken. Macht nichts, wir sind unterwegs.«

»Bitsch von uns beschossen, sagt man, Sieg bei Weißenburg. Mutige fürchten, der Sieg könne beendet sein, ehe sie überhaupt ins Feuer kommen.«

Anfangs war er mit dem Regiment marschiert in Eilmärschen. Aber kein Wort über die Strapazen und Entbehrungen. »Keine Zeit, abzukochen,« hieß es nur, oder: »Streng verboten, Kartoffeln auszureißen. Biwak, taureiche Nächte, kein Stroh. Man lebt von der Eisernen Portion.«

Françoise dachte an Armands Briefe. Sie streichelte das Buch und küßte es.

Dann die Lazarettzeit. »Viel Arbeit, Siege Schlag auf Schlag. Alle Hände voll zu tun. Die Soldaten müssen ihre Quartiere hergeben für unsere Verwundeten.« Und immer dazwischen: »Das viele Blut, die vielen Toten!«

Einmal erzählte er von seinem Freunde Krompholtz, dem Korpsstudenten, den man ihm ins Lazarett brachte. »Er hatte seinen Hauptmann herausgehauen. Er sprach nichts mehr. Aber zufrieden sah er aus. So zufrieden. Mich kannte er noch. ›Fleißiges Bienchen,‹ sagte er und lächelte.«

Dann kamen wieder Stellen, die Françoise empörten. Hummel schalt gegen die Franctireurs, »ungesetzliche Banden, die aus dem Hinterhalte schießen und die Leute in den Quartieren morden. Eine feige Verletzung des Völkerrechts.«

Françoise ließ das Buch sinken. Ja, verstand er denn nicht, daß man sich verteidigt? Recht oder Unrecht, wenn es an das Heiligste geht, das man besitzt, setzt man sich zur Wehr.

»Man bringt oft Kinder ein,« las sie dann weiter, »die man nicht erschießt, sondern prügelt und dann laufen läßt. Viele Frauen.«

Roh klang das. Das Wort Barbaren kam ihr in den Sinn. Da kam sie auf den Satz, der sie nachdenklich machte: »Ich lerne die französische Nation, die ich so bewunderte, in trauriger Erniedrigung und in all ihren rohesten Instinkten kennen.«

»Den ganzen Tag beschäftigt auf dem Schlachtfelde,« las sie dann weiter. »Eine Chassepotkugel prallte ab an der Kapsel, in der ich meine Ähre und die Totenmarke trage.«

Die Ähre! Sie schloß die Augen. Wenn das neue Brot gebacken würde, hatten sie es zusammen essen wollen. Aber nun würde es deutsches Schwarzbrot sein, das man hier backte, auf einem Boden geerntet, der von Blut dampfte.

Heinrich schilderte den Tag von Gravelotte.

»Gegen drei Uhr im Dunkel der Nacht durch Alarm geweckt. Langgezogene aufregende Töne. Eine glühende Kugel über dem Gesichtskreis: die Sonne. An einem Platz vorbei, an dem Gottesdienst gehalten wurde, bedeckt mit weggeworfenen Spielkarten. Französische Lager, in Eile verlassen. Neben Eßsachen und Tornistern falsche Locken und Damenkleider. Bleihagel der Chassepots, das Knarren der Mitrailleusen. Und schon Wagen voll Verwundeter. Wir folgen der Schlacht mit unseren Wagen, Felder mit Menschenleibern besät. Telegraphendrähte, von Granaten zerrissen, fallen über die Straßen und hindern den Durchweg. Wir arbeiten. Ich lasse meinen Medizinkarren herankommen und richte einen Verbandplatz ein. Krankenträger, Lazarettgehilfen. Von allen Seiten ruft es aus der Erde: ›Ein Arzt! Au secours!‹ Ich schnitt die Kugeln aus, hörte Granaten pfeifen und wühlen. Zwei Gehilfen werden neben mir zerrissen.«

Françoise stöhnte. Schossen sie also wirklich auf das Rote Kreuz, diese französischen Barbaren?

»Unser Bataillon, vorgerückt, liegt wie festgenagelt am Horizont, ein schmaler dunkler Streifen. Ab und zu von dort das laute Hurra unserer Leute. Die verwundeten Franzosen hier halten sich die Ohren zu. Ich arbeite weiter. Das Gesicht blutbefleckt, die Arme in Blut getaucht. Als der Hornist drüben noch einmal ›Das Ganze avancieren‹ bläst, kommt etwas Unvergeßliches. Unter den Leichenhügeln erheben sich die noch Lebenden und strecken die Arme aus. Die Leichtverwundeten versuchen aufzustehen, um mitzukämpfen.«

Françoise schloß die Augen. Tränen strömten ihr ins Gesicht. Aber sie ließ das Buch nicht von sich.

»Der Tag geht weiter. Hin und wieder blicke ich von einem Verwundeten auf und sehe meinen Bataillonsführer. Als es zu dunkel ist, um weiterzuarbeiten – etwa zu der Zeit, da die Schlacht entschieden war –, nahm ich meinen Rückzug von dem Schlachtfeld nach dem Hauptverbandplatz zu. Meine Krankenträger waren bereits dorthin aufgebrochen. So trug ich denn selber unterwegs einen oder den anderen der Verwundeten eine Strecke, bettete ihn an Plätze, wo der Samariterwagen ihn finden konnte, holte wohl auch einem Toten die Flasche weg für den Lebenden und verlor so in der Dunkelheit völlig die Richtung meines Bataillons. Einen blonden schönen Jungen, einen hessischen Jäger, den ich in einem hin und her eroberten Schuppen vorfand, trug ich lange auf dem Rücken. Er schrie wie ein Kind nach seiner Mutter, und zwar auf französisch: ›Maman, maman.‹ Während seine Arme um meinen Hals lagen, erkalteten sie. Er hielt sein Butterbrot noch in der Hand. Die Kugel hatte ihn mitten im Vespern gestört. Einer von seinem Regiment, den ich aufsuchen ließ, wußte, der Gefallene sei ein Enkel des Generals von Stein im deutschen Generalstab. Sein Hauptmann hat dorthin Nachricht gesandt.«

Da aber konnte Françoise sich nicht halten. Schluchzend vor Freude lief sie hinüber zu Vater und Schwester. »Er ist es gewesen, er hat Germain von Meckelen aus der Schlacht getragen.«

Aber die beiden sahen sie an wie eine Unbegreifliche.

 

Der Krieg war nicht aus. In Frankreich nicht und nicht Elsaß. Hier ging er erst recht an. Selbst im Oberelsaß, das von den wirklichen Schlachten verschont geblieben war. Und war man bisher nur Zuschauer gewesen und kaum beteiligt, so fand man sich jetzt mit den Unterelsässern zusammen in dem Bewußtsein, die Hauptrolle zu spielen in diesem Kriege. Würde wirklich Frankreich sich dadurch retten, daß es Elsaß im Stich ließe? Es gab Leute, die mit geballter Faust umhergingen und auf Frankreich fluchten. Die meisten aber fanden jetzt eine große heroische Geste des Patriotismus, die ihnen sonderbar zu Gesicht stand. In den Rebgegenden befeuerte der süffige Heurige die Gemüter noch mehr, es kam zu bösen Szenen zwischen den Dörflern und durchziehenden Soldaten, die von der deutschen Regierung hart bestraft wurden. Die Bevölkerung, im Grunde friedliebend und lachlustig, fand schließlich den Ausweg des spottenden Widerstandes gegen die neue Gewalt. Die Frauen trugen blaue und rote Blumen auf ihren weißen Hüten, so die französischen Landesfarben nachahmend, die Männer Schlipse von denselben Farben unter ihren zugeknöpften Röcken, die sie dann hinterm Rücken der Offiziere oder der neuen deutschen Beamten plötzlich aufklappten; bei den Ihren erweckten sie brüllendes Gelächter damit. Man wurde solcher kindlicher Späße nicht müde. Die Strafrequisitionen, mit denen die deutsche Regierung die Unbotmäßigkeiten der Bevölkerung regelmäßig zu erwidern pflegte, machten sie nur noch pikanter und wilder.

Daneben aber schimpfte man ausgiebig über die französische Armeeleitung. Herrenlose Hunde, die sich da und dort herumtrieben und von den Bauern mit Steinwürfen verjagt wurden, taufte man Bazaine, selbst Napoléon.

In den streng katholischen Landtälern aber fand man andere Schuldige. Dort war man überzeugt, daß die Roten Frankreich an den Feind verkauft und Napoleon verraten hätten. Man verfluchte die Republik und forderte stürmisch die Wiedereinsetzung Napoleons. Alle, die als Republikaner verdächtig waren oder sich dem Deutschen Zollverein anschlossen oder als laue Katholiken galten, wurden bedroht. In Gebwiller und St. Amarin kam es zu geregelten Überfällen gegen ein paar mißliebige Industrielle.

In Thurwiller hatten alle diese Strömungen gleichfalls Vertreter. Einzig Balde hatte es fertiggebracht, sich alle Parteien gleichmäßig zum Feinde zu machen. Er schimpfte nicht gegen Napoleon. Er war kein eifriger Katholik. Er verteidigte die Roten, wo er sie als achtbar und tüchtig betraf, und man kannte die Sätze, die er im Garten der »Zwei Schlüssel« geschrieben hatte, und die allen Parteien eine Absage bedeuteten.

Gerade diese Parteilosigkeit aber war es vielleicht, die ihn nach wie vor zum Treffpunkt machte für alle, die sich auszusprechen wünschten gegeneinander.

So brachte ihm das Salmele eines Tages eine goldgeränderte Visitenkarte herein: »Léon Cerf, Bâle.« Der ehemalige »Napoléon« hatte sich republikanisch abgekürzt. Er trug einen demokratischen Havelock und rustikale völkische Stiefel.

Françoise fragte, wie es Victor Hugo in Basel ginge, von dem man seit lange keine Nachricht hatte. Sie erfuhr zu ihrem Schrecken, daß der junge Mensch von den Gastfreunden weg und aus der Stadt verschwunden sei.

Ob denn Frau Schlotterbach schon davon wisse? fragte Hortense.

Cerf zuckte die Achseln. Er habe ihr die böse Nachricht anfangs gar nicht überbringen wollen – er war Hausgast bei Schlotterbachs –, einmal aber sei ihm versehentlich eine Andeutung entwischt. Die arme kleine Madame sei sehr unglücklich. Man habe große Mühe sie zu trösten. »Pas gai, pas gai,« wiederholte er ein paarmal.

Balde nahm Bleistift und Papier. Er ließ sich die Adresse der Gastfreunde in Basel geben, forderte eine genauere Angabe der Plätze, wo man den Knaben zuletzt gesehen habe, und nickte Françoise ermutigend zu dabei.

Léon Cerf hatte inzwischen wohlrednerisch und selbstgefällig weitergesprochen, und jetzt horchten die Baldes auf. Seit langem war man hier ohne Verbindung mit Paris, kannte die neuesten Vorgange dort nur aus Gerüchten. Nun dröhnten die Namen der Garibaldi, Gambetta in ihr Ohr. Tolle Hoffnungen knüpften sich daran, vor allem für das Elsaß. Frankreich würde Elsaß niemals im Stiche lassen, o nein, es würde kämpfen. Und den Deutschen ginge es sowieso bereits sehr schlecht. Der Kronprinz war gefallen, der Herzog von Nassau gefangen, zwölftausend Bayern waren nach Paris gelaufen, die Hände in der Luft, sich zu ergeben. Er zog gedruckte Blätter aus der Tasche, die das bestätigten. Balde lächelte schmerzlich vor sich hin, Françoise schwieg, nur Hortense glühte. – –

Zwischenein hatten sich die Thurwiller merkwürdig gut mit den immer neuen Einquartierungen vertragen. Die Badener waren abgezogen, aber ihnen waren auf dem Fuße neue Prussiens gefolgt. Und als die gingen, kamen wieder neue, alle einander ähnlich in Aussehen und Tun, eine laut aufrauschende Woge, die regelmäßig zurückebbt und wiederkehrt und immer ein wenig Spur zurückläßt, in die die neue wieder einströmt. Man gewöhnte sich an sie, man vermißte sie fast in den wenigen Tagen, da sie fehlten. Einmal waren es Dragoner, dann Infanterie, Pommern, Sachsen, zuletzt Westfalen. Alle aber hielten musterhafte Ordnung. Und jedesmal stand jetzt die Straße voll Menschen, wenn sie kamen. Man beguckte sich die Neuen, wie man sich Feuerschlinger und Tanzbär beguckt hatte, wenn sie einmal ins Städtle geraten waren. Diesmal gab es viele Transportwagen, viele ledige Pferde dabei, dazwischen Trainsoldaten, die wegen ihrer hellblauen Uniformen den Elsässern etwas Vornehmeres schienen als die andern. Einer von ihnen, auf starkem, dunklem Pferde, zwei andere Pferde am Zügel führend, sah auf eine sonderbare Art in die Menge hinein. Tjark Smeding. In seiner niedern Mütze, mit seinem wilden, breiten Kinnbart hatte man ihn zuerst nicht erkannt. Zudem hatte er eine fremde, steife Art in seiner Haltung. Alle sahen auf Toinette, die, blaß, die Augen groß und brennend, die Faust nach ihm hinballte. Dann nahm sie ihre Röcke zusammen und lief wie eine Besessene nach Haus.

»Die het ebbes Unguts vor,« sagten die Weiber.

Wagner hatte nicht auf sie achtgegeben, er hatte auf seine Tiere gesehen, die auf dem Pflaster stolperten, die Kinder aber, die sich auf der Straße umherwälzten, drängten sich an ihn heran, und der Jüngste der Madame Groff, ein Kerlchen, das wie ein Chinese aussah, wollte von ihm aufs Pferd gehoben werden. Er winkte gravitätisch ab. Wie die Verkörperung dienstlicher Pflichterfüllung saß er auf seinem Gaul, »Saint Laurent üs Holz.« Das Rosele aus dem »Lustigen Bruder« warf ihm Kußhände zu, um ihn zu ärgern. Bäcker-Nazi nickte. »A véritabler Prussien.«

Nachmittags hatte Balde seinen ersten Ausgang. Die Binden waren abgenommen, er hielt einen Stock und stützte sich auf seine Tochter Françoise. Als er in die Hauptstraße trat, blieb er einen Augenblick stehen. Zwei Dragoneroffiziere, seit heute bei ihm im Quartier, sprengten grüßend vorbei. Sie hielten vor einem Stallsoldaten, der eine Meldung machte. Als die Offiziere vorüber waren, erkannte Balde in dem Soldaten den Dreier-Tjark. Den Finger an der Mütze, wollte der Bursche sich dem Maire nähern, ihn zu begrüßen, aber Balde machte ein ernstes, abweisendes Gesicht. Unwillkürlich wandte er sich dann noch einmal. Der Mensch hatte eine komische Bewegung gemacht; jetzt drehte er sich wie zu einem lustigen Sprung in der Luft um und fiel zusammen. Françoise lief hin. Er lag da, zuckte noch einmal auf und wurde dann sehr klein. Er war tot.

Und plötzlich war die enge Gasse ganz voll Menschen. Auf Baldes Schulter legte sich eine Hand. Ein Pferd drängte ihn an die Wand. »Wir müssen Sie verhaften, Herr Maire,« sagte einer der beiden Offiziere, die soeben vorbeigesprengt waren. »Man hat aus einem Hause Ihrer Stadt auf einen Soldaten geschossen.«

Françoise schrie auf. »Was soll mit Papa geschehen?«

»Man wird ihn wahrscheinlich nach Rastatt bringen.«

Es war der Offizier, dem sie eben noch eigenhändig das Zimmer geordnet, und der ihr dafür die Hand geküßt hatte. Jetzt sah er über sie hinweg wie über einen Stein, an dem sein Pferd vorbeizuschreiten hätte. Ein Blick in sein Gesicht, und alles, was sie sagen wollte, fiel zusammen vor diesem Ausdruck unbedingter Sachlichkeit, der sie entsetzte. Sie faßte an ihre Brust. Buchstäblich drehte sich ihr das Herz im Leibe um. Nie im Leben hatte sie Ähnliches empfunden, nicht als Heinrich wegging, nicht als sie die Mutter tot fand. Und es war ein dunkles Wissen in ihr um das Fürchterliche, daß es nicht nur der Vater war, der ihr genommen wurde in dieser Stunde, daß tief in ihr etwas im Abscheiden lag: ihre Zukunft mit einem deutschen Manne. Sie faßte Martin Baldes Rock, als könne sie sich daran festhalten.

Balde stand ruhig da. »Ich müßte mich sehr irren, meine Herren« – er sah fast ironisch auf die Ansammlung von Uniformen, die die Gasse füllten –, »ich müßte mich sehr irren, aber dieser Schuß hat mit Politik nichts zu schaffen. Ehe Sie mich verhaften, lassen Sie mich Ihnen behilflich sein, den Täter zu entdecken.«

Aber schon schleppten sie ihn heran, ein blasser Knabe mit weichen Formen. Nein, ein Mädchen, Toinette.

