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Mein lieber Neffe Paul, wenn Dir diese meine Aufzeichnungen zu Gesicht kommen, die ich Dir letztwillig vermacht habe und die ich Dir heute im Geiste übergebe, lebe ich in der Ewigkeit. Du aber wollest diese Blätter an Dich nehmen als ein Zeichen meines Dankes für die Liebe, die Du mir erwiesen hast. »Denn ich war krank und Du hast mich besucht.« Du hast mich besucht, obwohl ich alt und krank war, Du aber jung. In der Gegenwart Kranker pflegen junge Menschen alsbald von Langeweile überfallen zu werden; sie stehen dann auf, sehen zum Fenster hinaus oder machen Schritte am Ort. Das ist natürlich. An Dir aber habe ich, wann immer Du mich besucht hast, nichts dergleichen wahrgenommen! Dich hat Gott als ein ruhiges Wesen erschaffen mitten in dieser unruhigen Zeit. So wirst Du, wie ich hoffe, gut zu bestehen vermögen, auch wenn tiefere Prüfung Dich antritt. Sie wird Dir nicht erspart bleiben, ob Du schon reinen Herzens bist und im Geiste Deines Gemütes vom Unreinen nicht berührt; alles Reine muß ja noch reiner werden – im siebenfachen Schmelztiegel. Mögest Du durch das Lesen dieser Blätter dafür gestärkt werden!

Dein Vater ist früh von Dir genommen worden, im Maien seines Lebens, in jenem furchtbaren Erstschnitt, der nach Gottes Willen die Völker getroffen hat, und wovon ein schottisches Volkslied singt: »Die Blumen des Landes sind dahingemäht ...« Dein Vater konnte Dir nichts sagen vom Leben, noch vom inneren Verlaufe der Dinge, der das Gestern und das Heute bestimmt hat und bestimmt. Aber er hat – was ich nicht versäumt habe, Dir wiederholt zu erzählen – alles klar gesehen. Die Größe seines Blutopfers lag darin, daß er es nüchtern und wissend darbrachte. Seinen letzten Brief, den ersten und letzten nach der schmerzlichen Trennung, die ich verschuldet hatte, findest Du ja in diesen Blättern. »Wegen der Gottlosigkeit, die eingerissen ist unter den Völkern, müssen wir hier sterben, und aus keinem anderen Grunde. Dies sage Du dereinst meinem Sohne!« Und ich habe es Dir gesagt, ich, der ich allerdings selbst ein Sünder gewesen bin, im Vergleiche zu welchem mancher scheinbar Gottlose edel zu nennen war.

Wenn Du dies hier liest, hast Du vielleicht schon von irgendwoher erfahren, wie ich selbst ehedem gelebt habe. Trotzdem will und muß auch ich Dir es in aller Kürze erzählen; denn in meinen Aufzeichnungen hier berichte ich ja nur Einiges von dem, was nach der Beendigung meines früheren Lebens mit mir und um mich herum geschehen ist. Das kannst Du aber nur richtig verstehen, wenn Du weißt, was vorher war. Erst dann werden Dir diese Blätter auch einigen Nutzen bringen können. Ich war ja ein ganz anderer Mensch als Du und als Dein Vater, dessen Geradheit und Festigkeit jeder Mensch bewundern mußte, und der vielleicht bei etwas weniger Schroffheit (wie sie zu seinem Temperament gehörte) mehr Einfluß auf mich gehabt hätte. Ich war schwach, und vor allem, ich war voll Unruhe. Allerdings habe ich mich früh der Leidenschaft ergeben, wodurch ich noch viel unruhiger wurde. Als Du mich kennen lerntest, hatte mich Gott schon lange in die Schule seiner Erbarmung genommen. Vorher war ich gänzlich verwildert. Ich bedurfte daher einer besonderen Zucht, und Gott hat sie mir angedeihen lassen. Ihm sei Dank für alles, am meisten aber dafür, daß er mich in dem Augenblicke, den seine Barmherzigkeit dafür vorgesehen hatte, gewissermaßen völlig vernichtet und zerbrochen hat. Anders konnte ich ja nicht neugeschaffen werden. Denn ich lebte wie ich wollte, tat was mir beliebte, und war in allem schon so unbändig, daß mich Gott zuerst niederschmettern mußte, damit ich mein Nichts und seine Gnade erkannte. Aber auch so noch habe ich diese Erkenntnis nur langsam gewonnen, d. h. ich habe sie mir eben nur langsam zu eigen gemacht. Erst heute vermag ich zu sprechen, heute, im Abendgebet meines Lebens: O Herr, ich danke Dir, daß Du mich damals zerbrochen hast! Ich danke Dir für alle Niederlagen, für Enttäuschungen, Hilflosigkeit, Einsamkeit und Krankheit. Wunderbar hast Du dies alles gemacht. Denn durch all dies hast Du mich neugeschaffen für das Leben in Deiner Gnade, welche ist der Atem des Schauenden, der Odem der Liebe, die Morgendämmerung des Ewigen Tages, des Ewigen Tages Deiner Herrlichkeit!

Ich habe mit dem Ende begonnen, lieber Paul, ich sollte mit dem Anfang beginnen.

Also höre:

Ich, Dein Onkel, Paul Augustin, genannt Amwald, trage diesen Namen zwar nach der kleinen Besitzung bei München, die, wenn Du dieses liest, auf Dich übergegangen sein wird, aber vorher habe ich natürlich geheißen wie Du. Vorher, nämlich solange, bis mich die Ereignisse in meinem früheren Leben zu dem Entschlusse brachten, einen anderen Namen für mich zu suchen, und den damaligen bayerischen Prinzregenten, meinen Herrn, um die Erlaubnis zu bitten, ihn zu tragen. Ich sage: die Ereignisse in meinem früheren Leben. Ich könnte auch sagen: meine eigenen Handlungen. Aber ich glaube, daß die letzteren nur zu den Ereignissen mitgewirkt haben, die ihrerseits göttliche Schickung und Zulassung gewesen sind; ich selber hätte sie ja damals nicht zugelassen.

Als Kind bin ich in der Furcht Gottes erzogen worden, und nicht nur in der Furcht, sondern auch in der Liebe Gottes. Von Natur war ich rasch, unbesonnen, eher weichherzig, zum Guten wie zum Bösen leicht zu beeinflussen, reizbar und jähzornig. Dabei neigte ich stark zu einer gewissen Frömmigkeit, jedoch traumhaft und nach Gefühl, wie ich denn überhaupt lange unerwacht in einer Welt lebte, die gleichsam nur sui generis gewesen sein mag, unendlich und maßlos, und in der ich die Berührung mit der Wirklichkeit immer wie eine Verwundung spürte – kurzum, ich war scheinbar gutmütig, im Wesen aber unfaßbar und ungebärdig. Nur ein einziges Beispiel aus meiner Kindheit, jedoch eines, aus dem Du deutlich ersiehst, wie sehr die Dämonen bemüht sind, schon die Seelen der Kinder deren gutem Engel zu entreißen:

In der Karwoche richtete ich mir einmal, unter dem kleinen Altar, den ich im Schlafzimmer besaß und eifrig zierte – als kleiner Junge wollte ich immer nur Priester werden –, ein Heiliges Grab zurecht. Dazu hatte man mir eine aus Wachs gebildete kleine Figur des vom Kreuze genommenen Heilands geschenkt. Diese trachtete ich nun in das von mir erstellte Grab hineinzulegen, so wie ich es in der Kirche gesehen hatte. Aber der innere Aufbau im Grabe, auf den ich die Figur des Heilandes legen wollte, war ungeschickt verfertigt, die Figur fiel immer wieder herab. Als ich mehrere Male vergebens versucht hatte, sie so darauf zu legen, daß sie hielt, geriet ich über das Mißlingen plötzlich in Raserei, ergriff die Figur und brach sie mitten entzwei. Indem ich nun die Stücke vor mir liegen sah, wurde ich furchtbar ernüchtert, und unbeschreibliche Angst vor dem begangenen Frevel erfaßte mich. Unter vielen Qualen beichtete ich dann diese Sünde dem Priester, ja mit so viel Furcht, davon gar nicht losgesprochen zu werden, daß der Priester mich hiedurch genügend bestraft sah und auf das Verübte selbst nicht näher einging.

Von solchen und ähnlichen Ausbrüchen abgesehen, träumte ich als Kind glücklich dahin.

Der frühe Tod meiner Eltern hat mich in sehr jungen Jahren selbständig gemacht. Meine Geschwister waren, wie Du weißt, nur wenig älter als ich. Auf dem Lande konnten wir der Studien wegen nicht bleiben, zudem aber studierten wir nicht am gleichen Orte, hatten geringe Fühlung miteinander und waren somit mehr innerlich als äußerlich verbunden.

Ich trat in die Armee ein, mit der Absicht, später zum diplomatischen Dienst überzugehen, eine Laufbahn, die damals für unsersgleichen möglich war. Ob ich diese Absicht auch wirklich ausgeführt hätte, scheint mir nicht sicher, es tut ja auch nichts zur Sache, ich war ja nur neun Jahre in der Armee. Es gab bessere Offiziere in meinem Jahrgang, aber ich habe den Beruf geliebt, kam vorwärts, und war, obwohl ich zeitweise zum Generalstab kommandiert wurde, bei allen wohlgelitten, ja wurde eigentlich von allen verwöhnt. Vielleicht war ich ein guter Kamerad, jedenfalls galt ich dafür. Da alle gut zu mir waren, hätte es schon einer willkürlichen Bosheit bedurft, um nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Es lag in meiner Natur, daß ich mit einigen auch in einer engeren, heute würde man wahrscheinlich sagen ›überspannten‹ Freundschaft lebte. Zu damaliger Friedenszeit gab es in der Armee – entgegen dem, was man außerhalb von uns wußte –, unter der jüngeren Generation des Offizierskorps geistig sehr hochfliegende Menschen. Es war lange nicht mehr Krieg gewesen, und noch warf der kommende keine Schatten voraus. Der Friede war zu einer gewissen Selbstverständlichkeit geworden. Im Bedürfnis, ihrem Leben einen idealen Vollsinn zu geben, betrachteten sich die geistiger Gerichteten unter uns als Volkserzieher; als solche waren sie bemüht, einige sogar mit Ungestüm, außerhalb des Dienstes das geistige Ideengut der Nation sich anzueignen. Wieder andere musizierten fleißig. So war es wenigstens in gewissen Kreisen der bayerischen Armee. Ob auch anderswo, darüber habe ich keine Erfahrung. Mit solchen geistigen Menschen war es für mich herrlich zu leben, und zu diskutieren, manchmal ganze Nächte lang. Obwohl ich nämlich nichts mit System studierte (dafür war übrigens, wie Du nachher sehen wirst, mein Privatleben zu bewegt), so hatte ich doch immer große Freude an Kameraden, die etwas studierten und wußten, ja eine gewisse Sehnsucht zu hören, wie nun solche Menschen das Leben ansähen. Mir war immer nur das Leben wichtig, jedoch nur das bewegte, und von Ideen das, was Bewegung in das Leben brachte. Wenn ich mir dies jetzt überlege, kommt es mir vor, als ob der Mensch überhaupt mit zunehmender Entfernung von Gott in eine wachsende innere und äußere Bewegungssucht, in immer sinnloseres Tempo gerät, am Schlusse dann in Ideenflucht und Bildergier. Könnte es nicht sein, daß Auto, Kino und Illustrierte Zeitung und was alles sonst, nicht die Unruhe der Menschen geschaffen haben, sondern daß vielmehr die Unruhe alledem vorhergegangen ist und es mitbestimmt hat? Aber das nebenbei. Ich wollte von meinen philosophierenden Kameraden erzählen.

Selber verstand ich also nichts von Philosophie, es schien mir, als seien die Bücher, die mir zu Gesicht kamen, in einem unklaren Deutsch geschrieben, und als müßte all dies unbedingt viel einfacher gesagt werden können. Vielleicht rührte diese ungestillte Sehnsucht, die Gedanken einmal klar und deutlich zu hören, von meiner Unbildung her. Ich konnte jedenfalls beim besten Willen nicht mittun, wenn in dieser Weise philosophiert wurde. Nun aber begann damals Nietzsche modern zu werden. Bei ihm war alles aufs Leben bezogen, auf Bewegung des Lebens. Er begeisterte unseren Freundeskreis. Ich erzähle es nicht etwa deshalb, um Dir gegenüber, lieber Paul, die kommenden Ereignisse meines Lebens und meine Schuld auf diesen Nietzsche abzuwerfen. Gleichwohl steht für mich fest, daß das Lesen einiger seiner Schriften für mich, für einen Menschen wie ich es war, verhängnisvoll geworden ist und werden mußte. In Nietzsche steht ganz gewiß vieles, was einen adelig gesinnten Menschen, vollends einen Soldaten, in menschlichen Tugenden bestärken kann. Sogar, wie mir scheint, viel Religiöses. Wenn jemand sagt, das höchste Glück des Menschen ist »heroisches Leben«, so mag er dies in naturadeliger Gesinnung sagen können. Aber wenn er »seinen Freunden Niederlagen, Demütigungen, Krankheiten, Einsamkeiten wünscht ...«, sagt er damit doch schon viel mehr, als aus der bloßen Menschennatur geschöpft werden kann. Mir jungem, unfertigen Menschen von damals wurden die Schriften dieses Mannes gleichwohl zu seelischem Verhängnis. Zwar lebte ich nun doch schon seit Jahren mitten in der Welt; zwar war ich schon längst verstrickt gewesen in Liebesleidenschaften, hatte Menschenleben verwüstet, in die ich mit der blinden Naturkraft eines jungen Herzens wie mit Feuerbränden eingebrochen war – trotzdem lebte ich noch fast ganz in jener gewissen Traumwelt eines innerlich unerwachten Menschen, aus der mich erst die kommenden Ereignisse erweckt haben. Und nun finde ich, daß in Nietzsche viel unwirkliche Welt ist, Kosmos des Rausches, und daß er mich in meiner damaligen Traumwelt bestärkt hat. Daß er mich darin bestärkt hat, immer noch mehr zu tun was mir gefiel und mir dazu noch ein gutes Gewissen der Selbstbejahung anzumaßen, »jenseits von Gut und Böse«, wie es mir Traummenschen damals am meisten genehm war. Ich bediente mich fortan seiner Worte und Bilder, um meinen Leidenschaften eine erhabene Größe anzudichten.

Nicht im Geringsten habe ich vor, Dich mit einer Erzählung meiner Liebesangelegenheiten zu langweilen.

Hingegen muß ich Dir nun die letzte und blindeste meiner Leidenschaften erzählen, damit Du alles Weitere in meinem Leben zu verstehen vermagst. Es kam so:

Ich war während der letzten Manöver, die ich mitgemacht habe, drei Tage in der Villa eines höheren, im Ruhestand befindlichen Beamten einquartiert. So kurz die Zeit war, genügte sie, daß ich in Leidenschaft zu der jungen Frau des Hauses entbrannte. Diese Frau war völlig unerfahren, und alle Schuld lag auf meiner Seite. Was mich anbetraf, so handelte ich übrigens nicht etwa nach irgend einem vorbedachten Plane, sondern ganz in der Raserei meiner Liebe.

Genug, diese Unglückliche kam nach einigen Wochen zum Besuche von Verwandten in die Stadt, und ich traf sie heimlich. Auch bewog ich sie, von ihren Verwandten zum Schein zwei Tage früher abzureisen. Diese zwei Tage verbrachte ich in einem Hotel mit ihr. Als sie dann wirklich heimreiste, war sie, obwohl ich ihr versprach, sie zu heiraten, und entschlossen war, den Dienst zu quittieren, um sie nach ihrer Scheidung heiraten zu können, so über sich selbst verzweifelt, daß ich sie im Zuge bis zur vorletzten Station vor ihrem Wohnort begleitete; denn ich fürchtete, sie möchte sich aus dem Zuge stürzen. Sie liebte mich ebenso wie sie mich verabscheute. Meine Leidenschaft war wie ein giftiger Brand auf sie übergesprungen; ihr innerstes Wesen aber wehrte sich gegen mich.

Mehrere Umstände trafen zusammen, um ihren Gatten in einen Abgrund des Mißtrauens und der bittersten Ahnungen zu stoßen, noch bevor sie selbst – sofern sie überhaupt in der Verwirrung ihres Herzens dazu genug Fassung gefunden hätte – ihm etwas von der Scheidung, zu der ich sie drängen wollte, sagen konnte. Er fand einen kurzen, leidenschaftglühenden Brief von mir, den ich, als sie in der Stadt gewesen war, ihr geschrieben hatte. Auch erfuhr er – es sollte eben so sein – alsobald nachher, daß sie von den Verwandten zwei Tage früher abgereist, als zu Hause eingetroffen war. Auf seine Vorstellungen hin erwiderte sie kein Wort, verließ noch am gleichen Tage das Haus und begab sich zuerst zu ihrer am gleichen Ort wohnenden Schwester. Tags darauf aber, weil von der Schwester ungut aufgenommen, reiste sie in die Stadt und stieg in einer Pension ab. Sie teilte mir das Geschehene brieflich mit, sprach aber nicht einmal den Wunsch aus, mich wiederzusehen. Ich stürzte zu ihr. Sie empfing mich mit trauriger Sanftmut, aber, obgleich sie ihre Liebe nicht verhehlte, verweigerte sie mir jede Zärtlichkeit. Auch in Zukunft setzte sie meiner Leidenschaft Abwehr und Tränen entgegen.

Inzwischen ging das Schicksal seinen Gang. Der Ehemann hatte zwar keine schlüssigen Beweise in Händen, aber klagte auf Ehescheidung, indem er seine Frau und mich des Ehebruches beschuldigte.

Die Unglückliche wurde, ebenso wie ich, zur Verhandlung vorgeladen. Sie erschien nicht und ließ durch ihren Anwalt nur kurz erklären, daß sie das Weitere abwarten wolle. Ich aber ging hin. Der Anwalt des Gatten war mir zufällig bekannt, er war mit mir am gleichen Gymnasium gewesen. Er ging auf mich zu und fragte mich, in der besten Absicht der Welt, ob ich zur Vereinfachung der peinlichen Verhandlung beitragen und ihm gegenüber meine Schuld eingestehen wolle. Ich hielt es für meine Pflicht, zu leugnen. Der Anwalt wandte sich, sichtlich aufs äußerste befremdet, von mir ab und nahm seinen Platz ein. Ich habe später viel über den inneren und äußeren Hergang nachgegrübelt, konnte mich aber nie darauf besinnen, ob ich meine nun folgende Vereidigung schon vorher bedacht und ins Auge gefaßt habe. Das mag Dir sonderbar scheinen. Aber welchen Grund hätte ich heute, Dir und mir etwas vorzumachen! Du kannst mir glauben: auch heute kann ich mich nicht auf diesen Umstand besinnen. Genug, ich wurde vereidigt und unter Eid gefragt, ob ich mit der Frau des Klägers die Ehe gebrochen hätte. Ich verneinte die Frage kurz, kategorisch und ohne Besinnen.

Meine Antwort setzte den Gerichtshof in Erstaunen. Der Richter gab sich wenig Mühe, dies Erstaunen zu verbergen. Die Antwort wurde zu Protokoll genommen, und ich ging.

Wenige Tage später erhielt der Ehemann von dem Zimmermädchen des Hotels, in dem wir seinerzeit geweilt hatten, wahrheitsgetreuen Bericht über alles, was sie von unserem kurzen Aufenthalt wußte.

Nun kurz zum Ende, lieber Paul. Ich wurde wegen Meineids angeklagt und verurteilt. Nach der Verurteilung wurde ich aus der Armee ausgestoßen. Jene unglückliche Frau vergiftete sich mit einem Schlafmittel und starb.

Ich wurde herzkrank, mußte daher aus der Haft entlassen werden, und wurde für den Rest der Strafe vom Prinzregenten begnadigt. Auch wurde mir, insbesondere aus Rücksicht auf meine Verwandten, die meine Bitte ihrem eigenen Namen zuliebe unterstützten, die Namensänderung genehmigt. Ich war in der Heimat unmöglich geworden. Krank an Leib und Seele reiste ich in die Schweiz, nach Lausanne, eben der Stadt, in der ich, mit kurzen Unterbrechungen, seit fünfundzwanzig Jahren lebe.

Dieses also, mein lieber Paul, ist die Vorgeschichte meines Lebens, somit auch die Vorgeschichte zu diesen Blättern hier, welchen ich, wie schon gesagt, Einiges von dem anvertraut habe, was seither mit mir, in mir, und um mich herum geschehen ist.

*

Aufschrift auf dem Umschlage:

»Dieser Brief ist, mitsamt meinen versiegelten Aufzeichnungen uneröffnet meinem Neffen Paul ... zu übergeben.

Krankenhaus Bon-Repos,
Lausanne, März 1931
(gezeichnet:)
Paul Augustin gen. Amwald.«

Lausanne, 29. September 1906

Heute sind es gerade drei Monate, seit ich hier eingetroffen bin. Ich will nun doch anfangen, etwas aufzuschreiben. Tante Maria ..., die immer, wenn Mutter krank war, zu uns aufs Land gekommen ist, wollte ja uns Kinder so gern dazu bringen, daß wir von Zeit zu Zeit »etwas aufschreiben, z. B. was schön gewesen ist«. Sie sagte: Das hilft zur Besinnung, zur Dankbarkeit für alles Gute, was man von Gott und von Menschen erfährt. Es macht wach und wachsam. – Das Letztere galt immer mir. Sie hat mich wahrscheinlich besser gekannt als irgend ein Mensch auf der Welt ... Wie einem doch die Dinge aus der Kinderzeit zeitweise so lebendig werden! Ich sehe Tante Maria wie leibhaftig vor mir, ich höre sie, Wort für Wort. Ich war gerade aus dem Walde zurückgekommen, wohin ich so oft entlief –, da fragte sie mich:

»Was hast du im Wald gemacht? –«

»Ich bin herumgegangen. –«

»Was hast du gedacht? –«

»Nichts.«

»Wie lange bist du im Wald gewesen? –«

»Ich weiß nicht. –«

»Hast du das Mittagläuten nicht gehört? –«

»Nein ... ja doch ... ich weiß nicht. –«

»Warum gehst du immer in den Wald? – Die Anderen gehen ja nicht so gern. – Warum gehst du immer? –«

»Ich gehe am liebsten in den Wald. –«

Mehr brachte sie für einmal nicht aus mir heraus. Ich erinnere mich auch an den Abend. Wir waren nach dem Essen noch in den Garten gegangen, bis die Sterne kamen. Da fragte sie:

»Warum sagst du nichts? –«

»Was soll ich denn sagen? –«

»Was denkst du? –«

»Nichts. –«

»Was siehst du? –«

»Ich sehe einen silbernen Löwen. –«

»Wo? –«

»Am Himmel. Es ist meiner. –«

»Wie, es ist deiner? –«

»Mein silberner Löwe. –«

»Wo? –«

»Er geht durch die Sternenwiese. –«

»Durch die Milchstraße? –«

»Es ist aber doch die Sternenwiese. –«

»Was tut dein silberner Löwe? –«

»Nichts. Er geht. –«

»Wohin geht er? –«

»Ich weiß nicht. Wenn er weitergeht, sind wir ja schon im Bett. Wenn ich groß bin, werde ich die ganze Nacht aufbleiben. –«

Inzwischen war mein Bruder Fritz dazugekommen, hörte meine letzten Worte und fragte: »Warum willst du aufbleiben?« – Ich gab keine Antwort, weil ich schon wußte, daß Fritz gern über diese meine Sachen lachte. Tante Maria aber sagte, wie im Nachdenken:

»Er will sehen, wohin der silberne Löwe geht.«

»Welcher?« fragte Fritz und lachte.

»Warum hast du es ihm gesagt?« – rief ich zornig und rannte sofort ins Haus zurück.

Am anderen Tag nahm mich Tante Maria einmal beiseite und sagte:

»Es ist wahr, ich hätte es niemandem sagen sollen, es ist mir nur so herausgefahren. Hast du Fritz nicht gern?«

»Doch, aber er lacht immer über meine Sachen.«

»Und deshalb sagst du nichts?«

»Niemand sage ich jetzt was.«

»Auch mir nicht, Paul?«

»Nein. Du hast meine Bücher weggenommen.«

»Dein Vater hat sie weggenommen.«

»Du hast es ihm gesagt.«

»Ja, weil du zuviel Märchenbücher liest. Du mußt auch andere Bücher lesen.«

»Ich kann aber besser Biblische Geschichte als Fritz.«

»Nachmittags gehe ich mit dir in den Wald.«

»Du allein?«

»Warum soll Fritz nicht mitgehen?«

»Ja, aber dann sage ich gar nichts.«

»Was denn nicht, Paul?«

»Am Tag ist der silberne Löwe im Wald.«

»Was tut er?«

»Weißt du die Wiese im Wald?«

»Die Lichtung? Da ist aber weit hin.«

»Er geht über die Wiese in den drüberen Wald hinein.«

»Gehst du ihm dann nach?«

»Nein. Er geht doch fort. In den drüberen Wald gehe ich nie.«

»Da geht der silberne Löwe weiter?«

»Ja, bis ganz weit.«

»Wie weit?«

»Wo der Himmel unten an der Erde anfängt, hinter dem Wald.«

»Und dann?«

»Dann bin ich doch wieder daheim.«

»Aber am Abend ist er dann am Himmel?«

»Ja, da geht er doch hinauf.«

»Wohin?«

»Ich habe es dir doch gesagt, Tante, er geht über die Sternenwiese.« – Und ich begann plötzlich zu weinen, weil Tante immer fragte.

Das fällt mir nun jetzt alles wieder so ein, weil ich die Todesanzeige von Tante Maria erhalten habe. Sie war immer so gut zu mir. Ich darf nicht zu ihrer Beerdigung fahren, man würde sehr betreten sein, wenn ich dort plötzlich wieder auftauchte. Ich bin ausgeschieden, für immer. Ich bin ein Toter, über den man nicht spricht. Wahrscheinlich ist es eine stillschweigende Übereinkunft, daß man über mich nicht spricht. »Nicht gedacht soll er werden ...«

Nun ja.

Aber jetzt fange ich an, etwas aufzuschreiben – ganz wie Tante Maria es immer wollte.

Sie war sehr häßlich, aber gewiß ist sie jetzt im Tode sehr schön. Sie hat immer gescherzt: Wer so häßlich ist wie ich, muß sich sonstwo nützlich machen. – Sie war immer nur dort, wo man sie brauchte, und suchte nur das Glück der anderen: Mutter in jedem Atemzuge ihrer reinen Mädchenseele.

Sie hat mich ja auch in der Haft besucht. Nur sie und Fritz.

Fritz kam vorher. Ich sehe ihn noch. Er sprach kein Wort, warf nur einen kurzen Blick auf und über mich, setzte sich dann, und sah zu Boden. Nach einer Viertelstunde erhob er sich mühsam, wie ein Mensch, der Zentner aufzuheben hat. Er sagte: »Ich wollte nur kommen, damit ... damit du siehst ...« Ich sagte: »Ja, Fritz. Wenn ich frei bin, reise ich fort, ich verschwinde.« – »Es muß wohl sein, Paul. Ich würde es nicht sagen ..., aber ich bin doch der Älteste in der Familie. Es geht nicht anders.« – Damit ging er schweren Schrittes fort.

Einige Tage später kam Tante Maria. Sie blickte sich nicht um in der Zelle, sie ließ sich nicht mit der leisesten Geberde anmerken, daß die Situation ungewöhnlich und traurig war. Sie ging auf mich zu, wie wenn wir uns beliebig wo befänden, gab mir fest die Hand und legte nach ihrer Gewohnheit auch sogleich ihre linke Hand noch auf die meine, die sie festhielt. »Paul, du mußt mir heute unbedingt helfen, ich habe da ein paar Schützlinge« – sie hatte immer Schützlinge –, »ich komm' allein nicht zurecht, es wird mir im Augenblick zu viel. Aber es muß unbedingt geholfen werden.« – Und nun erzählte sie mir eine halbe Stunde lang anschaulich und eindringlich von einigen armen Leuten, von ihren Kindern und Nöten, Nöten, die so grausam waren, daß mir die bloße Erzählung durch und durch ging. Sie sah es und seufzte ein wenig: »Ja, Paul, aber das alles zu sehen, ist noch schrecklicher, Du kannst mir glauben, es ist manchmal zum Umkommen davor, zum Ersticken ... und dabei sehe ich es doch nur, diese Leute aber müssen es leiden! Aber nun: wirst du mir auch helfen?« – Und die Zeit, die sie noch blieb, füllte sie aus mit sehr gewissenhaften Vorschlägen, wie eigentlich zu helfen sei; denn Tante Maria wollte nie, daß man, wie sie sagte, einfach mit Geld sein schlechtes Gewissen von den Armen loskaufte, sondern daß man an ihnen teilnahm, ihren Lebensfragen auf den Grund ging und auch von Grund aus half. –

Dieser Besuch hatte mich vorübergehend von mir selbst befreit, ich hatte mich eine Stunde lang vergessen. Überhaupt wurde mir von da an alles in der Haft einigermaßen leichter, ich konnte wenigstens zeitweise wieder von mir und meinen Dingen wegdenken, an anderes und andere. – Eine solche Art zu trösten, auch nachwirkend zu trösten, hatte eben niemand als Tante Maria. Ganz gewiß ist es auch sie, ihr Geist, der mir heute eingegeben hat, »etwas aufzuschreiben«.

Als ich hier ankam, war es meine feste Absicht: möglichst an nichts, gar nichts aus meinem bisherigen Leben zu denken, sondern in Gedanken, Worten und Werken ganz von vorne zu leben anfangen.

Mein Arzt hier, ein recht ehrlicher Mann, meinte auch von sich aus, daß ich bei der Art meines Leidens an eine ganz neue Lebensform denken sollte. Aber dazu würde es eines gewissen Überganges bedürfen, währenddessen mit Körper- und Seelenkräften sparsam gehaust werden müsse. Nur harmlose Sachen lesen, an nichts Aufregendes denken, viel wandern, bis zu leichter Müdigkeit, und für einen guten Schlaf besorgt sein, das verordne er mir. Er hat mir ein Mittel gegeben, das ich täglich mehrmals nehme. Es schmeckt bitter, macht schnell apathisch, erzeugt eine seltsame Gleichgültigkeit gegen äußere Eindrücke, und Leere im Kopf. – – –

Juli und August waren hier ungemein sonnig, fast regenlos. Tag für Tag war das Hotel, der Vorgarten mit seiner kurzgeschorenen Rasenfläche und den Kieswegen, die stillen Straßen, die ganze Stadt, der See, und überhaupt alles » ensoleillé«, wie man hier so gerne sagt – eingesonnt. Es gibt kein zutreffenderes Wort. Am meisten habe ich in dieser wachsenden Weißglut der Sommerluft den Anblick der hohen felsgrauen Parkumzäunungen genossen, zwischen denen sich hier die Straßen hinziehen, und der geschlossenen grünen Fensterläden. Der Wanderer ist ganz sich selbst überlassen, indes macht ihn die Überhelligkeit, die über alles ausgebreitet ist und in der er selbst dahingeht, gemüts- und geistesträge. Man hört allmählich auf, etwas ins Auge zu fassen, man nimmt alles nur so hin, Stadt und Landschaft in einem ununterschiedlichen Gesamtbild von Weiß in Weiß; das einzelne aber: die Berge drüben, der See, die langgestreckte Allee am Ufer hin, die Villen auf den sanften Abhängen, und im Hintergrund die sich auftürmende, obere Stadt – es wirkt in der unbeschreiblichen Sonne fast nur linienhaft. Das Licht selbst beherrscht alles, füllt alles nach allen Seiten weißglühend aus.

