Thomas Theodor Heine
Seltsames geschieht
Thomas Theodor Heine

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Waldweben

»Es gibt nichts Herrlicheres als den Wald«, sagte der Vater, da er mit seiner Gattin und der Kinderschar frohgemut zwischen den Stämmen spazierte, die so dicht standen, daß das Sonnenlicht nur stellenweise hindurchdringen konnte.

»Eigentlich ein bißchen unheimlich«, meinte die Frau, »wie leicht könnte sich eins von den Kindern verirren. – Willst du 75 wohl dableiben, du Lausbub!« Gerade wollte nämlich einer der Knaben im Waldesdunkel Versteck spielen.

»Und du bist eine Lausmama«, lachte der, wofür er sofort eine Ohrfeige bekam.

Das schlimme war nur, daß der Bengel recht hatte: Dies war nämlich der Spaziergang einer Läusefamilie im menschlichen Haarwald. Der ist ein Wald in Miniaturformat. Die Bäume haben allerdings keine Zweige, nur Stämme. Die genügen aber, um das poesievolle Waldesdunkel zu erzeugen, unerschöpfliches Motiv für die Lyrik seiner Bewohner. Jünglinge und Mädchen pflegen diese Lieder bei ihren Wanderungen zu singen. Wenn es ganz still ringsum ist, wie zum Beispiel bei einer der so peinlichen menschlichen Gesprächspausen, kann man die Läuse singen hören. Im Frühling gehen die Wanderlieder mehr ins Erotische über. Da steht oft ein verliebtes Paar eng umschlungen vor einem Stamm und ritzt ein Herz und Initialen in die Rinde.

Der Boden des Waldes ist mit uraltem Humus bedeckt, in dem die Haarwäldler reichliche Nahrung finden.

Ältere Waldbestände sind meist etwas gelichtet, ja es finden sich freie Plätze darin, deren glatter Boden vorzüglich zum Tanzen geeignet ist und im Dunkel der Nacht fleißig von der Jugend benutzt wird.

Die Lausgelehrten haben festgestellt, daß ihre Welt nicht etwa, wie man früher meinte, eine Ebene bildet, sondern daß sie mehr 76 kugelförmig ist, nur teilweise waldbedeckt und bewohnbar. Entdeckungsreisen in die unbewohnten Teile des Globus endeten fast immer mit einer Katastrophe, die Forscher wurden plötzlich von rätselhaften Naturgewalten in die Höhe gerissen und verschwanden unter eigentümlich knackenden Geräuschen, die vermutlich auf elektrische Entladung zurückzuführen sind. Deshalb hat man diese zwecklosen Unternehmungen eingestellt, und die Gelehrten des Waldgebietes befassen sich jetzt mehr mit dem Studium der anderen Weltkörper, die, bald näher, bald entfernter, sich in gesetzmäßigen Bahnen zu bewegen scheinen. Die Beobachtungen haben ergeben, daß auch sie stellenweise von Wäldern bedeckt sind. Ob diese Forstbestände ebenfalls bewohnbar und bewohnt sind, konnte noch nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Expeditionen, die in diese kosmischen Gebiete unternommen wurden, hatten zweifelhaften Erfolg, man blieb ohne Nachricht von ihren Teilnehmern und weiß nicht, ob es ihnen geglückt ist, ans Ziel zu gelangen und dort weiterzuleben.

Nach einer alten Überlieferung sollen in grauer Vorzeit einmal alle Bewohner, bis auf eine überlebende Familie, durch Wasserfluten zugrunde gegangen sein. Vielleicht ist das nur eine Sage, und solange keine neue Überschwemmungskatastrophe hereinbricht, können die Haarwäldler unbesorgt ihr idyllisches Dasein weitergenießen. 77

 


 


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