Balde nickte. »Es ist, wie ich dachte. Der Bursche war ihr Schatz.«

»Und woher hat sie die Waffe?«

Niemand antwortete.

Der Offizier winkte. Zwei Soldaten faßten Balde zwischen sich. Er wurde beängstigend rot, aber er zerpreßte den Zorn fest zwischen den Lippen.

Von drüben scholl Gebrüll. Toinette biß und kratzte da gegen zwei Soldaten, die sie festhalten wollten. In einem Nu war ihre ganze Sippe um sie versammelt, der Alte, schwer betrunken, die schwammige Frau und Kinder jeder Art und Größe. Sie heulten, sie zerrten, hopsten und kreischten. Balde sah herüber. Er wandte sich zum Offizier. »Man darf ihr nichts tun,« sagte er, »sie ist eine Schwangere. Ja, meine Herren« – der Schimmer eines ironischen Lächelns flog dabei über sein Gesicht –,»sie trägt das Kind eines Ihrer Prussiens, des Soldaten da, den sie erschossen hat.«

Die drüben horchten auf. Toinette aber heulte: man solle ihr das Kind aus dem Leibe herausreißen. »Liewer krepiere, als dene verdammte Prussiens a Soldat zum Präsent mache.« Und sie lachte wie eine Besessene.

Der Offizier gab seinen Befehl. Man führte Toinette ab. Es sollte Haussuchung gehalten werden bei ihr, danach würde man weiter sehen. Als man sie an Françoise vorbeischob, blickte sie auf: »Eh bien, Mademoiselle? Und Ihr?«

Ein ganzer Haufen Süßwinkel-Leute strömte ihr nach. Sie brachen in die Gärten ein, rissen Blumen ab, bestreuten ihr den Weg wie einer Heiligen. Aus den Häusern rief man ihr »vive« nach.

Der Offizier, der die Verhandlungen leitete, wandte sich jetzt zu Balde. »Und nun zu Ihnen, Herr Maire. Sie wurden uns bereits als verdächtig bezeichnet. Jetzt haben Sie sich strafbar gemacht durch die Übertretung des Gebotes, alle Waffen an uns auszuliefern. Einer unserer Leute ist getötet. Sie sind haftbar für Ihre Gemeinde. Zu meinem Bedauern muß ich Sie gefangennehmen.«

Balde stampfte auf den Boden wie ein ungeduldiges Kind. »Führen Sie mich weg.« Sein Auge glitt seitwärts auf Françoise, die, ganz haltlos, in Tränen zerging. Er streckte ihr seinen Arm entgegen. Da hielt sie sich nicht mehr. Alles, was in ihr stritt und schmerzte, blutete sich aus in dem heißen schluchzenden Flüstern, mit dem sie ihn umklammerte: »Nie werde ich hinübergehen zu deinen Feinden, Vater. Zu unsern Feinden. Nie! Jetzt kann ich das nicht mehr.«

Sie war fast ohnmächtig.

Martin Balde streichelte seinem armen Kinde über das Haar: »Mein Kind, mein einziges, liebes Kind.«

Nicht länger als eine Sekunde hatte das Ganze gedauert. Jene Sekunde, von der die Märchen erzählen, daß die Welt während ihrer viele hundert Jahre älter geworden ist.

Der Offizier hatte Balde zwanzig Minuten Zeit gegeben für die Ordnung seiner Geschäfte und seines Hauses. Wachen standen vor der Tür. In der Gasse drängten sich schweigend die Thurwiller. Man sah in der Hauptstraße Gewehre aufblitzen, hörte hin und wieder Menschen und Pferde über dem Pflaster.

Françoise hatte vorsichtig Hortense verständigt. Jetzt packte sie mechanisch dem Vater Anziehsachen und Gebrauchsdinge in eine kleine Tasche. Sie empfand nichts mehr. Ein ungeheures kahles Staunen war an die Stelle aller Gefühle getreten. Nur ihr Körper handelte. »Man wird ihn nicht lange behalten da,« sagte sie mit leerer Stimme zur Schwester, die sich stolz, in kalter Wut neben ihr hielt, unfähig zu reden oder zu handeln. Im Fensterrahmen stand unbeweglich wie ein Bronzebild die Gestalt des Offiziers zu Pferde, der vor dem Hause wartete. Seine kleine gerade Nase hob sich dunkel gegen den blauen Himmel, Helm und Bart glänzten weich und freundlich. Über Françoise kam jedesmal, wenn sie ihn sah, ein Schauer von Haß. Genau so würde Heinrich Hummel ausgesehen und gehandelt haben in der gleichen Lage. O, sie waren gerecht, diese Deutschen, tadellos und unbestechlich. Aber sie hatten kein Herz. Und die im Geheimsten ihrer Seele niemals verziehene Demütigung, die Heinrich ihr angetan, stieg brennend in ihr auf.

Balde unterhandelte im Ordinationszimmer mit dem alten Schlotterbach, dem er seine Papiere und die vorläufige Sorge für die Stadt übergab. Bourdon sollte ihm helfen. Der alte Mann hatte rote Augen, als er jetzt mit Balde herauskam.

Inzwischen war der kleine Flur gefüllt mit Menschen. Da waren die Schlotterbachs mit ihrer Tochter Virginie, einem hübschen, wohlgewachsenen jungen Mädchen, das sie aus dem Kloster heimgerufen hatten. Die ganze Familie Bluhm war da und Frau Bourdon. Ihr Mann sowie Cerf hielten sich vorsichtig fern.

Draußen im Vorgarten standen sie Kopf an Kopf. Alle Hände erhoben sich zum Gruß, als der Maire ans Fenster trat. Viele weinten. Unter ihnen gerade die, denen er nicht kaiserlich oder nicht päpstlich oder nicht Republikaner genug gewesen war, und die deswegen gegen ihn gehetzt hatten. Die Blicke, die sie auf die Soldaten ringsum warfen, mit denen sie sich bereits befreundet hatten, waren jetzt voll Haß. Die Unterdrücker waren es, es war der Feind. Ein neuer Zug war in all diese derben, massigen Elsaßgesichter gekommen, ein Zug verbissenen Wartens. Es konnte ja nicht lange dauern, da war man wieder unter sich. Gambetta, Garibaldi! Cerf hatte gute Arbeit gemacht, man wußte, was sich vorbereitete in Frankreich.

Der Offizier da auf seinem Pferde zog die Uhr. Mit hellen, herrischen Augen sah er aufmerksam auf die Erregten. Balde lehnte sich zum Fenster hinaus. Er wollte sprechen.

»'s isch racht, daß ihr noch amol kumme sin für euerm maire a bon voyage z'wünsche,« sagte er dann in seiner gewohnten, halb scherzenden Weise. »A changement d'air in dere Zitt wär' halt net grad mine intention g'si, un m'r muß hoffe, daß d' excursion net gar so lang wird. Awer wann i d'rno wieder do bin, wird viel changiert han do im Ländle. Euer maire bin i jo wohl d' längscht Zitt g'si. Tant pis, tant, mieux! M'r hett m'r net grad d'Händ unter d'Füß breitet do in Thurwiller – un mit euerm entêtement, un alle misères, wo ihr mir g'macht han, han ihr 's au fond net emol bös gmeint. Das isch's Ärgschte! Schwere Zitte kumme jetz für euch, un do sollen ihr ferme dra denke, was euer alter maire zu euch gsait hett: Haltet Ordnung! Ordnung git courage. Haltet Ordnung inwendig in euch, un Ordnung vis-à-vis vom gouvernement, n'importe was für eins.«

Der Offizier räusperte sich. Er drängte sein Pferd heran und hob warnend gegen Balde die Hand. Der zog fast schalkhaft die Uhr und zeigte sie dem Offizier.

»'s isch Zitt, mon lieutenant. Et maintenant« – Baldes Fuß klopfte die Erde, diesmal um eine Rührung zu meistern, die ihm feucht zu Augen stieg – »Adje binander.« Er hob die kleine Désirée auf, die an der Hand des weinenden Salmele erschrocken bei ihm stand, grüßte die Töchter mit der Hand, und ehe sich die Leute draußen dessen versahen, war er vom Fenster verschwunden. Auch der Offizier saß wartend auf seinem Pferde. Balde aber war mit schnellen Schritten durch den Garten nach den Gemeindefeldern gegangen und schickte von da einen Buben mit einem Zettelchen an den Offizier nach vorn, man möge Wache und Wagen zu ihm schicken. Er habe, um Aufstand zu vermeiden, die große Straße nicht benutzen wollen.

Alles das war so rasch geschehen, daß selbst Hortense und Françoise nichts davon gemerkt hatten. Gerade als sie begriffen, fuhr ein Wagen vor. Das Füeßlische Gespann. Pierre Füeßli stieg aus. Er hatte, eben erst von der Front mit seinem Hilfszug zurückgekehrt, den Brand und Madame Baldes Tod erfahren und war gekommen, nach den Freunden zu sehen.

»Was geschieht hier?« fragte er, da er die Menschenmenge sah.

Hortense fiel ihm um den Hals und küßte seine beiden Wangen, Françoise reichte ihm die Hand. Er nahm sie nicht in seiner tiefen Erschütterung, er blickte sie nur an, wie sie in ihrem blonden Knabenhaar, das sich an den Spitzen lockte, bleich und überschlank geworden vor ihm stand, ein fremder Ausdruck von Erstarrtsein in den Augen.

»Jetzt bin ich da,« sagte er endlich markig und laut. »Jetzt werde ich für Sie sorgen.«

 

Als eine sichere Mauer stand Pierre Füeßli in den nächsten wirr gefüllten Tagen zwischen den beiden Frauen und der übrigen Welt. Wie ein Zugehöriger ordnete er alles, bedachte und beriet, und seine freie Selbstverständlichkeit ließ keine Verwunderung über sein Eingreifen aufkommen. Er verhandelte fast ausschließlich mit Hortense. Françoise hatte ein für allemal ihre Einwilligung gegeben zu allem, was die Zwei beschließen würden. Am liebsten hätte sie sich auch körperlich ganz ausgelöscht. Aber dann kam ihr das wieder wie eine Hinterlist vor gegen Balde. So als wollte sie sich davonschleichen, ohne ihr Versprechen zu erfüllen. Und dieses Versprechen war ja nicht nur ihm gegeben, sondern auch sich selber; es war nicht Gehorsam gegen einen Zwang, war nur die hörbar gewordene Form für ihre eigensten tiefsten Nöte. Mit der Gewalt einer Naturerscheinung war es aus ihr herausgebrochen, so wie Quellen eines Tages aufbrechen, wie Krater Feuersteine schleudern. Sie durfte jetzt nicht diese Kraft verleugnen. Leben mußte sie und sich erweisen.

Und so tat sie denn in verzweifeltem Mute gleich das Allerschwerste: sie schrieb an Heinrich, sagte ihm von ihren Schmerzen, ihrer Wandlung und erbat seine Verzeihung.

Als sie den Brief geschlossen hatte, trug sie ihn selbst nach Regisheim zur Post. Sie wollte ihn nicht durch Célestines neugierige Hände gehen lassen. Sie hörte ihn in den Kasten fallen und blieb wie betäubt davor stehen. Dieser kleine dumpfe Fall dadrinnen hatte all das Gärende und Fließende ihres Entschlusses, der bisher immer noch ihr Eigentum gewesen war, zum Geschehnis verhärtet. Der Bruch war vollzogen.

Mit einem ganz gealterten Gesicht kam sie nach Haus. – –

Es war beschlossen worden, Thurwiller zu verlassen, bis alles sich geklärt hatte. Hortense wollte die Geburt ihres Kindes in Gérardmer abwarten. Dort sollte man sich einrichten. Pierre, der in den nächsten Tagen wieder mit Liebesgaben an die Front fuhr, wollte die Überfahrt beschützen, Hortenses Reisewagen dem seinen angliedern. Auch Balde würde nach seiner Freilassung ihnen dorthin folgen. Von Armand glaubte Hortense, er sei wieder im Kampfe.

Sie betete für ihn.

Am Abend vor der Abreise ging Françoise ruhelos in ihrem unvertraulich ausgeräumten Stübchen auf und ab. Sie hatte kein Licht anzünden wollen, auch nicht den Mut gefunden, zu Bett zu gehen. Pierre hatte heute abend unter den Plätzen, die er besuchen wollte, auch Toul und Nancy genannt. Das war ihr wie ein erlösender Fingerzeig in der Wirrnis; wie eine Erlaubnis, geradewegs vom Himmel auf sie niederträufelnd und sie salbend mit heiligem Trost. In Nancy und Toul hatte Heinrich seine Kranken. Ihn wiedersehen vor der großen Trennung, sich aussprechen mit ihm, sich von ihm Mut holen, ihn trösten, ihm den Abschied sanft machen – immer gewisser wurde es in ihr, daß sie das tun mußte. Trotz ihres Versprechens an den Vater.

Sie blieb stehen. Noch war nichts geschehen; noch war sie frei, zu tun, was sie wollte, frei ihrer Liebe nachzugehen. Sie konnte hinübergehen zu Heinrich, an einem Tisch mit ihm sitzen, an einem Tisch mit den Leuten, die ihren Vater beschimpften, sie konnte sich die Ohren zuhalten, wenn ihr armes verblutendes Land aus allen Poren seines wunden Leibes nach ihr schrie. Ja, sie konnte zum Sieger überlaufen als eine willige Beute.

Lange stand sie so und warf harte, wilde Worte gegen sich selber. Und dabei fühlte sie immer deutlicher, daß sie in Wahrheit keine Wahl mehr habe. Der Gedanke der Scheidung, in tausend Schmerzen zum Gelöbnis erhärtet, hatte sich über ihr zusammengeschlossen wie eine Rüstung, kalt, schwer und undurchdringbar. Diese Rüstung aber – und nur sie – gab ihr in ihren eigenen Augen auch das Recht zu Heinrich zu gehen. Ja, sogar die Pflicht, sagte sie sich.

Sie ging zur Tür. Sie hielt es nicht mehr aus in ihrem Zimmer, zwischen dessen gleichgültig und mutlos zusammengestellten Möbeln sie sich überhaupt noch nicht heimisch gemacht hatte, und in dem jetzt die Koffer bereitstanden, die sie nach Gérardmer begleiten sollten.

Aber sie würde nicht dort hingehen. Sie mußte versuchen, Heinrich noch in Toul zu treffen, oder in Nancy, oder dort zu erfahren, wo sein Lazarett hingekommen sei. Das würde nicht unmöglich sein, war man erst einmal dort in der Nähe. Und dorthin – sie preßte die Lippen entschlossen zusammen –, dorthin würde sie jetzt reisen.

Pierre ging ja nach Nancy und Toul. Wer wollte sie hindern, sich ihm anzuschließen? Unter seinem Schutze mitzureisen? War sie nicht Krankenschwester? Konnte sie nicht helfen dort? Pflegen, ordnen, lindern? Und dabei in Heinrichs Nähe sein. Und dann würde sie Heinrich alles erklären, sich mit ihm aussprechen. Gut zu ihm sein und den Abschied für sie beide zu etwas Schönem machen.

Ja, das wollte sie.

Nun kam Ruhe über sie. Aber schlafen konnte sie nicht. Sie ging nach dem Garten hinunter, sich zu erfrischen. Unter der Haustür stehend, sah sie eine Bewegung da im Dunkeln unter den Bäumen – ein Mensch, der langsam hin und her schreitet. Nach der Höhe zu urteilen, in der die Büsche sich bogen, konnte es nur Pierre sein. Das war ihr lieb. Jetzt gleich wollte sie ihn fragen, ob er sie mitnehmen könne. Ihr Plan, eben erst entstanden, war so fertig, als habe sie ihn lange schon in sich getragen. Sie ging langsam. Ohne Aufregung folgte sie dem Geräusch von Pierres Schritten, die jetzt auf die Kastanienallee zugingen, ihr entgegenkamen. Die Nacht war schwül. Ab und zu ein zuckendes Wetterleuchten zwischen den vom Brande verstümmelten Bäumen. Françoise genoß es, daß sie so ruhig war. Im Rondell hielt sie an und wartete. Sie stellte sich so, daß er sie sehen mußte, wenn er näher kam, gerade in die Mitte. Sie wollte ihn nicht erschrecken.

Dennoch fuhr er zusammen, als er sie, ganz nahe schon vor ihm, erblickte.

»Sie können auch nicht schlafen, Mademoiselle Balde? Ja, die Gewitternacht, nicht wahr? Man schläft nicht sehr gut in solcher Gewitternacht.«

Sie sah ihn freundlich an, weil er sich so abmühte. »Ich sah Sie im Garten,« sagte sie, »und ich habe hier auf Sie gewartet, um mit Ihnen zu sprechen.« »Mit mir?«

Françoise, von ihrem einzigen Gedanken besessen, achtete nicht auf den Ton der Freude in seinem Ausruf. Sie fuhr fort:

»Ja, ich will nach den Kampfplätzen reisen, nach Nancy und Toul. Ich denke, man kann da – –« Einen Augenblick schwankte sie, ob sie ihm alles sagen sollte. Aber welche Worte hätte sie finden können, ihm ihr Handeln begreiflich zu machen! »Sie wissen,« sagte sie dann, »ich habe schon als Krankenschwester gearbeitet, ich denke, man kann da viel helfen.«

Die Antwort ließ lange auf sich warten. Es war in diesem Augenblick so dunkel, daß Françoise glauben konnte, sie stehe allein da unter den Bäumen. Von fern rollte ein Donner, ohne daß man das Blitzen bemerkt hätte. Als jetzt Füeßlis Stimme zu reden begann, war es aus größerer Entfernung als vorhin. Er mußte weiter weggegangen sein.