In dieser glückseligen, gleichsam zeitlosen, immer umfassenden Überhelligkeit des lichtgewordenen Raumes stand vor dem Geiste auch die eigene menschliche Erscheinung wie verwischt, lebte ich wie mit gemindertem Bewußtsein, in einer willenlosen Einsamkeit, der weißen Stille ganz hingegeben.

Ich ging und stand so herum, Tag für Tag, Woche für Woche, über zwei Monate lang – bis mich an einem Sonntag Nachmittag auf dem Quai, unmittelbar vor dem Hotel Beaurivage, plötzlich ein Mensch grüßte, der sich aber nur versehen hatte und mich nicht kannte: trotzdem erschrak ich in diesem Augenblick aufs heftigste. Mit einem Male fühlte ich mich aus allem herausgerissen. Ich stand plötzlich allein da, das Gefühl dieses Alleinseins durchrieselte mich kalt. Ich gab mir einen Ruck, raffte mich zusammen, ging weiter und sah verschwommenen Blickes den Leuten zu, die aus dem soeben gelandeten Schiffe stiegen. Wie glücklich diese Menschen sind, dachte ich, – wie sorglos! Und auf einmal fuhr es mir in den Sinn: Du stehst auch da, mittendrin, mitten auf dem Platz – aber eigentlich bist du ein Mörder! – – –

Es war dies auf dem Platz bei der Lände, wo auch das Schloßhotel liegt. An diesem schlich ich vorüber; es schüttelte mich.

An diesem Abend trank ich. So fiel ich zunächst in einen bleiernen Schlaf, aber im Morgengrauen erwachte ich mit heftigem Stechen am Herz. – Der Arzt meinte: »Der Sommer war natürlich sehr gut für Sie, ich hatte auf ihn gerechnet für Sie. Aber es war doch etwas zu viel Sommer in diesen Monaten ..., Wirklich zuviel!« – –

Seit es zu herbsteln begonnen hat, sind auch Deutsche hier abgestiegen; allerdings niemand aus Bayern, überhaupt niemand, der mich auch nur im entferntesten kennt. Es sind Westfalen und Rheinländer, von einigen kenne ich natürlich die Namen. Bisher waren die Gäste fast nur Russen, dazu Engländer, etliche Ungarn, und andere Fremde. Hauptsächlich aber Russen. So war es mir lieber. –

An den sonnigeren Tagen ging ich umher in den Straßen und am Quai, wie von Anfang an. Aber ich konnte nicht wieder so friedlich-müde werden, so selbstvergessen müd. Es sollte eben nicht mehr sein.

Nun bin ich aber des Morgens mehrmals in die kleine katholische Kirche von Ouchy gegangen, die zwischen die zwei Flügel eines langgestreckten Hauses hineingebaut ist. In dem einen Flügel hat die Stifterin des Ganzen gewohnt, die Prinzessin S.-W., die dort hundertein Jahre alt geworden und vor kurzem gestorben ist. Im anderen Flügel liegt die Pfarrwohnung. Zwischen den beiden Flügeln tritt man zuerst in eine kleine Vorhalle, in der der Pfarrer seine Mitteilungen für die Diaspora-Pfarrangehörigen anheftet. Ansässige Katholiken gibt es ja nur ganz wenige. – Still und freundlich hat die Prinzessin viele Jahre ihre Stiftung mitbewohnt. Jetzt geht man in die kleine Kirche, man kann in sie gehen, obwohl man von weither kommt, fremd ist und wieder fortgeht, und hat es doch nur dieser frommen Seele zu verdanken, daß man hier in eine Kirche gehen kann; die Meisten aber, die jetzt hierher kommen, wissen davon nichts. – Man geht durch die Halle in die Kirche hinein, die wundersam dunkel ist.

Da hatte ich nun schon manchen Morgen eine Weile zugebracht.

Ich bete nur Vaterunser und Ave Maria. Alles andere habe ich vergessen.

Aber der Pfarrer ist ein eifriger Gottesmann. Er hat jetzt zweimal den Sakristan zu mir hergeschickt, um mich fragen zu lassen, ob ich kommunizieren wolle. Ich war erst nach der Messe gekommen, aber eben doch noch früh am Tage. Er betete noch vorn im Chor und hatte mich kommen sehen. Er verstand jedenfalls nicht, warum ich so früh kam und doch nicht kommunizieren wollte.

Er hatte Recht. Aber ich hätte dann ja zuerst beichten müssen. Ich bin ja eigentlich ein Mörder.

Um nicht mehr gefragt zu werden, bin ich in den letzten Tagen immer erst Nachmittags hingegangen.

Jetzt habe ich ein ganzes Vierteljahr, seit meiner Ankunft bis heute, mit keinem Menschen gesprochen, außer mit den Hoteldienstboten, und drei- oder viermal mit meinem Arzt.

Dezember 1906

Im Vorbeigehen hörte ich auf dem Korridor, wie das Zimmermädchen, das auch bei mir aufräumt, einer alten Dame sagte: »Hier oben, auf meinem Stockwerk, wohnen so die stilleren Leute, das heißt, eben darum hat man dieses Stockwerk mir gegeben. Hier oben gibt es keine Belästigungen, ich bin recht froh.«

Es fiel mir jetzt ein, daß das Mädchen ein kleines Abzeichen als Schließnadel trug, wahrscheinlich von einem Evangelischen Mädchenbund oder sonst einer Vereinigung. Nun, es ist ja überhaupt töricht, von einem Hoteldienstboten ungeprüft eine andere Meinung zu haben als sie jeder arbeitende Mensch verdient.

Zweimal sah ich übrigens dieses Mädchen an Sonntagnachmittagen auf einer Bank der Seepromenade sitzen, und vor ihr in einem ganz niedrigen Wagen, eigentlich einer Art angestrichener und ausgepolsterter Kiste, bemerkte ich einen armen Krüppel, dem die Beine und der linke Arm fehlten; er mußte wohl verunglückt sein. Soweit man aus seinen Gesichtszügen schließen kann, war er kaum älter als fünfunddreißig Jahre. Ich hielt ihn für den Bruder des Zimmermädchens und fand es aller Ehren wert, daß sie den kurzen Sonntagnachmittag, den sie nur jede zweite Woche frei hatte, ihrem armen Bruder opferte. Zugleich wunderte ich mich, daß sich auch der Bruder des Mädchens hier in Lausanne befand; denn das Mädchen war eine Deutschschweizerin. Hatte sie ihn am Ende eigens hiehergebracht? Vielleicht ernährte sie ihn. Ich grüßte das Mädchen am Quai mit besonderer Achtung.

Natürlich war ich versucht, dieses Zimmermädchen im Hotel über das Schicksal des Krüppels zu befragen, aber dann tat ich es doch nicht. Es gibt Menschen, die sich sehr ungern über traurige Angelegenheiten ihres Lebens befragen lassen, während andere wieder ungefragt davon erzählen.

Einige Wochen später machte mir das Mädchen zuweilen einen verweinten Eindruck. Schließlich fragte ich sie doch nach dem Grunde.

»Sie werden es sich wohl schon gedacht haben«, sagte sie, »Sie haben mich ja zweimal am Quai gesehen. Ach, und nun habe ich so arge Sorgen. Ich weiß gar nicht mehr, was da machen.«

»Wegen Ihres Bruders? Ist er vielleicht krank geworden?«

»Er ist nicht mein Bruder«, versetzte sie errötend. »Es ist ... es ist eine Bekanntschaft.«

»Sie haben ihn wohl schon gekannt, bevor er verunglückt ist?«

»Nein, eben nicht! Ich habe ihn erst nachher kennen gelernt. Ein früherer Kamerad aus der Fabrik, wo er verunglückt ist, hat ihn am Sonntag immer auf den Quai gebracht und unter einem Baum niedergesetzt. Da hat er dann gebettelt. Er hat mir so arg leid getan, so jung, so hilflos auf dem Boden sitzen und betteln zu müssen. Dabei habe ich ihn kennen gelernt.«

»Und da haben Sie sich seiner angenommen?«

»Ja sehen Sie, er hat eben niemand auf der Welt. Er hat mir so leid getan. Wir sind dann bekannt geworden.«

»Ist er denn jetzt krank, oder wie –?«

»Nicht eigentlich, das ist es nicht ... Es ist so: Er hat niemand, und ist natürlich froh um mich gewesen. Ich habe ihn gern, weil er mir eben leid getan hat. Ich hab ihm da ein wenig Mutter sein wollen, verstehen Sie. Aber er hat sich mit der Zeit ... nun ja, er hat sich mit der Zeit verliebt. Ich habe es dann nicht so recht über mich gebracht, ihm zu sagen, daß es das bei mir nicht ist. Und ich hab ihn ja ganz gern. Ich hätte es ihm aber wohl gleich sagen sollen ... Er hat sich immer mehr verliebt. Aus Mitleid habe ich es ihm nicht gleich verwehren mögen, wenn er ein wenig zärtlich war. Und jetzt will er, ich soll ihn heiraten. Er sagt: Wenn du nicht meine Frau wirst, will ich lieber gleich sterben. Wenn du nicht meine Frau wirst, wäre es besser gewesen, du hättest dich überhaupt nicht um mich gekümmert. – Ich bin ihm ja nicht bös, er ist eben auch ein Mensch, muß immer so daliegen, es ist ja alles begreiflich. Aber zum Heiraten hab ich ihn doch nicht gern genug. Und jetzt getrau ich mich doch wieder nicht, es ihm ganz deutlich zu sagen. Sonst verzweifelt er mir.«

Dem Mädchen kamen die Tränen.

»Nur aus Mitleid können Sie ihn nicht heiraten. Leben denn Ihre Eltern noch?«

»Ja, mein Vater.«

»Würde Ihnen denn Ihr Vater erlauben, daß Sie ihn heiraten?«

»Niemals im Leben! Es ist ja undenkbar.«

»Dann scheint es mir am besten, Sie sagen ihm, daß Sie ihn nicht heiraten dürfen. Das hilft ihm natürlich auch nicht viel. Aber vielleicht wird er, wenn Sie es ihm auf diese Weise beibringen, doch etwas ruhiger.«

Es wurde ihr von irgendwoher geläutet, sie mußte gehen. – –

Am darauffolgenden Sonntag – nach sturmdurchbrausten, dann regnerischen Übergangstagen genoß man der milden, friedlichen Herbstsonne – ging ich gegen vier Uhr langsam wieder zum Quai hinab. Ich hörte von weitem singen, ein Lied von Männer- und Frauenstimmen; es klang friedlich-getragen, aber heiter im Rhythmus. Es tat so gut an diesem milden Nachmittag. Ich ging schneller abwärts, um es noch besser zu hören.

Am Anfang des Quais, auch wieder auf dem Platz zwischen Lände und Schloßhotel, standen Männer, Frauen und Mädchen in einem geschlossenen Kreis und sangen. Die Frauen und Mädchen trugen blaue, seitlich herabgebogene Hüte mit einfachem rotem Band. Alle hielten Liederbücher in Händen. Als ich näher trat, konnte ich auf einem Hutbande die Aufschrift lesen: » Armée du Salut« – Heilsarmee.

Noch nie hatte ich eine Versammlung der Heilsarmee gesehen, nahm aber unwillkürlich den Hut ab. Denn offenbar war diese Versammlung ein Gottesdienst.

Die Teilnehmer im Kreise sangen noch zwei Strophen ihres Liedes, im gleichen heiteren Rhythmus, der von einem geheimnisvollen und doch ganz unmittelbaren Frieden getragen war. Es ergriff mich so unabweisbar, daß mir die Tränen kamen. Sogleich trat ich einige Schritte zurück, um zuhinterst zu stehen. Als das Lied zu Ende war, warf ich wieder einen Blick auf die Versammelten. Es waren Leute aus dem arbeitenden Volke, mit durchfurchten Gesichtern. Aber aus diesen Zügen war jede Härte genommen, das darin eingegrabene Leid, die eingezeichneten Sorgen erschienen wie von innen her durchleuchtet, vom Lichte eines innewohnenden Friedens. Und der Abglanz dieses Friedens lag sichtbar auf ihren Stirnen. Dieser Anblick überwältigte mich noch mehr, ich trat nochmals einen Schritt zurück.

Ein Mann, etwa in den Vierzigern, löste sich aus dem Kreise und trat in dessen Mitte. Er schloß auf einige Sekunden die Augen, und begann hierauf zu sprechen. Ungefähr dieses:

»Wir wollen Gott lobpreisen und ihm danken, denn sein Heiliger Geist hat uns zusammengerufen, und Gott weilt unter uns durch den Herrn Jesus Christus, seinen Sohn. In dessen Namen sind wir zusammengetreten, und er macht an uns seine Verheißung wahr, daß, wo immer sich Menschen in seinem Namen versammeln, er mitten unter ihnen ist.

Es hat der Herr Jesus Christus gesprochen zu Nikodemus, der von den Pharisäern war und des Nachts zu ihm kam: ›Ihr müßt aus dem Geiste wiedergeboren werden. Der Wind weht, wo er will, und du hörst seine Stimme, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er zieht. So ist es mit jedem, der aus dem Geiste geboren ist.‹ –

Wir wollen Gott danken, daß er uns erlaubt hat, Zeugnis für den Gottesgeist abzulegen, der uns im Herrn Jesus Christus wiedergeboren und erfüllt hat. Wir wollen allen, die hier auf diesem Platze stehen, sagen, daß wir an nichts das geringste Verdienst haben, sondern daß allein der Heilige Geist es ist, der uns lebendig gemacht hat und durch den wir innegeworden sind unserer Erlösung durch den Herrn Jesus Christus.

Es hat aber der Herr weiterhin zu Nikodemus gesprochen:

›Wie Moses die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muß der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in Vereinigung mit ihm das ewige Leben habe. Denn so hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben habe und nicht verlorengehe. Denn nicht hat Gott den Sohn in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet. Wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes geglaubt hat.‹

Wollen wir Gott auch danken, indem wir ihn bitten, daß er seinen Heiligen Geist, der uns belebt hat mit dem rettenden Glauben an den Herrn Jesus Christus den Gekreuzigten und Heiland der Welt, allen sende, die hier mit uns auf diesem Platze stehen. Auf daß niemand gerichtet werde, sondern jeder Rettung finde und Frieden in unserem Herrn Jesus Christus!«

Der Sprechende trat zurück in den Kreis, und es wurde wieder gesungen. Sodann begann ein anderer Mann aus der Versammlung zu sprechen, jedoch von dem Platze aus, auf dem er stand:

»Ich will allen Brüdern unseres Herrn Jesus Christus, die auf diesem Platze stehen oder auch nur im Vorbeigehen zu uns herschauen, laut sagen, daß ich ein großer Sünder gewesen bin. Ich habe jeden Samstag und Sonntag beinahe den halben Lohn auf einmal vertrunken und dann unter der Woche, wenn das Geld aus war, Frau und Kinder schlecht behandelt. Ich bin dann sogar von den Meinen ganz davongelaufen und habe sie ein halbes Jahr lang dem Elend überlassen. An einem Sonntag aber, im Morgengrauen, da lag ich im Rinnstein, und da hat mich einer von unseren Brüdern hier gefunden, hat mich zu sich heimgenommen, dort ausschlafen lassen, und hat mir, nachdem er mir zu essen gegeben, das Wort Gottes vorgelesen, die Heilige Schrift. Er hat ausgerufen, mitten in seinem Zimmer: Komm, Heiliger Geist, steig doch herab, erfülle das Herz dieses Bruders und mach ihn lebendig im Herrn Jesus Christus!

Ich will allen sagen, daß der Geist Gottes mich verkommenen Sünder ergriffen, mir den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus wieder erweckt und mein Leben verwandelt hat. Ich und Frau und Kinder danken dafür Gott jeden Tag, und wenn einer mein Zeugnis nicht annimmt, kann er meine Frau fragen und sie wird es ihm bestätigen, wie groß die Barmherzigkeit des Herrn Jesus Christus gewesen ist, der mich gerettet und uns alle zusammen aus dem Streit in das Glück und in den wunderbaren Frieden versetzt hat. Dafür danke ich Gott und wünsche allen Brüdern und Schwestern in unserem Herrn Jesus Christus Frieden.

Und ich wollte nur noch sagen: wenn so ein Mensch, wie ich war, gerettet werden konnte, so kann jeder andere viel leichter gerettet werden. Darum wünsche ich jedem nur eines, nämlich den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus.« – – –

Wieder wurde ein Lied gesungen. Ich ging leise fort, und das Lied klang hinter mir her. Ich ging in unsere kleine, stille Kirche und setzte mich dort im Dunkel nieder, glücklich, daß kein Mensch zugegen war. Nur Gott.

Und ich dachte an den Mann, der sich angeklagt hatte auf dem offenen Platze.

Ich aber, wann werde ich mich anklagen?

Da fiel mir das Märchen ein, in dem jener Mensch, den sie betrogen und bestohlen haben, hinaufsteigt auf den Berg, und alles überschaut, und ausruft:

»O Untreue, wie bist du so groß auf der Welt!«

 

Das Zimmermädchen erzählte mir seither, daß es am Abend jenes Sonntags in die Heilsarmee eingetreten war. Auch sie hatte nämlich der Versammlung beigewohnt, der nachher eine zweite, in geschlossenem Raume, gefolgt war. Dort habe sie sich bekehrt.

Zwei älteren Frauen von der Heilsarmee hatte sie auch die ganze Geschichte, die sich zwischen ihr und ihrem hilflosen Schützling zugetragen, erzählt. Diese Frauen hatten sich sogleich bereit erklärt, sich in ihrer freien Zeit des Unglücklichen anzunehmen; Männer aber wollten ihn besuchen, um ihn womöglich auch zu bekehren.

Wirklich hat sich seitdem alles zum Guten gewandt. Nicht nur wurde der Arme in ein schützendes Obdach gegeben, sondern jene Männer besuchten ihn, redeten ihm herzlich zu, doch seine gute erste Helferin, das Zimmermädchen, nicht mehr länger mit seiner Leidenschaft zu quälen, und es gelang ihnen, sein Gemüt dem Frieden aufzuschließen. Durch Gotteswort, so daß er ihr Bruder wurde.

Das Mädchen besuchte ihn noch zuweilen, jedoch in Begleitung ihrer älteren Schwestern von der Heilsarmee. Als sie sich überzeugt hatte, daß er in der Ruhe seines Gemütes beharrte und daß seine äußere Lage um vieles gebessert war, stellte sie ihre Besuche schließlich ein.

März 1907

Im Schreibzimmer fiel mir ein Mann auf, der seine Feder, als sie nicht sauber anging, an seinen eigenen Haupthaaren zurechtstrich. Diese Art, eine Feder zu reinigen, hatte ich noch nie gesehen. Deshalb faßte ich auch den Mann selbst näher ins Auge. Seine Haare waren schwarz, üppig und schlecht gekämmt, seine Gesichtszüge orientalisch, aber von widerspruchsvollem, ungeregeltem Ausdruck: in den tiefen Falten schienen sich Schmerz und Wildheit zugleich auszuprägen. Die Augenlider bewegten sich fast unaufhörlich. Auch vermochte er keinen Augenblick ruhig zu sitzen, eine nervöse Bewegung folgte der anderen. Er war ganz neu angezogen, trotzdem hatte er seine Kleidung schon so verknittert, als hätte er darin geschlafen. Es ließ sich nicht erraten, woher und welchen Standes er etwa sein mochte; jedenfalls gehörte er zu keinem der Typen von Menschen, die man hier gewohnt war.

Abends sah ich ihn im Speisesaal wieder, er hatte seinen Tisch rechts neben dem meinen.

Der Platz, den ich jetzt im Speisesaal habe, ist besonders angenehm, ich habe ihn mir erst allmählich, zufolge der längeren Dauer meines Aufenthaltes ersessen, ja er ist geradezu privilegiert. Der Tisch steht in der äußersten Ecke des Saales, am letzten der hohen, in den Park hinausgehenden Fenster. Deshalb übersieht man von meinem Platz aus den ganzen Saal, kann aber, wenn man selbst niemanden sehen will, seinen Blick unbeirrt zum Park hinaus richten; man hat keinen Menschen im Rücken, sondern alle vor sich oder rechts und links neben sich. Es ist ein geschützter Platz, wie man ihn nur durch die Protektion des Kellners erhält. Gleichwohl habe ich mir diesen, für mich kostbaren Platz nicht durch Trinkgeld erkauft: was Trinkgeld anbelangt, verkehren hier ganz andere Gäste – besonders die Russen sind darin sorglos –, und ich stehe daneben gewiß als einer der Kleinsten. Aber das Personal schätzt, wie alle arbeitenden Menschen, die Achtung, mit der man ihm begegnet, höher ein als den Verdienst. Den letzteren, auch den aus Trinkgeldern, müssen sie haben. Die Art des menschlichen Umgangs jedoch, die man ihnen gegenüber beliebt, geht für sich und wird von ihnen eigens bewertet. Und deshalb haben sie die altbayerischen sowie österreichischen Gäste gern. – Die Russen sind hier an Zahl, auch an Rang, an Aufwand (der bei manchen in Verschwendung überzugehen scheint) und an Freigebigkeit die überlegenen Gäste; sie behandeln unsere dienenden Leute im Hotel nicht etwa schlecht, aber vielleicht ein wenig patriarchalisch – was die eigentlichen Schweizer ohne Begeisterung über sich ergehen lassen; » les vrais Russes« jedenfalls sind, obwohl immer grands seigneurs, nie so vornehm-kühl wie z. B. ihre Landsleute, die baltischen Ostseebarone.

Der wilde Mann also, wie ich ihn einstweilen in Gedanken benannte, saß an einem Tische rechts neben mir. Als er sein Getränk bestellte, hörte ich, daß er etwas französisch, etwas deutsch, etwas englisch durcheinander sprach, aber trotz dieser sprachlichen Hilflosigkeit laut und unbekümmert. Er hatte sich einen schweren alten Bordeaux bestellt, den er viel zu hastig hinuntertrank. Während des Essens redete er von Zeit zu Zeit in seinem lauten Mischmasch mit dem Kellner. Auch jetzt wurde ich nicht klug aus diesem Manne, man konnte ihn nicht einreihen. Gesund schien er nicht zu sein, vielmehr gepreßt und gequält; dann wieder heftigen Wesens, und dabei doch gutmütig. Übrigens wurde er von umsitzenden Gästen mit eigentümlicher Neugierde beobachtet.

Als der Kellner abdeckte, beging ich den Fehler, ihn zu fragen, wer mein neuer Nachbar sei; vielleicht sprach ich nicht leise genug, in der Annahme, am Nebentische doch nicht verstanden zu werden. Dieser Mann aber wandte sich, noch bevor der Kellner antworten konnte, seitwärts zu mir herüber, lachte und rief: » Moi? passeport jaune, moi!« Ich war verlegen, und darüber lachte er nochmals. Was er aber mit den Worten »gelber Paß« meinte, konnte ich mir in keiner Weise erklären. Ich war nur froh, daß man schon vom Essen aufstand und ich gehen konnte.

Nun aber half mir das gar nichts. Denn kaum hatte ich mich in der Halle niedergesetzt, um noch etwas Musik zu hören, da erschien auch mein Nachbar von vorhin wieder, und nahm lächelnd neben mir Platz. Sofort begann er auch die Unterhaltung, und ich hatte Gelegenheit, hierin seinen Mut zu bewundern. Es war ja schon kühn, daß er mit seinem Dreisprachengemisch überhaupt auf Verständnis hoffte; dennoch sollte mich diese Kühnheit in Ansehung des Inhalts seines Gespräches alsbald noch in größeres Erstaunen setzen, um so mehr, als er auffallend laut sprach. Es war ihm eben durchaus gleichgültig, daß ihn auch andere Gäste hörten.

Gleich zu Anfang also erklärte er mir, welche Bewandtnis es mit seinem gelben Passe hatte. Er war ein russischer Jude und hatte demzufolge, wie alle seine Glaubensgenossen in Rußland, einen gelben Paß. Mit Ingrimm zog er ihn aus der Tasche, rückte ihn mir vor die Augen, und stieß Verwünschungen gegen die Regierung des Zaren aus, welche die Juden als mindere Rasse eigens kennzeichnen wolle.

Er war Mitbesitzer einer Maschinenfabrik in Rostow, jedoch, wenn ich ihn recht verstand, durfte er aus irgendwelchen Gründen auch dies nur mittelbar sein, durch einen Dritten, der seinen Anteil gesetzlich innehatte. Die Arbeiter seiner Fabrik seien keine ausgebeuteten Sklaven, wie in so manchen anderen Fabriken Rußlands. Und solange er in Rostow gewesen sei, solange sei es auch nicht gelungen, unter die Vorarbeiter Polizeispitzel einzuschmuggeln, um die Gesinnungen der Leute auszuhorchen. Denn für ihn seien die Arbeiter freie Menschen, wie er selbst es sein wolle. – Mich halte er für einen Deutschen – oder täusche er sich? Nein also, er habe es sich gleich gedacht. Ich wüßte aber wahrscheinlich gar nicht, welches Glück es sei, in Deutschland, überhaupt in Europa zu leben. Er wisse es, er. Denn er sei jetzt auch glücklich, auch frei, wie alle Leute hierzulande, wo es keine gelben Pässe und keine politische Geheimpolizei gebe.

All dies erzählte er stoßweise, mit so leidenschaftlicher Erbitterung, daß ich mich schon darauf gefaßt machte, noch ganz andere Dinge zu hören. Inzwischen erriet ich auch, warum er sich so gar keine Mühe gab, leiser zu sprechen: es war ihm offenbar ganz erwünscht, von anderen russischen Gästen, die da und dort herumsaßen, gehört zu werden. Er wollte anscheinend seinen Zorn an ihnen auslassen. Vielleicht hätte ich jetzt unter irgend einem Vorwand aufstehen und in mein Zimmer hinaufgehen sollen. Aber seit ich selbst gelitten habe, empfinde ich immer eine gewisse Kollegialität gegen andere leidende Menschen. Und so, wie dieser Mensch sich hier benahm, konnte sich nur jemand benehmen, der sehr viel gelitten hatte. Ich wollte hören, was er getan hatte und was ihm widerfahren war. Deshalb blieb ich sitzen.

Ja, fuhr er fort, – herrliche Länder, wo es keine politische Geheimpolizei gibt! – Er sei Revolutionär gewesen, natürlich sei er es gewesen, wie hätte er es nicht sein müssen ...! Wir in Europa sollten uns nur nicht anlügen lassen, als seien es nur eben einige tausend Verbrecherseelen, die da aus angeborener Freude an Umtrieben immer wieder Revolution machen wollten. Revolution könne man nicht machen – wie etwa eine Hausse oder Baisse in Börsenpapieren. Alles wahre Volk sei vielmehr von Natur aus konservativ, das sage er, russischer Jude, Revolutionär und gewesener Insasse der St.-Peter-und-Pauls-Festung ... Ob ich wisse, was das bedeute. Das bedeute, daß er zwei Jahre als Untersuchungsgefangener in dieser Hölle von Kerker zugebracht habe. Und trotzdem sage er: von Natur sei alles wahre Volk konservativ, das heißt, wenn der soziale Zustand, in dem es lebe, nicht menschennaturwidrig, ja nur halbwegs erträglich sei, so beharre es darin. Die Intellektuellen könnten dann sagen, was sie nur wollten, das Volk rühre sich nicht, ja es lache sie nur aus, oder hasse sie sogar – und so sei es z. B. vorgekommen, daß russische Bauern einen Intellektuellen, der zu ihnen ins Dorf kam und ihnen über soziale und politische Dinge redete, hintendrein überfallen und erwürgt hätten wie ein böses Tier, ein teufelbesessenes. Solange das Volk in seinem sozialen Zustand beharren könne, solange beharre es darin, auch noch in schlechten Zeiten. Und erst wenn sein sozialer Zustand seelisch, menschlich, wirtschaftlich, politisch zu unerträglich würde, wenn das Volk als Ganzes, nämlich eben als Volk so nicht mehr weiterleben könne, und wenn dann nicht die Reformen gegeben würden, um einen stabilen Volkszustand wieder herbeizuführen, dann erst gerate das Volk in Unruhe, in Gärung, und langsam, sehr langsam erhebe es sich schließlich, um einen wieder lebensmöglichen Zustand zu erzwingen, worin das Volksganze wieder sein Gedeihen, seine Ordnung, sein Beharren finde. Revolution sei also ein Korrekturbedürfnis, – das sich mangels rechtzeitiger Reformen gewaltsam entladen müsse. Das revolutionäre Individuum sei darum selbst nur ein ausführendes Glied dieser drängenden Lebensvorgänge im Volkskörper, und meistens ein geopfertes Glied. Er und seinesgleichen, viele Insassen der Peter-und-Pauls-Festung und viele Verschickte in Sibirien, Opfer seien sie, müßten sie sein, und könnten nicht anders ... Ob ich das alles verstehe? – Nicht ganz? – nein, natürlich nicht, weil mein Volk und ich mit ihm in einem lebensmöglichen Zustand lebe.

Der Sprachen-Mischmasch, in dem der leidenschaftliche Mann all dies herausstieß, in der Art eines Vulkans, hatte das Gesprochene nicht immer sogleich verständlich erscheinen lassen. Aber man merkte, daß er von einer bestimmten Idee ausging, von seiner Volksidee, wie er sie nannte, und daß er wohl wußte, was er sagte. Auch war es doch wohl nicht ein bloßes Rachebedürfnis (wie ich zuerst geglaubt hatte), daß er diese Idee an einem solchen Orte, und einer solchen Umgebung hörbar, laut entwickelte. Ich bat ihm meine schlechte Meinung innerlich ab. Er hatte nicht einen kleinen Skandal in einem friedlichen Gasthof gewollt, sondern die Gelegenheit benützt, ein paar russischen Landsleuten höherer Stände seine Auffassungen wenigstens auf diese mittelbare Weise zu Gehör zu bringen. Ein vorsichtiger Blick auf die nächsten umsitzenden Gäste belehrte mich, daß ihn diese nicht mehr unwillig, wie zu Anfang, sondern eher nachdenklich betrachteten. Er hatte eben nicht bloß als beleidigter Jude, sondern als Russe gesprochen, selbst ganz im Banne jener geheimnisvollen russischen Idee vom lebendigen Volk. – Er war nun zunächst etwas erschöpft, und sprach weiterhin nur noch leise.

»Sehen Sie –«, sagte er, die Worte nach wie vor mühsam aus verschiedenen Sprachen zusammenholend, »sehen Sie, ich habe mich in Ihnen doch nicht getäuscht. Ich habe einen gewissen Blick für Menschen, weiß schon, wen ich anrede. Natürlich bin ich noch krank, ich weiß es, natürlich bin ich nervös, und mache manchmal vor lauter Ungeduld alberne Sachen, lächerliche, krankhafte eben. Natürlich habe ich vom Gefängnis her, von einem solchen Gefängnis her, noch ein paar komische Gewohnheiten, mechanische, gerade als ob ich noch dort auf dem nackten Boden säße. Mit der Zeit wird es schon besser werden. Es kommt jetzt ohnehin bald alles in meinem Leben in eine gewisse Ordnung ...

Wissen Sie, wie es war? wollen Sie es wissen? wie ich ins Gefängnis kam, und wieder heraus? Also hören Sie:

Ich arbeitete in Rostow, meistens ganz friedlich, wie andere Leute auch. Aber ich war verdächtig, teils als Jude und Intellektueller, teils wegen meiner Freundschaft mit den Arbeitern, offener Freundschaft, aber natürlich auch geheimer ... Aber man hatte mir noch nichts nachweisen können, ich galt nur überall als Revolutionär. Aber das machte mir noch nichts.

Bis ich eines Tages auf den Gedanken kam, ich müßte eine neue Sekretärin haben. Ich mußte ja auch, weil nämlich meine alte, eine ganz verlässige Deutsche, frühere Erzieherin, sich in den Kopf gesetzt hatte, nach Deutschland heimzureisen. Ich habe sie neulich wiedergesehen, auf der Durchreise. Sie hat am Bahnhof in Leipzig laut aufgeweint, die treue Seele, wie sie mich in dieser Verwüstung wiedersah – und mich zuerst beinahe nicht erkannt hätte.