»Sie wollen nach den Kampfplätzen reisen,« sagte er, »und ich soll Sie dorthin begleiten. Sie dürfen mir nicht böse sein, wenn ich mich in diese Vorstellung nicht so schnell finden kann. Aber das natürlich würde niemals ein Hindernis bilden für meine Bereitwilligkeit. Ihre Absichten sind bewunderungswürdig und heroisch, nur –«

Françoise errötete. »Ich bin eine Selbstsüchtige,« murmelte sie.

»Nur glaube ich nicht,« fuhr Pierre fort, »daß Madame Dugirard jemals eine so beschwerliche und gefahrvolle Reise für ihre Schwester zugeben würde. Eine einzelne Dame –«

»O, meine Schwester ist nicht verantwortlich für mich, und ich bin ja unter Ihrem Schutze, Monsieur Füeßli.«

»Gerade das! Françoise!« Er war jetzt nahegekommen und hatte ihre Hand gefaßt, die er preßte. Sie achtete nicht darauf, fühlte es kaum.

»Ich kann nicht in Gérardmer sitzen und Frieden spielen,« stieß sie hervor. Ihr ganzes Wesen bebte in Angst, den Helfer zu verlieren, der sie zu Heinrich bringen konnte. Sie faßte mit beiden Händen seinen Arm. »Nehmen Sie mich mit, Pierre, ich will Ihnen mein Leben lang dafür dankbar sein.« »Ihr ganzes Leben lang?«

Nun erschrak sie doch vor dem dunkel drohenden Ton, den sie aus ihm herausgerissen hatte, und den sie nun wieder zu beschwören trachtete. »Ich würde Sie nicht stören auf der Reise, Monsieur Füeßli,« sagte sie ruhiger. »Sie und die anderen Herren, die Sie da mit sich haben. Sie wissen, wir Krankenpflegerinnen schicken uns in alles. Das gehört zu unserem Beruf.«

Pierre schien kaum hinzuhören auf das, was sie sagte. »Mademoiselle Balde kann nicht allein in die Welt hineinfahren,« sagte er eigensinnig, »Madame Dugirard wird es nie erlauben, und ich – ich will es auch nicht!«

Françoise versuchte es mit einem leichten Lachen. »Oh?« sagte sie spöttisch.

»Ja, ich will nicht, daß die Frau, die ich liebe, ihren Ruf aufs Spiel setzt, sei es auch mit mir.«

»Sie vergessen, daß Krieg ist, Monsieur Füeßli.« Françoise wurde streng. »Eine Krankenschwester, die an die Front geht, ist keine Frau.«

In diesem Augenblick flammte und krachte ein Blitz zu Boden, der den Rasen vor ihnen zu spalten schien. Zugleich rauschte es und klatschte von allen Seiten. Heftiger Regen ging nieder. So laut, daß Françoise nicht verstand, was Füeßli sagte. Sie mußten aus der Allee herauslaufen, die, kronenlos, keinen Schutz gab. Dieses Rennen, wobei Françoise ihr Kleid sehr hoch gezogen, sodaß sie wie ein kleines kurzröckiges Mädel dahinsprang, zerriß Ärger, Liebesglut und jede Art von Pathos. Sie mußten beide lachen. Dann liefen sie unter das Vordach eines Heuhäuschens, das Schutz bot. In der Regenrinne sang und gluckerte das Wasser, strömte aus und bohrte tiefe Löcher in den roten Boden, aus dem es nun wie Blutstropfen emporspritzte. Eine fahle Helligkeit kam von irgendwo her und machte alle Blatter leuchten. Die beiden jungen Leute standen eng zusammengedrängt, dampfend vor Nässe da. Wieder fragte Pierre etwas, das Françoise nicht hören konnte. Er mußte laut schreien. »Lassen Sie sich mit mir trauen,« rief er in den Regen hinein. »Das löst alle Schwierigkeiten. Als Frau eines Schweizers, als Neutrale, können Sie reisen, wohin Sie wollen.«

Sie mußte lachen. An seinem Gesicht aber merkte sie, daß es ihm ernst war.

»Alles würde einfach sein, einfach und schön,« schrie er wieder.

Françoise sah ihn an. Es rührte sie, wie der große Mann da neben ihr nichts anderes dachte als ihr zu dienen, ihr zu helfen.

»Ich liebe einen andern,« sagte sie, aber im Tosen des Regens hörte er es nicht. Sie hatte nicht den Mut, dieses schmerzliche Geheimnis laut herauszurufen. So standen sie und warteten stumm. Pierre hatte seinen Rock ausgezogen und ihn Françoise umgehängt, deren dünnes Kleid wie eine nasse Haut an ihr klebte. Er nahm jetzt seinen Hut ab und ließ den Regen davon abtriefen. Barhaupt, in Hemdsärmeln, mit braunem Gesicht und glänzenden Augen sah er bäuerlich aus und gesund. Ein wenig trotzig.

Françoise war sich selber gram, daß sie ihn quälte.

»Verzeihen Sie mir,« sagten sie beide zueinander, da sie sich trennten ...

In ihrem Zimmer dann wollte Françoise noch weiter denken, aber von einer plötzlichen, unentrinnbaren Müdigkeit gelähmt, vermochte sie kaum noch die Kleider zu lösen, stieg daraus heraus wie aus einem Gehäuse und glitt sogleich in ihr Bett hinein, in dem sie versank wie in einem lau beruhigenden Wasser. Nur gegen Morgen träumte sie, sie fahre mit Heinrich in einem jener grünen zweirädrigen Karren, in dem die Gaukler fahren, und Pierre Füeßli stand bei dem Pferd, gab ihm Heu zu fressen und weinte. Sein schöner, brauner Bart war ganz spitz zusammengeklebt von seinen Tränen.

 

Hortense war es, die am nächsten Morgen zu Françoise kam, um die Unterredung vom Abend fortzusetzen. Pierre hatte in aller Form bei ihr zum zweitenmal um Françoise geworben, und sie kam nun, mit ihr zu sprechen. »Du mußt ihm mitteilen, daß ich einen andern liebe,« sagte Françoise.

Hortense machte ein unzufriedenes Gesicht. »Wozu die Romantik, meine Liebe? Sie kann nur dazu dienen, eure Ehe unglücklich zu machen.«

»Unsere Ehe! Aber was denkst du? Du, die du doch weißt –«

»Ich weiß, meine Liebe, daß es ein großes Glück für dich ist, in diesem kritischen Augenblick die Hand eines Mannes ergreifen zu können, der dich liebt und bereit ist, dich glücklich zu machen. Es wird ganz in deiner eigenen Macht liegen, ob ihm das gelingt oder nicht.« Sie stand da in der doppelten Würde, die ihr Zustand ihr gab, und im Bewußtsein, Mutter und Vater bei Françoise vertreten zu müssen, und wie sie so redete, erinnerte Françoise sich an die Worte, die ihre Mutter ihr einmal gesagt hatte: »Das persönliche Glück einer Frau ist es nicht allein, auf das es ankommt bei der Gründung einer Ehe. Wir Frauen haben Pflichten gegen den Staat, gegen Frankreich.«

»Die Zeit ist ernst,« fuhr Hortense fort, »sei dankbar für das, was sie dir bringen will. Es bietet sich dir eine Partie mit gesicherter Zukunft, um die dich jedes Mädchen beneiden kann. Wenn unser Vater zurückkehrt, wird er durch diese Heirat eine Freude genießen, die er durch sein Leiden wohl verdient hat.«

»Ich kann es nicht,« sagte Françoise schwach, »schon Pierres wegen kann ich es nicht. Es würde ja nichts weiter sein als eine Form.«

Hortense erhob sich. »Laß es immerhin zuerst nur eine Form sein, meine Schwester, ihr seid beide jung. Er liebt dich, du hast geliebt. Dein Herz ist weit geöffnet. Glaube mir, die Form wird Wahrheit werden.« Damit ging sie.

Françoise sah ihr nach. Sie setzte sich an den Tisch und schrieb an Pierre. Viele Anfänge. Jeder begann mit den Worten: »Ich liebe einen andern.«

Als sie noch so saß, ließ Pierre sich melden. Er wollte sich Antwort holen. Sie ging hinüber in die Bibliothek, ihn zu empfangen. Sehr kühl war es da und ein wenig dunkel. Blutrotes Herbstlaub, hinter dem die Sonne stand, gab grelle Farbe in dem ruhigen Raum. Pierre stand gegen das Fenster, geschlossen, ruhig.

»Sie sind so gut, Pierre Füeßli,« begann Françoise flattrig, »aber ich kann nicht Ihre Frau werden, ich achte Sie, aber ich liebe Sie nicht.«

Erstaunt sah sie zu ihm hinüber, weil er nicht antwortete. »Ich kann nicht Ihre Frau werden, weil ich Sie nicht genug liebe,« wiederholte sie.

Ein dunkles ruhiges: »Ich weiß es,« kam vom Fenster her.

»Nun ja, aber dann –«

Er war jetzt nähergetreten. Sie sah sein Gesicht, das sich mühte, Ruhe zu zeigen, und das ihr in diesem Augenblick sehr schön vorkam.

»Es werden meistens«, sagte er, »Ehen hierzulande so geschlossen, daß das Mädchen noch nicht liebt. Sie hofft es zu lernen in der Ehe. Und ich – Françoise« – er bewegte willenlos die Lippen zu ihrem Namen – »ich, ich liebe Sie so sehr, daß es genug ist für uns beide.«

Da sie eine Bewegung machte, wie sich weiter zurückzuziehen, fand er, in der Furcht sie zu erschrecken, einen leichteren, fast humoristischen Ton; vorerst nur als ein Werkzeug, wieder ihr Vertrauen zu erringen. »Übrigens, Mademoiselle Balde – ich bin nicht besonders bescheiden – ich traue mir zu, meine Frau das Lieben zu lehren.«

Das erhoffte Lächeln blieb aus. Irgend etwas in ihrem Gesicht, das sie jetzt zu ihm emporwandte, erschreckte ihn.

»Oder lieben Sie einen anderen?« fragte er.

»Ich werde niemals heiraten.«

»Sie lieben einen anderen?«

Sie senkte den Kopf.

»Einen verheirateten Mann also!« Wie im Grimm machte er ein paar Schritte durchs Zimmer. Dann blieb er vor ihr stehen. »Sie armes Kind!« Er streichelte ihre Hände, die sie ihm ließ. Plötzlich begann sie heftig zu schluchzen. Sein Streicheln tat ihr gut und furchtbar weh, wie die pflegende Hand, die sich um eine Wunde müht.

»Nun wissen Sie es also,« sagte sie weinend, »nun gehen Sie.« Sie hatte ihre Hände befreit und bedeckte ihr Gesicht damit. Er machte eine Bewegung, als solle sie ihn nicht stören in einer peinvollen Überlegung. Man sah, wie seine Gedanken arbeiteten in ihm. Sein Blick war geradeaus gerichtet wie bei Menschen, die ein Ziel sehen und geduldig, mühsam sich ihm nähern.

»Sie werden heiraten,« sagte er dann langsam, »später, eines Tages. Und Sie werden dann den ersten heiraten, der Ihnen das bequem macht. Das ist es. Das wird kommen. Denn Sie sind nicht geschaffen dazu, für sich allein zu leben. Nein, das sind Sie nicht. Sie können ja nicht anders als glücklich machen und sich lieben lassen.«

Sie trocknete die Augen. »O, man kann doch auch für andere – man kann helfen –« Sie glaubte selbst nicht ganz an das, was sie sagte. Jedes Wort aber seiner Rede überzeugte sie. Denn es waren die gleichen Gedankengange, die in ihr selber lagen, fertig und bereit, gedacht zu werden; nicht heiraten, niemals eigene Kinder haben, das Leben der anderen mitleben, geschätzt vielleicht von ihnen, vielleicht auch nur geduldet! Die Erwartung einer solchen Zukunft war es, die den tiefsten Grund bildete für das unsägliche Mitleid, das sie mit sich selbst hatte, und das jetzt in ihren Tranen strömte.

Endlich faßte sie sich, nahm ihr Tuch von den Augen und lächelte Pierre zu, dessen Blick sie die ganze Zeit her über sich gespürt hatte. Er war jetzt nah bei ihr. Sie bog sich zurück, weil er seinen Arm leicht um sie legte; aber er wollte sie nur vor den Spiegel führen: »Schauen Sie da hinein, Mademoiselle Balde! Ist das eine Frau, die unverheiratet bleiben kann?«

Unwillkürlich aufmerksam betrachtete sie ihr Bild, das ihr, mit rotgeweinten Augen zwar, aber jung und weiblich rätselvoll entgegenblühte.

Sie wandte sich ab.

Pierre, ihr gegenüber neben dem Spiegel stehend, las ihre Gedanken. »Ja, Mademoiselle Balde, Sie sind eine viel zu reiche, viel zu gesunde Frau, um Ihr ganzes Leben lang sich von einem Gefühl verzehren zu lassen, für das es keine Erfüllung gibt, wie Sie mir sagen.«

Sie lächelte schwach. »Was für ein geschickter Anwalt Sie sind, Monsieur Füeßli! Aber ich darf mich nicht von Ihrer Beredsamkeit betören lassen. Es wäre unrecht. Unrecht gegen Sie selbst.«

Jetzt lachte er. Ein ganz wirkliches, fröhliches Lachen.

»O, das lassen Sie nur meine eigene Sorge sein, liebe Freundin. Ich werde mich nicht zu Schaden bringen, seien Sie sicher. Sie sind nicht imstande, einen unglücklich zu machen, der um Sie herum sein darf. Ich denke natürlich die ganze Zeit über nur an mich und mein eigenes Glück, aber es trifft sich herrlich, daß ich gerade damit auch das Ihre fördern darf, Mademoiselle Balde. Denken Sie doch nur an alle die Pflichten, die diese Heirat Ihnen aufbürden würde. Sie, die Sie Pflichten so lieben: der Haushalt, die Fabrik, die Frauen und Mädchen, die man erziehen und behüten muß –«

Françoise erhob sich aus dem Sessel, auf den sie sich eben niedergelassen hatte. »Ich freue mich, daß Sie so guter Laune sind, Monsieur Füeßli.«

Er faßte sie voll Leidenschaft am Arm, als fürchte er, sie wolle ihm entfliehen. »Françoise, Françoise.« Es klang wie eine angstvolle Beschwörung.

»Meine Liebe würde eine Mauer um Sie ziehen,« sagte er dann sehr ernst. »Nichts Häßliches und Böses soll an Sie herankommen können. Alles Quälende müßte draußen bleiben. Françoise, kommen Sie zu mir! Niemand kann Sie so von Grund aus liebhaben, wie ich das tue. Niemand.« Er redete noch lang, heiß und stoßweise vor sie hinsprechend, ohne sie anzusehen, nur immer ihre Hand betrachtend, die jetzt in der seinen lag und sich wie willenlos von ihm umschmeicheln ließ. Endlich, weil sie so seltsam unbeweglich blieb, blickte er auf. »Françoise, hören Sie mich denn? Warum starren Sie so?«

Sie hatte« wirklich lange schon nicht mehr auf ihn geachtet. Eine Mauer. Immer noch dachte sie an dem einen Wort herum. Eine Mauer. Das war es! Das brauchte sie. Trug sie eist einmal Füeßlis Namen, dann war sie gefeit. Auch gegen sich selber.

»Ich will es tun,« sagte sie plötzlich laut. »Ich will annehmen, was Sie mir schenken. Und ich verspreche Ihnen« – ihre Stimme brach. »Alles, was ich noch an Güte und Freude in mir habe, soll Ihnen gehören,« murmelte sie dann.

Pierre war still geworden. Sein Gesicht sah aus wie von irgendeinem Schmerze nach den Seiten gezerrt, flacher als sonst, und zwischen dem dunklen Bart waren die Lippen auf einmal blaß.

»Ich hatte gedacht,« sagte er leise und ein wenig heiser, »ich hatte gedacht, mein Glück würde anders zu mir kommen, froher, aber« – er richtete sich kräftig auf – »es soll mir willkommen sein, wie Sie es schenken.«

Sie reichte ihm schweigend zwei kalte zitternde Hände, die er küßte. »Sie müssen Geduld haben mit mir.«

»Ich werde es,« sagte er ernst.

Dann trennten sie sich mit einem Händedruck. Pierre wollte alles Notwendige zur Trauung einleiten.

 

Virginie Schlotterbach hatte sich bereit erklärt, Françoises Stelle in Gérardmer bei Hortense einzunehmen. Das junge Mädchen war froh, von Thurwiller wegzukommen. Sie hatte Pierre Füeßli, den die Eltern ihr im stillen zum Mann bestimmt hatten, weil die Verhältnisse zusammenpaßten, ein einziges Mal gesehen und eine heftige Neigung zu ihm gefaßt. Da sie ihn nun an Françoise gebunden wußte, war ihr die Stadt verleidet, in der sie sich schon als glückliche Frau gesehen hatte. Die Gegenwart der Eltern, die ihr ein verdrießliches, enttäuschtes Wesen zeigten, peinigte sie. Das Haus war sowieso für eine erwachsene Tochter wenig eingerichtet. So gab sich Virginie mit Eifer den Vorbereitungen für Gérardmer hin.

Auch Françoise war tätig. Aber alles, was sie anordnete und tat, erschien ihr selber wie in Traum getaucht. Ihre Hände hatten nicht das Gefühl wirklicher Berührung, wenn sie Dinge wegräumte oder einpackte. Ihre Stimme kam wie von weither. Die Fahrt nach Mülhausen bei strömendem Regen, die Trauung dort beim Maire, die Glückwünsche der Füeßlischen Familie nach der Zeremonie – alles das glitt an sie heran und glitt weg von ihr wie graue Schleier.

Dann fuhren sie nach Gérardmer. Voran Hortense mit Françoise, Désirée, Virginie und dem Salmele in Hortenses Reisewagen, ein Stück hinter ihnen Pierres großer Ambulanzwagen, der die Geschenke an die Truppen enthielt, Medikamente, Verbandzeug und Lebensmittel, und in dem er selbst mit seinen Gehilfen saß. In Hortenses Wagen wurde wenig gesprochen, einzig Désirée und Virginie plauderten zusammen. Einmal wurden die Damen angehalten, weil die französischen Wachen das Elsässisch vom Salmele und der Kleinen für Feindessprache hielten, erst Füeßlis Dazwischenkunft gelang es, die Sache zu ordnen. Später wieder mußten sie aussteigen und in einem schmalen Tunnel die Vogesen zu Fuß durchqueren, weil die Straße durch herausgerissene Telegraphendrähte unüberfahrbar war. Die Frauen gingen allein, während Pierre mit den Reisegehilfen ihnen auf großen Umwegen die Wagen entgegenführte. Unsäglich verlassen kamen sie sich plötzlich vor, so im Dunkel unter dem Gebirge hintappend, eng an die Wände gedrückt, einer hinter dem andern. Das Kind weinte, Schwefel- und Kohlenstückchen wurden ihnen von begegnenden Lokomotiven entgegengeschleudert, das Salmele war voll abergläubischer Visionen, im Stockdunkeln fuhren Züge an ihnen vorüber, die schrien. Diese Schreie zerrissen die Finsternis wie Dolche. Endlich drüben, vom Tageslicht noch geblendet, sahen sie Pierres Gestalt, ruhig, sogar ein wenig behäbig vom Wagen steigen und auf sie zukommen.

»Dieu soit béni,« sagten sie alle zu gleicher Zeit. Man hatte das Gefühl, nun sei alles gut. Die Pferde am Wagen zitterten und mußten noch ein wenig ruhen. Pierre hatte sie gejagt über ihre Kräfte.

Die Reise ging weiter. Das Rütteln des Wagens, der Regen, der an die Scheiben wusch und die Landschaft verhüllte, alles war einschläfernd und verhinderte das Denken. Und dann war man in Gérardmer. Man trennte sich in Eile, fast wie auf der Flucht voreinander. Schon im Begriff, zu Pierre und den beiden anderen Herren einzusteigen, wurde Françoise von einer plötzlichen Angst gefaßt. Sie stieg noch einmal aus, umarmte Hortense und riß die kleine Désirée zu sich herauf, sie in Küssen fast erstickend.

»Mein Sohn wird Franzose sein, er wird Franzose sein,« wiederholte Hortense ein paarmal. Als solle darin ein Trost liegen für das Leid aller.

Die Fahrt ging rasch. Françoise war so übermüdet, daß sie meist schlummerte, in die Ecke gedrückt, die man ihr wohnlich gemacht hatte. Auf das, was draußen vorbeiglitt, achtete sie wenig.

Es ging durch Wald, immer die bewachte Straße entlang. Man gewöhnte sich an die Soldaten. Einmal sah sie lange einen Burschen, der vor ihnen herlief, immer in gleichem Abstande, seine weiß bestaubten Sohlen schlugen ihm regelmäßig, wie die Schaufeln eines Mühlrads, an die Hosen. Dann wieder Regen. Nasse Fahnen in ausgestorbenen Dorfstraßen, die irgendeinen erfundenen Sieg feierten. Ihre Gefährten unterhielten sich mit leiser Stimme darüber.

Die Wegs wurden schlecht. Pierre ordnete an, man solle suchen die Bahnstrecke zu erreichen, die unter deutscher Militäraufsicht jetzt wieder ausgebessert war, so daß Züge gehen konnten.

Aber es gab überall Aufenthalt. Man begegnete Artilleriereserven. Die Pferde kamen auf dem schlüpfrigen Boden nur langsam und ruckweise von der Stelle, sie stießen fortwährend aufeinander, in Gefahr zu fallen. Alle todmüde. Zu gleicher Zeit drängte, die Geschütze überholend, ein Zug Infanterie vorbei, Munitionswagen, Trainfuhrwerke, Postwagen, Lastkarren aller Art, die sich unabhängig voneinander weiterschoben. Bald marschierten sie gleichzeitig an, bald hielt die eine Reihe inne, die andere marschierte weiter. Das Ergebnis war ein heillos undurchdringlicher Wirrwarr. Niemand rückte von der Stelle. Die Offiziere mit ihren Kalpaks aus Biberfell und riesigen. Kragenmänteln waren von ihren großen Pferden abgestiegen, sie am Zügel führend. Die schlecht gegurteten Sättel rutschten, da sie wieder aufsteigen wollten.

Pierre war außer sich über den Anblick. Er schämte sich. »Was? keine Anweisung scheint gegeben, keine Ordnung eingehalten, einem Teil gefällt es zu halten, er versperrt den Nachfolgenden den Weg. Sehen Sie, Mademoiselle Balde – Madame Füeßli,« verbesserte er sich und sah sie lächelnd an – »sehen Sie jenen Reiter, dessen Pferd glaubt jagen zu müssen, weil sein Reiter im Schlaf vornüberstößt!« Er trat voll Ungeduld auf den Boden des Wagens.

Und immer phantastischer wurde die Reise. Jetzt, da die Dunkelheit hereinbrach, sah man auf allen Höhen und in den Tälern Biwakfeuer. Sie schienen sich ins Unendliche zu dehnen. Françoise, vor deren Augen aus Schlafsucht die Umrisse verschwanden, glaubte eine große, große Stadt zu sehen mit da und dort brennenden Häusern. Da die Nacht kalt war, hatte man gewaltige Baumstämme angezündet, um jedes Feuer lagerten etwa zwölf bis fünfzehn schweigende Gestalten. Einmal trafen sie dicht an der Straße einen dicht blühenden, aber hohlen Baum, der von innen brannte. Wie eine blühende Fackel lohte er empor.

Mitten im Schauen fiel Françoise in Schlaf. Sie erwachte frierend und fast furchtsam, sich so im Fremden zu wissen, fand sich eingehüllt, ein Kissen unterm Kopf, einen Koffer als Fußstütze vor sie hingestellt.

»Bon jour, mon camarade,« sagte Pierres Stimme. Sie streckte ihm die Hand hin und dankte.

Im Posthaus eines Grenzdorfes frühstückte man, übernächtig, fröstelnd und wenig zum Sprechen aufgelegt. Die Bewohner waren geflohen. Françoise kochte auf dem verlassenen Herd ihren mitgebrachten Kaffee und stellte in der Eile einige Behaglichkeit auf ihrem Eßtisch her. Es regnete schon wieder. Alles, was man anfühlte, war naß. Die Fliegen in dem niedern Zimmer unerträglich.

Als sie wieder einsteigen wollten, sahen sie plötzlich einen Strohberg lebendig werden, hinter dem sich Soldaten in fremder Uniform erhoben. Bayern. Sie kreuzten ihre Bajonette vor den Erschrockenen. »Zurückbleiben,« rief es mit Donnerstimme. Der befehlshabende Offizier trat heran. Bei der Durchsicht von Pierres Papieren, die ihn als Schweizer auswiesen, ließ er den Wagen ohne weiteres passieren. Bedrückt fuhr man weiter in den grauen Morgen hinein. Man war in Feindesgebiet.

Françoise sah abgeerntete Täler, in den Dörfern rüsteten sich die Leute zur Flucht. Hochbepackte Wagen, weinende Kinder, Weiber mit großen Bündeln auf dem Rücken. Und dann wieder auf der zerstörten Bahnstrecke überall fleißige Männer in deutschen Uniformen. Man näherte sich den Stellen, wo gekämpft worden war. Geköpfte Bäume, geknicktes Strauchwerk. Spuren von Blut auf dem Erdboden. Plötzlich kam ein Stöhnen aus dem Gebüsch, ein blauer Ärmel mit fünf goldenen Tressen, an dem keine Hand mehr ist, hängt aus einem Dickicht hervor. Jetzt zieht er sich ein wenig zurück. Die Herren steigen aus und bringen den Verwundeten herbei, der vielleicht schon tagelang da gelegen hat. Françoise schneidet ihm den Rock auf, hilft waschen und verbinden, aber es ist zu spät. Man müht sich um einen Toten.

Im nächsten, halbzerschossenen Dorfe ein Feldlazarett. In den verfallenen Häusern deutsche Ärzte. Man nimmt gern die Hilfe der Elsässer Samariter an. Auch Françoises Leinewand und das frische Wasser, das sie in Fässern mit sich führten, war sehr willkommen. In einem zerstampften Garten grub man einen langen Graben für die Toten, Freund und Feind. Françoise sah unterm Arbeiten aus dem scheibenlosen Fenster herunter auf die Leute, die in ihren blutigen, schmutzbedeckten Uniformen furchterregend schienen, sah, wie sie mit abgezogenen Mützen herantraten und Holzkreuze und Blumensträuße auf die Gräber niederlegten. Sie sah dann freilich auch, wie sie sich bückten und aus demselben Boden nahe dem frischen Leichengraben sich Kartoffeln aus der Erde holten, mit denen sie sich die Taschen füllten zum Mittagessen.

Die vier Elsässer arbeiteten bis gegen Mittag mit den deutschen Ärzten. Die Schwerverwundeten wurden in die Kirche geschafft, die anderen verschwanden auf den allmählich angelangten Krankenwagen. Françoise, die sich vor dem Anblick der Verwundeten gefürchtet hatte, war nun fast erschrocken über ihre eigene Kaltblütigkeit und Ruhe. Sie fühlte sich selber nicht, war ganz Auge und Hand. Selbst das Mitleid kam zu kurz dabei. Ein einziges Mal wurde sie krank vor Entsetzen, und das war seltsamerweise beim plötzlichen Anblick eines verendeten Pferdes, dessen Körper so unförmig aufgeschwollen war, daß seine vier Beine nur wie spannenlange Stöckchen darin staken.

Endlich saßen sie wieder in ihrem Wagen, müde und wortlos. Pierre wies auf die Soldaten, die zum Bach hinabstiegen, um Wasser für ihre Pferde zu schöpfen, rauchend und scherzend. Nirgends eine Spur an ihnen von den fürchterlichen Eindrücken, Anstrengungen und Entbehrungen des heutigen Tages. Feuer waren angezündet auf den Wiesen, an denen bereits die Suppe kochte. Hier und da ruhige Gruppen, Soldaten, die ihre Röcke ausbesserten und Knöpfe daran nähten. »Es muß Wasser anstatt Blut in ihren Adern fließen.« Die beiden Gehilfen stimmten heftig bei. »Ein Zeichen, daß sie keine Begeisterung haben, ces animaux

Françoise schwieg. Endlich, wider ihren Willen brach sie in die Worte aus: »O ich finde sie stark, diese bürgerliche Ordnung, sogleich nach der mörderischen Zügellosigkeit der Schlacht. Sehen Sie, die Pferde selbst scheinen die Ordnung zu achten. Sie liegen, obgleich in Freiheit, in den richtigen Entfernungen voneinander ruhig da und haben Vertrauen, ganz wie ihre Herren.«

Der eine der Gehilfen stieß eine Verwünschung aus: »Warum loben Sie unsere Feinde, Madame Füeßli?«

»Um uns zu trösten,« sagte Pierre rasch. »Man muß seinen Gegner erhöhen, um sich nicht erniedrigt zu fühlen, wenn man einmal von ihm besiegt wird.«

Françoise sah ihn ernsthaft an: Sagte er das um ihretwillen? Wußte er? Aus irgendeinem Grunde verhärtete sie sich gegen ihn. Ein Stoß, der den ganzen Wagen erschütterte, machte allem Gespräch ein Ende. Die Männer mußten aussteigen, das Hindernis – einen umgefallenen Baum – wegzuschieben. Dann war man wieder im Geleise. Françoise hatte inzwischen für Nahrung gesorgt. Rotwein, Huhn und Biskuit. Einmal blickte Pierre, während er sein Glas an den Mund setzte, flüchtig zu Françoise hinüber. »À votre santé, ma femme.« Sie senkte die Augen.

Jetzt gelangte man an eine von den Deutschen ausgebesserte Bahnstrecke, die schon wieder betriebsfähig war. Nach vielen und lange dauernden Verhandlungen bekam Pierre die Erlaubnis, seinen Samariterwagen in den Zug einzustellen.

Auf dem Bahnhof des nächsten Stadtchens war ein wüstes Gewirr. Landleute mit Frau und Kindern und Gepäckstücken, die – sie wußten selber nicht wohin wollten. Deutsche Soldaten, verwundete Nachzügler, einige Offiziere in Regenmantel, mit umgehängter Feldflasche, Menschen aller Art, die einen am Boden ausgestreckt, die andern auf ihren Gepäckstücken liegend oder sitzend, etliche trotz des Lärms friedlich schlafend. Männer in blauen Uniformen mit Pickelhauben gingen umher und ordneten durch ein paar Handbewegungen sehr schnell das Chaos. Eine Gasse wurde freigemacht. Marschgeräusch wurde laut, sonderbar ungleichmäßig. Zwischen den gewichtigen taktsicheren Schritten der Prussiens ein Schlürfen, Zögern und Schleifen. Zuerst sieht man nur die Deutschen, Dragoner und Husaren mit gespannten Karabinern, dann in der Mitte eine arme Herde, nachlässig, niedergeschlagen. Gefangene Franzosen.

Françoise schrie laut auf. Pierre nahm ihre zitternde Hand in die seine. Auch er sah finster aus. Die Menge murrte. Man sah alte Soldaten mit weißen Schnauzbärten, bemüht, sich würdig zu halten. Zwischen ihnen die glattwangigen Neuinskribierten, denen die bitteren Tränen übers Gesicht liefen.

Eine alte Frau, die weiße Lothringer Haube hoch über dem Gesicht, stieß Françoise vertraulich an und sprach in ihrer Mundart aufgeregt in sie hinein. Andere redeten hinzu. Françoise verstand, daß man im Volk verbreitet hatte, diese Leute da seien gar nicht etwa gefangene Franzosen, es seien das alles verwundete und kranke Preußen, denen man französische Uniformen angezogen habe, um dadurch der grande nation den Glauben beizubringen, Preußen habe so viele Gefangene gemacht...

Man hatte im Städtchen übernachten wollen und sich ausruhen, aber alles war überfüllt, kein freies Plätzchen zu bekommen. So richtete man sich wieder im Wagen ein.

Es folgten Tage rastloser Arbeit. Überall gab es zu helfen, fürchterliche Leiden zu lindern. Not und Blut, wohin man kam. Unausgesetztes Pflichtbewußtsein, Anstrengung, Schlaflosigkeit, fast Stumpfheit. Jedes Eigengefühl ging darin unter. Pierre und Françoise arbeiteten zusammen wie zwei Brüder. Manchmal trafen sich ihre blutbeschmutzten Hände zu kurzem Freundesgruß. Wie Phantasien glitten Bilder und Szenen an ihnen vorüber, eine die andere verlöschend. Einmal wurde ihnen ein blutjunger, schwerverwundeter deutscher Offizier von seinen Leuten, mit denen er Patrouille geritten war, zugetragen. Franctireurs, die in den Büschen herumlungerten, hatten auf ihn geschossen. Die Kugel hatte ihm den Leib zerrissen. »Verflucht, ich muß dran glauben,« sagte er mit zusammengebissenen Zähnen zu Pierre und Françoise, die sich über ihn beugten. Mitten im Stöhnen dann wieder ganz kindlich. »Nun sterbe ich also. Und ich habe noch nicht einmal für einen Pfennig Schulden gemacht! Schade!« Kurz darauf brachen seine kindergroßen Augen. Es war, als seufzte noch dieses: »Schade!« aus seinem halbgeöffneten Munde.