Nun ja. Ich mußte eine neue haben. Und bekam sie. Eine Russin, siebenundzwanzig Jahre alt, die viel durchgemacht hatte. Was im einzelnen, konnte ich nicht so recht erraten. Die geschäftliche Arbeit machte sie gut, und mit der Zeit zog ich sie auch sonst ins Vertrauen. Sie war klug, drängte nicht, sondern ließ sich ins Vertrauen ziehen. Diese anfängliche Zurückhaltung war es, die mich getäuscht hat. Aber ich ließ es nicht beim Vertrauen bewenden, sondern ich gewann sie lieb. Und immer mehr lieb gewann ich sie. Sie ihrerseits erwiderte auch darin nur langsam. Aber sie erwiderte schließlich. Sie hatte nun mein Vertrauen, meine Liebe, und Einsicht in alles, auch in die geheimen politischen Zusammenkünfte, zu denen ich ging. Aber ich mußte mich ihrer ja sicher glauben, sie war ja mein geworden. Wir hatten schon dies und jenes für die Zukunft überlegt, wir wollten im Ausland heiraten, in Paris.

Eines Tages aber, am Vorabend einer ganz bestimmten politischen Sache, die da insgeheim geplant war – es sollte schon der Auftakt zur Revolution sein –, hat man mich verhaftet. Und abtransportiert.

Beim Verhör stellte sich sogleich heraus, daß man, was mich betraf, alles Wesentliche genau wußte. Einfach alles. Und da erlebte ich mein Erwachen: Sie, meine Sekretärin, war eine Agentin der Geheimpolizei gewesen!

Können Sie sich vorstellen, wie das auf einen Menschen wirkt?! – – –

Von da an habe ich kein Wort mehr gesprochen. Auch wenn mich die Polizisten, vor dem Untersuchungsrichter, ins Gesicht schlugen.

Ich bin schauerlich gequält worden, teuflisch, sage ich Ihnen. Aber man hätte mich totschlagen können, aus mir brachte man kein Wort mehr heraus. Nicht eine Silbe. Nichts. Sie wußten, daß ich an vielen Zusammenkünften teilgenommen hatte, sie wußten es haargenau. Mehr als das aber haben sie von mir auch nicht erfahren.

Vierzehn Monate Marter hatte ich überstanden. Von da an wurde auf einmal die Behandlung besser, ja auffallend gut.

Ich verstand zuerst nicht, warum. Ich witterte in diesem Umschwung schon eine List, eine neue Teufelei. Ich wappnete mich schon zu neuem, innerem Widerstand.

Aber zwei Monate später erhielt ich plötzlich die Mitteilung, daß ich frei sei und gehen könne.

Ich begriff zuerst gar nicht. Ich wankte nur so mechanisch hinaus, ans Tageslicht.

Aber ich glaubte noch gar nicht an meine Freiheit. Ich vermutete, daß alles nur Mittel zum Zweck sei, wahrscheinlich um mir eine Falle zu stellen.

Und so blieb ich zunächst in Petersburg, ich paßte sorgfältig auf, ob ich überwacht wurde und von wem. Jeden Menschen, der mich zufällig ansprach, hielt ich für einen Spitzel. Diese ersten acht Tage verließ ich kaum den Gasthof, in dem ich wohnte, und wenn – so stand ich um der besseren Luft willen vor dem Eingang und schaute stier auf das Straßenleben. Ging dann wieder hinein. Weil ich meine Freilassung nicht begriff, wagte ich eben nicht, wirklich frei zu sein. So immobilisiert war ich schon, so mißtrauisch.

Da, am Sonntag morgen, klopft es plötzlich. Ich dachte: jetzt sind sie da! sie holen dich zurück. – Es war aber ein Hoteldiener, der mir meldete, daß unten eine Frau mit einem kleinen Kind sei, die mich sprechen wolle. ›Sie hat das Kind auf dem Arm‹, sagte der Diener.

Ich konnte mir nichts Rechtes denken, dachte nur, mit kleinen Kindern werde man doch nicht kommen, um mich wieder zu verhaften ...

Nun, unten im Foyer, da sitzt eine Frau und hat richtig ein kleines Kind auf dem Arm. Ich gehe mechanisch, gedankenlos auf sie zu – – –.«

Der Mann schwieg, schüttelte langsam den Kopf, in Erinnerung jedenfalls an jenen Augenblick. Dann sah er mich an. Ich erwiderte seinen Blick schweigend. Was mochte jetzt kommen? ich wartete auf etwas Unerhörtes.

»Nun also«, sagte er aufseufzend, »es war meine Sekretärin.

Und das kleine Kind war mein und unser Kind.

Unser Kind! – – –

Mit diesem unseren Kind im eigenen Mutterschoß, ohne daß sie es wußte –, so hatte sie mich verraten. Ich habe Ihnen ja gesagt: Sie war Agentin gewesen.

Als sie selbst über ihren Zustand Klarheit bekam, war ich schon tief in der Festung, mitten in der Marter ...

Um es kurz zu sagen: Sie faßte den Entschluß, mich zu befreien. Auch wenn es ihr Leben kosten sollte. Sie beschloß, sie ›beschloß‹, ich würde nicht nach Sibirien geschickt werden. Ich würde frei werden.

Zuerst aber waren alle ihre Versuche, trotz ihrer vielen Beziehungen zur politischen Polizei, vergebens. Und ich blieb im Gefängnis.

Auch als unser Kind geboren wurde, war ich noch im Gefängnis, in das sie, die Mutter, mich gebracht hatte.

Wie sie meine Freilassung endlich erreichte? – Sie verfiel, als nichts anderes mehr zu helfen schien, auf einen verzweifelten Gedanken –, ging hin und erklärte einem der höchsten Beamten von der politischen Polizei, einem, der ihr wohlwollte: Es werde ihr jetzt immer klarer, sie habe mich irrtümlich belastet! In einem gewissen Sinne. Denn ich sei nur dem Scheine nach an der Verschwörung beteiligt gewesen. In Wirklichkeit hätten mich die anderen Teilnehmer an jenen Zusammenkünften längst als einen Verräter betrachtet, nämlich seit dem Tage, da sie selbst bei mir als Sekretärin eingetreten war. Es hätte offenbar Leute gegeben, die von ihrer geheimen Funktion gewußt, die mich deshalb auch als Spitzel angesehen, und von da ab bewußt getäuscht hätten. So sei ich, wenn auch schuldig der eigenen Absicht nach, in der Tat trotzdem unschuldig. Wider Willen unschuldig. Ich sei nur noch eine Marionette gewesen ...

Sie gab sich jede erdenkliche Mühe und bot alle Listen auf, um diese ihre Version glaubwürdig zu machen. Aber zunächst erreichte sie nichts als eine gewisse Verwirrung. Sie selbst wurde der politischen Polizei verdächtig, jedenfalls verzichtete man auf ihre Dienste, und sie geriet mit dem Kinde allmählich in größte Not. Das war zur gleichen Zeit, wo man sich doppelte Mühe gab, mich zu einer Aussage und zu irgendwelchen Geständnissen zu zwingen. Gleichzeitig wurde sie nun auch insgeheim überwacht. Was sie rettete, und was auch ihren Behauptungen allmählich einige Wahrscheinlichkeit gab, war wohl mein eigenes Schweigen, aber auch ihre Notlage, die man ja aus ihren Lebensumständen leicht feststellen konnte. Es gab niemanden, der sie unterstützte, der sich ihrer annahm, oder sie auch nur besuchte; es mußte also doch ausgeschlossen erscheinen, daß sie etwa ein Doppelspiel getrieben, nämlich gewissermaßen die politische Polizei an Revolutionäre verraten hätte. Die Verwirrung, die sie angestiftet hatte, begann nun doch nach der guten Seite zu wirken. Der höhere Beamte, an den sie sich gewandt hatte und den sie, unbeirrbar, wie Frauen manchmal sein können, noch öfters heimsuchte, geriet allmählich doch in eine gewisse Unruhe. Das hing auch mit dem kleinen Kinde zusammen. Daß es mein Kind war, wußte er jetzt. Auch wenn es gelänge, mich für ein paar Jahre nach Sibirien zu bringen, so wurde ich eines Tages doch frei und konnte dann von der Mutter meines Kindes Dinge erfahren, die keiner Mitwisser bedurften. Vielleicht war es wirklich besser, mich lieber gleich jetzt in Frieden zu lassen, um mich nicht in einen zu wilden Rachedurst zu treiben. Ein Verrat an irgendwelchen Mitverschworenen war ohnehin nicht von mir zu erhoffen, und diese ihrerseits hatte man nicht zum Verrat an mir pressen können. Es war also eine üble Geschichte. Was sollte man mit mir anfangen ...? –

Als meine Sekretärin die ersten Anzeichen der Unsicherheit jenes Beamten bemerkte, griff sie zum letzten Mittel: Sie ging selbst zu Drohungen über, wenn auch nur zu versteckten, unfaßbaren, möglichst indirekten ... Ich sei nun einmal der Vater ihres Kindes. In irgend einer Weise müsse sie sich eines Tages mit mir besprechen und auseinandersetzen. Das sei nicht anders möglich. Sie persönlich habe gewiß kein Interesse daran, zuviel aus ihrer früheren Tätigkeit als Agentin zu erzählen; auch mir gegenüber nicht. Immerhin aber habe sie das eine Interesse: daß ich, der Vater ihres Kindes, den sie irrig angezeigt habe, nun endlich frei werde und ungeschoren leben könne. Das schiene ihr übrigens nach Sachlage auch für die geheime Polizei die beste Lösung, ja die einzige ...

Diese dunkle Drohung vermochte, daß ich zunächst einmal besser behandelt, nämlich in die Krankenabteilung gebracht wurde. Aber dies geschah schon im Hinblick auf meine Freilassung, die meine Sekretärin jenem hohen Beamten zuguterletzt doch abgerungen hatte. – – –

Nun, und am Sonntag Vormittag, wie gesagt, war sie mit unserem Kinde zu mir in den Gasthof gekommen.

Ja. –

Sie hat mir dann noch ausgewirkt, daß ich wenigstens ohne weiteres meinen gelben Judenpaß ins Ausland erhielt. Ich reiste ab, sobald ich in Rostow meine Angelegenheiten geordnet hatte.

Gestern hat sie mir aus Braila telegraphiert, daß sie und das Kind dort glücklich eingetroffen sind. – Wissen Sie, wo Braila ist? – In Rumänien! sie sind also auch entronnen. Für immer.

Sie reisen nach Paris, in wenigen Tagen. Ruhen nur noch etwas aus in Braila.

Und ich reise, in etwa einer Woche, auch nach Paris.

Denn wir werden jetzt doch in Paris heiraten.« –

*

Ich habe mit meinem russischen Juden sodann noch eine Flasche Neuenburger getrunken. Er wollte sie allein bezahlen. Ich nahm diese Einladung an.

August 1907

Ich hatte gehofft, einen so stillen Sommer zu verbringen, wie im vergangenen Jahre.

Aber eines Abends trat ein unlängst angekommener Gast unseres Hotels, ein wohlgepflegter, schlanker, dunkler Herr, auf mich zu und sprach mich an:

»Verzeihen Sie, mein Name ist Bromberger, Dr. Kurt Bromberger, aus Berlin.« – Er schien zu erwarten, daß ich diesen Namen kennen würde, es ist ja der eines angesehenen Kunstkenners und -sammlers. Aber wie von so vielem, hatte ich hiervon nie etwas gehört. Er mochte es mir wohl sogleich ansehen, denn er fügte erklärend hinzu: »Ich bin der Kunstsammler Bromberger.« – Meiner Unwissenheit gemäß konnte mir auch das nichts bedeuten; ich schwieg.

»Verzeihen Sie«, fuhr er etwas enttäuscht fort, »Sie sind doch auch ein Deutscher, Herr Amwald, nicht wahr?« –

»Ja.« –

»Sehr erfreut. Ich habe im Hotel hier nach einem zuverlässigen deutschen Herrn gefragt, man hat mich an Sie gewiesen.« –

»Ja, bitte?« –

Er lächelte höflich, und erklärte sich näher. »Es handelt sich um eine ganz kleine Gefälligkeit, die mir aber nur ein Landsmann erweisen kann, kein Einheimischer.« –

»Welcher Art?« –

»Ganz einfach. Ich will hier ein bestimmtes Haus kaufen, eine Villa. Es ist wahrscheinlich, daß man mich überfordern will, man weiß schon, wer ich bin. Die Fremdenzeitung hat ja gleich eine kleine Notiz über mich gebracht. Nun wäre mir sehr gedient, wenn ein Dritter bei dem Makler den Kaufpreis erfragen wollte, aber jemand, der mit den Leuten hier nicht im Bunde steht. Am besten also ein Landsmann. Könnten, wollten Sie mir den Gefallen tun?« –

»Hören Sie, ich verstehe von solchen Dingen rein gar nichts. Man hat Sie an einen ungeeigneten Menschen gewiesen.« –

»Es ist gar nicht nötig, irgend etwas zu verstehen. Es würde genügen, wenn ein Dritter nach dem Kaufpreis fragt. Mir hat man dreihunderttausend Franken genannt. Das ist ja immerhin ein Betrag ... Vielleicht verlangt man von einem Dritten viel weniger. Von jemand, der nicht Bromberger heißt und nicht eben jetzt von der Fremdenzeitung begrüßt worden ist, so begrüßt, daß sich der Makler gedacht haben mag: Der soll mir den Höchstpreis zahlen!« –

»Ich sehe nicht so aus, als könnte ich einen solchen Besitz kaufen. Man wird sich höchstens wundern, daß ich überhaupt frage.« –

»Erstens ist das nicht wahr«, erwiderte er lächelnd. –

»Ich habe soviel als ich brauche, und nach mehr will ich gar nicht aussehen ...«

»Zweitens«, fuhr er unbeirrt fort, »selbst wenn es so wäre, dann um so besser. Dann wird man Ihnen den richtigen Preis nennen.« –

»Aber Sie sind ja offenbar ein reicher Mann – was kann mir also daran liegen, ob Sie etwas billiger oder teurer kaufen!« –

»Jetzt sind Sie ungerecht«, sagte er lachend, »glauben Sie denn, daß die Leute, die einen solchen Besitz zu verkaufen haben, selbst arm sind? Und dann kann hier der Preisunterschied, je nachdem, zwanzig-, dreißig-, vielleicht sogar fünfzigtausend Franken ausmachen. Es kann soviel ausmachen, daß ich von Ihnen eine solche Gefälligkeit anstandshalber nicht einmal gratis annehmen dürfte.« –

»Wie meinen Sie das?« – Ich wurde ungeduldig.

»Wenn ich jemand hätte, der für mich als Käufer auftritt, und der einen billigeren Preis erzielt, so müßte ich ihm doch etwas vergüten!« –

»Unsinn. Und außerdem verstehe ich nichts davon, ich habe es Ihnen schon gesagt.«

»Da könnte ich nun auch sagen: Unsinn! Es handelt sich doch nur darum, ob Sie jemandem eine Gefälligkeit erweisen wollen – eine Gefälligkeit, die Sie nichts kostet, mich aber unter Umständen, nämlich wenn ich durch Sie wirklich eine größere Einsparung am Kaufpreis machen könnte, zu einer Gegenleistung verpflichtet.«

»Und was käme da ungefähr in Betracht?«

Ich sah ihm an, daß er diese Frage nicht erwartet hatte, und daß sie ihn an mir irre machte. Er antwortete: »Einige Prozente eben, – von der Kaufpreis-Differenz.«

»Mir ist da etwas eingefallen ... Diesen Spaziergang zum Hausmakler mache ich entweder aus Gefälligkeit oder überhaupt nicht. Aber wennschon, so ließe sich dann vielleicht etwas anderes tun. Hören Sie: Im vierten Stock, wo ich wohne, ist ein älteres Zimmermädchen. Sie möchte sich gern eine bestimmte, kleine Fremdenpension kaufen und hat mich gefragt, ob ich ihr niemand wüßte, der ihr eine zweite Hypothek gibt, damit sie kaufen kann ...« –

»Das alte Mädchen im vierten Stock? Ich habe sie gesehen. Bei meiner Ankunft hat man mir zuerst ein Zimmer oben gegeben, weil alles besetzt war ... Jetzt bin ich umgezogen.«

»Ja und?« –

»Um wieviel handelt es sich?« –

»Sie muß neuntausend Franken anzahlen. Dreitausend hat sie sich selbst erspart.«

»Macht also sechstausend. Als zweite Hypothek? Würden Sie mithaften?«

»Ich bin kein reicher Mann, ich müßte es mir zuerst überlegen. Aber wenn es nur davon abhinge, dann wohl. Ich habe Vertrauen zu dieser Person, kenne sie jetzt auch lange genug ...«

»Das wollte ich nur wissen. Auf Ihre Haftung würde ich natürlich verzichten. Aber ich müßte das Pensionshaus schätzen lasten. Man muß doch wissen, ob es denn eine zweite Hypothek verträgt. Die Schätzung könnte vielleicht der gleiche Makler machen, – zu dem Sie also wegen der Villa hingehen werden? Er wohnt fünf Minuten von hier entfernt, und die Villa liegt ganz in seiner Nähe.«

Ich begab mich also anderen Tages zu dem Makler, und besichtigte in seiner Begleitung die Villa, ein geräumiges, guterhaltenes Herrschaftshaus im englischen Stil, von einem wirklichen Park umgeben, gewaltigen Platanen und weiten Rasenflächen, hangabwärts, mit einer nach dem See geöffneten Aussicht. Herr Bromberger hatte gewiß Recht: es konnten keine armen Leute sein, die sich einen solchen Besitz geleistet hatten – andererseits mußte Bromberger selbst schon ein sehr reicher Mann sein, um sich nicht nur den Erwerb, sondern auch den Unterhalt eines so kostspieligen Besitzes leisten zu können: es war eben eine ganz herrschaftliche Anlage.

Ich fragte also nach dem Kaufpreis. Der Makler nannte zuerst dreihunderttausend Franken. Ich erschrak nicht, weil ich ja den Preis schon wußte. Aber daß ich so ruhig blieb, schien den Makler doch ein wenig zu wundern. »Das ist sicher der Höchstpreis?« fragte ich ihn. – »Es kommt schließlich auf die Zahlungsweise an. Wenn die Hälfte sofort gezahlt wird, so könnte es vielleicht etwas billiger sein. Ich glaube aber, daß ich es auch um dreihunderttausend Franken verkaufen kann. Es hat sich ein Herr aus Deutschland dafür interessiert, er muß sehr reich sein, er will sich mit seiner Kunstsammlung hier niederlassen, sagt die Fremdenzeitung – –.«

»Über die Zahlungsweise ließe sich ja reden«, erwiderte ich mit einer gewissen Nachlässigkeit, indem ich im Stillen das finanzielle Selbstbewußtsein des Herrn Bromberger entlehnte – »wem gehört denn das Landhaus jetzt?« Maison de campagne, Landhaus, sagte ich absichtlich. Der Makler antwortete mit einer eleganten Zurechtweisung: – »Jetzt gehört dieses herrliche Besitztum einem englischen Juwelenhändler, der immer nur ein paar Monate im Jahr hier gewesen ist. Es war seine résidence d'été. Mit der Hälfte Barzahlung wird er vielleicht auf zweihundertachtzigtausend Franken heruntergehen.«

Ich beharrte auf meiner, von Herrn Bromberger entliehenen Größe, und antwortete, daß mit der Hälfte Barzahlung gerechnet werden könne. Ein Wort gab das andere, und der Makler, der ersichtlich ein rechtschaffener Mann war, erklärte mir schließlich offen, daß er gegen Anzahlung des halben Kaufpreises um zweihundertfünfzigtausend Franken zu verkaufen ermächtigt sei, jedoch sei es der endgültige und feste Preis. –

Mit dieser Nachricht kehrte ich erfolgreich zu Herrn Bromberger ins Hotel zurück.

Herr Bromberger kaufte die Besitzung, ließ dann auch jenes Pensionshaus schätzen und gab die zweite Hypothek. Das Zimmermädchen hat das vierte Stockwerk jetzt schon verlassen.

*

Es lag nicht in meiner Absicht, die Bekanntschaft mit dem Kunstsammler weiterzupflegen. Er schien sich aber für verpflichtet zu halten, aus Gründen des Geschmackes, einen Menschen, den er um eine Gefälligkeit gebeten hatte, auch einzuladen. Er lud mich also manchmal ein. Es scheint, daß er – ich weiß nicht, in welchem Augenblick – eine gewisse Freundschaft zu mir faßte. Aber da die Lebensgewohnheiten dieses Ästheten äußerst kostspielig waren, mußte ich meinerseits darauf bedacht bleiben, daß sich unser Verkehr auf gelegentliche Begegnungen beschränkte. Begegnungen, die Herr Bromberger selbst suchte, bei denen aber ich der Lernende war; denn sein Wissen war weit, seine Welterfahrung, obwohl völlig ungebunden – und vielleicht gerade deshalb? –, erstaunlich ausgedehnt.

Gleichwohl fühlte ich mich nie so recht wohl bei ihm. Seine Art, das Leben anzusehen, war nicht die meine. Er schien überhaupt nur noch einen einzigen Maßstab zu haben: seinen ästhetischen. Er führte ein ästhetisches Leben, das mir aber unlebendig vorkam ...

Mit einem gewissen nachlässigen Stolz zeigte er mir, als es eingerichtet war, sein Haus. Es waren da an Bildern, Möbeln, Teppichen, Stoffen, Plastiken, an Geräten, Silber, Porzellan, Bronzen, viel kostbare Dinge zu sehen, ich ging mit ihm von Zimmer zu Zimmer und bewunderte höflich – soweit meine Bildung reichte. Einen solchen Vielkulturen-Mann und ein solches Vielkulturen-Haus, angefüllt mit Dingen aus allen Zeiten, Ländern und Völkern, hatte ich noch nie gesehen. Aber mich fror dabei – mitten im Hochsommer.

Als wir die Besichtigung, nichts anderes war es ja, beendet hatten, gewahrte er meine Erschöpfung. – Mich hatte freilich nicht nur die Besichtigung erschöpft, sondern auch seine Führung. Wenn ich ihn so mit einer sinnlichen und doch zugleich kalten Leidenschaft bald von einem alten Stück Brokat, dann wieder von alt-afrikanischen Zeichnungen, im nächsten Augenblick von frühgotischen Heiligen -Holzfiguren, hierauf von den matten Farben eines alten orientalischen Teppichs reden hörte, unter Hand- und Armbewegungen, wie ich sie in dieser ästhetisch-lüsternen und zugleich kalt zugreifenden Art auch noch nie gesehen hatte, – so war er mir während dieser Führung manchmal wie ein gepflegter wollüstiger Greis vorgekommen, oder eigentlich wie ein innen schon ausgestorbener Mensch, bei dem aber die äußeren Sinne ein gewisses feinfühliges Leben behalten haben ... Ästhetisch war dieser Mensch offenbar überall bewandert, hingegen seelisch nirgends mehr daheim. Das fiel mir, trotz oder infolge meiner Ungelehrtheit, auf. Ich sah einen Mann, der um sich herum unglaublich viele schöne, alte, tote, kostbare Dinge besaß, der aber in sich selbst nichts mehr lebendig zu eigen hatte. Nein, diese Besichtigung, und dazu seine Führung, hatten mich nicht nur erschöpft, sondern mir die äußerste Beklemmung auferlegt.

*

Während wir, zu meiner Erfrischung, bei einem Glase Cordial-Medoc saßen, betrachtete er mich forschend und nachdenklich. Zu klug, um nicht von meinem Verhalten enttäuscht zu sein, zu gewandt, um die Enttäuschung nicht aufs beste zu verbergen, wollte er nun meiner Gesinnung und meinen Gedanken auf den Grund kommen. Ich aber, untertags an Alkohol nicht gewöhnt und deshalb schon von zwei Gläschen Cordial-Medoc ungewöhnlich angeregt, war nicht auf meiner Hut.

Er fragte: »Nun aber – was ist eigentlich so Ihr Gesamteindruck von meinem Haus hier und von meiner Sammlung?« –

»Es war fast zuviel für mich.« –

»Wieso?« –

»Zuviel schöne Dinge auf einmal. Zuviel schöne, alte, fremde Dinge.« –

Er sah mich gewissermaßen aufmunternd an, als ob er wünschte, daß ich mich näher erkläre. »Es ist mir interessant, sehr interessant, was Sie da sagen. Zu mir kommen ja sonst nur Kenner, oder Künstler, oder Gelehrte. Oder vielleicht ab und zu schöne Frauen, die dann auch zu meinen schönen, seltenen, teuern Dingen passen – – und mich manchmal auch teuer zu stehen kommen ... Da interessiert es mich eben um so mehr, welchen Eindruck ein Mensch wie Sie vom Ganzen hier hat.« –

Er hatte mir in diesem Augenblick nichts Neues gesagt. Ich wußte schon, daß er sein Leben sozusagen nur ästhetisch führte, daß ihm die Welt eigentlich nur ein Sinnenspiel war. Und auch diesen gewissen, zynisch-enttäuschten Zug an ihm bemerkte ich heute nicht zum ersten Male, ich wußte, daß er, dem ein übergroßer Reichtum alles erleichterte, und ihm wohl auch viele Menschen gefügig machte, – daß er die Welt für käuflich hielt, auch die Frauen ... So wenig Neues er mir damit heute über sich sagte, fühlte ich doch in diesem Augenblick das Bedürfnis, ihm einmal ganz anders zu antworten, ganz anders als nur eben konventionell und so obenhin. »Wollen Sie wirklich wissen, was ich für einen Eindruck habe, von Ihrem Haus und von Ihnen?« –

»Ja, sagen Sie es ganz offen, es interessiert mich wirklich!« –

»Nun also – mich würde frieren, wenn ich immer unter so vielen alten, fremden, nur-schönen Dingen leben müßte. Es ist ja eigentlich eine Art Kultur-Leichenhalle, in der Sie da leben! Und ich halte Sie für einen unglücklichen Menschen, – objektiv unglücklich, auch wenn Sie, subjektiv, sich nicht oder noch nicht dafür halten!«

Kaum hatte ich es gesagt, war ich ernüchtert und ärgerte mich über mich. Er selbst aber beherrschte sich gut. »Wenigstens sind Sie der erste Mensch, der mich nicht beneidet«, entgegnete er lächelnd, »und ich verstehe auch ungefähr, was Sie damit sagen wollen ... Sehen Sie, meine Großeltern waren noch Juden, meine Eltern Deutsche, und ich bin, wenn Sie so wollen, nur noch Individuum ... habe überhaupt nichts mehr von Volk und Volkswesen. Ich bin von allem frei, ganz frei. Und so suche ich nur noch das Schöne, überall und von überallher, tot oder lebend, wie ich es finde ... Verstehen Sie das?«

»Ich glaube, es ist verzweifelt wahr, was Sie da sagen! Aber für meinen Teil bin ich selbst in meinem Hotelzimmer noch lieber, als hier an Ihrer Stelle.«

»Dann kann ich Ihnen eine Freude machen. Ich lasse jetzt, nachdem ich meine Sachen wenigstens einmal hier habe, innen ein wenig umbauen. ES muß auch allmählich jeder einzelne Raum zu dem, was er enthält, richtig abgestimmt werden. Das gibt, für die nächste Zeit, zuviel Unruhe im Haus. Ich komme auf etwa drei Wochen oder vier wieder ins Hotel.« –

Ob er grundsätzlich jedes unangenehm gewordene Gespräch abbrach, oder ob es seine gewisse Freundschaft für mich war, die ihn versöhnlich stimmte – jedenfalls besaß er Selbstbeherrschung und zeigte mir auch jetzt ein lächelndes Gesicht.

 

In der Tat kam Herr Bromberger wieder in unseren Gasthof.

Wenige Tage später stieg hier eine schöne, noch sehr junge, blonde und elegante Frau ab, die Gattin eines Berliner Großkaufmanns, mit ihrer Kammerzofe. Sie zog alle Blicke auf sich, als sie den Speisesaal betrat; ihre Grazie, Anmut und Jugendlichkeit verdienten es. Herr Bromberger aber stand von seinem Platze auf, ging ihr entgegen, küßte ihr die Hand und führte sie an seinen eigenen Tisch.

Vermutlich war es kein Zufall gewesen, daß er den Innenausbau seines Hauses gerade jetzt vornehmen ließ und selber im Hotel wohnte. Denn er speiste vierzehn Tage lang, zu allen Mahlzeiten, zusammen mit dieser schönen jungen Frau, der er ohne Zurückhaltung den Hof machte. – Zu meiner Überraschung wurde ich übrigens gewahr, daß diese Deutsche auch im vierten Stockwerk wohnte, und noch dazu im drittletzten Zimmer, das sich von dem meinen, dem letzten auf unserem Flur, nur durch einen, allerdings entzückenden Balkon unterschied – ich war einmal dort gewesen und kannte die Aussicht. Immerhin ließ sich aus der Wahl des Stockwerkes schließen, daß die junge Frau nicht ebenso reich war wie Herr Bromberger. Oder aber, sie wollte eigens auf einem anderen Stockwerk wohnen als er, um keine üble Nachrede zu erregen.

Eines Nachmittags, es war an einem Freitag, wollte ich eben das Hotel verlassen, um spazierenzugehen, da begegnete mir unten an der Stiege Herr Bromberger, der seinerseits gerade zurückkam. Er war allein. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?« fragte er, »nur zwei Minuten. Ich muß Ihnen etwas sehr Schönes zeigen.« –

»Sie wissen doch, daß ich nichts davon verstehe, daß ich ein Barbar bin«, antwortete ich lächelnd, »Sie haben es doch selbst gesagt!«

»Es ist diesmal gar nicht Kunst, es ist Natur, ganz echt-Natur – kommen Sie einen Augenblick mit herauf! Kommen Sie!« –

In seinem Salon öffnete er das Päckchen, das er mit großer Sorgfalt in der Hand trug; es enthielt ein Lederetui. Er drückte auf den Knopf des Etuis und rief: »Jetzt kommen Sie, sehen Sie!« –

*

Es war ein Perlenkollier.

Selbst ein Laie wie ich konnte ahnen, daß es sehr, sehr wertvoll war. Es ließ sich aber auch daraus entnehmen, daß Herr Bromberger das Kollier geradezu zärtlich behandelte. Er rückte es bald ins Licht, bald in den Schatten, drehte es bald so, bald so, ließ es durch die Finger gleiten, und streichelte es ...

»Das ist aber jetzt Natur, wie Sie sehen, nicht Kunst. Es ist mit einem Wort: echt! – Und was sagen Sie dazu?«

Ich sagte, daß ich es schön fand.

»Es ist ein ganz passables Geschenk, meinen Sie nicht?« –

»Haben Sie es denn geschenkt bekommen?« fragte ich im Scherz.

»Ja natürlich, vom Juwelier, gegen einen Scheck in einem solchen Betrage, daß ich auch einen Rembrandt damit hätte kaufen können ... Aber vielleicht erraten Sie, für wen dieses Geschenk sein könnte ... könnte? – ich sage noch nicht: sein wird.«

Dies war freilich unschwer zu erraten; aber ich wollte nicht mehr hören, als ich ohnehin erriet. Ich berief mich darauf, daß ich ja schon unterwegs in die Stadt gewesen sei, und empfahl mich.

Abends fühlte ich mich nicht ganz wohl und suchte früh mein Lager auf. Es war Anfang August und Sternschnuppenzeit. Vom Bett aus schaute ich durch das offene Fenster auf den Sternenhimmel. Mein Licht hatte ich ausgedreht.