Ein andermal, in einem zerschossenen und halbverbrannten Dorfe, fanden sie einen bewußtlosen Soldaten im unversehrten Schilderhause vor einem Trümmerhaufen. Er zeigte keine Verwundung. Als er wieder zu sich kam, merkte man, daß er am Verhungern stand. Gespeist und gedrängt zu berichten, sagte er: »Ich stand Ehrenwache vor dem Hause unseres Generals. Es ist abgebrannt. Man hat vergessen, mich abzulösen.«

Einmal beim Bettenrequirieren gerieten sie in große Gefahr. In einem Häusergrüppchen am Wege, das sie absuchten, verbargen sich französische Soldaten in Frauenkleidern, andere lagen unter den Betten und schossen auf sie, sobald sie das Zimmer betraten. Françoise erhielt einen Streifschuß am Ohr. Mit der Binde um den Kopf sah sie aus wie ein junger Krieger.

Seit diesem Ereignis sorgte Pierre für Begleitung deutscher Soldaten als Bewachung.

Das brachte eine sonderbare Begegnung für Françoise, die sie tief erregte. Zum Wagen hinausblickend, sah sie ein bekanntes Gesicht: der pommersche Offizier, der am Grabe der Mutter aus der Bibel gelesen hatte. Das beschwor fürchterliche Erinnerungen aus ihr herauf! »Wahrlich, ich sage euch, es ist niemand, der sein Haus verlasset oder Eltern oder Brüder oder Weib oder Kinder um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfältig wiederempfahe in dieser Zeit, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.«

Wie in etwas Grauenhaftes hinein starrte sie in das braune, einfache Gesicht des jungen Soldaten.

Und sie, die ekle Wunden ohne Zaudern berührt, Tod und furchtbarste Verwüstung gesehen hatte, sie fiel plötzlich in eine tiefe, schwere Ohnmacht, aus der sie lange nicht zu wecken war. – –

Am selben Tage noch brachte Pierre sie in das Kloster Sainte Anne, zwischen Nancy und Toul. Dort wollte er sie später zur Heimreise abholen.

 

In den blühenden Höfen des Klosters Sainte Anne, das unweit Toul in einem hohen Park mit uralten dunklen Bäumen und blinkenden Fischteichen lag, huschten und zeterten die Nonnen ratlos umher. Wie ein Schwarm großer schwarzweißer Vögel ließen sie sich dann zwischen ihren Oleanderkübeln und grell beblumten Granatbüschen nieder, flatterten Obstbaumgänge und Traubenlauben entlang, mechanisch-genäschig dabei das Abfallobst auflesend und benagend oder die noch an den Zweigen hängenden unreifen Früchte befühlend. Ab und zu wischten sie sich in der Schwüle dieses bangen Septembermorgens den Schweiß von den verängsteten Gesichtern und horchten, die Hand am Ohr, nach Toul hinaus.

Seit dem 19. August war die Stadt von den Preußen eingeschlossen. Seitdem hatte man immer wieder den nahen Kanonendonner der Beschießung gehört, mehr als einen Monat schon. Heute hat es ohne Aufhören gedröhnt dadrüben. Lauter und heftiger als je. Gleich nach der Neun-Uhr-Messe hatte es begonnen und in gleicher Stärke angedauert bis zur Vesperandacht eben jetzt. Man hatte wohl hinausgehorcht, hatte vielleicht auch ein Gebet mehr zum Himmel hinaufgeschickt für die armen Belagerten dadrüben, sonst aber war man im Hause, Garten und in den Wirtschaftsgebäuden seinen Geschäften nachgegangen, hatte gejätet, gestickt, gebraten, gebacken und neben dem Knecht am Ziehbrunnen gestanden und geschwatzt, wahrend man die Krüge füllte. Dann aber – halb sechs Uhr – war es geschehen! Etwas Unerwartetes, Furchterregendes, das keinen Namen hatte. Jede fühlte es sogleich, wo immer sie sich befand, und woran immer sie hantierte, hielt mit weitaufgerissenen erschreckten Augen inne, lief dann zu einer Schwester, die wieder zu andern Schwestern lief, bis man beisammen stand. Man sprach nicht, man stand nur und lauschte auf diese plötzliche, unheimliche Stille, die wie ein Ruf wirkte. Und dann wandten sich alle Augen zu dem gelben, langgestreckten Hause zurück, aus dem die Frau Mutter zu ihnen treten sollte.

Endlich kam sie, eine blasse, kränkliche, schon bejahrte Gestalt, zart in ihrer weiten, groben Kutte, in der sie steckte wie in einer bereits abgestreiften Hülse. Schon von weitem hob sie die Arme. Alle drängten hinzu. Und da erfuhren sie's dann: Toul hatte sich ergeben. Diese schrecklichen Prussiens drangen vor, immer weiter vor. In Nancy saßen sie ja schon fest. Seit Wochen. Auch bis nach Sainte Anne würden sie kommen. Hierher ins Kloster.

Die kleine Dame hatte mit schwacher, aber pathetischer Stimme gesprochen. Eine Art Gemeinschaftsschrei antwortete ihrer Rede. »Nach Sainte Anne?« Die Oberin nickte.

Ja, sie würden kommen, mit ihren groben, kotigen Stiefeln würden sie durch diese blühenden, fruchtbeschenkten Laubgänge stampfen. Alles nehmen, was ihnen gefällt, alles zerstören, was sich ihnen widersetzt. Sie würden in die Kirche dringen, in die Klostersäle und in die Zellen. Ja, in die Zellen. Wußte man denn nicht, wie die Soldaten es machten, wie es Bazaines Kürassiere gemacht hatten im Marienkloster bei Reims? Die Kapellen waren geleert gewesen nach ihrem Abzüge und die Leiber der Nonnen gefüllt, o ja!

Es lag eine gewisse Befriedigung in der Art, mit der sie die derbe Klostersprache benutzte. So als wolle sie damit, ebenso wie mit der groben Kutte, ihre eigene Zartheit bedecken.

Den Nonnengesichtern ringsum stieg eine Welle neugierigen Abscheus in die wohlgenährten, doch entbehrungsbleichen Wangen.

Die Frau Mutter hob wieder die Arme. »Die heiligen Bilder! Wir müssen die Bilder vor ihnen retten.«

Es kam Bewegung in den Knäuel. Man lief in die Kirche, in die Kapellen, in das Refektorium, Vor allem rettete man die Schutzheilige Sainte Anne, die in mehreren gemalten und gehauenen Exemplaren in Altarnischen stand, an Pfeilern hing. Und dann »Madame«, die Madonna. Man hob sie von ihrem Piedestal im Klosterhofe, der starke, löwenmähnige Knecht mußte helfen. Man schleppte sie zum Keller hinab und versuchte sogar die Grabplatten der toten Äbtissinnen zu heben, um ihnen in ihren gemalten Heiligen Gesellschaft zu geben. Auf den Treppen und in den langen Korridoren hallte das Schleppen und Schlürfen sonderbar wider.

Françoise kam erstaunt aus ihrer Zelle in den Flur hinaus, als gerade Soeur Marie, eine Küchenschwester mit flacher Brust und entzündeten Augen, Sankt Christophorus – seine Füße nach oben – auf ihrem Rücken, die Treppe hinabging. Der gute Alte, selbst gewöhnt ein Tragender zu sein, schien stark verdrossen über diese Gewalttat und sah grimm von unten herauf nach dem gestärkten Schleier der Nonne, der ihn an den Knien kitzelte.

Françoise trat völlig hinaus. »Was gibt es denn?« fragte sie, »warum räumt man aus?«

Ein Dutzend Stimmen antwortete ihr. Die Oberin, die zierlich, mit gespanntem Gesichtchen am Geländer stand und zuschaute, trat jetzt naher.

»Ah, Madame. Sie werden uns helfen in diesem Unglück. Madame ist Elsässerin. Sie verstehen Deutsch zu sprechen, nicht wahr? Sie werden diese Horden in ihrer eigenen Sprache anflehen, uns zu verschonen.«

In Françoises Zelle eingetreten, redete sie eifrig auf sie ein. Das Kloster werde gutwillig ausliefern, was an Vortäten vorhanden sei. Sie würde sich mit den Nonnen in den Keller begeben. Françoise möge unterhandeln.

Françoise stand vor ihr im Türrahmen. Ihre schlank gewordene Gestalt mit dem wanderhaft aufgeschürzten Rock, der Goldschein ihrer kurzen gelockten Haare um das junge Gesicht herum gaben ihr ein wenig das jünglingshafte Aussehen einer Jeanne d'Arc. Wie sie jetzt anfing zu trösten, mutig und sicher, und der Frau Mutter erklärte, die Deutschen seien nicht roh und grausam, schien ihre Art auf die verängstigte Frau durchaus überzeugend zu wirken. Sie entfernte sich gefaßter. Allmählich wurde es ruhiger im Hause. –

Françoise war nicht ruhig. Sie blickte hinab auf die Straße, die sich, bald nackt, bald mit Gebüsch bekleidet und bald im Walde nur erratbar, von Toul nach Frouard zog und von dort nach Nancy.

Nun war also auch Toul deutsches Revier wie Nancy! Auf dieser Straße würden vielleicht bald deutsche Truppen einherziehen, deutsche Sanitätswagen vielleicht, vielleicht Heinrich Hummel.

Sie preßte beide Hände vor die Ohren, als wolle sie sich schützen vor den Vorwürfen, die sie umschwirrten. Der Brief, den sie in Thurwiller an Heinrich schrieb, war hierher ins Kloster an Françoise zurückgekommen. Sie hatte noch immer nicht den Mut gefunden, einen neuen zu schreiben. Sie vermochte es nicht. Die Kühnheit der ersten Tage war schwerer Dumpfheit gewichen. Von Tag zu Tag schob sie ihr Bekenntnis auf. Immer wieder ließ sie sich hineingleiten in den Klosterfrieden. Sie hatte sich hineingewühlt in diesen Frieden, wie man sich nach langem Wachen in sein Kissen wühlt. Aber zu viel Blut und Lärm war noch in ihren Sinnen, als daß sie traumlos hätte darin verdämmern können. In den Klostergängen, im geheimnisvollen Helldunkel der Kirche, den Blick auf das Kruzifix gerichtet, den Weihrauch und die Lieder der vor Gott hingeworfenen frommen Schar einatmend, verharrte sie oft lange wie betäubt, ohne sich hingeben und mitfließen lassen zu können. Kritisch betrachtete sie oft die Nonnen, die, in der niederen Kapelle kniend, die Augen von Entbehrungen trübe, mit Inbrunst den Blick auf jenen nackten Männerkörper hefteten, den sie Christus nannten, und dessen Anblick sie mit Schauern unverstandener Wollust füllte. Dann wieder tat ihr die sanfte Stimme des Geistlichen wohl, der Chorgesang, die grobe, gesunde Beschränktheit der älteren Nonnen, ihre derbe Art zu scherzen. Und wie sie jetzt hier an ihrem tief in die Wand hineingeschnittenen Fensterchen stand, ergriff sie eine feige Angst, das Leben könne wieder nach ihr langen und sie fordern. In dieser Angst ging selbst der Wunsch eines Wiedersehens mit Heinrich unter.

Sie hatte ein paar Karten von ihm erhalten, in denen er sich über ihr Stillschweigen beklagte und ihr voll Stolz und Siegerfreude schrieb. Die las sie immer wieder. Und las sich daraus geflissentlich den Trost, sie werde ihn nicht unglücklich machen durch die Trennung. Vielmehr sei das Zusammenleben zwischen zwei Menschen mit so ganz verschiedener Vaterlandsempfindung erst das eigentliche Unglück geworden.

Das alles half ihr, ihn aus sich hinauszuschieben, sich einzubilden, sie vergesse ihn. Wenn sie jetzt an eine mündliche Aussprache mit Heinrich dachte, erstarrte sie vor Furcht und dann wieder vor Verlangen. Oft schien ihr das als etwas, das nicht mehr sein dürfe, als ein frivoles Halbsein, das sie schände. Sie hatte sich von Pierre »die Mauer« erbeten, sie durfte nicht klagen, wenn die sich nun undurchdringlich zeigte, auch für sie selber. Und sie beklagte sich auch nicht. Sie empfand keine Reue. Der Schritt, den sie getan hatte, in einem Instinkt der Verzweiflung, hatte ihr die Ruhe gebracht. Eine wunde, scheue Ruhe freilich. Denn noch immer lag die Liebe zu Heinrich schwer und tief in ihrem Herzen und versperrte den Platz für jeden andern. Aber sie lag da wie ein Sarg in stiller Totenkammer, den man mit allen seinen Blumen schmückt.

Auch die Ihrigen waren ihr innerlich fremder geworden. Jeder Brief, den sie von ihnen bekam, sprach wie aus weit entfernten Vergangenheiten.

So hatte Virginie ihr aus Gérardmer geschrieben: Hortense hatte ihr Kind geboren, aber es war nicht der Sohn, auf den sie gehofft hatte, sondern ein Mädchen, das wenige Tage nach der Geburt starb. Hortense sei verzweifelt, und auch an Armand hatte sie eine Enttäuschung erlebt. Statt weiter zu kämpfen, war er nach Gérardmer gekommen und verblieb dort müßig. Hortense verachtete ihn deshalb. Martin Balde war rasch aus seiner Gefangenschaft entlassen und hatte sich wieder nach Thurwiller begeben. Er lebte dort im alten Hause. Vorerst als Zuschauer der Begebenheiten. Seine Verpflegung hatte wieder das Salmele übernommen, das bei Hortense durch eine französische Bonne ersetzt wurde.

Eine Nachschrift von Hortense war noch da, ein paar Worte nur. »Wenn Du einen Sohn bekommst, gib ihn mir. Ich werde ihn hier in Frankreich für uns erziehen.«

Françoise stieg das Blut ins Gesicht. Sie lehnte sich an die Fensterscheibe, ihre Wange zu kühlen.

In diesem Augenblick sieht sie weithin draußen vor sich auf der großen Straße irgendeine Veränderung. Sie weiß noch nicht recht, was es ist, aber der Boden des Gehölzes wird dunkler, jetzt blitzen leuchtende Punkte auf, Säbel, Helme, jetzt erreicht es die Straße, jetzt zeigt es sich: deutsche Soldaten, die Verwundete herbeibringen. Sie kommen gerade auf das Kloster zu. Da rafft sie sich zusammen und geht ihnen entgegen.

 

Das Kloster von Sainte Anne hatte ein verändertes Gesicht bekommen. Männer waren da eingezogen, verwundete zwar, denn nur solche erlaubte die Klosterregel, aber eben doch Männer. Bald genug waren Oberin und Nonnen aus ihrem Klosterversteck herausgekommen, halb dem Befehl gehorchend, halb ihrem eigenen Pflichtgefühl, das sie zu den Hilfsbedürftigen rief. Nun gingen unwillkürlich alle Schwestern bedeutsamer umher, und die zarte Frau Mutter hatte zwischen den groben Falten ihrer Kutte etwas Entschlossenes, fast Burschikoses bekommen, das ihr entzückend stand, wie Françoise ihr scherzend sagte.

Die selber bewegte sich unablässig in den Krankensälen. Man hatte ihr ohne viel Worte die Führung überlassen. »Madame est d'un courage hardi et sûr.« Das Refektorium war voll Betten gestellt worden, ebenso Nähsaal und Sprechstube. Es lagen da Franzosen und Deutsche. Und die Schwestern gingen lautlos zwischen ihnen hindurch, mit weichen Bewegungen und wehenden Gewändern, und linderten. Zuerst freilich hatten sie sich jämmerlich gefürchtet vor den Eindringlingen. Und als die ersten hereingetragen wurden, pulvergeschwärzt, die Uniformen blutsteif, die Gesichter gelb und schmerzverzerrt, da hatte es der ganzen Strenge der Oberin bedurft, sie zum Dienste heranzuziehen. Nun aber ging alles in Frieden, und die Gesichter der Gefolterten glätteten sich, dankbar für diese Insel der Reinheit und der Harmonie inmitten des fürchterlichen Wütens und der Leiden des Kriegs.

Der Klosterarzt war ein freundlicher alter Franzose mit wenig Kenntnissen, gewöhnt an die gleichmäßig wiederkehrenden Leiden der Nonnen, in der Chirurgie zurückgeblieben. So ließ man Ärzte aus Nancy kommen. Wer gerade Zeit hatte. Von jetzt ab aber erwartete man den deutschen Stabsarzt, der dem dortigen Schloßlazarett vorstand. Françoise fragte nach seinem Namen. Man wußte ihn nicht. Nun lebte sie fieberhaft auf seine Ankunft hin. Als er dann wirklich kam, ein überbeschäftigter, abgemagerter Herr, an dem die Uniform herumhing, und der vor Nervosität zuckte, bekam sie mitten bei einer Operation, der sie beistand, einen neuen Ohnmachtsanfall. Seitdem verachtete der Arzt sie. Mit Aufbietung aller ihrer Kräfte fragte sie ihn einmal nach Hummel. Wirklich war er lange Zeit in Nancy gewesen und würde wahrscheinlich dorthin zurückkehren. Eben jetzt sei er mit einem Krankentransport tiefer ins Land hinein. Er wußte nicht wohin oder sagte es doch nicht.

Danach wurde Françoise ruhiger. Der Gedanke, Heinrich sei in der Nähe, hatte sie in den letzten Tagen tief zerstört. Mit neuer Kraft widmete sie sich dem Pflegen.

Der Krankensaal war überfüllt. Neben den großen kräftigen Deutschen sahen die zierlichen Franzosen aus wie die Miniaturen in den Brevieren der Klosterbibliothek. Nicht ganz so heilig freilich. Wenn man sie einbrachte, gefangen, enttäuscht, schienen sie von allem Mutwillen verlassen. Wenn man sie dann aber gewaschen und gebettet hatte und gepflegt, kamen sie wieder zu sich selbst, fingen an Witze zu machen, zu fluchen und zu trällern und schauten den Nönnchen mit lachenden Augen unter die Haube, daß sie sich abwenden mußten, um nicht zu lächeln.

In der Küche holten sie es dann nach. Dort war der Hauptversammlungsort der Nonnen. Den ganzen Tag wurden Umschläge gekocht, Mahlzeiten bereitet und dazwischen ausgiebig geplaudert.

Man unterhielt sich über die Deutschen. Diese großen, starken Kerle, über die man lachen mußte, weil sie ja gar keine Unholde und Menschenfresser waren, wie man immer gesagt hatte, sondern gutmütig wie Kinder. Einige unter ihnen waren sogar Katholiken. Die bevorzugte man ein wenig. Man schenkte ihnen Heiligenbildchen und Gebetbücher, und alle wollten immer Briefe schreiben. Immer Briefe. Sowie sich einer nur regen konnte, nahm er Papier und Bleistift und malte seine abenteuerlichen langen Buchstaben, manchmal mit der linken Hand. Konnte er nicht selbst schreiben, so diktierte er einem Kameraden. Und dann zogen sie Photographien aus den Brieftaschen. Häßliche Frauen mit ungeschickter Taille und dicken Bäuchen in lächerlichen Kleidern. Auf die starrten sie, redeten sie mit Namen an und lächelten. Und dann lesen sie. Alles was sie in die Hand bekommen. Viele von ihnen verstehen Französisch, die lesen auch die Zeitung, die zweimal die Woche ins Kloster kommt: »Le Phare«. Dann aber werden sie böse. Madame Füeßli, die Elsässerin, mußte den Nonnen übersetzen, was diese Männer dann so zornig hervorschrien. »Verdammte Lügen,« riefen sie. »Wir sollen Kinder morden, Frauen schänden? Wagen voll Pendulen mitschleppen? Wer kann solchen Unsinn glauben! Wenn jemand uns das von den Franzosen erzählen wollte, würden wir nur lachen!«

Und wie sie dann aussahen. Die erschreckend hellen Augen blitzten, die groben Riesenfäuste ballten sich.

Aber essen konnten sie. Nicht satt zu kriegen. Die Küchenschwester mit den entzündeten Augen und der flachen Brust rührte unwirsch in ihren Tiegeln. »Sie fressen wie der Mutter Ochsen zu Haus. Erst aber kommen meine Franzosen. Die preußischen Schweine können warten.«

Aber sie war die einzige, die diesen Unterschied machte. Und auch sie nur in Worten. Emsig bereitete sie ihre kühlenden Getränke, Gemüse, Eierspeisen und dicken Suppen, gleich gut für Freund und Feind. Und dann kam einer, der ihr Liebling wurde: ein hübscher, blonder Franzose aus dem Elsaß, der lachen konnte so herzlich wie kein anderer, und der mit der elsässischen Madame dieses komische Kauderwelsch redete, das man nicht verstehen konnte. Er war so hübsch, so liebenswürdig. Er bekam die kostbarsten Konfitüren, in sein Omelett mischte sie am sorgfältigsten den Eiweißschnee. Françoise aber wurde seit seiner Ankunft von ihr gehaßt. Der hübsche kranke Franzose sah sie immer mit so verzückten Augen an. Dieser hübsche kranke Franzose war Jules Bourdon. Françoise hatte ihn gleich am ersten Tage entdeckt in seiner Bettreihe, wo er fiebernd, frierend vor Schmerz in einem fort rief: »I bin kapütt, i bin kapütt.« Sie trat zu ihm heran, ohne ihn zu erkennen, der mit geschorenem Kopfe dalag, eine Binde um die Stirn. Und auf einmal lachte er über das ganze, heiße, zuckende Gesicht. »Ah, la voilà.« Er schien sich nicht zu wundern, sie zu sehen. Er griff unruhig nach ihr. Françoise reichte ihm zwei stille, beruhigende Hände. Sie vermochte nicht zu sprechen, so hatte das Wiedersehen mit einem aus ihrer Stadt sie erschüttert. Als müsse plötzlich ihr Vater hereintreten, ihre Mutter, Heinrich.

In diesem Augenblicke kam der Klosterarzt vorbei mit der Oberin. Sein fein gefaltetes Greisengesicht mit dem ewig ermunternden Lächeln wurde ernst, als er vor Jules' Bett trat.

»Was ist mit dem Kind?« fragte die Oberin, die ihn begleitete.

»Es ist im Himmel, Frau Mutter,« erwiderte der arme Bursche fromm, doch ein wenig schalkhaft auf Françoise blickend.

»Habt Ihr Weh?« fragte Françoise, als der Arzt gegangen war und sie den Kranken weinen sah. Er schüttelte den Kopf, suchte ihre Hand zu erhaschen und zu küssen. Die Frau Mutter sah streng drein. Da faßte Jules, der Unverbesserliche, auch nach ihrer Hand, die sie lächelnd zurückzog. »Was wird aus der Klosterregel, meine Kinder?« sagte sie mahnend.

Um Jules' Lager herum war es immer wie Festtag. Mit allen scherzte er trotz seiner Schmerzen, und alle scherzten mit ihm. Nur mit Françoise war er still, wie anbetend. Sie hatte ihm von des Vaters Wegführung erzählt, von Hortenses Übersiedlung. Füeßli erwähnte sie nicht. Jules glaubte, sie sei einfach als Pflegeschwester hierher gekommen. Daß sie ihn hob und wusch, wollte er nicht leiden. Zuletzt, da er immer kränker wurde, gewöhnte er sich daran, und sein » merci vielmol« klang tief ergeben. Er äußerte oft, die sanfte Ruhe der Schwestern ringsum mache ihn kränker. Abends quälte er dann so lange, bis die Nonnen vor ihm sangen. Wollten sie es nicht, so stöhnte er herzbrechend, bis sie ihm den Willen taten. Selbst die Küchenschwester, die einen brüchigen Männeralt hatte, sang aus dem Hintergrund verstohlen mit:

»Virgo rspice, matger aspice, audi nos, o Maria!
Tu medicinam portas divinam.
Ora, ora pro nobis

»Tua gaudia et suspiria juvent nos.
In te speramus, ad te clamamus,
Ora, ora pro nobis.«

Und eines Abends wußte man, daß der lustige Elsässer sterben würde. Die Wunde war zu lange vernachlässigt gewesen. Der Stabsarzt hatte noch einige Knochensplitter und Tuchfetzen entfernen können, aber die Eiterung hörte nicht auf. Jules, als er nach der Operation erwachte, scherzte. »I han gar net denkt, daß so arg viel in mir drin steckt. A véritabel Schatzkäschtel bin i.« Abends dann verlangte er wieder, die Schwestern sollten ihm singen und dazu tanzen, »wie die jungen Maidele tanzen auf den Matten daheim«.

»Tanzen!« Sie stoben entsetzt zusammen und auseinander. Er bestand darauf. Françoise nickte der Oberin zu. »Er wird sterben noch heute nacht.« Da stand sie auf, ließ ihre Nönnchen sich bei den Händen fassen und ordnete den Zug. Die Jüngste, ein rundes, frommäugiges Gesicht, sang leise dazu.

Die andern stimmten ein. Sie gingen im Kreise. Weiche, fließende Wellen zogen sich ineinander, die Haubenschnäbel stießen zusammen. Der Kranke lachte. Plötzlich seufzte er tief. Erschreckt hielten die Nönnchen inne. Jules Bourdon griff in die Luft hinein nach Françoises Hand, dann streckte er sich aus, war tot.

Alle knieten nieder. Einige weinten. Die Oberin aber stand zart, fast fremd am Bettende. Sie hob die schmale Hand. »Wen Gott uns sendet, der ist uns willkommen,« sagte sie, »wen er fortruft, so oder so, dem folgen unsere Gebete.«

Und sie griff zum Rosenkranz.

Françoise blickte ihr mit neidvollen Augen nach, wie sie in der Kirche verschwand.

 

Der arme Jules war begraben worden. Im Erlenwäldchen, unweit des Nonnenkirchhofes, hatte man ihm ein Kruzifix auf seinen Hügel gesteckt. Françoise hatte ihm Blumen aufs Grab gepflanzt. Sie schrieb seinen Eltern, warm und töchterlich. Sie legte all ihr Heimatherz hinein in diesen Brief und ließ es bluten.

Wenige Tage darauf wurde sie ans Tor gerufen. Pierre war da. Er kam zu Fuß, hatte einen Wagen mit Verwundeten im nächsten Dorf gelassen und wollte nun seine Frau mitnehmen. »Heim pour Mulhouse.« Das Betreten des Klosters war ihm nicht erlaubt.

Sie erschrak.

Pierre erwartete sie unter einer der uralten, dunklen Ulmen, die Kloster und Landstraße voneinander trennten. Eine Bank war da. Auf der setzten sie sich beide nieder, die Gesichter zueinander gewendet, ihre Hand in den beiden seinen. Aber es war lauter Fremdes zwischen ihnen. Pierre erzählte, und Françoise erzählte, ohne daß einer dem anderen recht zugehört hätte. In Pierres treubraunen Augen ging dabei beständig ein Fragen und Bitten zu den jetzt ganz undurchsichtigen schwarzen hinüber, die sich oft wie behutsam schlossen. Dann lagen die Lider seltsam bleich im gebräunten Gesicht.

»Sind Sie müde, warum sehen Sie mich nicht an?« fragte Pierre, der das nicht ertrug.

Sie lächelte zerstreut.

»Ich habe eine Überraschung für Sie im Dorfe,« sagte Pierre endlich. »Einen Verwundeten.«

Françoise wurde weiß. Sie zitterte. »Schwer verwundet? Wer ist es?« fragte sie dann fast schreiend. Das Brausen ihres Blutes war so heftig, daß sie kaum den Namen hörte. Nachträglich verstand sie dennoch: »Victor Hugo.« Wirr und haltlos fing sie an zu weinen, und dann hatte sie tausend Fragen. Wo kam der Bub her? War er heimlich in die Armee eingetreten? Hatten die Preußen ihn gefangen? Ihre Worte überstürzten sich.

Füeßli gab ruhige, aber knappe Antworten. Man habe aus dem Etappenlazarett unweit Toul nach ihm geschickt und angefragt, ob er wohl einen verwundeten jungen Elsässer, ein halbes Kind noch, nach dessen Vaterstadt Thurwiller mitnehmen könne. Dieser junge Elsässer sei Victor Hugo gewesen.

Françoise horchte aufgeregt. Zuletzt fragte sie ganz leise noch eins: »Weiß er, daß ich – daß wir zwei – Haben Sie ihm gesagt, daß ich Madame Füeßli geworden bin?«

Pierre verneinte. »Das habe ich nicht. Der arme Bursche hatte genug mit sich selbst zu tun. Man hat ihm das Bein abnehmen müssen,« fügte er hinzu. Er sah dabei besorgt zu ihr hinüber, wie sie die Nachricht treffe.

Die junge Frau legte schmerzvoll die Hände ineinander. »Victor Hugo ein Krüppel!« Aber sie fühlte mit Scham, daß dieser Ausruf nicht viel mehr war bei ihr als eine Gebärde, und daß der Schreck von vorhin, als sie auf Heinrichs Namen wartete, immer noch in ihr nachbebte.

Füeßli stand auf. In seiner Bewegung lag schwer beherrschte Ungeduld. »Nun, er kann von Glück sagen, daß er nicht füsiliert wurde. Es war nahe daran.«

»Warum? Wofür?«

Aber Pierre wollte nichts weiter sagen. Der junge Schlotterbach solle selber beichten. Es werde ihm gut tun. Denn viel schlimmer als seine Wunde sei sein Seelenzustand. »Wenn ich nicht aufgepaßt hätte, er wäre mir unterwegs unter die Räder gesprungen.« Er schwieg und sah sie an. Dann blickte er ein paarmal nach der Uhr. »Wie lange brauchst du, dich zu bereiten?«

Françoise richtete sich auf vor diesem »Du«. Zum erstenmal ließ Pierre sie fühlen, daß sie sein Eigentum war. In diesem Augenblick tiefster Aufgewühltheit hatte das eine verhängnisvolle Wirkung auf die junge Frau. Alles Zurückgedrängte wurde stark und bäumte sich auf gegen ihn. Sie wollte jetzt nicht fort von hier, wollte nicht weg aus der Nähe von Nancy. Ein Böses, Neues schoß in ihr auf, die Kraft sich zu verstellen. Alle Mächte weiblicher List wurden in ihr wach.

»Wäre es nicht am besten,« sagte sie, mit einer Stimme, deren Ehrlichkeit ihrem früheren Selbst abgeborgt war, »ja, wäre es nicht am besten, mein Freund, wenn Victor Hugo hier ins Kloster geschafft und da von uns gesund gepflegt würde?«

»Von uns? Ah, Sie meinen die Nonnen.«

»Und von mir,« sagte sie erbarmungslos.

Er blickte auf. »Sie möchten also noch bleiben?«

Aber sie, sogleich Meisterin in ihrer kaum erst geborenen Kunst, fuhr fort: »Aufrichtig gesagt, ja. Einige Zeit noch wenigstens. Es sind gerade jetzt ein paar Schwerkranke wieder eingebracht. Jedes Paar Hände ist nötig. Wenn Sie's natürlich wünschen, werde ich – – Aber ich dachte, es sei noch nicht so eilig mit der Heimreise.« Sie sah zu Boden, ihre Lider zitterten vor Erwartung. Dann hörte sie des armen Pierre gewaltsam brüderlich gedämpfte Stimme.

»Sie haben recht, Françoise. Man muß sich gedulden; in dieser Zeit gehören wir dem Vaterlande, nicht uns selbst. Sie beschämen mich.«

Françoise war glühend rot geworden. In ihrer Verwirrung und Dankbarkeit legte sie, da im tiefen Schatten geschützt vor den Blicken der Vorübergehenden, ihre schmal gewordenen Arme um Pierres Hals.

Auf Pierres Aufforderung gingen sie dann ein paar Schritte weiter nach dem Wirtshäuschen, für Pilger errichtet, das mit silbrig glänzendem, durch die Sonne verbogenem Schindeldache hart am Wege lag. Man ließ sich auf dem Holztisch vor der Tür im Hausschatten ein Frühstück auftragen, bei dem man schweigsam aß, im Anscheine einer Behaglichkeit, die man nicht empfand.

Pierre litt. Seine Hände, dick geädert, zuckten. Françoise neben ihm fühlte sich verächtlich, zweizüngig, falsch, verlogen. Angstvoll spähte sie umher nach Entschuldigungen. Unruhig blickte sie auf den bröckelnden Kalkbewurf des Hauses, auf die geschnitzten, altersschwachen Holzbalken, die die gebrechlichen Holzwände zusammenzuhalten schienen.

Es war fast Abend geworden, als sie nach dem Dörfchen aufbrachen. Gewitterahnung lag in der Luft. Sie gingen schnell. Françoise war es, da sie so dahineilte, als erwarte sie da irgendwo ein eingreifendes Erlebnis. Seit ihrer allerersten Jugend schon war sie solchen seltsamen Vorgefühlen unterworfen. Früher aber war es Sehnsucht gewesen, wollüstig-dunkle Furcht des Mädchenbluts vor seinem Schicksal, heute war es Fatalismus, tatenlose Ergebung in eine Entscheidung.

Das Dorf, in das sie bei Abendläuten gelangten, war morastig und übelriechend, mit Misthaufen vor den Türen, kleine, schiefe Häuschen mit fliegenbeschmutzten Fenstern, dazu ein schöner, dunkler Menschenschlag mit Augen, deren Feuer die Rebbauern verriet. Wirklich hoben sich auch niedere Hügel im Süden des Ortes empor, deren hohe weiße Stecken, feucht in der Sonne glänzend, zwischen vergilbten Ranken unruhig hervorstachen.

Pierre hauste im einzigen Wirtshause, einer Ausspannung, mit niederen, fliegengeschwärzten Stubendecken und einem Kuhstall, rundem Torbogen und modrigem Unkrautgarten. Ein paar Gemüsebeete waren in die Brennesseln und in das Rankengewirr unzähliger Schmarotzerpflanzen sauber hineingeschnitten. Weiße Schmetterlinge flogen in träger, seltsam dichter Wolke darüber hin. Gegenüber flammte und dröhnte die Schmiede, auf dem Marktplatze jagte sich ein Rudel überernährter Hunde, dicht unter dem blutigen Maule eines toten Kalbes, das da den Fliegen als Eierablage diente. Im Hintergrund zeichnete sich auf einem Baumhügel das langgestreckte Gebäude einer Priesterschule ab.