Da hörte ich sprechen, von der Seite her. Es konnte nur vom Balkon dieser schönen Deutschen herrühren, alsbald erkannte ich auch die Stimme des Herrn Bromberger. Es war das erste Mal, daß er sie auf dem Zimmer besuchte, aber es konnte mich nicht sonderlich überraschen; vielleicht hatten sie sich absichtlich auf den Balkon gesetzt, wo man sie sehen, und also auch nicht verdächtigen konnte, sich vor den Leuten zu verbergen.

Ob ich wollte oder nicht, mußte ich nun fast jedes Wort hören. Stand ich aber auf, um das Fenster zu schließen, so mußten sie mich natürlich hören, und auch sehen, und mochten es für eine alberne Demonstration halten. Deshalb ließ ich das Fenster offenstehen. –

Herr Bromberger machte der jungen Frau den Hof auf seine Weise; und was er auch sagte: – er bekundete in allem den Witz, den Zynismus, und die Sinnlichkeit zugleich, in deren eleganter Mischung er sich gefiel (und die mich noch jedesmal irritiert hatte).

Zwischendrein sprach die junge Frau – vielleicht absichtlich laut, denn auch auf anderen Balkonen saßen ja um diese Zeit Leute – von ihrem Gatten; er würde morgen früh eintreffen, aber nicht vierzehn Tage bleiben, wie geplant gewesen sei, sondern schon am Montag nach London weiterfahren. Dort habe er in Geschäften zu tun.

Ich hörte, daß sich Herr Bromberger erhob. »Es ist leider schon Zeit, daß ich gehe, liebe Freundin. Aber jetzt muß ich Ihnen zuerst noch etwas zeigen.« –

Es bedurfte geringen Scharfsinnes, um zu erraten, daß die Ausrufe des Entzückens, die jetzt begannen und gar nicht enden wollten, dem Perlenkollier galten. Es mochte eine halbe Stunde in dieser ersten Begeisterung hingegangen sein.

Da stand Herr Bromberger wieder auf. »Meine Teuerste, hören Sie jetzt bitte genau, was ich sage! Dieses Kollier werde ich Ihnen, ich sage: werde ich Ihnen einmal schenken, vielleicht in sehr absehbarer Zeit ... es steht ja in Ihrem Belieben ... einstweilen aber lasse ich es Ihnen ungeschenkt hier, damit Sie zunächst einmal Ihren Mann fragen, ob er erlauben würde, daß Sie es überhaupt annähmen – sonst könnten Sie es ja nachher gar nicht tragen! Sie müssen also seine Erlaubnis haben.« –

Sie sagten sich gute Nacht, und Bromberger ging.

Ich sah den Gatten der schönen jungen Frau schon am andern Morgen, bald nach seiner Ankunft. Er war wenigstens zehn Jahre jünger als Bromberger, und man konnte ihn nicht häßlich nennen; hingegen nervös und abgehackt in seinen Bewegungen. Er gab sich einen energischen Ausdruck, was nicht verhindern konnte, daß er eher etwas unsicher und gutmütig aussah. Er tat mir leid. –

Das Zimmer, das zwischen dem meinen und dem der schönen jungen Frau lag, war in der letzten Zeit unbesetzt gewesen. Ich merkte aus allem, daß das deutsche Ehepaar beide Zimmer innehatte. Diese Menschen schienen sich nichts daraus zu machen, daß bei den offenen Fenstern ihre lauten Gespräche auch in den Nachbarzimmern gehört werden mußten. Es ist mir hier überhaupt aufgefallen, daß die Deutschen meistens laut sprechen – eine schlechte Gewohnheit, aber vielleicht nicht immer ein schlechtes Zeichen.

Dieser Mann liebte seine Frau. Er liebte sie aufrichtig und sagte es ihr auch jetzt mehr als einmal. Um so mehr konnte man ihn beklagen.

Es schien so gewollt zu sein, daß ich ohne und wider meinen Willen auch weiterhin zum Zeugen und Mitwisser wurde. Mittags hatte das deutsche Ehepaar im Speisesaal gegessen, und nach Tisch hatte der Gatte den Freund seiner Frau, den er offenbar schon lange kannte, begrüßt. Nachmittags aber saßen Mann und Frau auf dem Balkon, nahmen dort ihren Tee, und plauderten. So laut, als seien sie allein auf der Welt. Ich lag krank in meinem Zimmer; meine Erinnerungen lasteten wieder auf mir – wie es angesichts dessen, was sich hier anzuspinnen schien, begreiflich war.

Nach dem Tee sagte die junge Frau zu ihrem Manne: »Bleiben wir noch einen Augenblick hier sitzen! Ich will rasch etwas aus meinem Zimmer holen und es dir zeigen ...«

Sie kam zurück. »Etwas ganz Herrliches muß ich dir zeigen. Etwas ganz Herrliches ... Ich soll es dir zeigen, denn du mußt entscheiden, ob ich es überhaupt annehmen darf. Bromberger macht es von deiner Erlaubnis abhängig ... Und jetzt sieh dir das an!« – – –

Das Perlenkollier wurde bewundert; viel mehr von ihr als von ihm. Er schien plötzlich schweigsam geworden zu sein; sie aber bewunderte endlos.

»Es ist ein unerhörtes Geschenk«, sagte sie zuletzt, »ein Vermögen! Nur ein Bromberger kann sich so etwas leisten. Nur ein Bromberger kann den Spleen haben, so etwas einer Frau zu schenken, der er nur so aus der Ferne den Hof macht ... Er ist ja hier, wir in Berlin ... Aber erlaubst du, daß ich es überhaupt annehme? ... Er besteht darauf, daß ich dich eigens frage. Das ist taktvoll von ihm ... findest du nicht – – –?«

»Und ich will dir etwas sagen. Aber etwas ganz anderes, meine Liebe. Etwas, was du dir nicht gedacht hättest – und was ich auch für meinen Teil sonderbar finde ... sehr sonderbar von diesem deinem steinreichen Verehrer ... Du ahnst nichts? gar nichts? wirklich nicht? – – Nun, so will ich dir's jetzt sagen: Diese Perlen sind nicht echt. Nicht echt, hörst du! Es ist eine Imitation – als solche vielleicht tausend oder zwölfhundert Mark wert. Nicht echt sind diese Perlen, nicht echt, das sage ich dir, und ich weiß, was ich sage. -

»Du lügst!« rief, ja schrie sie, »du lügst infam! Du willst mir die Freude verderben ... Du bist mir neidig ... Du bist ... womöglich gar noch eifersüchtig? auf Bromberger? Du lügst – –!«

»Das ist schlecht von dir, ganz schlecht, daß du sagst, ich lüge. Es ist furchtbar schlecht von dir. Trotzdem sage ich dir: Gehen wir, gehen wir sofort zum nächsten Juwelier! Sofort. Du wirst ja dann hören ... Über alles andere reden wir nachher. Wir gehen aber sofort.« –

Es verging keine halbe Stunde, da kamen sie zurück. Kaum hatten sie die Türe zugemacht, nein, zugeschlagen, so hörte ich, daß die junge Frau in lautes Weinen ausbrach. Er sagte lange gar nichts. Aber als sie selbst endlich verstummt war, begann er zu sprechen. »Und wegen dieser falschen Perlen hast du mich einen Lügner genannt. Es ist ja schändlich!« –

»Du hast Recht«, sagte sie, »es war schändlich. Verzeih ... Und laß mich am Montag gleich mit dir reisen, mit nach London! ... Gib du Bromberger das Zeug zurück. Ich will ihn überhaupt nicht mehr sehen. Sag ihm einfach, ich sei nicht wohl ... Und damit Schluß ... verlaß dich darauf: Schluß für immer!« Sie weinte plötzlich wieder laut auf, beruhigte sich aber schnell. »Und noch etwas!« sagte sie dann plötzlich in entschiedenem Tone, »noch etwas: Ich habe mir jetzt alles überlegt, hörst du ... Ich will jetzt ein Kind haben, es hat wirklich keinen Sinn, nur immer so zu leben, nur für die Gesellschaft ... jetzt geb ich dir Recht ... wir müssen Vater und Mutter werden ... jetzt will ich es selbst.«

*

Sie versöhnten sich vollkommen. Ich konnte es daraus schließen, daß sie abends nicht in den Speisesaal kamen, sondern sich ins Zimmer servieren ließen. Nur zwischendurch erschien der Gatte im Saal, und gab, wie ich gut sehen konnte, Herrn Bromberger ein in Seidenpapier eingehülltes Päckchen, ein Lederetui. Mit freundlichem Lächeln. Das Geschenk sei zu kostbar. »Unmöglich, ein so kostbares Geschenk anzunehmen« ...

Am Montag reiste das deutsche Ehepaar ab, in aller Frühe, und ohne von Herrn Bromberger noch besonderen Abschied zu nehmen.

*

Aber die Perlen waren dennoch echt gewesen!

Denn Bromberger, über die ihm widerfahrene Zurückweisung seines – bedingten – Geschenkes höchlich überrascht, machte aus diesem Erlebnis mir gegenüber so wenig ein Hehl, daß er mich vielmehr bat, ihn zu dem Juwelier zu begleiten, bei dem er die Perlen gekauft hatte. Ich schwieg über das, was ich wußte, und ging aus Neugierde mit ihm. »Sie brauchen dort gar nichts reden, bei einem so schlechten Handel ist schon die bloße Anwesenheit eines Dritten angenehm und vorteilhaft, Sie können ganz stumm dabeistehen.« Und ich schwieg.

Der Juwelier nahm die Perlen nicht selbst zurück, sondern nur zum Verkaufe an. Bromberger erhielt aber schließlich zweitausend Franken mehr, als er selbst dafür bezahlt hatte; aus irgendeinem Grunde waren die Perlenpreise inzwischen gestiegen. –

*

Die Perlen waren echt gewesen.

Wie seltsam, daß der Ehemann sie für falsch halten mußte! und daß auch jener Juwelier, zu dem er mit seiner Frau zusammen geeilt war, dieses Urteil bestätigt hatte! ... Wahrscheinlich hatte ihn die bloße Tatsache, daß man mit einem solchen Kollier überhaupt zu fragen kam, dazu verleitet, dem Ehemann ohne weitere Prüfung Recht zu geben. So ungefähr stellte ich mir den Hergang vor.

Februar 1908

Die eigentliche Ursache der Trigeminus-Neuralgien ist unbekannt. Auch die Schmerzen kennen glücklicher Weise nicht allzu viele Menschen auf der Welt. Was ich im Herbst und Winter durchgemacht habe, würde ich selbst einem Todfeind nicht wünschen. Es ist zu entsetzlich!

In der Tat: wüßte ich nicht, daß auch schon Menschen, die zeitlebens in der ungetrübtesten inneren und äußeren Ordnung dahingelebt haben, von diesen unbeschreiblichen Schmerzen heimgesucht worden sind, so würde ich gerade aus dem Geheimnis, das über ihrer Ursache liegt, schließen, daß diese dem inneren Leben angehört, einem ungeklärten, unbereinigten Innenleben. Ich wenigstens fühlte mich – ganz ähnlich wie jener Mensch seine Schuld auf offenem Platze bekannte – in meinen Schmerzen mehr als einmal versucht, auf die Straße hinauszustürzen und mich vor aller Welt auf den Boden zu werfen ... so sehr übersteigen diese Schmerzen die menschliche Fassungskraft! Es hat ja wohl alles Leiden der Kreatur die gleiche erste Ursache und den gleichen letzten Sinn. Ich unwissender Mensch wage zu behaupten – auf Grund der erlittenen Trigeminus -Neuralgien –, daß die Leiden, wenn man nicht vorzieht, sie für sinnlos zu halten und daran zu verzweifeln, eine furchtbare Ursache und einen erhabenen Sinn haben müssen. Für die ganze Kreatur, für die Kreatur im Ganzen; sodann aber für jedes einzelne Lebewesen, je nach seiner Besonderheit.

Es ist allerdings richtig, daß einige Alkoholeinspritzungen, die den Trigeminus-Nerv in seinen drei Ästen und ihren Verzweigungen erreichen und betäuben, damit auch die Neuralgie zum Stillstand bringen. (Übrigens sind diese Einspritzungen auch jedesmal ein gewaltiger Schmerz, wie als würde einem die Schädeldecke abgesprengt – was ich jedoch fast als Erholung empfand, weil es wenigstens endlich ein anderer Schmerz war!) Aber die Tatsache, nämlich der durch künstliche Nervenlähmung erzwungene Stillstand der Schmerzen, vollzieht sich doch schließlich auch innerhalb des Kosmos und des ihm eingeschaffenen Gesetzes, ist somit von vornherein in ihm enthalten und irgendwie mit vorgesehen, ändert also nichts an Ursache und Sinn des Leidens ...

Ich ging dann natürlich auch noch zum Zahnarzt, der mir seinerseits eine Anzahl Zahnnerven einzeln tötete. So wurde allgemach Ruhe.

Diesen Zahnarzt schätzte ich übrigens nicht nur wegen der Geschicklichkeit, wegen der behutsamen Güte, mit der er seinen Beruf an mir ausübte, sondern noch weit mehr wegen der edlen Unterhaltung, mit der er seine Tätigkeit zu begleiten verstand. Obwohl er ja den ganzen Tag an seine Arbeit gefesselt war, hatte er sich auf seine Weise tiefe Einsicht in Menschen und Dinge, und in die wirkenden Kräfte des Lebens erworben. Das rührte natürlich daher, daß zu ihm Menschen aus allen Ländern und Ständen kamen. Er, von sich aus, aber hatte die Fähigkeit, die Menschen unaufdringlich zum Reden zu bringen und ihnen so über die kleineren oder größeren Schmerzen der Behandlung hinwegzuhelfen. So vernahm er denn vieles und ordnete alles Vernommene mit stiller Bedachtsamkeit seinem Weltbild ein. Von Geburt ein jurassischer Bauernsohn, immer im Lande geblieben, in einem Berufe tätig, der an sich begrenzt ist, war er so weltkundig wie nur irgend ein weitgereister, unabhängiger Mann; denn ihm hatte sich die Welt von seinem Arbeitsraume aus erschlossen. Am meisten freilich war ihm dabei sein menschenliebendes reines Herz zu Hilfe gekommen.

*

»Dieser Mann ist ein ausgezeichneter Zahnarzt, und ein ausgezeichneter Mensch«, – sagte im Wartezimmer die alte Gräfin S..., die ich vom Sehen her schon aus dem Hotel kannte, zu ihrer Nichte und zu ihrem Neffen, blickte dabei aber mich an. »Ja, es ist ein seltener Mensch, in jeder Beziehung« – pflichtete ich bei. »Nicht wahr! das meine ich eben –« fuhr sie, zu mir gewandt, fort. Und im Verlaufe des Gespräches, das den Eigenschaften unseres Zahnarztes galt, machten wir nun auch formell unsere schon bestehende Bekanntschaft. Die drei stammten aus der Normandie, was ich schon wußte, weil ich ihren Namen in der Fremdenliste gelesen und vor einiger Zeit nachgeschlagen hatte. Die alte Gräfin-Witwe und der Neffe weilten in Lausanne, um ihre Gesundheit wiederherzustellen – »was bei mir nur noch eine façon de parler ist«, fügte sie lächelnd hinzu. Und wirklich sah sie sehr elend aus. Der Neffe aber hatte sich geistig überarbeitet, »in unserem mouvement, wissen Sie, in der Action Française.« – Aber ich wußte davon nicht viel mehr als den Namen. Die Nichte verhielt sich ziemlich schweigsam. Sie war nicht im gewöhnlichen Sinne schön, aber aus ihren großen, tiefliegenden Augen schien eine starke Seele zu sprechen. Als sie mich einmal kurz ansah, fühlte ich mich gleichsam zur Rede gestellt. Ich schämte mich fast; denn sie war ja nur ein junges Mädchen, vielleicht vierundzwanzig Jahre alt.

*

Dieser erste Eindruck ging mir nach, und befestigte sich, wenn ich der Nichte der Gräfin S... dann das eine oder andere Mal in der Hotelhalle begegnete und sie mich, wie mir schien, wieder so sonderbar fragend ansah. Deshalb hatte ich mich auch nur widerstrebend zu dem Höflichkeitsbesuch entschlossen, den ich der alten kranken Dame selbst schuldete; denn ich mußte annehmen, ihre Nichte bei ihr wieder anzutreffen. So war es auch. Aber dieser Besuch verlief ebenso kurz wie traurig. »Sie kommen guten Tag sagen und Adieu zugleich –« begrüßte mich die Gräfin, ohne sich vom Lehnstuhl zu erheben, »entschuldigen Sie, daß ich sitzenbleibe! Morgen muß ich in die Klinik.« – Sie sagte das lächelnd, aber ihre Blässe, und auch die umflorten Augen ihrer Nichte ließen erraten, daß es wirklich sehr schlecht um sie stand. Wir plauderten einige Minuten. »Wie ich schon zu meiner Nichte gesagt habe, so sage ich auch Ihnen und jedem: Das Fortgehen ist leichter als das Bleiben, denn glauben Sie mir, es kommen böse Zeiten. Denken Sie an mich, Sie werden sehen, daß ich Recht habe. Ehe zehn Jahre um sind, wird man mich und alle beneiden, die noch friedlich fortgegangen sind!«

*

Ich erkundigte mich einmal bei dem Neffen nach ihrem Befinden, dann aber gab mir der Zahnarzt immer wieder Nachrichten. Er kannte und verehrte sie seit längeren Jahren, sie schätzte ihn offenbar und hatte ihm, wie er es verdiente, ihr Vertrauen geschenkt. Er besuchte sie manchmal in der Klinik. –

»Sehen Sie«, sagte er mir einmal, »der Krebs ist jetzt schon die häufigste Todesursache, er ist die Zeitkrankheit. Daß er aber auch diese große Frau getroffen hat – sie ist wirklich ein großer Mensch –, tut mir nicht nur persönlich weh, sehr weh ... sondern das ist auch etwas – wie soll ich sagen ... etwas Geheimnisvolles.

Ja, in der Tat ... Weil Sie ja auch zu leiden haben, und weil es Sie zu trösten vermag, handle ich ganz sicher im Sinne dieses großen, guten Menschen, wenn ich Ihnen einiges – wenigstens einiges – erzähle.

Das heißt, zuerst etwas anderes. Daß sich überhaupt der Krebs so verbreitet! Und dabei ist er ja nicht eigentlich eine gewöhnliche Epidemie. Ich komme viel mit Ärzten zusammen, wie natürlich ... Man spricht da auch manchmal ein Wort über das Handwerk hinaus ... Es kann kein Zufall sein, daß sich der Krebs so ausbreitet. Manche sagen, es hänge auch mit den vielen chemischen Arzneimitteln zusammen, die heute fast jeder Mensch im Laufe seines Lebens konsumiert. Vielleicht ist daran etwas Wahres. Aber das berührt noch nicht den Kern der Sache. Mir scheint, zwischen der Zeit selbst, zwischen dem Charakter dieser Zeit und der Krebskrankheit besteht irgend ein tieferer Zusammenhang, schicksalsmäßig, verstehen Sie. Eine Art schrecklicher Analogie. – – –

Nun ja. Wenn Sie meine Meinung nicht für widerfinnig halten – ich glaube nicht, daß sie es ist –, so werden Sie diese Analogie selbst durchdenken.

Die gute Gräfin S... freilich, ob sie schon an Krebs dahinsterben muß, ist innerlich, seelisch gewiß nicht krank wie diese Zeit krank ist, aber da gilt schließlich, daß wir alle eins sind aus Adam, wie der Katechismus bündig sagt, entschuldigen Sie, daß ich ihn zitiere – sicherlich stehen wir untereinander in einer Art Gesamthaftung, sonst wäre ja auch die Idee einer Menschheit Unsinn ... und so kommt es wohl, daß der einzelne seelisch gesund sein kann und doch die kranke Zeit miterleiden muß, seelisch und körperlich.

Nun ja. Aber bei dieser verehrungswürdigen Gräfin S... obwaltet noch ein persönliches Schicksalsgeheimnis ..., das aber auch nicht aus dem großen Ganzen herausfällt – es ist eben die ›Individualisation des Prinzips‹ wie die Philosophen sagen ...

Sie hat jung geheiratet, d. h. sie ist verheiratet worden. Darüber hat sie sich übrigens nie beklagt ... Ich erinnere mich an ein Wort von ihr, sie sagte mir einmal: ›Es ist durchaus nicht sicher, daß die Liebe der Eltern in allen Fällen schlechter wählt als die Leidenschaft der Kinder‹ ... In meinem Dorf allerdings hatten wir das Sprichwort: ›Heiraten und sterben muß der Mensch selber und allein‹ – aber wie dem auch sei: Die Gräfin S... war seinerzeit verheiratet worden. Mit einem vortrefflichen Mann. Und ich brauche nicht zu sagen, daß sie in einer sehr guten Ehe gelebt hat. Sonst würde ich Ihnen gewiß nicht davon sprechen! ... Sie hat in einer sehr guten Ehe gelebt, es gab da nicht den leisesten Hauch einer Zweideutigkeit, nicht in ihm, noch in ihr. Sie haben sie ja noch gesehen, solche Menschen sind nicht aus dem Holz, aus dem biegsame Gerten wachsen, natürlich nicht ... Die Ehe war kinderlos. Und nach zwanzig Jahren starb der Graf S..., am Krebs, an einer der schauerlichsten Formen von Krebs, sie hat ihn zwei Jahre gepflegt, sie und nur sie ... am Tag vor seinem Tode – sprechen konnte er nicht mehr – schrieb er mit zittriger Hand, mit furchtbarer Anstrengung, auf einen Zettel Papier: › Angèle est un ange, merci, Angèle, mille merci, adieu!‹ Angela heißt die Gräfin mit Vornamen ...

Eine solche Ehe also ist das gewesen.

In ihrer Jugend aber, vor ihrer Ehe, hatte die Gräfin einen anderen Mann geliebt, jedoch nur aus der Ferne, wie dieser Mann auch sie. Es hatte sich niemals mehr unter ihnen ereignet, als daß eben eins um des andern Liebe wußte.

Dieser Mann nun hatte einige Jahre nach der Gräfin S... auch geheiratet, und auch da war alles gut und recht. Auch da kein Schatten von Zweideutigkeit, Unklarheit, Anderswollen, oder so ...

Zu der Zeit, wo die Gräfin S... Witwe wurde, war sie noch eine verhältnismäßig junge Frau, zweiundvierzig Jahre alt. Als Witwe, wie auch schon vorher, traf sie mit jenem anderen Ehepaar zusammen, die Männer kannten sich ohnehin, es herrschten freundschaftliche Beziehungen, wie es unter solchen Familien – die ohnehin meistens gemeinsame Verwandte haben, wenn sie sich nicht sowieso schon enger verwandt sind – ziemlich selbstverständlich ist. Dieses Ehepaar hatte übrigens Kinder, nur war infolge der Geburten die Frau kränklich geworden, und geblieben.

Nun also. Fünf Jahre nach dem Tode des Grafen S... erkrankte jener andere, der einst aus der Ferne geliebte Mann. Er erkrankte, das heißt, es wurde offenbar, daß er an Krebs litt, es trat nun eben zu Tage.

Die Gräfin S..., wissend, daß die Frau des Armen selbst der Hilfe bedürftig war und somit ihren Gatten nicht pflegen konnte, erbot sich zur Pflege. Das wurde von jener Frau in der gleichen Eindeutigkeit dankbar angenommen, wie es eindeutig und edel gemeint war.

So pflegte denn die Gräfin S... jenen Mann, sie allein, ein bitteres Jahr, Tag und Nacht. Und diese Pflege war das einzige Recht, das ihre Jugendliebe überhaupt erbeten und ausgeübt hat. Und nach den großen, großen Schmerzen, die sie mit ihm getragen hatte, starb er.

Als er auf der Bahre lag, im Krankenzimmer aufgebahrt, stand sie vor dem Toten und dachte: ›Ich habe Dich geliebt.‹ Dann weinte sie freilich sehr ... wie sie mir selbst gesagt hat: weil sie Gott so dankbar war, daß er ihn nun von diesen unablässigen, entsetzlichen Schmerzen, unter denen er verhungert war, doch erlöst hatte.

Da stand sie nun so allein vor dem Toten, denn es war gerade niemand außer ihr im Totenzimmer. Sonst hätte sie ja nicht so geweint. Niemals.

Es kamen dann aber plötzlich Leute, die dem Toten ihren letzten Besuch abstatten wollten. Die Gräfin S... war sich klar, daß sie in so verweintem Zustande nicht gesehen werden sollte, deshalb stellte sie sich rasch hinter den, an die Wand angelehnten, ziemlich breiten Sargdeckel. Da zudem hohe Blattpflanzen zu beiden Seiten, vom Haupt des Toten aus, im Zimmer aufgestellt waren, war die Sicht in jene Ecke verborgen und die Gräfin blieb hinter dem Sargdeckel ungesehen. Sie mußte allerdings lange dort stehen bleiben, weil jetzt immer wieder Leute kamen, und sie natürlich nicht plötzlich aus ihrem unheimlichen Versteck heraustreten konnte.

Und sehen Sie: damals, als sie gleichsam gefangen war hinter dem Sargdeckel seines Sarges – damals durchzuckte sie, zum ersten Male, der Gedanke: ›Und auch du, du selbst wirst krebskrank werden.‹

Als vor etwa anderthalb Jahren ihr kranker Zustand offenbar wurde, wußte sie denn auch sofort, daß es Krebs war. Ich habe nie einen Menschen gesehen, der sein Schicksal mit einer solchen Tapferkeit, der sein Kreuz so widerspruchslos auf sich genommen hat wie sie. Und sie hat sich mit einer unwahrscheinlichen, ja, ich sage Ihnen: überlebensgroßen Tapferkeit aufrechterhalten, bis es eben durchaus nicht mehr ging, bis sie niedergeworfen worden ist ... Erinnern Sie sich nur: vor drei Monaten war sie ja noch ein letztes Mal hier, um ihre Nichte zu mir zu bringen – – –

Übrigens ... Sie entschuldigen mich vielleicht einen Augenblick – Sie haben nichts dagegen, daß ich von hier aus die Klinik anrufe? ... Um vier Uhr erreiche ich den Arzt am bequemsten, für ihn. Es ist nun eben Zeit ...«

*

Die Gräfin S... war aber vor einer Stunde verschieden.

Juni 1910

Indem ich jetzt, nach fast zwei Jahren, diese letzten Seiten nachlese, erfahre ich zu meiner Überraschung wieder, daß ich mich anfangs vor der Komtesse Marguerite S... gefürchtet habe. Wie sonderbar, wie ganz sonderbar – das jetzt wieder zu lesen, nach allem was seither geschehen ist!

Als damals der junge Graf Viktor S... und seine Schwester die Leiche ihrer Tante in die Heimat geleiteten, dachte ich wohl, daß damit meine Bekanntschaft mit ihnen zu Ende sei. Das heißt, wahrscheinlich dachte ich damals überhaupt nichts. Sie reisten ab und mußten abreisen. Ich hatte ihnen mein Beileid ausgesprochen, und mich zugleich verabschiedet. Aber an eine Wiederbegegnung dachte ich nicht im entferntesten.

Übrigens grüßte ich sie, als sie, etliche acht Wochen später, wieder nach Lausanne und ins Hotel hier zurückkamen, und ich sie dann das erstemal wieder durch die Halle gehen sah, nur aus der Entfernung. Ich kannte sie ja schließlich nicht näher. Aber der junge S. kam gleichwohl auf mich zu, ich ging ihm höflichkeitshalber entgegen, wir schüttelten uns die Hände und begaben uns zu seiner Schwester, die mich ganz freundlich empfing, auch weniger wortkarg, als ich sie in Erinnerung hatte. Aber auch diesmal sah sie mich wieder so fragend an, daß es mich frappierte. (Es sollte sich später herausstellen, wie wenig ich mich darin getäuscht hatte!) – Jedenfalls war unsere Bekanntschaft hiermit erneuert und bekräftigt. Viktor S. sagte mir, daß er nicht nur zu seiner weiteren Erholung hierher zurückgekehrt sei, sondern auch einem Freund, dem Abbé B., einem gelehrten Priester, zuliebe, welcher sich für einige Zeit hier aufhalte. Die Komtesse ihrerseits wollte ihre Zahnbehandlung fortsetzen lassen.

Ich ging damals auch noch hie und da zu unserem lieben guten Zahnarzt, ich hatte noch einige Kleinigkeiten richten zu lassen, und freute mich außerdem der Gelegenheit, ihn wiederzusehen. Denn er war nur in seinem Arbeitszimmer zu treffen; abends gehörte er ausschließlich seiner Familie, er wohnte in einem Vorort.