Das Zimmerchen, in das Françoise trat, war mit hübschen Kretonne-Vorhängen geschmückt, über dem breiten Bett hing ein schönes altes Madonnenbild und schaute lächelnd herab auf die starre, weiße Gestalt, die da in den Kissen lag.

»Er weiß nicht, daß Sie kommen,« flüsterte Pierre. »Treten Sie gerade vor ihn hin, daß er Sie sieht!« Er selbst verließ das Zimmer, um nach den anderen Verwundeten zu sehen, die mit den beiden Helfern drüben im Konvikt untergebracht waren.

Françoise stellte sich am Bettende auf und wartete. Sie sah ein fahles Gesicht mit einem kleinen blondglänzenden Bärtchen auf der Oberlippe. Und jetzt traf sie ein mißtrauischer, forschender Blick aus großen, düster gewordenen Knabenaugen.

»Ça va mieux?« fragte sie ungeschickt heiter aus gepreßter Kehle heraus, »Sie haben keine Schmerzen mehr?«

Er antwortete nicht. Und immer dieser tiefe, leidgefüllte Fakirblick.

Sie fing wieder an zu plaudern.

»Sie wundern sich nicht, mich hier zu sehen?«

Er schwieg. Etwas Abweisendes kam in seine Augen, mit denen er sie noch immer festhielt.

Françoise nahm all ihren Mut zusammen, sie trat zur Seite an ihn heran und ließ ihre Finger sanft über seine braunen, rissigen Hände gleiten, die auf der Decke lagen. Mit Kraft riß er die Arme auseinander. »Tut mi net anrühre, Mademoiselle Balde, tut Euch net vergifte an mir.«

Entsetzt und Beistand suchend sah sie sich nach Pierre um. Hatte er sie zu einem Wahnsinnigen gefühlt?

Victor Hugo streckte jetzt beide Arme hart und gerade von sich, so daß er nun dalag wie ein Gekreuzigter. Und jetzt fing er an zu reden, fieberhaft flüsternd, wie feindgejagt. »Net mir d' Händ anrühre, das sin d' Händ von einem misérable. Jo die Händ« – er betrachtete sie, indem er langsam den ausgestreckten Kopf hin und her wendete – »die Händ do han d' patrie verrote, trahi la France! Mais c'était plus fort que moi.« Und er fuhr auf französisch fort: »Als ich ihn eintreten sah, da in den großen Herbergssaal, kräftig und schön, – ich war ganz verwirrt, mein Herz schlug zum Zerbrechen, und dann – ich habe ihn warnen müssen, man hört mich oder nicht.«

Françoise horchte auf. Eine rätselhafte Unruhe erfaßte sie. »Von wem sprechen Sie, Victor Hugo?«

Der junge Mensch antwortete nicht. Er sah sie mit glänzenden Augen an, lauernd, fast boshaft. Dann schloß er die Augen und stöhnte: »Ah, finir le plus vite cette partie odieuse, nomée la vie! Tuer ce cœur qui meurt pour le crime d'avoir trop aimé.«

Es lag ein Klang von seinem alten Bubenpathos in diesen Worten, der Françoise ein wenig beruhigte. »Wer hat Sie verwundet?« fragte sie. »Waren Sie bei einer Schlacht?«

Er schüttelte den Kopf.

Nach einer Weile fing dann er an, klar und zusammenhängend zu erzählen. Und während er erzählte, löste sich sein Zustand in die alte Vertraulichkeit.

Victor Hugo hatte sich in Basel sehr unglücklich gefühlt. Er schämte sich seiner Untätigkeit dort. Eines Tages erhielt er durch die Post einen Brief, grobe Handschrift, unorthographisches Französisch. Von einem Legionär. Nur ein paar Worte, die ihn aufforderten, am nächsten Tage nach Sechs-Uhr-Läuten an der Sankt-Gallus-Pforte zu sein. Neugierig begab er sich dorthin. Nachdem er eine Weile da gewartet hatte, wollte er eben fortgehen, da sah er ihn, der schon eine Weile unter dem Portal der Barmherzigkeit lehnte und ihn beobachtet zu haben schien. Sein Strolch aus dem Thurwalde in jetzt leidlich anständiger Kleidung. Ohne weiteres begann er einen Plan auseinanderzusetzen! Er habe bereits mit einem Dutzend junger Leute, die er angeworben und an die Kampfstätten geführt, viel geleistet; nun setzte er seine Tätigkeit fort. Nach Basel sei er nur Victor Hugos wegen gekommen. Aus alter Dankbarkeit. Er hatte dabei auf das »Jüngste Gericht« gewiesen, das da über den »Werken der Barmherzigkeit« angebracht war, und auf das Glücksrad über der Tür. Das passe gut für ihre Vokation.

Victor Hugo hatte ihm trocken geantwortet, daß er es dem Curé in die Hand habe schwören müssen, sich nicht als Franctireur anwerben zu lassen. Er war froh über diesen Ausweg aus dem Gewirr von Lockung und Abwehr, das er wieder, genau wie damals im Walde, in sich spürte. Aber der ehemalige Strolch lachte, » Ah bah, c'est tout autre chose, wege dem können Ihr scho mitmache, mit d'r Compagnie des Franctireurs han mir nix z'schaffe. Mir han net so weiße Hose un bérets Narredings.«

Dieser Zusammenkunft folgten andere. Victor Hugo fand unter den Angeworbenen, mit denen der Legionär ihn in einem Landwirtshause zusammenbrachte, auch zwei Baseler Bürgerssöhne vor, die gleich ihm »mittun« wollten. Schließlich waren sie wirklich miteinander davongereist, nach Frankreich hinein. Es war viel von einem geheimnisvollen großen Coup die Rede, den man machen und mit dem man dem Vaterlande dienen würde.

Vorerst lebten sie lärmend und großsprecherisch nicht schlecht in den Schänken halbverlassener Dörfer, die die Furcht geleert hatte. Victor Hugo und die beiden Baseler hielten zusammen, wurden auch nicht recht eingeweiht in das Treiben der andern, die manchmal verschwanden, dann schmutzig und lustig, oft mit zerrissenen Kleidern, manchmal mit sonderbaren Kratz- und Reißwunden zurückkehrten, viel tranken und dann tüchtig draufgehen ließen, auch wohl einander allerlei verdächtige Dinge zeigten; Uhren, Ringe, Geldbörsen. Zu spät erinnerten sich die beiden Bürgerssöhne dann der Gerüchte von unorganisierten Franctireurs, gefürchtet von denen, deren Feinde sie zu vernichten kamen. Leute, die raubten nach Gefallen, die wohl einmal zu einem patriotischen Streich zu haben waren, die aber weit mehr für die eigene Tasche und den eigenen Wunsch sorgten als für das Vaterland. Gerade aber als sie anfingen zu bereuen und an Flucht zu denken, wurde ihnen ein »ehrenvoller Auftrag« zuteil. Man hatte erfahren, der Großherzog von Mecklenburg und sein Stab habe sich nach der Eroberung von Toul nach einem Dörfchen dort in der Nähe in Quartier begeben. Dahin nun sollten die drei jungen Leute als die Ansehnlichsten der Gesellschaft gehen, sich für Kellner ausgeben und den Offizieren im Wirtshause aufwarten. Der Gastwirt war im Einverständnis. Die anderen Mitglieder des Trupps hatten sich im Dorfs versteckt, wo die Mannschaft untergebracht war. Der Großherzog und seine Begleitung würden im Gasthof wohnen. Abends beim Diner, wenn der Hahnenbraten aufgetragen war, sollte Victor Hugo mit einer Gardine zum Fenster hinaus das Zeichen geben. Alle würden ermordet werden.

Freilich erfuhr man dann an Ort und Stelle, der Großherzog selber habe sich nach Châlons begeben, und nur sein Stellvertreter, der General von Bassewitz, sei anwesend. Aber der Plan war nun einmal gefaßt, das Vorhaben im Gange.

Mit Herzklopfen trugen Victor Hugo und seine Gefährten die Speisen auf. Sie waren unter ihrem Kellnerfrack mit Pistolen und Messern versehen und fühlten sich als Helden. Das Diner hatte begonnen. Ein Platz am Tische war noch frei geblieben. Victor Hugo, der den General bediente, hörte ihn sagen, er erwarte noch seinen Neffen, einen Arzt aus dem Lazarett im Palais ducal in Nancy. Eben wurde der Hahn aufgetragen. Victor Hugo stand wie verabredet am Fenster. Da tritt ein großer Mann in Arztuniform ein, Heinrich Hummel. Der junge Mensch hat sich nicht mehr halten können, hat ihn bei Namen gerufen und ist auf ihn zugetreten. »Prenez garde,« hat er ihm zugeflüstert, »Ihr sin in G'fahr.« Sein Gefährte, der neben ihm steht, ein besserer Patriot als er, merkt den Verrat an der gemeinsamen Sache, nimmt in Wut sein Messer und sticht auf ihn ein. Aufregung, Tumult, der Plan ist gescheitert.

Victor Hugo ist zum Fenster hinausgesprungen und davongelaufen. Unterwegs ist er dann halb verblutend in einem Gebüsch liegengeblieben. Als er aus langer Bewußtlosigkeit erwachte, fand er sich in Gefangenschaft bei den Mecklenburgern. Man brachte ihn ins Lazarett. Man würde ihn erschossen haben, wenn sich Hummel nicht für ihn bei seinem Onkel verwendet hätte. Erkannt hatte er bei der flüchtigen Begegnung Victor Hugo nicht, aber er legte für seinen Retter, der mit dieser Warnung den ganzen feindlichen Anschlag vernichtet hatte, ein gutes Wort ein. So sah man von einer Bestrafung ab und ließ es bei strenger Verwarnung bewenden. Als Pierre kam, gab man ihm den Burschen mit, damit er ihn in seine Heimat bringe.

Françoise hatte zugehört, ohne sich zu regen. Sie konnte nicht denken. Hummels Name und Gestalt, hier in der Fremde vor ihr aufgetaucht, erschütterte ihr ganzes Wesen. Mit Dankbarkeit sah sie auf seinen Schutzengel da, der, sogleich ihr Gefühl nachspürend, sein Gesicht ein wenig zu dem ihren hob.

»Ich hab' Euch Euren bien-aimé gerettet, Mademoiselle Balde, gebt mir meinen Lohn.« Und mit einem Rest seiner alten Anmut, die bei seiner Magerkeit und Blasse herzzerreißend wirkte, streckte er ihr die Arme entgegen.

Françoise beugte sich zu ihm und küßte seine Knabenlippen. Er lächelte und legte sich zurück wie ein zufriedenes Kind.

»Ah, sieh da,« sagte Pierre lachend, der eben eintrat, »auf diese Art, scheint mir, gestaltet sich Ihr Samariterdienst bei den Verwundeten ein wenig anstrengend, meine Liebe?«

Sie reichte ihm nur lächelnd ihre Hand. »Victor Hugo hat mir erzählt.«

Pierre antwortete nicht. Man sah jetzt, daß das Lächeln von eben nur flüchtig gewesen war, und daß sein Gesicht voll Leid stand.

»Elsaß ist verloren,« sagte er kurz. Dann berichtete er weiter. »In Freiburg hat sich ein deutsches Armeekorps zusammengezogen. Man wirft überall Brücken über den Rhein. Während diese Truppen nach Belfort und Mülhausen gehen, wird sich ein anderes deutsches Detachement nach Kolmar ziehen, das Oberelsaß zu besetzen.«

»Und Gambetta?« fragte Françoise. »Und Garibaldi, und die levée en masse, von der man in den Zeitungen spricht?«

Pierre zuckte resigniert die Achseln. »Jedenfalls ist der Rückweg jetzt für Sie gefährlich, Françoise. Ich hatte gehofft, ja, ich hatte mir bestimmt vorgenommen, Ende der Woche mit Ihnen zurückzureisen,« er sah sie fest und, wie ihr schien, ein wenig herausfordernd an dabei, »nun aber halte ich es für das beste, Sie lieber nach Nancy zu bringen, wo unter preußischem Regiment wenigstens doch wieder Ordnung herrscht und Sicherheit; auch für uns.«

»Nancy?« Ihr Gesicht überzog sich mit brennender Röte. Er nahm es für ein Zeichen des Bedauerns und drückte ihr die Hand.

»In Mülhausen herrscht größte Unordnung,« fuhr er finster fort, »das vierundachtzigste französische Infanterieregiment, das zum Schütze der Stadt aus Belfort eingetroffen war, ging den eindringenden Badensern nicht etwa entgegen, o nein, es zog mit den Mobilgarden zusammen wieder ab. Das badische Militär fand keinen Widerstand und konnte die Entwaffnung vornehmen. Der Präfekt und der Maire sind aus Mülhausen geflohen, die Fabriken stehen still.«

Victor Hugo stöhnte auf. Dann saß man lange schweigend beisammen. Hin und wieder ergriff Françoise Pierre Füeßlis Hand und streichelte sie in einer Dankbarkeit, von der ihr selber nicht bewußt wurde, wie verbrecherisch sie war.

Der Abend war hereingebrochen. In der Küche nebenan wurde das kleine Souper gerichtet, das Pierre, der als Franzose gern gut, als Elsässer gern viel aß, angeordnet hatte. Als die Suppe hereinkam, klatschte Victor Hugo in die Hände. »Wir hatten so magere Kost, wir in unserem Lazarett,« sagte er entschuldigend. Aber auch die andern konnten sich nicht enthalten, wahrend der Mahlzeit wieder Behagen und Freude zu fühlen.

Bald wurde es für Françoise Zeit aufzubrechen. Der Postwagen, der abends am Kloster vorbeifuhr, sollte sie mitnehmen. Später dann wollte sie mit Pierre in Nancy zusammentreffen, wo er eine sichere Unterkunft für sie suchen wollte. Vom Kloster aus hatte sie leicht Gelegenheit, dorthin zu fahren. Er selbst wollte dann nach Mülhausen zurückkehren, um Eigentum und Gewerbe zu ordnen. Müßte Françoises Rückkehr nach dem Elsaß sich noch länger verzögern, so würde sie nach Gérardmer zu Hortense gehen.

Victor Hugo hörte diesen Verhandlungen teilnahmlos zu. Die freudige Erregung war wieder niedergesunken in ihm. Er sah wieder bleich aus und finster wie zuerst. Beim Abschied von Françoise weinte er ungebärdig. Sie mußte ihn noch einmal küssen und ihm versprechen, ihn zu lieben, so sehr sie konnte.

Pierre brachte sie zum Postwagen. Sie trennten sich mit der Verabredung, sich in wenigen Tagen in Nancy im Grand-Hôtel zu treffen. Françoise wußte, daß demnächst Verwundete aus dem Kloster zu einer Operation nach Nancy geschafft werden sollten. Sie wollte sich dem Transport anschließen.

Zwei Tage darauf war sie unterwegs dorthin. Zitternden Herzens. Sie hatte durch den Arzt erfahren, Heinrich befinde sich augenblicklich dort im Lazarett des Palais ducal. Sie würde ihn sehen, sprechen. Mehr wußte sie nicht. Im letzten Augenblick erkrankte die Oberschwester, die den Krankentransport behüten sollte. So fuhr Françoise denn allein mit dem Kutscher, als Schutz die weiße Fahne, in strömendem Regen davon. An Pierre hatte sie Botschaft gesandt, ihm aber nicht genau die Zeit ihrer Ankunft angeben können. Auch sagte sie ihm nichts von der ziemlich mühevollen Art, in der sie diese Fahrt machen würde, und die sich dann in Wahrheit noch viel beschwerlicher herausstellte, als sie gedacht hatte.

Die Plane des strohgefüllten Leiterwagens war bald vollgesogen und tropfte. Die Fahne, am Kutschbock befestigt, schlug mit trostlos regelmäßigem Klatschen die Breitseiten; der Kutscher, Besitzer des Wagens, trank einen Kirsch nach dem andern und wurde nach jedem mürrischer. Françoise saß da wie eine Nonne, eingehüllt in dunkle, weite Gewänder, aus denen nur die hellen Falten ihrer Ärmelschürze klösterlich hervorschauten. Um den Kopf hatte sie einen dunklen Schleier geschlungen. Ihre Blicke hafteten auf dem jüngsten der Kranken, halb noch Knabe, der im Fieber zuckte und lautlos schwatzte. Françoise erhob sich vorsichtig, nahm ihm die Binde von der Stirn und hielt sie in den Regen hinaus. Als sie ihm das Tuch wieder umlegte, sah sie seine wunderschönen, sanften Augen wie in Verzückung auf ihr Gesicht gerichtet. »Angèle, o'est toi?« Der andere, ältere sah mit skeptischem, ungutem Lächeln auf die beiden. »N'est pas gai de crever comme ça.« Françoise schob sich mit ihrem Weidenkorb, auf dem sie saß, näher an ihn heran. Sie sprach ihm von dem geschickten Arzte, zu dem sie ihn führen werde, und der ihn am Leben erhalten würde. Ihre Stimme bekam den geheimnisvoll verheißenden Ton einer Märchenerzählerin dabei. Denn was sie redete, war nur ein Widerklang aller Hoffnung und Zuversicht, mit der sie selber diese Pilgerfahrt begonnen hatte, die ihr Lossprechung von aller Sünde bringen würde. Während sie jetzt im Eifer des Redens ihren Schleier weiter rückwärts schob, fiel eine gelockte Strähne ihres Haars wie ein Sonnenzeichen an ihrer schmalen, zarten Wange entlang. Der junge Kranke griff danach. Sie lächelte ihm zu und brachte sich wieder in Ordnung. Den älteren, der stöhnte, richtete sie auf. Er hielt sich nicht ohne Vergnügen an ihrem Arm. Sie tat, als bemerke sie es nicht, auch als er scherzend sagte: »O, welche Freude, einmal wieder im Arme einer Schönen zu liegen,« kümmerte sie das nicht. Sie war geheiligt.