Eines Tages – die Geschwister S. waren erst seit etwa einer Woche wieder hier – erzählte mir der Zahnarzt während der Behandlung, absichtslos und beiläufig, daß sich Viktor S. bei ihm erkundigt habe, »wer ich denn sei«. Ich erschrak. Der Zahnarzt beeilte sich hinzuzufügen, daß jene Frage natürlich nicht eine Bitte um Auskunft, sondern offenbar das Zeichen eines gewissen freundschaftlichen Interesses gewesen sei. »Und was haben Sie ihm geantwortet?« – fragte ich, nicht ohne Erregung. »Ich hielt es nicht für eine Indiskretion«, sagte er, »ihm zu erzählen, daß Sie einen sehr schweren Winter gehabt haben, mit Ihren Trigeminus-Neuralgien, und daß Sie auch mit dem Herzen zu tun haben. Oder ist es Ihnen unangenehm, daß ich das gesagt habe? es täte mir leid – aber soviel konnte er schließlich auch in Ihrem Hotel erfragen, nicht wahr? ...« »Nein, nein, Sie haben Recht gehabt, selbstverständlich konnten Sie ihm das sagen, es ist mir durchaus nicht unangenehm.« – »Nicht wahr – es fällt mir jetzt übrigens auch der Zusammenhang ein, wir hatten vom alten Abbé B... gesprochen, einem Patienten von mir. Der junge Graf verehrt ihn sehr, er studiert jetzt hier ein wenig mit ihm. Wissen Sie, dieser Abbé B. ist der Freund und Mitarbeiter eines anderen Geistlichen, eines großen Gelehrten, Henri de Tournier ...«

»Und wer ist das?« –

»Ja, leider kennt man ihn zu wenig. Es wäre ganz gut für unser altes Europa, wenn seine Ideen bekannter wären, und wenn sie auch angenommen würden ... Erinnern Sie sich, daß Sie mich anfangs manchmal gefragt haben, wie im einzelnen das Verhältnis zwischen Eidgenossenschaft und Kantonen ist? es war Ihnen beim Zeitungslesen aufgefallen, daß unsere Kantone ihre gewisse Eigenständigkeit so stark betonen – erinnern Sie sich? Damals sagten Sie noch, es würde auch bei Ihnen draußen oft über die richtige Auffassung der Reichsidee diskutiert, aber es fehle eigentlich an der Grundlage: jeder rede von Föderalismus, aber niemand wisse recht, was das sei, ob etwas Wesentliches, oder bloß ein überholter Zustand, der eben mit dem alten abendländischen Reich aufgehört hat ...«

»Ja, und Sie haben mir gesagt, daß er immerhin in der Eidgenossenschaft noch lebendig ist. Aber das Wesen der Sache, das Wesen der Idee!?« –

»Nun eben – das geht ein wenig aus den Arbeiten dieses Abbé de Tournier mit hervor. Er glaubt, daß er eine gewisse Grundtatsache in der Geschichte der jetzigen europäischen Völker erstmals aufgedeckt hat. Er nennt diese Grundtatsache die particularisation in Europa, und erweist sie als ein Prinzip. Er sagt, daß dieses Prinzip, merkwürdigerweise, geschichtlich zu gleicher Zeit in Wirksamkeit getreten ist, wie das Christentum selbst. Geographisch aber vom anderen Ende der abendländischen Welt her. Nämlich vom hohen Norden, von Skandinavien her. Dort haben, zur Zeit vor Christi Geburt, gotische Völker gelebt. Und eben um diese Zeit ist, nach Tournier – Sie können es ja in seinen Arbeiten nachlesen –, bei einem dieser Völker eine eigenartige Durchbrechung der ganzen bisherigen Lebensordnung erfolgt. Bis dahin war in jeder Familie der erstgeborene Sohn, in der Nachfolge seines Vaters, regierend, absolut regierend gewesen. Der zweite, der dritte Sohn, überhaupt alle seine jüngeren Brüder, waren ihm in der Familie untertan. Um die Zeit von Christi Geburt aber erfolgte der Durchbruch dieser Lebensordnung. Wie Tournier meint, infolge mangelnder Ernährungsmöglichkeiten, infolge Mangels an wirtschaftlichem Lebensraum. Damals also brachen in den Familien die zweiten und dritten Söhne, und überhaupt die jüngeren Brüder auf, zogen südwärts, und siedelten sich – teils im heutigen Dänemark, teils an der heutigen deutschen Küste und landeinwärts – selbständig an. Diese Loslösung aus dem starren Familienregiment, diese particularisation, war damals etwas Unerhörtes ... eine Umwälzung eben der ganzen sozialen Ordnung, einer uralten Ordnung! Tournier führt dann aus, wie diese Emanzipation der Nachgeborenen die kommende Geschichte der europäischen Völker entscheidend mitbestimmt ..., während gleichzeitig die Lehre Christi unter diese Völker getragen wird und die Heilsreligion ihnen die Erlösung im Reiche der freien Gotteskindschaft verkündigt, die Erlösung im Reiche der sittlichen Freiheit also, des Gewissens, der sittlichen Persönlichkeit! ... Verstehen Sie den gottgewollten, den providentiellen Zusammenhang? – den Tournier übrigens nur einmal kurz andeutet ... ihm kommt es ja auf etwas anderes an: nämlich darauf, die Geschichte der Partikularisation der jetzigen europäischen Völker zu schreiben, rein wissenschaftlich, historisch, ohne metaphysische oder ethische Beimischung ... Aber gerade deshalb sind seine Arbeiten so interessant, auch für unsereinen. Hätte Tournier nur für Katholiken geschrieben, so hätte ich, der ich nicht katholisch bin, vielleicht erklärt, es ginge mich nichts an ..., nun aber geht es mich sehr wohl an, als Menschen, als Schweizer, als Weltbürger ... Sie sollten das wirklich lesen, Sie werden sich, denke ich, freuen.« –

»Natürlich werde ich es lesen ... Nebenbei gesagt: wenn man dies so hört, wundert man sich eigentlich, daß die heutigen Vertreter der liberalen Idee gegen den föderativen Gedanken kämpfen, nicht wahr ...? Und andererseits sieht man, was für eine große Vorgeschichte ein Gedanke hat wie der von Goethe: daß ›der Erdenkinder höchstes Glück die Persönlichkeit ist‹.« –

»Ja, nicht wahr! Trotzdem bleiben die Liberalen, wie mir scheint, in ihrer Linie. Ihr Zentralismus hängt wohl zusammen mit der Forderung nach freier Wirtschaft, meinen Sie nicht? Und für eine vollkommen freie Wirtschaft ist eben die föderalistische Überlieferung, obwohl ursprünglich selbst aus dem Streben nach Freiheit, nach Emanzipation entstanden, auch noch eine Behinderung.« –

»Kann es überhaupt, in irgend etwas, eine vollkommene Freiheit geben?«

»Ich glaube es nicht. Man müßte folgerichtig zur Auflösung der Familie, zur Auflösung aller Körperschaften kommen. Es scheint mir allerdings, als trieben wir in eine solche Krisis. Keins der Prinzipien, aus denen die Menschen leben, wirtschaften und wirken, verträgt eben, daß man ihm absoluten Durchbruch läßt. Im Ringen von Prinzip und Gegenprinzip erhält sich das Leben, anders nicht. Das weiß ich schon als Mediziner, es ist gewissermaßen in den roten und weißen Blutkörperchen schon so gegeben. Ganz wie Ihr Goethe sagt: ›Alles Irdische ist nur ein Gleichnis‹.«

»Wie kommen Sie nur auf all dies?« –

»Meine Patienten sind meine fortgesetzte Universität! Car j'en ai de toutes les couleurs. Und aus ihren Widersprüchen lerne ich das Leben im ganzen ein wenig verstehen. Jetzt allmählich sogar die Katholiken, – wenn Sie mir's nicht verübeln, muß ich Ihnen sagen, daß mir das verhältnismäßig am schwersten gefallen ist!« –

»Es macht aber gar nicht den Eindruck ... Was Sie da gesagt haben, klingt eigentlich, wie mir scheint, schon etwas katholisch!«

» Vous marchez un peu trop vite, cher ami – Sie gehen zu schnell ins Zeug. Aber es ist richtig, daß die Katholiken die natürlichen Lebenswahrheiten am besten bewahrt haben.«

»Wenn Sie das Ihrem Abbé B... sagen, wird er hinzufügen: ›auch die übernatürlichen ...‹.«

»Die aber nur mit dem Glauben erfaßt werden können, nicht wahr! Apropos, sind Sie mir jetzt noch böse, daß ich dem Grafen S... auf seine Frage geantwortet habe? –«

»Bestimmt nicht – wenn ich es überhaupt war. – «

»Es hat den Anschein, als würde er gern etwas näher mit Ihnen zusammenkommen. Ich sage Ihnen dies, damit Sie Bescheid wissen. Aber wahrscheinlich werden Sie ihm jetzt erst recht ausweichen ...«

Die Sitzung war zu Ende. Im Heimgehen befiel mich wieder eine gewisse Unruhe. Vielleicht hatte es doch noch einen anderen, meinem guten Zahnarzt unbekannten Sinn, daß der junge S. wissen wollte, wer ich wäre. Wie kam er überhaupt auf diese Frage, gerade auf diese? Hatten wir, ohne daß ich es wußte, gemeinsame Bekannte aus meinem früheren Leben? – Aber das konnte nicht sein. Denn diese Geschwister S. würden gewiß einen weiten Bogen um mich schlagen, wenn sie meine Vergangenheit kannten. Es mußte etwas anderes sein. – Aber warum hatte mich diese Komtesse so forschend angesehen?

Wie gut hatte es doch der Mann, der all seine Schuld dort auf offenem Platze bekannt hatte! Und wie armselig war ich neben ihm – ich, der ich jetzt wieder Angst haben mußte, nicht unbekannt geblieben zu sein!

Bei dieser Gelegenheit merkte ich wieder, wie schwach meine Gesundheit noch immer war. Jene kleine Erregung ging mir so nach, daß ich meine Herzschmerzen viel stärker fühlte. Ich schloß die Läden im Zimmer, um dunkel zu haben. Es wurde mir bewußt, daß es erbärmlich war, das Dunkel zu suchen ... »und die Leute möglichst im Dunkel über mich zu lassen« – sagte ich zu mir selbst. Aber es wurde mir so doch leichter, und ich verschlief ein paar Tage.

Aber gerade dies sollte Folgen haben, die ich nicht wünschte. Am dritten Tage ließ sich nämlich Viktor S. bei mir melden und fragen, ob ich ihn empfangen könne. Ich kleidete mich widerwillig an und ließ ihn, nachdem das Zimmer geordnet war, hereinbitten.

Dieser Augenblick hat, genau genommen, den Verlauf der zwei Jahre bestimmt, die seither verflossen sind.

Die nächste Folge aber war nur, daß mich die Geschwister S. zum Mittagessen einluden; die weitere: daß ich sie meinerseits einladen mußte. Hiebei geschah es, daß Komtesse Marguerite bemerkte: »Wissen Sie, daß meine selige Tante das zweite Gesicht hatte? Und sie war doch gewiß nicht, wie man so sagt: nervös. Sie hatte aber außerdem viel Menschenkenntnis ... Nun gut, wissen Sie, was Sie von Ihnen behauptet hat: – Nur wegen Ihrer Krankheit seien Sie nicht in der Schweiz! Den anderen Grund werde wohl nur Ihr Beichtvater wissen ... Hoffentlich haben Sie überhaupt einen?«

»Derzeit nicht!« – fuhr mir heraus. Meine Bestürzung war zu groß in diesem Augenblick.

»Oh – dann bedauere ich Sie sehr«, erwiderte sie.

Ihr Bruder suchte die Verlegenheitspause zu überbrücken. »Ihr Leben scheint ja auch so zurückgezogen zu sein, daß Sie sicherlich nicht sehr viel zu beichten haben.«

– Er leitete dann das Gespräch, so gut es eben ging, auf seinen verehrten Freund, den Abbé B. über, den ich unbedingt kennen lernen müsse. Der Abbé arbeite auch viel in ihrer Bewegung mit, in der Action française; er sei ein guter Kenner des französischen Volkes, des wirklichen Volkes in Frankreich. Übrigens liebe er auch Deutschland. Er, und auch Henri de Tournier, von dem ich vielleicht schon gehört hätte. Diese zwei Männer hätten eine große Auffassung der gemeinsamen Geschichte ...

Ich hatte mich gefaßt. Sagte, daß ich von Tournier gehört hatte – die Unterhaltung drehte sich von da an nur um unpersönliche Dinge.

Zum Schlusse aber meinte Viktor S...: »Es ist sehr schade, daß Sie Frankreich nicht kennen. Gute Ärzte gibt es bei uns auch. Kommen Sie doch einmal nach Paris, dann auch in die Provinz!«

»Ja, das sollten Sie wirklich –« bekräftigte seine Schwester und sah mich an, als wollte sie sagen: ›Ich wollte Sie doch nicht verletzen – warum sind Sie so empfindlich?‹

In der Tat machte ich mir selbst Vorwürfe. Denn ich hatte wahrlich keinen Grund, von diesen zwei guten, ja hochgesinnten Menschen irgendeine absichtliche Kränkung zu besorgen. – Und wahrscheinlich hat sich der Gedanke, nach Paris zu gehen, auch schon an jenem Tage in mir festgesetzt.

Den Abbé B. lernte ich auch bald kennen. Er nahm besonderen Anteil an mir, und obwohl er nie in mich drang, vermutete ich, daß Komtesse Marguerite mich ihm besonders empfohlen hatte. Vor allem aber riet er mir, sein liebes Frankreich bald einmal zu besuchen. Er wolle mir bei etwaigen Studien in Paris gern an die Hand gehen.

Ich schloß allmählich Freundschaft mit den Geschwistern S., und einen Monat nach ihrer Abreise bestieg ich den Zug nach Paris.

Tags zuvor besuchte mich übrigens Herr Bromberger, der, ich weiß nicht aus welchem Grunde, heftig über die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn loszog und behauptete: Wenn der alte Kaiser stürbe, würde bestimmt die Monarchie zerfallen. Und überhaupt gäbe es noch Krieg. Er für seinen Teil habe angefangen, sein Geld in die Schweiz zu ziehen. Ich sollte es nur ebenso machen.

»Da ist nicht soviel zu ziehen, wie bei Ihnen, Herr Bromberger, omnia mea mecum porto! ich habe das wenige ohnehin schon hier in Lausanne – .«

Trotzdem wunderte ich mich über die Bestimmtheit seiner Behauptung.

*

In Paris habe ich immerhin einiges gelernt, unter der geistigen Führung des Abbé B. und anderer Männer, zu denen er mich brachte.

Im Sommer jedoch lebte ich in der Normandie, unfern dem Besitze der Geschwister S. Diese hatten mich gebeten, ihr Gast zu sein. Das schlug ich aus. Aber ich besuchte sie manchmal. Sie lebten ganz einfach. Die Komtesse Marguerite war, wie mir die Bauern erzählten, l'ange du village – der Dorfengel.

Anfang September, nach einem kleinen Spaziergang mit den Geschwistern S., trat ich unversehens in die alte Dorfkirche. Kaum hatte ich mich auf einen der zerschlissenen Strohstühle gesetzt und begonnen, mich ein wenig zu sammeln – da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. »Ich liebe Komtesse Marguerite – deshalb sitze ich hier in ihrer Kirche!«

*

Diese Einsicht, die mich wirklich selbst überraschte, erfüllte mich mit solcher Bestürzung, daß ich nach Atem rang. Ich kehrte mühselig in den armen kleinen Gasthof zurück, in dem ich mich so geborgen, so friedlich und sicher gefühlt hatte – die ganze Zeit her.

Jetzt wußte ich, warum.

Zwei Tage später reiste ich nach Paris zurück, sehr glücklich, daß die Geschwister S. gerade irgendwohin zu Freunden auf Besuch gefahren waren. So konnte ich mich schriftlich verabschieden.

Im Herbst und Winter lernte ich sehr eifrig. Abbé B. schloß mich in sein Herz. Wahrscheinlich gab er dem Grafen Viktor zuweilen Nachrichten über mich.

Als nämlich dieser mit seiner Schwester im Februar wieder nach Paris kam, waren sie über das, was ich getrieben hatte, unterrichtet. Aber ich selbst hatte ihnen nicht eine einzige Zeile geschrieben. Nicht einmal zu Weihnachten oder Neujahr. Es konnte mir unter den gegebenen Umständen nur erwünscht sein, wenn sie mich für unhöflich hielten. Sie machten indes nicht di« geringste Anspielung auf dieses Schweigen.

Ich überlegte, ob ich nun auch von Paris abreisen sollte. Aber ich hatte die Schwäche zu bleiben; zudem aber die Sicherheit, daß ich mich nicht verraten würde. Mein früheres Leben, der Gedanke an alles, was geschehen war, gab mir diese Sicherheit. Immerhin besuchte ich die beiden nur selten; nur dann, wenn ich völlig außerstande war, ihnen, ihr fernezubleiben. Dann ging ich hin. Ich genoß eines solchen Friedens in ihrer Nähe. Dieser Frieden hatte, wie ich auch jetzt noch gewißlich weiß, einen höheren Ursprung als nur eben meine Liebe, meine Sehnsucht. Er ging von ihrer gotterfüllten Seele aus, es war ihr Gottesfrieden, an dem ich teilhatte. Sie sei dafür gesegnet!

*

Es nahte der zweite Sommer. Meine Gesundheit war schwankend genug – kurz, ich war zu schwach, und reiste wieder in die Normandie, in ihr Dorf. Ich konnte damals nicht anders. Meine Liebe war zu groß.

Wenige Wochen später, an einem Sonntag Nachmittag – es war im August –, da verriet ich mich.

Es war so gekommen:

Der junge Graf hatte mir eine neue Schrift der Action française gegeben, soviel ich mich erinnere, ein Jahrbuch. Ich sollte es lesen, wir wollten uns dann darüber unterhalten.

Den ersten Teil dieses Jahrbuches bildete ein Aufsatz über Reformen, welche die alten Stände, der Adel und der höhere Klerus, schon vor der großen Revolution ausgearbeitet hatten, die aber im Laufe der gewaltsamen Ereignisse niemals zur Beratung kamen. In der Tat waren diese Vorschläge von einer edlen, volksliebenden Gesinnung beseelt. Über das Volkswesen als solches, über die Lebensgesetze des Volkskörpers, des Organismus: Volk, waren da Erkenntnisse und Einsichten aufgezeichnet, die in unseren Tagen wieder in edlen Geistern erwacht sind und zur Gründung von Volkslebens-Schulen geführt haben (warum man sie Volkshochschulen genannt hat, weiß ich nicht), so in Dänemark, in Schleswig-Holstein, in Paderborn, und anderwärts – so eine Art Bildungsgemeinschaften von Erwachsenen, worin die Volksidee wieder neu, aus den Urtiefen ihres lebendigen Wachstums und aus ihren Wachstumsgesetzen, erfaßt werden soll. Daß man über dieses Volkslebens-Geheimnis schon vor mehr als hundertfünfzig Jahren, und nun gar in den »alten Ständen« liebevoll gesonnen – daß man z. B. Erörterungen über die Erhaltung der überlieferten Volksfeste, als volksnotwendiger Gemeinschaftsfeiern angestellt hatte –, all dies mußte mich freudig überraschen, besonders weil mich der gute Abbé B. schon in diese Dinge eingeführt hatte. Ich machte aus dieser Überraschung kein Hehl gegenüber dem Grafen und seiner Schwester Marguerite. Zufällig aber blätterte ich, in ihrer Gegenwart, in dem Jahrbuche weiter und stieß auf einen anderen Aufsatz, in welchem ungefähr dieses gesagt war: An der ganzen Zerstörung des abendländischen Lebens trügen nur die Deutschen die Schuld. Von den Deutschen sei die Reformation gekommen, die die Einheit der Christenwelt gesprengt habe. Von den Deutschen sei der Sozialismus gekommen und, schlimmer noch, die materialistische Auffassung der ganzen Menschengeschichte; der Materialismus stamme von den Deutschen! Von den Deutschen aus endlich habe das Judentum die Welt, des Geldes wie des Geistes, erobert und vergiftet und zersetzt. – Zum Schluß hieß es ungefähr: daß nur die Vernichtung des neuen Deutschland, das jetzt mit seinem Militarismus, als der letzten Ausgeburt seiner Teufelsbesessenheit, die Erde bedrohe, diese Erde retten könne ...

Ich las den Aufsatz nur so im Fluge. Vielleicht, wenn ich ein gesunder Mensch gewesen wäre, hätte ich über soviel Haß gelächelt. Jedenfalls aber war mein Verhalten nicht das eines ruhigen und besonnenen Menschen. Aber ich saß zusammen mit einem Freunde und mit dem Mädchen, das ich insgeheim liebte ... Nun, wozu will ich mich jetzt vor mir selbst entschuldigen! Es sollte nun einmal so kommen, wie es kam.

Ich fragte den Grafen, ob er auch dies gelesen habe, wiederholte auch einige Sätze daraus. Er errötete, aber gab mir zu, es schon gelesen zu haben.

»Warum haben Sie mir dann dies Buch gegeben? Und jetzt gegeben – wo ich als Ihr Gast bei Ihnen hier den Tee nehme? Es ist gewiß nicht recht von Ihnen.«

»Nein!« sagte Komtesse Marguerite laut und entschieden – »es war nicht recht, Viktor!«

Ich sah sie an – und in diesem Augenblicke verriet ich mich. Aus Dankbarkeit. Und sie verstand sofort alles, was in meinen Augen zu lesen war. Denn sie errötete über und über.

Es war geschehen. Unwiderruflich verraten.

Ich erschrak so heftig, daß ich nicht einmal Acht darauf hatte, was Graf S. antwortete. Er entschuldigte sich in aller Einfachheit, bat mich um Verzeihung. Endlich verstand ich ihn. Er war mir in diesem Augenblicke liebenswerter als je, in seiner fast einfältigen, edlen Offenheit. Es standen ihm Tränen in den Augen.

Ich hatte mich unwillkürlich erhoben. Denn der Schmerz, daß ich mich verraten hatte, erstickte mich schier.

Vergebens suchte ich nach Worten. Schließlich aber ging ich wortlos aus dem Zimmer ... hinaus ins Freie, fort ... nur fort ...

 

Als ich in den armen kleinen Gasthof zurückgekehrt war, schickte ich einige Zeilen an den jungen Grafen. Er habe mich jedenfalls mißverstanden; nicht im Zorn gegen ihn sei ich weggegangen – im Gegenteil! –, sondern infolge einer unliebsamen Herzschwäche.

Der Gute kam denn auch eilends herbeigestürzt und holte mich wie im Triumphe in sein und ihr Haus. Ich müsse nun unbedingt mit ihnen zu Abend essen. Sonst glaube er mir nicht.

Leider besaß ich nicht die Kraft, mich zu weigern. Ein einziger Blick auf Marguerite belehrte mich, daß sie wirklich alles verstanden hatte, daß sie alles wußte; und über noch mehr: – daß sie mir nicht zürnte.

Ich wage nicht zu sagen, daß sie mich liebte.

Vielleicht liebte sie mich. Ich wagte nicht, sie mit irgendeinem Blicke darnach zu fragen. Jedenfalls war sie überaus gütig zu mir. An diesem Abend sowohl, wie auch die ganzen drei Wochen, die ich noch in ihrem Dorfe blieb.

Denn solange dauerte es, bis ich die Kraft fand, abzureisen.

Am Tage meiner Abreise waren wir ein paar Augenblicke zufällig allein. Viktor machte sich fertig, um mich zur Bahn zu geleiten.

Vor diesen Augenblicken hatte ich gebangt, die ganze Zeit. Nach diesen Augenblicken hatte ich mich zugleich Tag und Nacht gesehnt.

Sie sagt«: »Meine selige Tante hat Recht gehabt ... Sie hat geahnt ... daß ... daß Sie etwas verbergen. Und nicht wahr, damit hängt es zusammen, daß Sie ... derzeit, wie Sie sagen ... derzeit nicht zu beichten vermögen?«

Sie sprach sehr ruhig, sehr friedlich und gütig. Ein letztes Mal genoß ich ihres Gottesfriedens. Ich antwortete nicht.

»Haben Sie denn gar kein Vertrauen? nicht mit einem Wort erwidern Sie? nicht einmal mir ...!«

In diesem Augenblick, in diesem wenigstens, im letzten, den ich sie in diesem Leben gesehen – in diesem Augenblick liebte sie mich.

Und jetzt kehrte Ruhe in mich ein. Für diesen letzten Augenblick wenigstens. Ihr Frieden, ihr Gottesfrieden, ging unversehens, lautlos, ein wundersames lebendiges Geheimnis, auf meine Seele über. Ich sagte: »Sie wissen ja alles Wesentliche. Mehr kann ich ohnehin nicht sagen.«

»Auch mir nicht?« –

»Ihnen darf ich nicht mehr sagen. Gerade Ihnen nicht. Und damit ist ja alles gesagt ... alles, liebe gute Komtesse. Und Sie wissen es jetzt, Sie wissen es. Leben Sie wohl! – – –«

*

Viktor kam zurück und ging mit mir zur Bahn.

 

Den Winter verbrachte ich noch in Paris.

Oft hatte ich begonnen, ihr zu schreiben. Aber ich schrieb ihr nie. Nie.

Sie hingegen schrieb mir auf Weihnachten: daß sie in ein Karmeliterinnenkloster einzutreten im Begriffe stehe, und beten werde, damit ich eines Tages die Kraft zu bekennen fände.

*

Die Absicht, die Welt zu verlassen, hatte sie schon seit Jahren gehabt. Das wußte ich. Auf ihre endgültige Entscheidung hatte unsere Begegnung wohl so gut wie keinen Einfluß. Oder höchstens den eines letzten kleinen Zeichens, daß es so gut war. – Wenn überhaupt soviel.

Denn ihr Friede war schon damals unbeirrbar.

Nach Empfang ihrer Nachricht habe ich Frankreich verlassen und bin wieder hier eingekehrt.

Oktober 1911

Herr Bromberger ist mir anhänglicher, als ich es mir von einem Menschen seiner Art vorgestellt hätte. In gemeinsamen Neigungen kann diese Anhänglichkeit nicht begründet sein, denn solche haben wir nicht.

Abends nahm er seine Mahlzeit öfters im Hotel ein.

»Was haben Sie denn wieder gesammelt, Bromberger?« –, fragte ich ihn so ziemlich jedesmal.

»Wenn ich es Ihnen sage, brüsten Sie sich wieder, daß Sie nichts davon verstehen!« –

»Heute einmal nicht. Was haben Sie also gesammelt?« –

»Altägyptische Schmucksachen – wenn Sie es schon wissen wollen.« –

»Was tun Sie damit?« –

»Ich freue mich daran.« –

»Und Sie kaufen alles, woran Sie sich freuen?« –

»Das ist ungezogen, was Sie da sagen. Wenn ich es geschenkt bekäme, würde ich auch nicht unglücklich sein.« –

»Aus der Beute von Grabschändungen möchte ich nicht einmal etwas geschenkt haben. –«

»Ich würde solche Sachen auch von lebenden Pharaonen kaufen. Vielleicht würde ich es dann billiger bekommen. Ich kaufe ja auch von lebenden Fürsten.« –

»Spaß beiseite – –.«

»Auch das noch! Sie könnten wohl etwas Spaß gebrauchen, Sie!« –

»Ich wollte Sie nur fragen: nach welchem Prinzip sammeln Sie eigentlich?« –

»Eine echt deutsche Frage! Mein Prinzip bin ich selbst. Und nach diesem Prinzip sammle ich. –«

»Eine echt deutsche Antwort! Jeder gebildete Deutsche würde sich am liebsten für einen eigenen Staat erklären. Und sie erklären sich geradezu für ein Prinzip. – «

»Erstens verdrehen Sie meine Worte. Ich habe nicht gesagt, daß ich ein Prinzip bin, sondern daß ich mein Prinzip bin. Zweitens haben Sie am wenigsten Grund, mir darin etwas vorzuwerfen, denn Sie leben wie ein Menschenfeind, so unzugänglich. Und drittens sind die Deutschen auch das Volk der Vereine. Viertens aber rächen sich die gebildeten Deutschen, ohne es zu wissen, am Militarismus. In der Sphäre, wo der Drill, die Disziplin nicht hineinregieren kann. – Gehen Sie nach England, da finden Sie eine nationale Kultur. In Deutschland aber die individualistische. Haben Sie genug, oder wollen Sie noch mehr hören?« –

»Wenn Sie ein Individualist sind – warum sammeln Sie?« –

»Weil ich noch lange nicht so individualistisch bin wie Sie! Ich baue mir schöne Welten zusammen. Aber was tun Sie? – Sie leben in einer Wüste und warten.« –

»Worauf denn?« –

»Wenn ich das nur wüßte!« –

»Was täten Sie dann?«

»Nichts anderes als was ich jetzt tue. Nämlich Sie zu einer Sitzung in meinem Haus einladen?«

»Zu einer Sitzung?« –

»Ja, zu einer spiritistischen Sitzung.« –

»Sammeln Sie denn auch böse Geister?« –

»Das werden Sie ja sehen. Jedenfalls kommen diese dann in gute Gesellschaft. An der Sitzung nehmen teil: Zwei russische Fürstinnen, ein englischer Baronet mit Gemahlin, die Witwe eines englischen Offiziers, ein berühmter Arzt, und eine ungarische Gräfin, ich – und Sie!«

»Und wie bringen Sie die bösen Geister dazu?« –

»Mittels eines Mediums. Wir haben das beste italienische Medium, das es derzeit gibt, Donna Livorna.« –

»Seit wann beschäftigen Sie sich mit diesen Sachen?« –

»Das will ich Ihnen im Vertrauen sagen: – Seit es in meinem Haus umgeht!«

»Wie? in Ihrem Haus geht es um? – sehen Sie, das kommt von Ihrem Kulturfriedhof. Jetzt haben Sie es selber mit der Angst zu tun. Das viele tote Zeug wird Ihnen zum Gespenst.« –

»Mir? Ich will Ihnen gestehen, daß mir zwei Köchinnen hintereinander davon gelaufen sind, eben weil es im Haus umgeht. Deshalb esse ich in der letzten Zeit so oft hier. Aber das ist auch der Grund, warum ich angefangen habe, mich mit den Sachen zu beschäftigen. Und zufällig habe ich der englischen Offizierswitwe, die Sie auch bei der Sitzung sehen werden, von der Unruhe zuhaus erzählt. Sie ist eine erfahrene Spiritistin, und hält mein Haus für besonders geeignet.« –

»Darin gebe ich ihr ohne weiteres Recht. Aber was soll ich dabei?« –

»Wir können nur Leute gebrauchen, die selbst etwas sensibel sind. Keine Eisenmänner.« –

»Das ist ja sehr liebenswürdig. Sie spekulieren auf meine schlechte Gesundheit?« –

»Wenn ich boshaft wäre, würde ich sagen: auf Ihr schlechtes Gewissen! Aber es verhält sich anders. Wir wollen nicht Leute, die von vornherein alle Geister für Unsinn erklären.« –

»Das hätten Sie selbst vor einem Jahr auch noch getan.« –

»Ich bin eines anderen belehrt worden. Also: ich hole Sie morgen Nachmittag ab. – «

*

Das tat er denn auch. In seinem Hause erzählte er mir von dem Unwesen, das er darin erlebt habe: daß ihm des Nachts Bilder abgehängt, Sammelkästen verrückt worden seien, und dergleichen mehr. Auch daß er schwere Schritte die Treppe hinauf und herab schlürfen höre. Er fürchtete sich, wie er sagte, durchaus nicht. Aber er beobachte.

Zuerst stellte sich die englische Witwe ein, eine noch junge und zarte Person, sehr blaß, mit leidenden Zügen, aber einem eher willensstarken Ausdruck, und in ihrem ganzen Auftreten frei von Koketterie. Da sie mich offenbar durch Bromberger schon kannte, sprach sie unbefangen von dem, was sie bewegte.

Ihr Gatte war auf der Überfahrt von Kanada nach England, als sich das Schiff schon der englischen Küste näherte, über Bord gestürzt und ertrunken. Wie dies zugegangen war, ließ sich in keiner Weise aufklären. Sie schien fremde Gewalt zu vermuten. Als das Unglück geschah, befand sie selbst sich in Southampton, im Hause ihrer Schwiegermutter. Die Landung des Schiffes war für den Abend angekündigt. Es war neun Uhr morgens, sie packte gerade einen Koffer aus und kniete am Boden. Da stand plötzlich ihr Gatte im Zimmer, triefend von Wasser, und blickte sie unsagbar traurig an. Sie schrie auf – und die Erscheinung verschwand. Sie stürzte zu ihrer Schwiegermutter und rief: »James! James war hier! Es muß ihm etwas zugestoßen sein.« – Die offizielle Nachricht von seinem Tod erhielten die Frauen dann noch abends.

Diese Erscheinung war es gewesen, welche die Witwe zur Beschäftigung mit spiritistischen Dingen geführt hatte. Sie verschwieg nicht, worauf es ihr einzig ankam: Sie wollte den Geist ihres Gatten sehen, einmal wenigstens, ein einziges Mal. Vielleicht auch von ihm erfahren, wie das Unglück geschehen war, ob fremde Gewalt seinen Sturz über Bord herbeigeführt hatte – um dann seinen Tod sühnen zu können. Vor allem aber wollte sie ihren Gatten noch einmal wiedersehen, das war ihr unverrückbares Ziel. Denn sie liebte ihn wie am ersten Tag.

Ich bedauerte sie. Es schwebte mir auf der Zunge, ihr zu sagen: »Warum wollen Sie seine Erscheinung sehen, statt seiner selbst, den Sie doch mit der Seele suchen sollten?!« – Aber ich wollte sie nicht im Schmerz ihrer Liebe schulmeistern. Auch war sie ersichtlich nicht der Mensch, sich von ihrem Ziel abbringen zu lassen.

Es erschienen die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen an der kommenden Sitzung. In ihrer Art waren es wohl ernste Menschen, besonders das englische Ehepaar, das mit einer gewissen Feierlichkeit schwieg. Und doch störte mich die fühlbare Neugierde, die mir der menschlichen Tatsache, daß hier eine Frau mit der ganzen Leidenschaft ihres Herzens das Wiedersehen mit dem verstorbenen Gatten erhoffte, unwürdig zu sein schien.

Noch trauriger wurde ich, als die äußeren Zurüstungen getroffen wurden, die der Arzt mit wissenschaftlicher Sorgfalt überwachte. Ist es möglich, dachte ich bei mir, daß diese Frau einen solchen umständlichen, äußeren, wissenschaftlichen Apparat, wie er hier vorbereitet wurde, ertrug und ihn ernsthaft als die notwendige Vorbereitung eines Wiedersehens mit dem geliebten Toten hinnahm? Und wenn ja – wie arm, wie arm sind doch die Menschen! ...

Das Zimmer war verdunkelt und Bromberger führte das Medium herein, eine sehr dicke Italienerin, die berühmte Donna.

Die Sitzung begann, die Italienerin saß hinter ihrem Vorhange, der Arzt dicht neben ihr, um sie zu überwachen. Übrigens war sie keine Betrügerin. Ich sah sie später bei Tageslicht, blaß, erschöpft, und traurig ...

*

Zuerst erschienen fast formlose Schemen vor dem schwarzen Vorhang. Ich sage Schemen, obwohl dies nicht genau zutrifft. Denn man hatte den Eindruck, als beständen sie doch aus einer undefinierbaren, weißen oder grauen Substanz, nebelartig, jedoch viel dichter.

Man hörte nichts, als das Stöhnen des Mediums. Wenn dieses schwieg, hörte ich den Atem der englischen Witwe gehen, die neben mir saß. Man fühlte ihre Erregung.

Später, vielleicht nach einer halben Stunde, nahmen jene Nebelschemen allmählich Gestalt an. Das heißt, es bildete sich aus ihnen, durch eine Art Zusammenziehung, eine gewisse, noch verschwommene, menschliche Physiognomie. Die eines Mannes, mit Vollbart, und, wie es schien, in militärischem Rock. Allerdings waren nur Kragen und Achselklappen erkennbar, von den Schultern abwärts war alles ungeformt, wie bei einer unfertigen Zeichnung.

Der englischen Witwe entfuhr ein ganz leiser Schrei. Es war aber dies nicht das Bild ihres Gatten. »Nein, nicht James!« flüsterte sie. Das Schemen wurde deutlicher im Ausdruck, auch in der Uniform. »Es muß ein italienischer Offizier sein – « bemerkte Bromberger leise.

Das Schemen verschwand. Wieder fühlte ich die immer wachsende Erregung der armen Witwe, ich hielt ja ihre Hand in der Kette. Ein tiefes, tiefes Mitleid mit ihr, und eine noch tiefere Trauer über die menschliche Armut füllten mich aus. Ich war den Tränen nahe, zugleich litt ich an einem Mangel frischer Luft, mir war, wie in einem engen Totenkeller, in einer stickigen Gruft. Mit dem Wunsche kämpfend, nur auf- und davonzulaufen, wurde ich durch das Mitleid mit dieser leidenschaftlichen Frau zurückgehalten. Ich empfand keine Neugierde, und was ich bisher gesehen hatte, erschien mir durchaus natürlich, ein physisches Erzeugnis des in seiner Anstrengung immer wieder aufstöhnenden Mediums. Was ich später über diese Dinge las, in naturwissenschaftlichen Büchern, bewies mir übrigens, daß dieser mein Eindruck nicht falsch war; und selbstverständlich war das Medium keine Betrügerin; sie gab, was sie geben mußte ...

Es vergingen fünf oder zehn Minuten. »Vielleicht ist es für heute zu Ende?« – meinte Bromberger.

Da entfuhr der mir im Kreis gegenübersitzenden Russin ein Ausruf des Staunens. Und in der Tat war das, was sich vor dem Vorhang jetzt zu bilden begann, erstaunlich.

Ich hörte jetzt geradezu die Herztöne der Frau neben mir. Und dann gab sie einen würgenden Laut von sich, einen schrecklichen Laut ... von Sehnsucht, Erwartung, von unerhörter Spannung – – und plötzlich rief, nein, schrie sie, schrie mit überlauter Stimme: »James ... James – –!« Und dann weinte sie auf, mit furchtbarer Gewalt, wie geworfen, weinte ... so herzzerreißend, so unsäglich, ja ganz und gar unbeschreiblich – – –

In der Tat stand vor dem Vorhang das lebensgroße, deutliche Bild eines englischen Marineoffiziers!

 

Jenes Schemen hatte sich nach einigen Sekunden aufgelöst. Die Sitzung war beendigt, alles bemühte sich um die englische Witwe. Ich aber ging unbemerkt fort.

Für meinen Teil bin ich sicher, daß diese liebende Frau das Bild ihres Gatten aus dem Medium gewissermaßen selbst mithervorgebracht hat. Nicht der Geist ihres Gatten war ihr erschienen, sondern ein Bild ihres Gatten, geformt aus der merkwürdigen Substanz, mit der sich ja auch jener berühmte Gelehrte, der in der Sitzung anwesend war, in seinen Schriften befaßt hat – unter dem Spott anderer Gelehrter, die offenbar eine Erweiterung ihrer Wissenschaft für unerlaubt, für unglaubwürdig hielten. –

Natürlich leugne ich nicht, daß Geister auch erscheinen können. Dies aber war kein Geist, sondern ein hervorgebrachtes Bild. –

Mit der englischen Witwe traf ich noch zweimal zusammen. Mir glaubte sie nicht. Jener Arzt aber, der ein gewissenhafter Menschenfreund ist, hielt es für seine Pflicht, ihr immer wieder alles zu erklären. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sich die Frau ihr Leben lang mit einer solchen Selbsttäuschung begnügen sollte. Er zeigte ihr seine photographischen Aufnahmen von anderen mediumalen Vorgängen, die er mit viel Klugheit hatte herstellen können. Aber auch so fiel es ihm schwer, gegen den Eigenwillen ihrer Leidenschaft anzukämpfen. Ich habe bis jetzt nicht erfahren, ob der Arzt mit seiner beharrlichen Belehrung noch Erfolg gehabt hat. Mir sagte er, daß er »bestimmt nicht ruhen werde, ehe er diesen Menschen soweit habe, Körper und Geist wieder richtig zu unterscheiden ...«

*

Aber wie sagt Sophokles: – »Wehe, was ist ein Mensch! Wer über dem brütet, stirbt. – «

Dies freilich sagte der Grieche vor unserer Erlösung.

Langsam verstehe auch ich, was Christus zu Nikodemus gesprochen hat: daß der Mensch wiedergeboren werden muß aus dem Geist.

Der ganze Mensch, jeder Mensch, Mann und Weib. Und auch ihre Liebe.

Wie sind wir doch arm, wie gefesselt! Und wie frei könnten wir sein, wie reich! – – –

Paris, Dezember 1912

Wenn mich jemand fragt, was ich an Paris besonders liebe, und ich antworte, der Wahrheit gemäß: daß mich Paris so beruhigt, daß es mich nie verwirrt, daß ich vielmehr seine Einheitlichkeit, ja Eintönigkeit tagtäglich genieße –, so halten mich die Leute für affektiert. Sie meinen nämlich, ich wolle damit nur zum Ausdruck bringen, daß ich mir nicht imponieren lasse. Aber dem ist nicht so.

Paris ist eine gewachsene Stadt, ein Gemeinwesen, das seit fast zweitausend Jahren – also wahrlich ohne Überstürzung – sich von Geschlecht zu Geschlecht auferbaut und ausgebreitet hat. Darum drängt sich nichts vor, und auch das Großartige, in seiner Art Einmalige, sprengt nirgends das Gesamtbild. Ein so altes Gemeinwesen ist schließlich immer noch stärker als das kühnste und eigenwilligste Einzelwesen, das in seinem Bereiche schafft, handelt, baut, oder herrscht; es überlebt alles, verleibt sich alles «in, bändigt alles, und mildert alles ab.

Der Mensch, der nach Paris kommt, erfährt an sich ganz unwillkürlich eine gewisse Abmilderung seines allzupersönlichen Zustandes. Es nimmt ihn auf, entbindet ihn von seiner Verkrampfung – und läßt ihn doch gewähren. Denn es ist für den einzelnen Menschen zu unermeßlich, im Raum, im unaufhörlichen Wechsel des umgebenden Lebens, in Zeit und Geschichte, als daß er sich je beengt fühlen könnte. Er hat immer Platz, auch innerlich, er hat immer mehr Freiheit als er braucht, und wird doch von Paris umfaßt.

Für mich das Wohltuendste aber war der seine, silbergraue, und doch noch durchsichtige Nebel, der von der Seine aufsteigt, in die Straßen eindringt und immer über der unermeßlichen Stadt schwebt, auch im Hochsommer und sogar noch bei Südwind; dieser silber-, manchmal blaugraue, leise Nebelduft vollendet die Einheit, gibt dem Auge Ruhe, dämpft die Sicht, und läßt alle Konturen ins Unendliche verfließen, in die unendliche Landschaft der Ebene, die immer gewärtig ist, und in die sich das Stadtbild, in geahnter Ferne, sollendes auflöst.

Deshalb ging ich auch jeden Morgen zur Seine, vom Boulevard St. Michel her, über die Brücke, den Quai entlang, bis Notre Dame, sah eine Weile der langsamen Fahrt der Kohlenschiffe zu, und trat dann ein in das erhabene Dunkel des hohen Doms. –

Für mich war Paris am schönsten des Morgens.

 

Die Sitzung bei Bromberger hatte mich seinerzeit doch aufgerüttelt. Meine Unwissenheit in solchen, und noch mehr in allen anderen Dingen erschreckte mich. Ich beschloß, soweit es meine Gesundheit erlauben würde, wieder einiges zu lernen. Auf irgend eine Weise wollte ich aus der inneren Stagnation heraus, aus dem Warten ... Aus dem Warten auf ein neues Leben, das mir immer vorschwebt, und wozu ich keinen Anfang finde. Vielleicht kann ich den Anfang aus mir selbst überhaupt nicht finden. In mir stagniert es. Wo ist der Engel, der das Wasser anrührt und bewegt? –

Bromberger und ich gingen an jene Dinge, wie mir schien, mit ganz verschiedener Absicht heran. Er wollte Phänomene haben, möglichst viele; denn seine Neugierde war unbegrenzt. Ich hatte eher einen gewissen Widerwillen hiegegen, und beklagte die Medien, die da immer wieder gequält wurden, um in Trance und durch die Verbindung mit wechselnden Sitzungsteilnehmern ihre stofflichen Schemen hervorzubringen. Es genügte mir für einmal, mich vom möglichen Erfolg dieser Experimente selbst überzeugt zu haben. Allerdings war meiner Meinung nach nicht alles, was in solchen Sitzungen geschah, gleicher Art und gleichen Ursprungs. Es gab da Dinge, zum Beispiel gewisse Mitteilungen von irgendwelchen Geistern – auch solchen, die sich berühmte Namen beilegten –, worin ich das Spiel außermenschlicher, vielleicht dämonischer Kräfte zu erkennen glaubte. Das sagte ich auch Bromberger; aber er lachte nur dazu, und meinte: »Und wenn es schon böse Geister sind, so ist es immerhin interessant, daß sie sich hören und sehen lassen, wahrscheinlich haben sie Langeweile!« –

»Im Gegenteil, sie benützen vielmehr Ihre Langeweile, um Ihnen dummes Zeug vorzuschwatzen! Glauben Sie denn, daß der Geist von Napoleon« – so hatte sich neulich eine der Erscheinungen genannt – »nichts Besseres zu tun hat, als Sie und Ihre Sitzungsgäste zu unterhalten?« –

»Daß es der richtige Napoleon war, glaube ich ja auch nicht. Der Geist hat sich einen falschen Namen beigelegt. Aber eine solche Hochstapelei von Geistern amüsiert mich.« –

»Es macht eher den Eindruck, als ob diese Geister sich über Sie amüsieren. Wenn Ihnen ein Mensch in Ihrem eigenen Hause so albernes und ordinäres Zeug vorreden wollte, würden Sie ihm die Türe weisen. Aber von diesen Erscheinungen lassen Sie sich ruhig anöden!« –

»Wenn sich ein solcher Mensch zu einem Geist verflüchtigen würde, ließe ich ihn auch gewähren.« –

Bromberger blieb da vorläufig unverbesserlich. Für meinen Teil aber bemühte ich mich, die Merkmale zu suchen, an denen sich die nur menschlich-hervorgebrachten Erscheinungen etwa von solchen unterscheiden ließen, die anderer Art zu sein schienen; die ersteren mußten wohl wissenschaftlich zu ergründen sein.

Im weiteren Verlaufe dieser Beschäftigung stieß ich auf gewisse Untersuchungen, die andere Männer, insbesondere Professor R..., auf einem anderen Gebiet gemacht, und die sie dazu geführt hatten, verschiedene Grade des hypnotischen Zustandes festzustellen, und gewissen Menschen innerhalb dieses Zustandes die Fähigkeit des Zeitsehens, eines Sehens auch in ferne Zeiträume der Vergangenheit, zuzusprechen. Dies hatte mit Geistern und Dämonen und Erscheinungen nichts zu tun, und schien mir daher einer wissenschaftlichen Erforschung noch zugängiger.

Professor R... arbeitete und lehrte in Paris. Ich hätte mich nicht sobald entschlossen, wieder nach Paris zu gehen, wenn nicht etwas anderes eingetreten wäre.

*

Im Dezember (es ist jetzt fast ein Jahr her) wurde es, wie immer gegen Weihnachten, im Hotel ziemlich stille. In dieser Zeit las ich dann gern in der Hotelhalle. So auch an einem gewissen Sonntag Nachmittag.

Unversehens legte mir jemand die Hand auf die Schulter. Ich blickte betroffen auf, erkannte aber den Mann, der mich im Lesen aufgestört hatte, nicht sogleich.

»Aber lieber ..., wie geht's dir denn immer, was treibst du?!« – Er nannte mich bei meinem früheren Namen. –

Jetzt erkannte ich ihn natürlich. Es war der Baron L., der auch ein paar Jahre mit mir gedient, aber schon als Leutnant die Uniform wieder ausgezogen hatte und, was damals noch ungewöhnlich war, in eine Großbank eintrat. Er war sehr arm, aber ein tapferer, lieber Junge, und ich wußte, daß er später von seinem Gehalt auch Mutter und Schwester unterstützte.

»Du scheinst ja nicht gerade sehr begeistert zu sein von meiner Anwesenheit?« rief er jetzt aus, weil ich noch immer schwieg.

»Nur zu arg überrascht, lieber L.«, sagte ich – »aber willst du nicht sogleich einmal mit mir auf mein Zimmer gehen?« – Ich führte ihn, etwas hastig, am Arm hinauf.

Als ich die Türe hinter uns geschlossen und ihm Platz angeboten hatte, war mein erstes Wort: »Ja, weißt du denn von nichts, lieber L., daß du mich da unten in der Halle so anschreist? Ich führe doch einen anderen Namen. Zum Glück hat dich niemand gehört.« –

»Ja entschuldige nur, weißt du, im Heraufgehen, wie ich gemerkt hab', daß du's so eilig hast, ist mir die Sache erst wieder eingefallen. Tut mir das aber leid, daß ich dich in Verlegenheit gebracht hab'! Am End' wäre es dir viel lieber gewesen, ich hätt' dich überhaupt nicht gestört? – aber schließlich, du hast mir nichts getan, ich hab' dir nichts getan ... und das andere, nun ja, das ist eben ein großes Unglück gewesen ... Aber wenn's dir lieber ist, dann tu ich in Zukunft, als ob wir uns gar nicht kennen. Nur seh' ich dazu, von mir aus, keinen Grund, wir sind doch immer gute Freunde gewesen!« –

Ich mußte lächeln. Er war so ganz der Alte geblieben, ein gutmütiger, lieber Junge, dem seine Herzensanständigkeit ins Gesicht geschrieben stand.

»Jetzt bist du schon einmal hier, und bleibst da. Ich glaube dir ohne weiteres, dir am ehesten, daß du hier kein Geschwätz machen wirst. Sonst müßte ich natürlich wieder ausziehen. Ich bin hier einfach ein herzleidender Mensch, aus Deutschland, der Amwald heißt, ungefähr hat, was er braucht und braucht, was er hat, und natürlich nichts arbeiten kann. Ich gehe wenig unter die Leute, damit ich niemandem Anlaß gebe, sich näher mit mir zu befassen. Nun mußt du eben zu schweigen wissen, wenn nicht, muß ich selbst gehen. –«

»Du kannst vollkommen beruhigt sein, jetzt, wo ich es wieder weiß und du mich aufmerksam machst, wär' es ja die höchste Gemeinheit, wenn ich dir ein Geschwätz anrühren wollte! Ausgeschlossen – von mir hört niemand ein Wort. Ich freu' mich ja nur, daß ich dich endlich wieder einmal seh'. Man sieht dir's übrigens an, daß du nicht ganz gesund bist. Das tut mir wirklich leid. Sonst hätt' ich gesagt, wir sollten doch eine Flasche Wein auf unser Wiedersehen, und auf deine Gesundheit trinken. –«

»Ein Glas geht wohl. – Aber du siehst vorzüglich aus – so weltläufig, und so englisch kommst du mir vor!« –

Er lachte. »Das hast du schon erraten. Weißt du, ich war drei Jahre in England, auf einer Bank. Und jetzt hab' ich daheim einen ganz erträglichen Posten, davon können wir schon leben, die Mutter und ich. Meine Schwester ist in einem Stift untergekommen.

»Wie lange willst du denn hier bleiben? und was hast du vor? Bist du in Geschäften hier – oder wie verfällst du gerade auf Lausanne?« –

»Ja, ich merk' schon, du traust mir gar nicht soviel high life zu! Du wirst staunen, wenn ich dir's sag': Aber ich bin in Herzensangelegenheiten nach Lausanne gekommen. Wen, denkst du, werde ich hier treffen?« –

»Du hast mir das Rätsel leicht gemacht. Sie natürlich!« –

»Sie und ihren Vater. Sie kommen für länger hieher, schon morgen. Ich aber hab' mir meinen nächsten Urlaub vorausgeben lassen, ich kann so ungefähr drei Wochen bleiben. – «

Und dann erzählte er mir ausführlich, und mit all der Treuherzigkeit, die ihm eigen war, seine Geschichte.

Er war zweimal in Liebe gefallen. Zuerst zu der schönen, hochaufgeschossenen Tochter des Grafen O. – in München, eines pensionierten Generals, der wohl nur mäßig begütert war. Ich kannte dieses Mädchen; sie war aus gut evangelischem Haus und hatte, was damals auch nicht alltäglich erschien, drei Jahre in den Anstalten Fröbels zu Berlin als freie Helferin mitgearbeitet. Sie galt als ein ernster, und trotz ihrer Schönheit gesellschaftlich etwas scheuer Mensch. Daß sie gerade an L. Gefallen fand, paßte zu ihr. Nicht nur, daß sie äußerlich ein prächtiges Paar geworden wären – L. war das Bild eines jungen Edelmanns –, sondern sie war, wenn irgend jemand, befähigt, seine edle, einfältige Seele zu lieben. Dennoch scheiterte es. L. war katholisch, und der alte General O. konnte seine Abneigung gegen Katholiken nie so recht überwinden. Andererseits hätte L.'s Mutter – er fühlte es heraus, obwohl sie darüber schwieg – auch nicht gerne gesehen, daß er die Tochter eines Mannes heiratete, über dessen Katholikenfurcht manche Anekdote umging, und der sich einen besonderen Scherz daraus machte, solche Anekdoten über sich selbst zu erfinden und in Umlauf zu setzen. – »Aber siehst du, das wär' nicht das Ärgste gewesen. Sondern die Hauptschwierigkeit war anderswo, ganz anderswo, und das hab' ich natürlich meiner lieben Mutter nie gesagt. Also, du weißt ja: Der alte Graf O. hat nur die eine Tochter, und hängt eben recht an ihr, besonders seit er pensioniert ist, und ziemlich einsam. Und die junge Gräfin, die ihn auf seine alten Tage auch nicht so allein lassen will, hat mir durch die Blume angedeutet, daß sie ihn auch als verheiratet gern im gleichen Hausstand haben möchte. Wenn's nur auf mich angekommen wär' – ich hätt' ihr's nicht abgeschlagen. Ich hab' das gut verstanden. Und dann: Du mußt denken, sie war meine erste Liebe, ich hätt' ihr gern die Freud' gemacht. Aber, aber ... bei mir war's ja genau so: – Wie hätt' ich können meine alte Mutter im Stich lassen! Schau, jetzt ist sie Witwe, seit meine Schwester und ich ganz kleine Kinder waren. Was hat sie denn gehabt von ihrem Leben! – nichts als Kummer und Sorgen. Und da soll ich sie so einsam hinwelken lassen ... und noch dazu: wie hätt' ihr das wehtun müssen: der Vater der Frau bei uns, und sie, meine Mutter, allein! Da hab' ich halt in Gottes Namen verzichtet. Und die junge Gräfin auch. Sie Hat's wohl erraten ... Meine Mutter weiß jetzt noch nicht, warum ich mich zurückgezogen hab'. Es war mir schon blutig hart, weißt du ... Aber dann, in England, – da hat mich der liebe Gott wohl eigens hingerufen. Erstens hätt' ich meine heutige Stellung nie bekommen, wenn ich nicht in England soviel gelernt hätt'. Zweitens aber, – dort hab' ich sie kennen gelernt, im letzten Jahr ...«

Er erzählte glückstrahlend weiter. Sie war die Tochter eines irischen Hochadeligen, sehr fromm und dabei einfach erzogen – »weißt du, ganz wie unsere Mädchen im bayrischen Landadel, keine Spur von affektiert« – und hatte einen einzigen Bruder, daher auch eine große Rente zu erwarten. »Und was nun noch ein besonderes Glück ist: Ihr Vater ist verhältnismäßig jung, denkt gar nicht daran, sein Land zu verlassen, sie aber ist vor einem halben Jahr mit ihm in Bayern gewesen, sie haben meine Mutter aufgesucht, und denk dir: sie, von sich aus, hat mir gesagt: wenn sie einmal heiraten würd' – sie hat mich gemeint, aber es ist ja noch nichts Offizielles – ›eine solche Frau mit im Hausstand zu haben, wär' ihr wirklich eine Freud'!‹ Nun, daraufhin hab' ich sie angeschaut, und sie mich; du kannst dir ja vorstellen, wie man sich da anschaut – – und seitdem ist zwischen ihr und mir innerlich alles abgemacht. Hier soll's offiziell werden, sie kommen für länger in die Schweiz, und ich bin hier, wie gesagt, für drei Wochen, und nächstes Jahr werden wir wohl heiraten.« –

*

Ich wünschte ihm Glück. Wir saßen den Abend zusammen, und er erzählte mir vom Leben in England. Er war ein feinfühlender Mensch, sprach nur von fremden Dingen, mit keinem Wort von der Heimat und unseren gemeinsamen Bekannten. Er wollte mich schonen.

Am andern Tag kamen die Irländer an, und, soweit ich aus der Entfernung urteilen konnte, hatte L. alles Recht, sich glücklich zu fühlen. An einer näheren Bekanntschaft mit Vater und Tochter lag mir nicht. Die Tochter sollte L.'s Frau werden, und sie würden in Bayern leben. Ich hatte in Lausanne mein Asyl gefunden, und wollte es nicht durch Beziehungen gefährden, die in die Heimat reichten und früher oder später dazu führen mußten, daß die Stille meiner freigewählten Verbannung zerstört wurde. L. verstand mich, und wir sahen uns nur selten, auch immer nur auf kurze Minuten. Er war ja ohnehin in Anspruch genommen.

So spärlich unsere Begegnungen waren, hatte ich für meinen Teil Gelegenheit, die drei Menschen aus der Ferne zu sehen. Einmal aber benützte ich den Lift zufällig zusammen mit der künftigen Braut meines ehemaligen Kameraden. Ich hatte den bestimmten Eindruck, daß sie mich von der Seite her betrachte, mit mehr Aufmerksamkeit als sie eigentlich einem Fremden schenken konnte. Sie stieg vor mir aus, ich konnte sie unauffällig ansehen und gewahrte zu meinem Erstaunen in ihren Zügen eine seltsame Traurigkeit – eine Art Mitleid, wie mir schien!

Darüber grübelte ich nach. Ich faßte einen gewissen Verdacht. – Es gelang mir, L. noch abends zu stellen. Ich sagte ihm auf den Kopf zu: »Du hast deiner künftigen Braut nun doch meine Geschichte erzählt!« –

Meine Befürchtung traf zu. Er leugnete nicht, aber gab sich alle Mühe, mich zu beruhigen. Die junge Dame werde schweigen wie das Grab, es wäre unrecht von mir, ja eine Beleidigung, wenn ich das nicht für selbstverständlich hielte. Und ähnliches sagte er mehr.

Ich war traurig, ob ich ihm schon nicht allzusehr zürnen konnte. Sie hatte nun einmal sein ganzes Vertrauen, und es war natürlich so, da sie seine Braut werden sollte. Ich konnte auch nicht annehmen, daß sie über mich unvorsichtig sprechen würde – schon ihm zuliebe würde sie wohl schweigen.

Trotzdem war ich unruhig und fühlte mich verraten. Mich und meine stille Zuflucht.

Aber ich ließ es L. nicht entgelten. Diesem grundehrlichen Menschen war keinerlei Arglist zuzutrauen. Gewiß hatte er seiner künftigen Braut meine Geschichte in reiner Herzensgüte erzählt, und in noch reinerer Absicht.

*

Ich wartete einige Tage zu, L.'s Urlaub ging ohnedies zu Ende. Vermutlich fand alsbald seine Verlobung statt, ich nahm an, am Tage vor seiner Abreise. Da wollte ich sein Glück nicht mit Vorwürfen trüben; er hatte Glück verdient, ich gönnte es ihm.

In der Tat erfolgte am nächsten Tage sein eigentlicher Antrag. Es war selbstverständlich, daß er nicht zurückgewiesen würde.

Gegen elf Uhr vormittags klopfte es bei mir. L. trat ein, ich wollte ihm beide Hände entgegenstrecken – da sah ich, daß er ganz verwirrt, blaß, und todtraurig war. Ich ließ die Arme sinken.

»Was ist geschehen, lieber Freund? was ist mit dir?« –

Er wankte zum Stuhl, setzte sich, ließ den Kopf auf den Tisch fallen, und gab seinen Tränen freien Lauf.

Er war abgewiesen worden. Das heißt: vertröstet – auf das kommende Jahr! Es war ihm unerklärlich – noch gestern hatte sie ihm angedeutet, daß natürlich kein Zweifel mehr sein könne ...

Es mußte somit in letzter Minute, gestern abend oder heute morgen etwas geschehen sein, das alles umwarf. Vergebens wandte ich viele Worte auf, um ihn zu trösten. Vergebens ersann ich Erklärungen des Unbegreiflichen. Er blieb dabei: alles sei verloren. Für immer.

Das wiederholte er mir auch andern Tags, noch auf dem Bahnsteig. Es sei alles verloren. Unwiderruflich.

Und er sollte Recht behalten! –

*

Merkwürdiger Weise war es Bromberger, der mir nicht viel später – – aber schon in diesem Jahre 1912, auf das der irische Lord meinen Kameraden verwiesen oder vertröstet hatte – – die Erklärung gab. Und die Zukunft wird zeigen, ob diese Erklärung nicht nur für die Sache selbst zutrifft, woran ich nicht zweifle, sondern ob sich auch im Weiteren die Befürchtungen Brombergers bestätigen!? Diese reichen Leute sind ja gut unterrichtet und haben eine Witterung für die Ereignisse.

Ich will es hier einmal festhalten:

Bromberger begegnete mir auf der Straße. Er brach in wilde Verwünschungen gegen Berlin aus. Ob ich es gelesen hätte?

»Was gelesen?« –

»Sie fragen noch? Sind Sie denn taub und blind? Vor Egoismus! Hören Sie: Haldane, der englische Kriegsminister, ist von Berlin ohne Resultat abgereist. Diese Wahnsinnigen haben ihn so abreisen lassen. Wissen Sie, was das heißt? Das heißt, daß der letzte Vorschlag zum Frieden gescheitert ist! Das heißt Krieg! Krieg heißt das! Verstehen Sie mich?!« –

So Bromberger.

*

Ob er in allem Recht hatte, weiß ich nicht. Man wird sehen. Aber soviel konnte ich mit Sicherheit schließen: der irische Lord hatte nicht nur eine leere Phrase gebraucht, als er L. auf 1912 verwies. Dieser Mann hatte wohl in letzter Stunde irgend eine Nachricht, eine Warnung erhalten. Sein Sohn saß ja in London, im Foreign Office, das hatte mir L. erzählt ... Der Vater der erhofften Braut hatte abwarten wollen, wie es Haldane mit seiner Mission erginge. Vorher wollte er keine Allianz mehr mit einer deutschen Adelsfamilie.

Soviel wurde mir klar. –

*

L. hat mir übrigens nach dreiviertel Jahren – in diesem Herbst – von sich Nachricht gegeben. Er habe sich mit der »unbegreiflichen Katastrophe« endlich abgefunden. – Ob ich übrigens wisse, daß der General O. gestorben sei – an plötzlicher Herzschwäche, Mitte September. Er, L., habe die verwaiste Tochter seitdem mehrmals wiedergesehen. Sie scheine in einer starken Hinwendung zum katholischen Glaube» begriffen zu sein. Auch komme sie gern zu seiner Mutter, das mache ihm große Freude. –

*

Ich bin überzeugt, daß L., wenn ihr Trauerjahr vorüber ist, wieder um sie freien wird. Ein Kind kann das erraten. – –

*

Was mich anlangt, so hatte mich die Abweisung L.'s in Lausanne auch in eine gewisse persönliche Sorge versetzt. Diese Irin war jetzt nicht mehr L.'s geheime Braut – wer bürgte mir dafür, daß sie nicht doch irgendwann einmal einem anderen Menschen hier, oder doch wenigstens ihrem Vater meine Geschichte erzählte? ohne böse Absicht, aber vielleicht aus Sentimentalität.

*

Ohnehin wollte ich Professor R...'s Untersuchungen womöglich aus der Nähe folgen. R. aber arbeitet hier in Paris.

Die Iren wollten noch Monate lang in Lausanne bleiben. Mir war das zu lang, es schien mir bedenklich für meine Stille. Und mehr als diese äußere Stille habe ich ohnehin nicht vom Leben.

Ich habe vorgezogen, mich aus dem Staube zu machen ...

Hier habe ich nun fast ein Jahr gelernt. Aber ich sehe schon seit einiger Zeit, daß Studien dieser Art auf die Dauer nur für Menschen mit eiserner Gesundheit unbedenklich sind; sie greifen die Nerven unausgesetzt an! Vielleicht hätte ich besser getan, diesen Dingen nie nachzugehen.

Wahrscheinlich? fahre ich bald wieder nach Lausanne. Wenigstens versuchsweise. Am Benehmen des Hoteldirektors werde ich ja merken, ob dort über mich geschwätzt worden ist.

*

Mein Leben ist armselig. Aber wie es ändern? Von mir aus vermag ich es nicht zu ändern. Äußerlich habe ich es ja schon geändert – aus dem früheren in das jetzige. Aber der innerliche Anfang, der scheint nicht in meiner Macht zu liegen.

Lausanne, Januar 1913

Paris ist weit. Ich bin nun doch fast ein Jahr dort gewesen, jeden Tag auch spazieren gegangen, und doch nie dem Abbé B. oder Viktor S. begegnet. Aufsuchen wollte ich sie nicht. Aber manchmal wünschte ich mir heiß, es möchte sich so fügen, daß ich mit dem einen oder anderen auf der Straße zusammenträfe. So gerne hätte ich einmal gehört, wie es Marguerite geht. – Sicherlich betete sie viel für mich, ich mußte so oft an sie denken, auch gegen meinen Willen.