Allmählich wurde es auch draußen heiterer. Der Regen hörte auf, die Feuchtigkeit verwandelte sich in erquickende Frische. Vor den Haustüren standen die Landleute und brachten Wein und sonstige Labsal für die Kranken herbei.

Sie begegneten vielen Leuten, die aus Toul geflohen waren. Dazwischen Soldaten der frei gewordenen Belagerungstruppen. Man erzählte: Als sich vor den Eroberern die Tore geöffnet hatten, um die deutschen Truppen einzulassen, stürzten gleichzeitig mit den Bewohnern Hunderte von Leuten heraus, die sich in die Festung geflüchtet hatten, begrüßten die Deutschen als Befreier, drückten ihnen die Hände, umarmten und küßten sie. Sogar die französische Besatzung, die auf dem Glacis stand, begrüßte freundlich die feindlichen Kameraden, die ihnen zu essen brachten. Deutschredende Rothosen drängten sich heran, konnten aber ihr Elsässisch den Plattdeutschredenden nicht verständlich machen.

Françoise sah viel requirierende deutsche Soldaten. Ein stattlicher Dragoner melkte auf offener Straße eine Kuh, ein Artillerist hatte ein Dutzend Hühner, die kreischend mit den Flügeln schlugen, an dem Leibgurt befestigt, überall aber herrschte Humor und eine gewisse beruhigende Ordnung. In den Dörfern waren Postbureaus neu eingerichtet, kleine Feldeisenbahnen beförderten ungestört ihre Güter.

In der Nähe von Frouard dann änderte sich das Bild wieder. Man hätte glauben können, in einem Festkorso mitzufahren. Offiziere aller Grade, auf Ehrenwort freigelassen, kamen lustig, zum Teil sogar ausgelassen in eleganten Chaisen angefahren mit Verwandten, Freunden und Damen jeder Gesellschaftsstufe, die sie von Toul aus begleiteten oder sie dort abgeholt hatten. Aus Nancy wieder strömten Fußgänger und Wagen nach der befreiten Festung hin.

Gegen Mittag waren sie in Nancy. Die Stadt machte, im Gegensatz zu den eben erlebten Szenen, einen gehaltenen, vornehmen Eindruck. Alle Damen waren schwarz gekleidet, phantastisch genug freilich, mit modischen Verschnürungen à la polonaise auf ihren Samtjacken, Falbeln und Spitzen. Dazwischen sah man überall deutsches Militär, meist Kavallerie.

Langsam fuhren sie durch die gewundenen Straßen. Bei jeder Biegung, jeder Einmündung bekam Françoise Herzklopfen. Wenn er ihr plötzlich entgegenkäme! Sie kreuzten die Place Stanislas. Zerstreut verfolgte ihr Auge das heitere Gegitter, das den Platz gegen den Park hin abschließt, glitt über die Fontaine d'Amphitrite, die silbern rauschte, und dann betrachtete sie die an den Toren angebrachten Kronen: lothringische, polnische und französische. Dann sah sie wieder auf die preußische Wache drüben, die gerade eben abgelöst wurde. Das Schauspiel fesselte sie einen Augenblick. Trommler und Spielleute voran, zog die neue Wache auf, mit jenen ruckartigen Bewegungen, die ihr immer komisch erschienen. Die alte Wache steht still. Alle Soldaten haben plötzlich die Gewehre in der Hand und präsentieren. Erst die alte der neuen, dann die neue der alten, ein paar schreiende Kommandos hin und her, Meldungen, dann das »Ratt Ratt« des preußischen Marsches, das sie nun schon gut kennt. Die Figuren treten aus und ein zwischen die Gewehrstützen, wie hinaus- und hineingedreht durch eine Maschine. Auf dem Platz hat sich die Musik aufgestellt und spielt. Eine Menge Volk steht umher und hört zu. Einige halten sich ostentativ die Ohren zu wie vor etwas Widerwärtigem.

Françoise nahm das alles in sich auf, ohne eigentlich es zu sehen und zu hören. Aber angesichts der Vergangenheit und Gegenwart, die sich da auf dem alten Platze schicksalsvoll zusammendrängte, wurde es wohltuend still in ihr. Sie fühlte sich unwichtig und klein, ihr Dasein nur ein Mückentänzchen im Strahl der Ewigkeit.

Jetzt waren sie am Palais ducal angelangt, in dem man das Lazarett untergebracht hatte. Das ganze Erdgeschoß des schönen alten Gebäudes war dazu benutzt, selbst die Gemäldegalerie belegt.

Françoise half ihre Kranken aufbetten und auf die Trage legen. Sie war jetzt ganz ohne Ungeduld, in sich gesammelt, wie der Gläubige, der auf ein Sakrament wartet. Ohne Übereilung tat sie ihre Pflicht der Barmherzigkeit zu Ende, mit Umsicht und Genauigkeit. Ins Palais selber durfte sie nicht, die Regel des dort arbeitenden Mönchsordens verbot es. Das enttäuschte sie bitter. Sie hätte gern Heinrich drinnen überrascht. Nach kurzem Nachdenken übergab sie dem Bruder Pförtner ihre Visitenkarte. Es stand noch ihr Mädchenname darauf. Nach kurzem Warten erhielt sie den Bescheid, man könne den Herrn Stabsarzt jetzt nicht stören, er sei bei einer eiligen Operation. Im Vorhofe aber könne sie warten.

Um sich dieses Warten erträglicher zu machen, betrachtete Françoise den alten Treppenturm mit seinen Gargotten, die Wasser in den Hof hinabspien. Der Säulengang um den Hof herum erinnerte sie so sehr an die Säulen der Rathauskolonnade in Thurwiller, daß sie sich zusammennehmen mußte, nicht zu weinen. Dabei sah sie sich plötzlich in einer Fensterscheibe widergespiegelt. Sie fand sich häßlich und reizlos und erschrak in dem Gedanken, daß Heinrich das gleichfalls sehen würde. Sie fand ein Beet mit Astern, pflückte drei verschiedenfarbige und steckte sie in ihr Brusttuch. Dann fing ihr Herzklopfen wieder an. Ein Arzt in blutiger, weißer Blusenschürze kam vorbei. Er sagte ihr Bescheid über die beiden von ihr Eingebrachten, die eben jetzt operiert würden.

Ob sie nicht helfen dürfe? fragte sie. Aber er schlug es höflich ab. »Man läßt keine Externen zu, vor allem keine Frauen.« Er ging weiter.

Sie nahm sich zusammen. Um sich zu zerstreuen, besah sie die Skulpturen, Grabplatten, Säulenknaufe, zerbrochene Bildwerke, die umher lehnten. Sie versuchte, die mittelhochdeutschen Worte zu lesen, die hier und da eingegraben waren. Vor dem Grabmal einer Fürstin Philippine von Geldern blieb sie lange stehen. Es lag da auf dem Steinsargdeckel die kunstvoll gemeißelte Figur einer Frau im geistlichen Gewande. Sie entzifferte den Spruch:

»Ci-gît tout en pourriture
rendant au mort le triomphe de nature
fille ducale passée
Philipp de Cheldren.
Terre seule pour toute couverture
Soeurs, dites lui un requiescat in pace.«

»Hier ruht ganz in Moder und Staub,
der triumphierenden Natur ein Raub,
Philippine von Geldern,
einst Herzogstochter,
Ihre einzige Decke ist Erde jetzt und Laub.
Schwestern, schließt in euer Gebet sie ein.«

Die Krone lag ihr zu Füßen, und ein kleines Nonnenfigürchen, von dem man nur die Mantelfalten, kaum den Körper sah, las in einem Brevier mit gesenktem Haupte.

Alles das hatte etwas Stilles, Ergebenes und Zeitloses. Françoise meinte, der alte Père Anselme müsse kommen und sagen: »Ich weiß nicht, ob du dich entsinnst, im vierzehnten Jahrhundert – –« Aber die Ungeduld riß sie wieder empor. Auf und ab lief sie wie eine Gefangene.

Wie sie da ging, mit wehenden Röcken und emporgewandtem, sehnsüchtigem Gesicht, hatte sie etwas Fliegendes, Starkes, wie von Flügeln emporgehalten.

Sie war wieder am Ende der äußeren Galerie angelangt, als sie einen Arzt in weißem Kittel auf sich zueilen sah. Im Laufen riß er die Bluse ab und warf sie auf eine Steinbank. Er rannte wie ein Kind.

Konnte das Heinrich sein?

Da war er schon bei ihr. »Du bist gekommen! Nach so langer Zeit!« Er umfaßte sie.

Sie regte sich nicht. Sein langer Bart, der Karbolgeruch, den er ausströmte, der Gedanke, daß er von blutenden Menschen kam, machte sie wild. Mit einem Schrei, wie sie nie gewußt hatte, daß er in ihrer Kehle sitzen könne, preßte sie sich an ihn. Und an diesem ihrem eigenen Tierschrei erregte sie sich noch mehr. Sie drückte ihren Mund an seine Lippen wie verdurstet. Und wie ein Insekt, das zu viel Blut in sich gesogen hat, fiel sie dann in einer Art Ohnmacht zurück in seine Arme. Er hielt sie und redete geschwätzig.

»Daß du gekommen bist! Und so wunderschön. So fremd dein Schleier. Was hast du wohl alles durchgemacht um meinetwillen! Nein, erzähl' mir nichts, was dir weh tut! Jetzt nur wir zwei, nur wir zwei.« Seine Stimme bebte und raunte. Sie ließ sich überströmen von ihr. Unverwandt sah sie ihn jetzt an. Sein Gesicht schien männlicher geworden. Ein Zug von Entschlossenheit war da, den sie nicht kannte, und der sie willenlos machte. Sie hatte Heinrich fast vergessen gehabt, merkte sie nun. Einem anderen hatte sie sich weggenommen als dem, den sie nun vor sich sah. Einem, der nur flüchtig in ihr Leben getreten war, einer schönen Erinnerung. Nun aber war alles wieder da, was sie zu ihm gezwungen hatte: die Erkenntnis, daß einzig sie beide zueinander unlöslich gehörten.

Nach ihrer Art schloß sie die Augen, als könne sie die Außenwelt dadurch verbannen und wieder nur ganz sich gehören. Ihm.

Und wieder kam das Heiße, Zitternde von ihm zu ihr, wie damals im Thurwalde. Und jetzt wehrte sich Heinrich nicht mehr gegen sich selber. Der Griff, mit dem er sie umfaßte, wurde begehrlicher. Er zischelte ihr verlangende Worte ins Ohr.

Ihr Gesicht war fahl geworden, wie mit Aschenperlen bedeckt. »Laß mich,« stieß sie hervor.

In ihrer Gebärde war eine solche Verzweiflung, daß er gehorchte. Sie suchte nach Worten. Durch den Seitengang taumelnd, stieß sie sich hier und dort an den Säulen, wie blind geworden. Ihr dunkles Flattern durch das Gewölbe, das eben jetzt von der Abendsonne purpurrot durchflutet war, glich dem Zucken einer armen Seele im Fegefeuer.

Heinrich hatte die Arme ratlos sinken lassen. Er folgte ihren Bewegungen mit den Augen. »Sage mir, was dich so verzweifelt macht!« sagte er. Und dann, unfähig, sich in diesem Augenblicke höchster Manneserregtheit in irgendeinen andern Gedankengang hineinzubegeben, faßte er, da sie eben an ihm vorüberstürmte, rauh nach ihren beiden Händen. »Bin ich dir zuwider?« fragte er leise und heiser. »Sag'! Bin ich dir vielleicht zuwider?«

Sie schüttelte langsam, in seltsamer Feierlichkeit den Kopf. Und dann, ganz schnell, so als könne sie damit auch die Tatsache flüchtig und unwirklich machen, sagte sie es ihm, die Blicke auf ein Schwalbennest gerichtet, das sich da am Endgeästel der gotischen Wölbung dunkel und wollig in den Schatten preßte.

Er verstand sie nicht. »Was sagst du?«

Da wiederholte sie es, grausam jetzt, fast boshaft, froh, ihre Last auf andere Schultern abzuwälzen. »Ich habe mich mit dem jungen Fabrikanten Pierre Füeßli aus Mülhausen verheiratet.«

Sie atmete tief. Die Farbe kam ihr wieder.

Er ließ sie so plötzlich los, daß sie taumelte. Ein Ton zischte auf aus seiner Kehle. Furchtsam sah sie ihn an. Da brach aus seinem Auge ein blauer Strahl, so hart vor Verachtung, daß sie die Hände vors Gesicht hielt. Sie hörte ein Geräusch, das Pförtchen, das zum Inneren des Klosters führte, schnappte ein. Heinrich Hummel war entwichen. Blutbefleckt und weiß leuchtete sein Blusenkittel von der Steinbank drüben.

Sie warf sich an die Pforte. Drinnen hörte sie seine Tritte sich entfernen, stur und hart, wie in endlose Weiten schreitend.

Sie rüttelte am Schloß, das keine Klinke hatte. Sie schrie. Sie legte ihren Kopf an den eisernen Beschlag der Arabeskenknospen, die sich ihr kalt und spitz ins Gesicht bohrten. Blut floß von ihrer Wange. Fühllos und schamlos hämmerte sie mit den Fäusten an die Tür. Zuletzt kam der Mönch mit dem glänzend schwarzen Bart heraus, der sie hereingelassen hatte. Sie fragte nach Heinrich. Der Mönch gab ihr Bescheid. Er sei nach Pont-à-Mousson abgereist in das große Zentrallazarett, habe noch im letzten Augenblick die Vertretung eines Kollegen, der dorthin fahren sollte, übernommen.

Françoise sah ihn an, ohne recht zu verstehen. Ob er ihr nichts hinterlassen hätte? fragte sie.

»Nein, nichts.«

Da packte sie ein Zorn. Hätte er sie beschimpft, geschlagen, sie würde geduldet haben und begriffen. Aber dieses lautlose Entweichen war das Ärgste. »Gerecht sind diese Deutschen, nichts als gerecht!« Sie fühlen nicht, sie verurteilen nur. In diesem Augenblicke dachte sie an Toinette Groff. Herausreißen wollte auch sie aus sich, was sie noch Deutsches in sich hatte!

Beim Weggehen kam sie an Philippine Gelderns Sarg vorbei. »Du hast es gut,« sagte sie und strich über den glatten Stein.

Dann, ohne irgend zu wissen wohin, ging sie davon.

Sie setzte ohne ihr Zutun Fuß an Fuß und kam so weiter, stieß auf der Straße an Menschen und wurde mitgeschoben. Sie fühlte nicht, sie dachte nicht, sie ging und ging. Manchmal sah sie in die Fenster der Häuser hinein, in denen unter der Lampe Familien beim Abendessen saßen oder Leute an ihren Tischen schrieben. An der Place Stanislas strich sie dicht am Grand-Hôtel vorüber. Die Fenster seiner Salons, hell erleuchtet, reichten bis zum Boden. Der Speisesaal war menschengefüllt. Ein Geruch von Speisen, der Françoise Übelkeit erregte, drang heraus. Im Lesezimmer daneben saß ein einzelner Herr und las Zeitung.

Françoise stand das Herz still. »Pierre!«

Er blickte auf, sah eine fliehende Gestalt, die kraftlos schwankte, und war in ein paar Schritten bei ihr. »Wie du zitterst!« Er nahm sie fest an seinen Arm und führte sie ins Haus.

Françoise überließ sich ihm, jede Kraft war ihr gebrochen. Er setzte sie in einen Sessel, rieb ihr die Hände und klingelte nach Wein. Sie sah ihm zu. »Nimm mich mit dir nach Mülhausen!« sagte sie endlich leise.

»Ma femme,« sagte er beruhigend.

Sie küßte seine herabhängende Hand mit Heftigkeit. »Nur du, nur du bist gut.«

Er strich über ihr heißes Haar, unter dem es pulsierte wie bei einem ganz kleinen Kinde. »Du hast ihn getroffen?«

»Du weißt?«

Er nickte. »Victor Hugo hat mir gesagt.«

Da kam eine große, wundervolle Ruhe über sie. »Es ist aus,« sagte sie leise.

Er nahm sie in seine Arme und ließ sie weinen.


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