Paris ist weit. Hier in Lausanne aber war der erste Mensch, dem ich auf der Straße begegnete, der Abbé B. Er begrüßte mich herzlich, und fragte so teilnahmsvoll nach meinem Ergehen. Mit einiger Verlegenheit gestand ich ihm, daß ich wieder in Paris geweilt hatte. Aber er schien sofort zu begreifen, warum ich nicht zu ihm gekommen war, und machte mir keinen Vorwurf. »Und wie geht es Ihnen nun in Wirklichkeit, armer Junge – im Innern, meine ich?« –

»Es stagniert. Noch immer.« –

»Sie fassen es nur so auf. Eines Tages wird die Lähmung aufhören, die über Sie verhängt ist. Ich will nicht in Sie dringen. Aber glauben Sie mir nur: Gott hat Sie nicht vergessen. Aber einstweilen hat er Sie beiseitegestellt. Nehmen Sie es geduldig an, Sie werden ja wissen, warum es so sein muß. Es wird nicht immer dauern. Was heute gebunden ist, wird morgen gelöst werden. Jetzt müssen Sie noch in Sehnsucht verharren, damit die Sehnsucht wachse und immer größer werde ... Vielleicht werden Sie noch mehr leiden müssen – um so sicherer nähern Sie sich dem Tag, an dem der Engel in Ihr Gefängnis treten und Sie mit einem Male von allen Fesseln lösen wird. Harren Sie aus!« –

Ich schwieg. Und erst nach einer Weile fragte ich: »Wie geht es Viktor S.?«

»Er hat Sorgen gehabt, er und manche seiner Freunde. Vielleicht haben Sie gelesen, daß der Papst den französischen Katholiken die loyale Mitarbeit an der Republik zur Pflicht gemacht hat, trotz der Trennung von Kirche und Staat. Die Action française hatte sich auf den Widerstand gegen die Republik, auf einen Widerstand um jeden Preis, festgerannt. Und man hielt diesen Widerstand für religiös. Aber Viktor S. hat nun doch umgelernt. Wir verstehen uns wieder. Übrigens fürchte ich, daß unruhige Zeiten kommen ... Und es wird auch gar zu skrupellos gehetzt – leider auch von Katholiken, und gerade von der Action ... Nun, Sie wissen ja selbst ... Es zieht sich etwas zusammen, scheint mir. Und Ihre Politik, die deutsche meine ich, ist auch nicht sehr klug ... so ahnunglos! Wissen Sie übrigens, daß Tournier gestorben ist?« –

»Nein!« –

»Er kann froh sein, daß er diese Erde hinter sich hat! Ja, wahrhaftig.« –

»Und wie geht es ... den anderen Freunden?« –

Er sah mich, ein wenig stehenbleibend, aufmerksam, aber freundlich an. »Sie meinen Komtesse Marguerite?« –

»Ja« – gestand ich verlegen.

»Sie ist glücklich. ›Sie hat den besten Teil erwählt und dieser wird nicht von ihr genommen werden.‹ – Sie hat Ihnen ja auch geschrieben, nicht wahr? Und damals hat Sie mir auch aufgetragen, Ihnen, wenn ich Sie je sähe, zu sagen: daß sie glücklich ist und für Sie beten wird. Das hat sie Ihnen ja auch geschrieben.« –

 

Die Irin hatte offenbar nicht geplaudert. Ich wurde im Hotel mit der alten Freundlichkeit aufgenommen, und bekam auch mein altes Zimmer wieder. Das gab mir das Gefühl, gewissermaßen zuhause angelangt zu sein. Man wird langsam bescheiden ...

Während ich auspackte, hörte ich im Nebenzimmer murmeln. Es war die Stimme eines Mannes und klang, wie wenn er etwas läse, mit getragener Monotonie. Etwa ein frommes Buch? – Da merkte ich, daß auf meiner Seite die Türe, die ins andere Zimmer führte, nicht geschlossen war. Es war eine Doppeltüre; noch während ich auf meiner Seite schloß, verstummte das eintönige Murmeln. Der andere Gast hatte mich gehört und wußte nun, daß das Zimmer jetzt besetzt war.

Als es zum Abendessen läutete, wartete dieser Gast im Gange auf mich. »Es scheint, daß ich Sie vorhin gestört habe? Bitte, entschuldigen Sie!« –

»Sie können nichts dafür. Auf meiner Seite war ja die Türe nicht geschlossen.« –

»Um so besser. Mein Name ist Boris von M.« –

Ich nannte ihm meinen Namen. Da sprach er sofort deutsch, mit unverkennbar russischem Akzent. Es war ein echter Russe, ein Weißrusse, mit hellblondem Haupthaar, etwas dunklerem Bart, und mit friedlichen blauen Augen. Er hatte etwas Schwebendes im Gange. Wir stiegen zusammen die vier Treppen hinunter, er erzählte mir, daß er als Kind eine deutsche Gouvernante gehabt habe. Er sprach gewandt, im Tone eines Mannes der guten Welt, aber mit einer seltsamen Ruhe, man hätte sagen können Milde. –

Nach dem Essen hielten ihn, als er den Speisesaal verließ, zwei Damen an, ersichtlich Mutter und Tochter, Russinnen, beide von vollendet schönen, kaukasischen Gesichtszügen, mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Die Tochter hatte auf der Oberlippe einen leisen schwarzen Flaum, nicht zuviel, um sie zu entstellen, aber genug, um ihrem Gesicht einen jungenhaften, streitbaren Ausdruck zu geben, zu dem ihre langen Augenwimpern einen reizvollen Gegensatz bildeten. Die Mutter trug sich als Witwe.

Besonders das junge Mädchen sprach auf den Russen ein, lebhaft, – teils ungehalten, wie es schien, teils freundschaftlich. Als die drei an mir vorübergingen, gewahrte mich der Russe, hielt ruhig an, begrüßte mich wieder und stellte mich ohne weiteres vor. Es waren die Damen K., Witwe und Tochter eines russischen Militärs, der – an den Folgen einer im russisch-japanischen Krieg erlittenen Verletzung – in der Heimat gestorben war.

Die Mutter ging bald auf ihr Zimmer, die Tochter blieb bei Boris von M. und mir stehen. Wir sprachen jetzt deutsch, das junge Mädchen drückte sich gut aus. Wie sich herausstellte, studierte sie an der Universität Lausanne. (Zufällig habe ich, vor ihr, noch keine weibliche Studierende kennen gelernt.) –

Das Gespräch wurde von dem jungen Mädchen geführt, und zwar mit einer gewissen Heftigkeit, die offenbar in ihrem ganzen Wesen lag. Sie fragte mich unvermittelt: »Wenn Sie in Rußland wären statt in Deutschland würden Sie da auch ein Tolstoijewitsch sein?« –

»Was ist das?« –

»Das ist ein Jünger von Tolstoi, und also ein Mensch, der den Grundsatz hat: Keinem Übel mit Gewalt zu begegnen. Das ist also ein Mensch, der sich ruhig schlagen läßt, wenn es irgend einem Narren oder Verbrecher einfällt, ihn zu schlagen. Es ist ein Mensch, der, wenn Rußland Krieg führen muß, sich lieber einsperren läßt, als daß er mit in den Krieg geht. Der sich sogar lieber erschießen läßt! – Würden Sie also ein Tolstoijewitsch sein?« –

»Bis jetzt nicht.« –

»Gut. – Ist das überhaupt ein Mann, der sich lieber erschießen läßt, als selbst zu schießen?« –

»Das kommt ganz darauf an. Es gehört ja auch allerhand Mut dazu, sich einem Grundsatz zuliebe erschießen zu lassen. Feig ist das nicht.« –

»Hören Sie!« – sagte Boris von M. lächelnd.

Das Mädchen warf mir einen bitterbösen Blick zu. »Dann halten Sie es wohl für feig, wenn ein Mensch für sein Vaterland stirbt?!« –

»Das habe ich nicht gesagt. Ich bin ja selbst ...« (ich wollte sagen: Soldat gewesen, aber unterdrückte es) »selbst der Meinung, daß es der Beruf des Soldaten ist, zu kämpfen.« –

»Nun also?« –, wandte sich das Mädchen an Boris von M. Dieser antwortete:

»Das ist wahr. Der Beruf des Soldaten ist es. Aber diesen Beruf hatte ich ja schon aufgegeben. Sie wissen doch, daß ich meinen Abschied schon eingereicht hatte!« –

Wir setzten uns. Das leidenschaftliche Mädchen – es konnte wohl höchstens achtzehn Jahre alt sein, der ganzen Art nach zu schließen – führte den Streit fort. Aber ich konnte bemerken, daß sie durchaus nicht gegen Boris von M. eingenommen war, sondern ihn vielmehr liebte. Es paßte gut zu ihrer jugendlichen Heftigkeit, daß sie ihre Gefühle gar nicht zu verbergen verstand. Mitten unter ihren stürmischen Ausbrüchen warf sie ihm manchmal Blicke zu, die ihr ganzes Herz verrieten. Und sie schien mit der gleichen Heftigkeit zu lieben, mit der sie in ihren Worten hier kämpfte. Der Streit blieb natürlich unentschieden; das junge Mädchen konnte nicht länger in der Halle verweilen und verabschiedete sich von Boris von M. für diesen Abend – ebenso zornig wie warmherzig.

Der Russe erklärte mir jetzt die Vorgeschichte des Streites, die zugleich seine Lebensgeschichte war.

Er war der Sohn eines weiß-russischen Großgrundbesitzers und, gemäß seiner eigenen Neigung, früh in die Militärschule gekommen, nach Petersburg. Ein gleichaltriger russischer Großfürst wurde dort sein Freund, für Schule und Leben; sie waren unzertrennlich. Boris hatte, als ausgezeichneter Offizier, eine glänzende Laufbahn vor sich.

Eines Tages hatte er das Unglück, einen Bettler zu überreiten, der an der Straße saß. Er stieg sofort ab und bemühte sich um den Ohnmächtigen, zog ihm den Rock aus, und sah durch sein arg zerrissenes Hemd, daß ihn der Huf des Pferdes an Brust und Achsel getroffen hatte. Unterdem kam der Arme wieder zu sich. Es war niemand in der Nähe zu sehen, so daß sich der junge Offizier, wollte er den Verunglückten nicht einfach seinem Schicksal überlassen, wohl oder übel entschließen mußte, ihn selbst irgendwohin in Obhut und Pflege zu bringen. Zu diesem Zwecke führte er ihn an seinem heilgebliebenen Arm. Den Bettler auf der einen, das Pferd auf der anderen Seite am Zügel führend, zogen sie dahin und gelangten an ein öffentliches Spital. Dorthinein geleitete er den Bettler, und wollte ihm, bevor er fortritt, etwas Geld geben, soviel er eben bei sich trug. Der Bettler lehnte es ab. Er nähme kein Geld, sondern nur Brot. Er sei ein Pilger. – Was er sich denn nur sträube? ... das Spital müsse er doch bezahlen, auch den Arzt, usw – Nein, er würde nicht bezahlen, sagte der Pilger zum Spitalbeamten, denn er sei ein Pilger. – Jener Mann schien darüber gar nicht erstaunt, sondern sagte: »Wir wollen dich um Gottes Lohn behalten.« – Aber er würde dem Spital dann etwas schenken, sagte Boris. – »Dann werde ich für dich beten, Väterchen«, antwortete der Pilger, der große Schmerzen zu leiden schien.

»Bist du mir böse?« fragte ihn Boris. »Verzeihe mir!« –

»Du bist unschuldig, Väterchen. Dein Pferd kann keinen Schritt tun, ohne daß Gott es zuläßt. Ich werde für dich beten.« –

»Tu das, du guter Mann!« – Boris ritt fort; aber er erkundigte sich dann nach dem Befinden des Pilgers. Dieser hatte leider innere Verletzungen erlitten und lag im Sterben. Boris suchte ihn wieder auf. Der Pilger blieb bis zum letzten Atemzuge bei Bewußtsein, tröstete Boris, und segnete ihn, bevor er verschied.

Der Tod dieses Mannes, und insbesondere, daß er so friedlich gestorben war und ihn gesegnet hatte, erschütterte Boris in seinem Grunde. Er begann über sich nachzudenken, – ob er denn auch recht lebe, im Vergleich zu jenem Pilger, der ihm nicht im geringsten gezürnt hatte und so friedlich gestorben war.

In dieser Zeit nun las Boris die Schriften des alten Tolstoi. Darin fand er die Lehre, daß man dem Übel nicht mit Gewalt begegnen solle. Er hatte dies wohl schon seinerzeit in der Heiligen Schrift gelesen, aber nicht wirklich beachtet. Dem Segen des Pilgers, der sterbend immer wieder das Kreuz über ihn geschlagen hatte, schrieb er es zu, daß ihm jetzt auf einmal diese Lehre als ein Gebot erschien, dem er selbst folgen müsse. Deshalb kam er um seinen Abschied als Offizier ein.

Zu jener Zeit aber war gerade der russisch-japanische Krieg ausgebrochen. Boris galt eigentlich schon für verabschiedet. Und im Eifer für die von ihm angenommene Lehre ließ er sich hinreißen, sie auch anderen darzulegen. Am meisten wurde ihm zur Last gelegt, daß er sie vor einigen einfachen Soldaten, Leuten, die er von seines Vaters Dörfern her kannte, als das Gebot, dem er jetzt gehorche, dargetan und als die Lehre des Christentums vertreten hatte. Offiziell war seine Verabschiedung noch nicht erfolgt; und man stand im Kriege!

So wurde er schließlich auf Betreiben eines Vorgesetzten wegen Aufwiegelung und Hochverrates angeklagt. Er leugnete nicht; auch war für den einen Teil der Anklage der gesetzliche Tatbestand eindeutig gegeben: Aufwiegelung im Kriege. Und Boris von M. wurde dieserthalben zum Tode verurteilt.

Er erwartete seine Erschießung von Tag zu Tag. Zwei Monate wartete er so auf seinen Tod.

Dann aber wurde er durch die Vermittlung seines Lebensfreundes, jenes Großfürsten, vom Zaren begnadigt, unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß er, ohne noch weiterhin für die von ihm angenommene Lehre zu werben, Rußland verließe. Zugleich wurde ausgestreut, er sei in einer religiösen Verirrung befangen, für die man ihn nicht voll hätte haftbar machen wollen ... Er sträubte sich nicht, abzureisen, und lebte seitdem im Ausland.

Die kaukasischen Damen hatte er schon früher gekannt, als er noch im Dienste stand. Die Tochter hatte als Kind für ihn geschwärmt. – »Sie ist ja jetzt noch ein Kind, das haben Sie wohl gesehen«, – so schloß er seine Geschichte, die er nüchtern und mit ruhiger Freundlichkeit erzählt hatte.

*

Boris von M. und ich konnten uns gut leiden, ich schätzte ihn, weil er tapfer und folgerichtig war, aber auch wegen der brüderlichen Milde, mit der er Menschen und Welt ansah.

Es kam mir übrigens so vor, als könnte die Liebe der kaukasischen Studentin zu ihm einmal, und vielleicht schon bald, zu einem wilden Brande werden; es lag eben so in der leidenschaftlichen Natur dieses Mädchens. Ungewöhnlich schön, wie sie war, konnte sie sich wohl gar nicht vorstellen, daß es einen Mann gäbe, den ihre Neigung nicht beglückte; weil sie liebte, war es ihr von vornherein selbstverständlich, daß sie zuerst geliebt werde.

In der Meinung, daß Boris von M. vielleicht nicht so ganz übersehe, daß es da früher oder später zu schmerzhaften Verwicklungen kommen könnte, sprach ich ihm schließlich einmal von meiner Befürchtung. Es schien ihn nicht zu überraschen. Von seinen eigenen Gefühlen sagte er nichts. Er meinte: für einen ungebrochenen Menschen ihrer Art könnte ein Mann wie er gewissermaßen nur eine flüchtige Station auf dem Wege des drängenden, jungen Herzens sein. »Glauben Sie mir, eine zweimonatliche, einsame Todesangst, wie ich sie erlitten habe, gibt einem Menschen für immer ein Gepräge; wenn er nicht verrückt wird, muß er zur Ergebung, zum Frieden gelangen, er muß sich nach innen wenden. Aber eine noch so innige Liebe – eines Menschen wie ich es jetzt bin! – könnte diesem jungen Herzen, solange es eben so jung ist, nicht das geben, was es jetzt sucht – Trotzdem ist etwas Gefährliches in dieser Sache. Denn dieses Mädchen – wer fände es nicht natürlich? – ist sehr eigenwillig, und das macht ihre Leidenschaftlichkeit aus. Sie wissen nicht, daß sich ihr Bruder vor vier Jahren, in einer Stunde der Leidenschaft, erschossen hat! Auch er war ausnehmend schön, war jung, zukunftsreich ... Er liebte ein Mädchen und es liebte ihn wieder. Aber er war so jäh, so stürmisch, daß er ihr nicht einmal Zeit ließ, ihr Herz zu befragen. Sie war ein stiller, langsamer und scheuer Mensch. – Und es genügte, daß sie nun einmal nicht sofort Ja sagte, auf die erste Frage, ob sie ihn nähme, daß er fortstürzte und sich in der Verzweiflung erschoß, in einer Verzweiflung, die völlig grundlos war! – Deshalb ist es so schwer für unsereinen, in dieser Sache das Rechte zu tun. Ich habe in der letzten Zeit darüber nachgedacht.« –

Ich bin zu der Meinung gekommen, daß Boris M. das junge Mädchen liebte, aber daß er, aus Liebe, auf sie verzichtet hatte. Aus größerer Liebe!

Ich war, wie in allem, so auch in religiösen Dingen, zu ungelehrt, um ihm seine Auffassung der Heiligen Schrift beweiskräftig widerlegen zu können. – Aber so viel erkannte ich, daß seine Seele großmütig war, einer heroischen Großmut fähig.

Um so tiefer erschrak ich am folgenden Tag.

Es war beim Mittagessen. Er saß ziemlich weit weg von mir, aber in der Nähe der kaukasischen Damen. Ich konnte seinen Tisch nicht sehen.

Es gab plötzlich einen furchtbaren Lärm. Jemand warf Teller, Gläser, Flaschen, Bestecke mit aller Macht zu Boden. Dann noch den Tisch selbst. Unwillkürlich stand ich auf, um zu schauen, wer es war. Zu meinem Entsetzen sah ich Boris M., der jetzt am Tische der kaukasischen Damen stand und schon begann, auch dort alles zu Boden zu werfen. Alle eilten auf ihn zu. Er lächelte die Leute hilflos an. Ich drängte mich durch zu ihm, ergriff ihn am Arme, und rief: »Kommen Sie doch zu sich! Was machen Sie nur?« – Er murmelte irgend etwas auf russisch, schien mich weder zu kennen noch zu verstehen. Aber ebensowenig die Damen, die sich unter Tränen um ihn bemühten. Offenbar kannte er jetzt überhaupt niemanden. Er hatte den Verstand verloren – soweit man da urteilen konnte. Vielleicht hatte jene Leidenszeit, die zweimonatliche Todesangst, ihn nun doch noch, nachwirkend, von Sinnen gebracht.

Ich mußte schon zufrieden sein, daß er sich, ohne besonderen Widerstand zu leisten, fortziehen und auf sein Zimmer geleiten ließ. Er verhielt sich jedoch diesen und den nächsten Tag völlig stumpf, und nahm keinerlei Nahrung zu sich. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn in eine Anstalt zu verbringen. Ich übernahm, zusammen mit Bromberger, der mich gerade hatte besuchen wollen, das traurige Amt. Da Boris die ganze Nacht nicht geschlafen, sondern an seinem Tische gesessen hatte, war er matt und müde, und ließ sich wortlos hinunterführen, stieg auch nach kurzem Sträuben in die bereitstehende Droschke. So brachten wir ihn zum Arzt.

Im Weggehen sagte Bromberger: »Wissen Sie, sonderbar ist doch, was so ein kranker Mensch noch mechanisch alles macht ... Reflexbewegungen sozusagen: Haben Sie gesehen, daß dieser Mann im Hotel noch Paß und Scheckbuch aus einem Handkoffer genommen hat? – bevor wir ihn fortgezogen haben.« – Ich hatte aber nicht darauf geachtet.

Ins Hotel zurückgekehrt, suchte ich die Damen K. auf. Ich fand das junge Mädchen, wenn auch noch verweint, so doch gefaßt. Es ist ja wahr: man pflegt eben Erkrankungen solcher Art als eine Unumstößlichkeit des Schicksals hinzunehmen, mit der man sich abfinden muß, weil es gleichsam keinen Rekurs dagegen gibt. Und so ergab sich das Mädchen, wie ich in den nächsten Tagen feststellen konnte, mehr und mehr in den Verlust, den sie erlitten hatte. Dieser Verlust war nun einmal unwiderruflich. Angenommen sogar: Boris von M. würde eines Tages wieder besser daran sein, als jetzt ... aber ein junges Mädchen von achtzehn Jahren konnte ihr Herz nicht wohl einem Geisteskranken aufsparen – es wäre fast wider die Natur gewesen, und vollends wider die ungeduldige, leidenschaftliche Natur dieses Mädchens. – Ich konnte mich überzeugen: sie ergab sich in den Verlust – – während sie vielleicht noch vor acht Tagen, als Boris von M. noch geistig gesund schien, ihm wohl bis ans Ende der Welt nachgerannt wäre, hätte er sich einfallen lassen, plötzlich dorthin aufzubrechen! Jetzt aber wußte sie, daß sie nichts zu ändern vermochte.

Ich wartete noch zwei Wochen, bis ich den Versuch machte, Boris von M. zu sehen. Er war abgemagert, da er, wie man mir sagte, nur äußerst ungern aß. Im übrigen hatte er sich zwar teilnahmslos, jedoch ruhig verhalten. So friedlich, daß der Wärter kein Bedenken trug, mich mit ihm allein zu lassen.

Zu meiner Freude merkte ich, daß er mich verstand, auch auf deutsch. Er antwortete zwar zunächst nicht, blickte mich aber forschend an. Ich sagte ihm nochmals meinen Namen, in der Meinung, er erinnere sich meiner noch nicht genau. Er lächelte. So saßen wir einige Minuten. Endlich sprach er, indes sehr leise, als fürchte er, gehört zu werden, von Unbefugten. Er fragte: » Was macht sie? Ist sie ruhig?«

Ich war erstaunt, nicht so sehr über die Frage, als über die durchaus vernünftige Art, wie er sie stellte! Der Wahrheit gemäß antwortete ich, daß es ihr gut gehe und sie ruhig geworden sei.

»Nun, dann ist ja alles gut« – sagte er leise. Ich faßte ihn schärfer ins Auge. Er erwiderte meinen Blick so freundlich wie in gesunden Tagen.

Nach einer Weile begann er wieder zu sprechen: »Erinnern Sie sich an unsere letzte Unterhaltung?« –

»Ja, lieber M., natürlich.« –

»Ich wußte keinen anderen Weg als eben diesen. Verstehen Sie?« –

»Wie!?!« –

»Sie sagen doch, daß sie ganz ruhig ist.« –

»Allerdings.« –

»Nun eben. Ich habe vorgezogen, den Leuten als ein Narr zu erscheinen. Das ist es gewesen.« –

»Ja ... ist das Ihr Ernst?!« rief ich, ganz verwirrt vor Überraschung.

»Mein Ernst. Ich wußte keinen anderen Weg, mich ihr entbehrlich zu machen. Nun geht ja alles gut.« – – –

*

Es konnte kein Zweifel sein, Boris von M. war durchaus bei Sinnen! Aber ich vergewisserte mich durch eine Reihe Fragen, die er alle lächelnd, geduldig und so vernünftig wie je beantwortete. Er erklärte mir in aller Klarheit, daß er in Erinnerung an den unüberlegten Tod des Bruders des jungen Mädchens gehandelt habe. Man sei ja wehrlos gegen eine solche naturhafte Heftigkeit. Deshalb habe er sich entschlossen, ein Fait accompli zu schaffen, das den Eigenwillen des jungen Mädchens nicht verletzen konnte und doch alles auf einmal ins Reine brachte. Der besseren Glaubwürdigkeit halber gedenke er noch einige Wochen in der Anstalt zu bleiben, dann aber nach Italien zu gehen und sich dort noch in irgend einem Nest verborgen zu halten. – Ich mußte ihm die Hand darauf geben, daß ich im Hotel schweigen würde. Wenn ihn die Damen etwa hier besuchen kämen, würde er sich weigern, sie zu sehen, was ja nicht schwer sei, in einer solchen Anstalt. – – –

*

Vorgestern ist Boris von M. in aller Stille, mit dem Nachtzug, nach Italien abgereist.

Die Studentin will das kommende Semester in Paris zubringen. Es drängt sie, das für sie leergewordene Lausanne zu verlassen. Aber sie ist durchaus gefaßt.

Das sagte ich Boris noch am Zuge. Dann ging ich heim und schlafen, glücklich, einen edlen Menschen zum Freunde zu haben.

Mai 1914

Boris schrieb mir aus Florenz, ob ich nicht für ihn in einer Genfer Zeitung eine Anzeige einrücken wolle; er möchte dort ein kleines möbliertes Landhaus mieten, aber ein ganz kleines, mit ein paar Räumen nur, eine Einsiedelei. Wenn ich über die Maßen liebenswürdig sein wolle, so könnte ich ja nach Einlauf der Angebote einen Spaziergang in Genf und Umgebung machen und mir eine summarische Übersicht verschaffen, was vom Angebotenen halbwegs geeignet sei, und ihm diese schon ausgewählten Adressen schicken. Aber es genüge auch, wenn ich nur die Anzeige aufgäbe. – Nebstdem mache er mich darauf aufmerksam, daß er schlechte Nachrichten aus Rußland habe: es würden sehr viele Truppen nach Westen deplaziert. Wenn ich bedächte, daß die Entfernungen in Rußland ungeheure seien, würde ich ohne weiteres verstehen, warum er solche Nachrichten schlecht nenne. Wenn Rußland die Kosten solcher Großmanöver an der deutschen und österreichischen Grenze nicht scheue, so bedeute dies nichts Gutes. –

Es tat mir leid, daß Boris nach Genf wollte, nicht hierher. Nach Erhalt der Angebote fuhr ich nach Genf und sah mir die Häuschen an. Die meisten waren noch zu geräumig, für einen einzelnen Bewohner. Aber ich fand schließlich etwas Entzückendes, durch ein Versehen. Ich läutete nämlich – in Plainpalais – an einem Gartentor, das gar nicht zu dem Landhaus gehörte, welches ich gerade suchte. Zufällig befand sich der Besitzer selbst, mit zwei lieben, rothaarigen Kindern, im Garten und kam herbei, um mir zu öffnen. Als ich mein Begehr vorbrachte und mich kurz vorstellte, sprach er sogleich deutsch. Es war ein Westfale. Er habe kein Landhaus zur Vermietung angeboten, ich müsse mich geirrt haben. – Wir kamen ins Gespräch, und er fragte mich, welcher Art das etwa sein solle, was ich suche. Ich nahm keinen Anstand, ihm Auskunft zu geben, erklärte ihm auch, für wen ich suchte. »Ungefähr ein Häuschen in dieser Größe« – sagte ich und deutete auf das seine. Er lächelte. »Das ist nur das Gärtnerhäuschen, es ist unbesetzt, weil wir den ehemaligen Nutzgarten in eine Grasfläche umgewandelt haben. Wir sind eine kleine Familie, es lohnt sich da nicht recht. Aber unser eigenes Haus steht dort, hinter dem Park.« – Ich sah es jetzt, es war ein altes, aber wohlgepflegtes Herrschaftshaus. Jetzt bemerkte ich auch, daß am Gärtnerhäuschen, beim Toreingang, alle Fensterläden geschlossen waren. Der Besitzer schien aber die Unterhaltung noch nicht abbrechen zu wollen. »Vielleicht weiß ich Ihnen Rat« – sagte er und erkundigte sich höflich nach den Wünschen und der Persönlichkeit des eigentlichen Mieters. Meine Antwort befriedigte ihn offenbar. »Wollen Sie einen Augenblick ins Haus kommen, oder warten Sie lieber bei den Kindern im Garten? – ich möchte kurz mit meiner Frau sprechen.« – Ich wartete bei den Kindern, die ich fragte, wie es ihnen hier in der Genfer Schule gefalle.

»Wir gehen gar nicht in die Schule!« erwiderte mit tiefer Stimme der Junge und lachte.

»Papa gibt uns selbst Unterricht«, sagte das Mädchen, ebenso fröhlich.

»Was habt ihr denn für Bücher?« –

»Deutsche Bücher!« – sagte der kleine Junge mit der Altstimme, in einem singenden Tonfall.

»Und englische Bücher!« – fügte das Mädchen hinzu.

»So? Englisch lernt ihr schon! Das ist ja großartig.« –

»Kannst du nicht Englisch?« – fragte mich der Junge.

»Nein – oder nur ganz wenig.« –

»Warum nicht?« -

Ich mußte lachen. »Ich bin noch nicht in England gewesen.« –

»Aber wir sind in England gewesen« – sagte das Mädchen.

»Nein, schon zweimal sind wir in England gewesen« – verbesserte sie der Bruder und lachte wieder, ganz tief und herzlich.

»Bei unserer Großmutter!« – ergänzte die Schwester.

»War's schön in England?« -

»Doch!« rief der Junge, »es ist dort ein großer Truthahn! Und Hennen! Und zwei Ponny! Und sie haben einen Weiher, es geht ein Weg herum, und wir sind gefahren! Bist du noch nicht mit Ponny gefahren?«

»Nein, mein Lieber!« –

Er lachte, wahrscheinlich wegen dieser Anrede. – »Ich heiße Wilhelm, William, Guillaume. Ist aber alles eins, alles Willy!« –

»Und wie heißt denn du?« – fragte ich das Mädchen.

»Ethel. Immer Ethel.« –

»Kannst du das verstehen?« fragte der Junge.

»Ja, natürlich. Warum denn nicht?« –

»Ist aber Englisch!« belehrte er mich. –

Während wir plauderten, kam der Vater dieser lieben Kinder mit seiner Frau herbei. Man sah ihr die Engländerin an. Sie war eine schlanke, etwas herbe, jedoch schöne junge Frau, und sprach auch deutsch. Zunächst erkundigte sie sich ihrerseits nach dem Mieter, um den es sich handle. Ich sagte, daß es ein stiller, ernster Mann sei, ein Russe, der eingezogen zu leben wünsche. Er suche eigentlich eine Art Einsiedelei. Sie blickte auf ihren Gatten und nickte zustimmend.

»Hören Sie«, meinte er, »mir ist da ein Gedanke gekommen. Wollen Sie sich vielleicht das Gärtnerhäuschen ansehen? Am Ende paßte das Ihrem Freund? Wir würden es natürlich möblieren. Eigentlich haben wir bisher nicht ans Vermieten gedacht – obwohl wir keine reichen Leute sind. Aber wir bringen einen Teil des Jahres in England zu, da wäre es uns gar nicht unangenehm, wenn jemand hier wäre.« –

Wir gingen in das Häuschen, er öffnete die Läden. Es waren zwei kleine Zimmer, mit einer Küche, und alles in leidlichem Zustand. Die Aussicht ging auf den Salève. »Kochen wird Ihr Freund wohl nicht lassen oder höchstens das Frühstück? Da könnte man von der Küche etwas abteilen und dahinein ein kleines Bad richten.« –

Mir schien, daß dieses Häuschen ungefähr war, was sich Boris gedacht haben mochte. Jedenfalls war er hier gut aufgehoben. Deshalb erkundigte ich mich nach dem etwaigen Preis, sowie nach allem, was sonst noch für Boris wichtig sein mochte.

Der Besitzer bat mich dann in sein eigenes Haus. Wir nahmen in einem größeren Empfangsraume Platz, der mit wenigen, aber erlesenen altitalienischen Möbeln eingerichtet war. – Da mir Bromberger immerhin schon einiges beigebracht hatte, war ich in der Lage, einige alte Meisterbilder, ebenfalls Italiener, die hier hingen, wenigstens als solche zu erkennen. Mann und Frau schienen beide sehr kunstverständig zu sein. »Es sind zugleich unsere Reserven«, bemerkte der Herr des Hauses lächelnd, »mein Vater hatte eine kleine Sammlung, ich sollte sie ursprünglich ganz bekommen, aber als Vater starb, stellte sich heraus, daß wir gar nicht so reich waren – auch die Firma stand nicht so glänzend« (er nannte deren Namen, eine bekannte Handelsfirma), »so haben wir denn die Sammlung unter die Geschwister aufgeteilt, und das hier ist unser Anteil. Ich war damals noch Privatdozent der Geschichte – jetzt arbeite ich für mich, an einem größeren Werk über savoyische Sachen – und als mein Bruder die Firma übernahm, haben wir diese Bilder hierherkommen lassen ... wie gesagt, auch als stille Reserven.« –

»Es sind ja schließlich auch nur einzelne Stücke« – sagte die junge Frau, gewissermaßen entschuldigend.

»Ich habe einen guten Bekannten, der davon mehr versteht als ich, ein Herr Bromberger. Er würde jedenfalls sehr begeistert sein, wenn er die Bilder sähe.«

»Ah, Sie kennen Bromberger? es ist ein bekannter Sammler«, sagte sie, »er kommt auch zu den großen englischen Auktionen. Wohnt er nicht in Lausanne?« –

»Ja. Wollen Sie, daß ich ihm etwas sage?« –

»Vielleicht bei Gelegenheit –«, warf er ein, »was ist es übrigens für ein Mensch?« –

»Fürchterlich reich, wie bekannt! Aber auch großzügig. Ich glaube nicht, daß er Ihnen ein schlechtes Angebot macht – vorausgesetzt, daß ihn die Bilder persönlich interessieren.« –

»Nun, es eilt ja nicht. Vielleicht bei Gelegenheit. Ich würde es Sie dann gern wissen lassen.« –

»Sie unterrichten Ihre Kinder selbst«, sagte ich, um von etwas anderem zu reden – »das findet man selten. Ihre Kinder sind sehr lieb.« –

»Meine Frau und ich unterrichten sie. Später sollen sie nach Deutschland und England gehen. Aber für die Anfänge reichen wir aus.«

Ich verabschiedete mich. – Von hier aus schrieb ich dann an Boris und empfahl ihm am meisten von allem Gesehenen das kleine Gärtnerhaus; auch schilderte ich ihm die Leute, mit denen er es dort zu tun haben würde. –

In der Tat wählte er es zu seinem Wohnsitz. Ich soll ihn nächstens besuchen. Er ist sehr zufrieden.

5. Juli 1914

Unheimliche Tage!

Alles wartet. Alles ist gedrückt. – Die Russen beginnen abzureisen. – Man spricht auch von Einberufungen. Ich habe nachgefragt; nach Deutschland ist niemand einberufen worden. Was uns anlangt, muß das Gerücht falsch sein, wir haben ein ganz anderes Mobilisierungssystem. Hingegen scheint es, als ob einzelne russische Herren zurück beordert worden seien.

12. Juli 1914

Ich hatte einen Brief von Herrn P. in Genf erhalten: er bäte mich, wegen seiner italienischen Bilder jetzt mit Bromberger zu sprechen und diesen womöglich zu einer Besichtigung zu veranlassen. Da ich ohnehin Boris besuchen wollte, fragte ich Bromberger, ob er mit mir nach Genf fahren wolle.

»Die Bilder sehe ich mir ganz gern an, aber ob ich jetzt etwas kaufen werde, ist mir sehr fraglich.« –

»Warum?« –

»Weil vielleicht Krieg wird. Sie sagen zwar, meine Geister sind teils keine Geister, teils böse Geister ... Wir haben gestern wieder Sitzung gehalten. Ekelhafte Antworten!«

»Nämlich?« –

»Der Geist, der sich Tarub nennt, hat auf Befragen mitgeteilt: Er und alle freuen sich sehr. Es gäbe einen mächtigen Krieg. Und deshalb freuen sich alle.« –

»Wahrscheinlich eine Narretei! – Allerdings habe ich unlängst gelesen, daß – nach der Meinung eines unserer Kirchenväter – der Teufel, wenn es Gott nur zuließe, am liebsten alle Menschen, alles, was lebt, töten würde. Denn er hat ja das Reich des Todes, der Finsternis, und haßt alles, was lebt.« –

»Halten Sie das für falsch?« –

»Im Prinzip ist es sicher richtig.« –

»Nicht nur im Prinzip, sondern überhaupt!« –

»Das sagen Sie?« –

»Ja, ich ... Ob Tarub ein böser Geist ist, weiß ich zwar nicht. Aber menschenfreundlich ist er nicht. Er sagt: es gibt jetzt Tod, Verwesung und Ratten. Er werde mit den Ratten ziehen. Er und alle freuen sich.« –

»Grauenhaft. Über alle Maßen grauenhaft! – Und das lassen Sie sich ruhig sagen?« –

»Ruhig? es war abscheulich, sage ich Ihnen. Das Medium ist in Konvulsionen geraten, wir haben gefürchtet, es stirbt uns in der Sitzung.« –

»Warum pressen Sie aber diese kranken Menschen zu solchen Sachen?« –

»Pressen? Unsinn. Diese Leute kommen von selbst zu mir. Übrigens wollte ich viel lieber das Gegenteil hören. Ich wollte mit aller Gewalt hören, daß Frieden bleibt! Deshalb haben wir diese Sitzung gehalten. Ich hätte viel darum gegeben, wenn die Antworten auf Frieden gelautet hätten. – Außerdem können Sie sich beruhigen: ich habe jetzt genug davon! Übergenug. Der junge Mensch gestern, das Medium meine ich, ein Student vom Balkan, hat mir erklärt, er käme nie wieder. Aber ich habe ihm gesagt, daß ich ihm verbieten würde, wiederzukommen, er solle mir mit seinen Balkangeistern vom Leibe bleiben. Frieden will ich. Friedensgeister! nicht solche Vampyre ... Es war schändlich, sage ich Ihnen. Ganz und gar schändlich!« –

»Es scheint so. Aber glauben Sie nicht, daß man, statt mit solchen Geistern den Frieden herbeizubeschwören, besser etwas anderes tun sollte?« –

»Was denn?« –

»Das können Sie sich wohl denken. Übrigens habe ich auch kein Recht, Ihnen zu predigen.« –

»Gut, daß Sie das wenigstens selbst sagen! Sie wissen, daß ich Sie gern habe, Amwald. Aber nicht wahr, eine Offenheit ist der anderen wert?« –

»Sicher. Sprechen Sie nur!«

»Schön. Ich will Ihnen etwas sagen: daß ich lebe, wie ich lebe – übrigens würden andere an meiner Stelle noch schlechter leben – gut! aber daß Sie, daß Sie nicht anders leben, der Sie mir jeden Augenblick mit einer Weltanschauung kommen!? – Nun, kurz und gut: Ihre Weltanschauung in Ehren, aber – – –

»Sagen Sie es nur!« –

»Ich kann Sie wirklich gut leiden. Aber offen gesagt: warum machen Sie keinen Gebrauch von Ihrer Weltanschauung? Warum vergraben Sie sie in Ihr Hotelzimmer? warum leben Sie so außerweltlich? So für sich, für sich allein? Das ist mir so rätselhaft an Ihnen.«

»Mir ist es zwar nicht mehr so rätselhaft – nämlich seit ich eingesehen habe, daß es Zustände gibt, die man sich ... sagen wir einmal: zugezogen hat, und die man ebendeshalb auch aushalten muß. Wie lange, das steht nicht bei einem selbst, wenn man auch weder die Sehnsucht noch die Hoffnung aufgeben darf, am wenigsten aber die Geduld ... Übrigens ist es zu einem Teil auch meine Gesundheit, die mir dieses stille Warten vorschreibt.« –

»Und zum anderen Teil?« –

»Um das zu erkennen, muß man sich zuerst klar werden, daß man einen solchen Zustand, ehedem, selbst heraufbeschworen hat ... Wissentlich oder durch Blindheit, das steht dahin. Aber man hat ihn heraufbeschworen. Das will nicht heißen, daß man ihn über sich selbst verhängt hätte – denn dies liegt nur in der Macht dessen, der die Gerechtigkeit ist und sie handhabt ... Der die immanente Gerechtigkeit in seiner Schöpfung ist, aber auch die außer- und überweltliche ... Der aber auch das unendliche Erbarmen ist und es handhabt. Der auch seine Gerechtigkeit aus Erbarmen anwendet ... um Blinde sehend, Taube hörend zu machen, und Toten das Leben wiederzugeben. Sie verstehen mich? Von ihm hängt die Dauer aller menschlichen Zustände ab – so auch die des meinen. Wissen Sie nun genug?« –

»Ja und nein. Ja: weil mich schließlich und endlich die ... meine Studien, in den letzten Jahren – deretwegen Sie sich so oft über mich belustigt haben! – auch dazu führen konnten, jenes unfaßliche Wesen hinter allem zu ahnen. Weil sie mich in der Tat dazu geführt haben – trotz Ihres Spottes ... obwohl ich zugebe, daß Sie mir mit Ihrer Unterscheidung zwischen ... ja, zwischen menschlich hervorgebrachten Bildern, stofflichen Bildern, und wirklichen Erscheinungen, außermenschlichen Erscheinungen, einen ersten Anstoß gegeben haben. Immerhin: merken Sie sich, daß jenes Wesen geduldiger mit mir war als Sie! – Nein aber: denn wäre es nicht viel einfacher und deutlicher gewesen, wenn Sie gesagt hätten: das und das ist mir zugestoßen, und die Folge davon war dann ... oder ist ... das Jetzige! – Sehen Sie: ich habe Ihnen immer gesagt, was ich tat, und Sie haben gesehen, wie ich lebte – gut oder schlecht, meinetwegen nicht gerade gut, aber ich habe es gesagt. Sie hingegen halten hinter dem Berg.« –

»Sie haben Recht – in gewissem Sinne. Aber könnten Sie sich nicht vorstellen, daß auch dies in einem bestimmten Zustand so sein muß?! Niemandem habe ich mehr gesagt als Ihnen. Niemandem.«

»Auch Boris von M. nicht?« –

»Auch ihm nicht. Waren Sie eifersüchtig?« –

»Sie eingebildeter Mensch! – Ich fahre also morgen mit nach Genf. Aber jetzt haben wir uns genügend ... die Wahrheit gesagt. Bis morgen also!« –

*

Die plötzliche Aussprache mit Bromberger reute mich nicht. Ich sah ein, daß ich ihn zu oberflächlich behandelt hatte. Die unfreiwillige Mitwisserschaft an mancher seiner früheren Lebensepisoden trug daran Schuld, und vielleicht noch mehr sein Reichtum. Ein so reicher Mensch ist allzufrei, zu unbeschwert. So nimmt man ihn eben auch leicht. –

*

Wir fuhren zusammen nach Genf. Ich hatte Bromberger nur kurz gesagt, daß Boris in Italien gewesen war, und daß er geistig so gesund sei, wie nur irgend ein Mensch. Damals habe er wohl innerlich mit etwas zu schaffen gehabt; es sei jetzt ganz vorüber.

Boris trafen wir im Garten an, mit den Kindern, die ihm sehr zugetan waren. Er führte uns in sein Häuschen, das innen eine überraschende Veränderung erfahren hatte. Hier hatte eine vorsorgliche Frauenhand gewaltet, und alles in Behaglichkeit umgewandelt. Es war, als müsse Frau P. aus meiner kurzen Auskunft über Boris, und über das, was er suchte, seinen Charakter erraten haben. Es stand nicht viel in den zwei Räumen, und die Möbel waren nicht luxuriös. Aber es war alles so ruhig, so friedvoll. Von seinen Vermietern sprach Boris mit warmer Achtung. Es seien zwei hochgesinnte Menschen, obschon voneinander sehr verschieden; und die Kinder von einer Reinheit und Kindlichkeit, die ihn mit Ehrfurcht erfüllten. »Alle Menschenkinder sind Gottesgedanken, aber in diesen Kindern sind sie noch ungetrübt verkörperte, sagte Boris. Er verstehe, daß die Eltern sie derzeit noch selbst unterweisen wollten. –

»Warum wollen sie eigentlich die Bilder verkaufen?« fragte ich, »das Haus macht doch eher einen wohlhabenden Eindruck. Und die Mutter der Frau scheint in England doch recht begütert zu sein?« –

»Das Gut gehört nicht der Mutter, sondern dem Sohn, dem Bruder der Frau P., der selbst schon mehrere Kinder hat. – Mit dem Verkauf der Bilder, gerade in diesem Augenblick, verfolgt Herr P. eine besondere Absicht, soviel ich errate. Aber ich möchte davon nicht sprechen.« –

»Es ist eine schlechte Zeit, um zu kaufen«, sagte Bromberger, »aber natürlich möchte ich sie sehen.« –

»Vielleicht ist es besser, wenn Sie mit einem Kauf warten«, meinte Boris. Wir sahen ihn fragend an. Aber er antwortete nicht.

Sodann begaben wir uns zu Herrn und Frau P., begrüßten sie indes nur kurz; denn Boris und ich wollten sie für die Besprechung mit Bromberger allein lassen. Ich ging mit Boris in sein Häuschen zurück. Es hatte mir übrigens geschienen, als sei Frau P. ungemein ernst gewesen. Und ihr Gatte von einer gewissen Feierlichkeit, fast weihevoll, wie ich mir im Stillen dachte.

Nach einer Stunde kam Bromberger zurück. Zwei der Bilder hatten ihm persönlich gefallen. Das eine sei vielleicht ein della Robbia, ein sehr merkwürdiges Bild, mit einer lateinischen Aufschrift: Petrarca poëta et Laura. Ein Teil des Bildes schiene ihm übermalt, man müßte vielleicht an einer unauffälligen Stelle abdecken lassen, um sich zu vergewissern. Das andere sei ein einwandfreier Tiepolo. – Er habe sich den Kauf zunächst nur vorbehalten. Boris vernahm es seltsamer Weise mit einer sichtlichen Erleichterung.

Da Bromberger noch einen Besuch in Genf machen wollte, ließ er uns bald allein. Wir gingen in den Park, trafen dort das Ehepaar wieder, und gerieten bald in freundliche Unterhaltung. Ich erzählte einiges vom bayerischen Landleben, vielleicht mit besonderer Wärme; denn ich hatte in der letzten Zeit oft bitteres Heimweh, ich wußte nicht recht, warum gerade jetzt. Sie hörten mir mit Teilnahme zu, sprachen dann von eigenen früheren Zeiten, von Menschen und Landschaften; in allem sehr vertrauensvoll. Wahrscheinlich hatte mich Boris ihnen empfohlen. Die Feinsinnigkeit der Frau ergriff mich eigentümlich, ebenso ihr Ernst. An ihrem Gatten fiel mir wieder die gewisse weihevolle Haltung auf, und auch die zärtliche Rührung, mit der er ihre gemeinsamen Erinnerungen streifte. Einmal glaubte ich in den Augen der Frau aufkeimende Tränen zu sehen. – Wir schieden als Freunde. Sie baten mich, sie womöglich mit Bromberger, der wegen der Bilder wiederkommen wollte, auch wieder zu besuchen. Das versprach ich gerne.

17. Juli 1914

Bromberger sagte mir soeben, nach seinen Informationen sei die Lage schlecht, ja gefährlich. Aber er »hoffe noch verzweifelt auf Frieden«.

Früher schimpfte er oft über Berlin. – Heute aber glaubte er zu wissen, daß der Kaiser sich ehrlich um die Erhaltung des Friedens bemühe. Ein Hamburger Herr, der es wissen müsse, habe es ihm geschrieben.

Bromberger wunderte sich, daß ich selbst gar keine Nachrichten aus Deutschland habe.

Ich habe keine. – Statt dessen habe ich Heimweh. O mein Land, mein Bayernland. Mein Dorf, mein Dorf am Wald! –

 

26. Juli 1914

Ich erhielt einen Brief des Herrn P., und einen ebensolchen von Boris. Mit entgegengesetztem Inhalt: P. schrieb, ich solle doch das Meinige tun – er würde mir Dank wissen –, Bromberger zu seinem versprochenen Besuch zu veranlassen. Boris schreibt: »Im Vertrauen, Brombergers Besuch ist Frau P. vielleicht nicht so erwünscht, wie Herrn P. – Dies zu Ihrer vorläufigen Orientierung!« –

Aber Bromberger kam ohnehin, um mir zu sagen, daß er nach Genf fahren wollte. Ich sollte unbedingt mitreisen. Es sei möglich, daß er in Genf jemand aus Frankreich treffe, den er über die Lage befragen wolle.

28. Juli 1914, abends

Wir besuchten zuerst Boris und fanden ihn gesammelt und gelassen wie immer, aber voll Trauer. Es kostete ihm einige Überwindung, aus seiner Versunkenheit herauszutreten. Bromberger hatte er nicht erwartet zu sehen. – »Es steht nicht gut«, sagte er, »Österreich kann zwar den Krieg allein nicht führen, weil es nicht mit Serbien allein zu tun haben wird, aber Deutschland kann den Krieg allein nicht verhindern.« –

»Und England?« fragte Bromberger. – »Ob gerade England in Petersburg noch etwas ändern kann – wenn es überhaupt will –, weiß ich nicht. Sie kennen ja England – sagt mir Frau P.« – »Mit anderen Worten: der Zar will den Krieg?«, fragte Bromberger wütend. – »Der Zar? Das glaube ich nicht. Nicht von sich aus. Die Zarin gewiß noch weniger. Aber andere Leute – zum Teil kenne ich sie. übrigens hängt es von Gott ab, Herr Bromberger. Wenn er zuläßt, daß diese Leute ihren Willen durchsetzen, so wird es geschehen.« – »Das ist Ihr russischer Fatalismus« – rief Bromberger, »mir scheint, daß eher der Teufel seine Hand im Spiel hat!« – »Fatalismus?« sagte Boris, – »glauben Sie denn, daß der Teufel etwas vermag, wenn Gott es nicht zuläßt? ... Daß der Teufel nichts Gutes will, wissen wir zur Genüge. Er würde am liebsten unausgesetzt Krieg anstiften, er versucht es ja auch immerzu. Hingegen, was Gott zuläßt, das geschieht – es geschieht unweigerlich. Oder zweifeln Sie daran?« – »Nicht im geringsten, entschuldigen Sie nur! Gott kann den Krieg zulassen, aber Gott will den Frieden. Und ich auch!« – »Dann sind Sie mit Gott einig, für Ihren Teil, und werden wohl auch darnach leben. Aber was, darüber hinaus, nicht in Ihrer Macht liegt, das abzuwenden oder zuzulassen, steht bei Gott. Und darein müssen wir uns ergeben.« – »In den Krieg ergebe ich mich aber nicht!« – »Soweit es an Ihnen liegt und auf Sie ankommt«, – sagte Boris etwas ungeduldig, »insoweit brauchen und sollen Sie es ja nicht! Ich tue es auch nicht. Aber keiner von uns ist das Zentrum des Weltalls. Das ist nun doch schon ein anderer, – in dem Gott das All zusammengefaßt hat, Himmel und Erde, lieber Herr Bromberger! Und durch ihn hat Gott der Welt den Frieden angeboten, wie wir wissen. An diesem Frieden hat jeder Anteil, der ›guten Willens‹ ist. Alles übrige aber steht bei Gott, dem Unerforschlichen.« –

Boris wußte noch nicht, daß Bromberger nicht Christ war ... es sei denn etwa, seinem jetzigen ›guten Willen‹ nach. Aber es war notwendig, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Darauf besann ich mich gerade, als Boris selbst schon fragte: »Werden Sie übrigens heute die zwei Bilder kaufen, Herr Bromberger?« – »Das hängt noch von den Verhandlungen ab. Es ist Zeit, daß ich zu P.'s gehe.« – »Gut, aber überstürzen Sie den Kauf nicht!« – sagte Boris, ohne indes näher zu erklären, was er dabei dachte. – »Bitte, sagen Sie den P.'s, ich würde sie nachher begrüßen – «, rief ich Bromberger nach.

»Ich habe Ihnen geschrieben wegen der Bilder«, – sagte Boris, als wir allein waren. Ich setzte ihm auseinander, daß ich seinen Wink nicht hatte befolgen können, weil Bromberger ohnehin nach Genf reisen wollte.

»Wie es nun schon einmal sein soll – –«, erwiderte er. »Ich werde Ihnen das in einer späteren Zeit noch erklären. Jetzt wäre es indiskret. Übrigens hoffe ich, daß die P.'s Sie ohnehin ins Vertrauen ziehen. Er ist ja ein Deutscher ... Sagen Sie, hat Deutschland eigentlich auch schon mobilisiert? Wissen Sie nichts?« –

»Deutschland hat noch nicht mobilisiert, noch nicht angefangen. Das hätte man sonst schon gehört. Unser Hotel hat sich fast geleert. Aber die Deutschen sind dageblieben. Darunter auch aktive Offiziere im Urlaub.« –

»Und Sie selbst? Sind Sie im dauernden Ruhestand? Wegen Ihres Herzleidens?« –

»Ich gehöre nicht mehr zur Armee« –, antwortete ich ausweichend. Er blickte mich nachdenklich an, aber fragte nicht weiter. »Gehen wir in den Park, vielleicht treffen wir die Kinder!« – sagte er nach einer Weile seufzend und stand müde auf ... »Ich habe schlecht geschlafen in diesen letzten Tagen«, fügte er hinzu.

Die Kinder spielten im Park. Der Knabe trug einen Papierhelm, eigentlich nur eine aufgestülpte Düte, auf seinem Rothaar. Ethel sollte ihm gehorchen, aber sie wollte nicht. Als sie unser ansichtig wurden, eilten sie herbei und gaben uns die Hand.

»Bist du ein Deutscher?« – fragte der Knabe mit seiner singenden Altstimme.

»Ja, freilich.« –

»Gehst du auch in den Krieg?« –

»Es ist ja nicht Krieg.« –

»Wenn aber Krieg kommt, gehst du?« –

»Ich bin nicht gesund.« –

»Aber du gehst doch herum! Warum bist du nicht im Bett?« –

»Es gibt auch Kranke, die müssen spazierengehen« –, belehrte ihn Ethel.

»Warum gehst du nicht in Deutschland spazieren?« –

»Der Herr hat seinen Arzt hier, in der Schweiz« –, sagte Boris.

»Mußt du was einnehmen? Ist es bitter?« fragte der Junge.

»Ja, sehr bitter ist das, was ich einnehmen muß, William – – –«

Er sah mich bestürzt an. Ich hatte ihn erschreckt. – Aber dann faßte er sich. »Ich heiße jetzt nicht mehr William. Nur noch Wilhelm und Willy.« –

»Warum?« –

»England ist nicht mit uns.« –

»Aber wie soll deine Großmutter in England zu dir sagen?« – fragte ihn Boris. »Und wie ist es mit Ethel?«

»Mama sagt, wir fahren jetzt nicht nach England. Ethel heißt nur Ethel. Ich hab sie gefangen. Sie muß mir folgen.« –

»Ich folg aber nicht!« – sagte Ethel entschieden.

Wir entließen die Kinder, sie begannen wieder zu spielen. Wir hielten uns im Schatten und gingen auf und ab. Es war ein heißer Nachmittag, die Luft flimmerte, und soweit der Blick reichte, füllte die Sonne alles aus: den bewaldeten, bläulich angehauchten Salève, die savoyischen Berge im blendenden Schimmer des ewigen Schnees, die weißen Häuser im hingebreiteten Land. Und die Sonne lag auf den Grasflächen um uns, auf den Kieswegen, und widerstrahlte von den weißen Mauern des stillen, alten Landsitzes, auf den sich, im Umhergehen, von Zeit zu Zeit unsere Blicke richteten. Es war ein Bild unendlichen, sonnenträchtigen, lichtüberströmten Friedens. In die Stille drangen zuweilen die heiteren Rufe der spielenden Kinder; aber der Schall der Kinderstimmen durchbrach nicht den sommerlichen Frieden, sondern belebte ihn nur.

»Und doch«, sagte Boris plötzlich –, »und doch ist das, was dort im Haus jetzt verhandelt wird, eine Kriegsvorbereitung.« Ich blieb stehen und blickte ihn fragend an. »Vielleicht werden Sie nachher alles selbst hören«, setzte er hinzu.

*

Es wurde uns auch im Schatten zu heiß, und wir kehrten in das Häuschen zurück, wo die Läden geschlossen und die Zimmer kühl waren. Endlich erschien Bromberger wieder. »Nun?« – fragte Boris.

»Ich habe gekauft«, antwortete er, »aber gegen englische Papiere. Solide Papiere natürlich. Ich will sie abstoßen, und P.'s glauben, sich damit arrangieren zu können. Sie wollen ihren Verwandten telegraphieren, um sich darüber klar zu werden. Wenn sie die Antwort befriedigt, ist der Kauf abgeschlossen. – Deshalb haben unsere Verhandlungen so lange gedauert. Ich muß schleunig fort, sonst verpasse ich meinen französischen Bekannten. P.'s lassen Sie und Amwald zum Tee bitten, im Freien, hinter dem Haus. Es sei dort jetzt kühl genug.« – Er ging.

*

Wir traten heraus aus den verdunkelten Räumen, und die unendliche Lichtflut blendete uns schier. Wir begegneten den Kindern auf ein Neues, sie standen am Weg und schauten zur Sonne empor. »Onkel Boris«, rief der Junge, »kannst du in die Sonne schauen?« – »Früher habe ich es gekonnt, Willy. Aber dann mußte ich einmal zu lange im Dunkel sitzen, da habe ich es verlernt.« – »Ich kann's – ich kann es schon so gut wie der König der Inka.« Und er wandte sich zu mir: »Kennst du die Geschichte vom letzten König der Inka?« – »Ja, natürlich, Willy.« – »Und vom Schatz der Inka, und alles das?« – »Ja, sehr gut.« – »Aber du kannst nicht in die Sonne schauen, weil du krank bist?« – »Ich habe es auch schon getan. Aber später hat es mich geblendet.« – »Warst du dann blind?« – »Beinahe, Willy.« – »Und jetzt siehst du wieder?« – »Ich fange wieder an, Willy.« – – Wir gingen weiter.

Es war schon gedeckt, im Schatten hinter dem Haus. Herr und Frau P. warteten schon auf uns. P. kam uns entgegen.

»Haben Sie Nachrichten aus Deutschland?« fragte mich die junge Frau.

»Nur die in den Zeitungen.« –

»Und sonst noch nichts?« –

»Ich erwarte eigentlich nichts.« –

»Nichts? – Rechnen Sie nicht, daß Sie abreisen müssen?« -

»Nein. Ich werde nicht abreisen.« –

»Sie werden nicht? – Sonderbar. – Und Sie, Herr von M., bleiben auf jeden Fall hier.« –

»Auf jeden Fall« –, sagte Boris, »ich werde übrigens nicht gerufen werden.« –

Sie wandte sich an ihren Mann. »Nun sieh doch! Diese zwei Herren, die Soldaten gewesen sind, und keine Familie haben, warten ruhig. Du aber willst gehen, der du nie Soldat warst, und eine Familie hast.« –

»Wie? Herr P., Sie wollen nach Deutschland gehen? Was haben Sie dort vor? – wenn ich fragen darf?« –

»Wenn es zum Krieg kommt, werde ich mich freiwillig melden.« –

Wir schwiegen.

Dann fragte mich P.: »Sie sind ein Deutscher, und können das nicht verstehen?« –

»Wer sagt Ihnen, daß ich es nicht verstehe? Wenn ich gesund wäre ... und alles gut ... so säße ich vielleicht jetzt schon nicht mehr hier!« –

»Aber Sie stehen allein auf der Welt!« sagte die junge Frau zu mir.

»Ich habe dir erklärt, meine Liebe, wie ich zu meinem Entschluß gekommen bin, und du weißt es!« –

»Nun, Herr Amwald ist ein Landsmann von dir. Erkläre es ihm – ich möchte hören, was ein anderer Deutscher dazu sagt. Oder willst du nicht gern davon sprechen?« –

»Sehr gern sogar. Aber bedürfen Sie überhaupt einer solchen Erklärung?« –

»Bedürfen? – nein. Es ist Ihre Entscheidung. Ich würde, wenn ich könnte, schon vor Ihnen ebenso handeln. Allerdings war ich Soldat von Beruf, das ist ja schließlich ein anderer Fall.« –

»Das halte ich eben, wenn Sie gestatten, für eine falsche Auffassung. Wer verteidigt denn unser Land, wenn es zum Kriege kommt?« –

»Die Armee«, – sagte ich.

»Wer bildet die Armee?« –

»Die Soldaten.« –

»Allerdings. Aber woher kommen die Soldaten?« –

»Aus dem Volk natürlich.« –

»Und das Volk besteht nicht nur aus den Berufssoldaten, nicht wahr? Ich gehe nach Deutschland, und melde mich freiwillig, weil ich jetzt zu meinem Volk gehören will.« –

»Und bisher?« – fragte Boris.

»Bisher habe ich gelebt, als wäre ich allein auf der Welt. Ich bin zwar nicht der einzige Deutsche, der so gelebt hat. Wir deutsche Gebildete, sogenannte Gebildete, haben leider zu einem guten Teil ganz entfernt vom deutschen Volk gelebt, fast wie eine eigene Klasse. Bevor die Arbeiter ihren Klassenkampf begonnen haben, gab es schon eine Schicht, die sich, allerdings kampflos, als besondere Klasse herausgebildet hat: nämlich uns Gebildete! Wenigstens ein großer Teil von uns. Und ich habe dazu gehört. Ich habe sozusagen nur privat gelebt. Sogar meine Stelle, als angehender Universitätslehrer, habe ich aufgegeben ...« –

»Das war meine Schuld«, – sagte die junge Frau mit großem Ernst.

»Meine Liebe, quäle dich nicht jetzt mit dieser Selbstbeschuldigung! Sie trifft nicht zu. Wenn hier von Schuld die Rede sein könnte, läge sie ganz bei mir. Und sie liegt bei mir. Wir Gebildete – wenigstens ich, und mancher andere – haben in Deutschland nur einer einzigen Idee gefolgt: der Idee der Persönlichkeit. Ausschließlich dieser einen Idee. Wenn wir schon die Persönlichkeit geistig aufgefaßt haben, im Sinne ihrer geistigen Ausbildung ... aber so ausschließlich, so exklusiv, daß wir das Volk gesprengt haben – in zwei Teile: Gebildete und Ungebildete. Und das war schon vor der Arbeiterbewegung ...« –

»Vielleicht hat Ihr Goethe ein wenig daran Schuld? Er ist doch Ihr Persönlichkeitsideal« – warf Boris ein.

»Nein, Herr von M. –, Goethe hat immer sozial gelebt. Er war zehn Jahre lang Beamter, und hat sich um Straßenbau und um alles Mögliche gekümmert, in seiner Ministerzeit, obwohl er der größte deutsche Dichter war. Wo fänden Sie heute einen deutschen Dichter, der diese trockene Arbeit nicht gewissermaßen für Zeitverlust, für eine Sünde an seinem Genius, an seiner geistigen Persönlichkeit hielte! Nein, Goethe ist unschuldig. Die Übersteigerung des Persönlichkeitsideals ist erst später gekommen ... und der Persönlichkeits kultus – wie ich und manche andere ihn getrieben haben – überhaupt erst in unserer Zeit.«

»Es scheint, daß viele deutsche Gebildete keine Religion mehr haben. Die Religion scheint man dort dem ungebildeten Volk überlassen zu haben. Vielleicht ist das die erste Ursache?« – fragte Boris.

»Es ist die höchste und umfassendste Ursache. Aber wir haben uns auch im intellektuellen Leben vom Volk abgetrennt, und im sozialen. Wir haben die Bluts- und Schicksalsgemeinschaft verlassen, wir sind ausgebrochen aus unserem Volk, das doch ein lebendiger Gottesgedanke ist ... wie alle Völker, die Zweige aus dem gottgepflanzten Lebensbaum Adam – ein lebendiger Gottesgedanke, in den wir hineingedacht waren, wir, als Geist in das Blut! Aber unser Geist hat sich losgelöst aus der Blutsgemeinschaft ... und so kommt es, daß unser Ideal der geistigen Persönlichkeit, die wir doch so reich machen wollten, immer blutleerer geworden ist ...«

»Wie denken Sie darüber?« unterbrach ihn die junge Frau und wandte sich an mich.

»Ich bin ein unwissender Mensch. Ich bin durch eine andere Ursache aus der Bahn geschleudert worden ... aber ebendeshalb ahne ich ungefähr, was Ihr Gemahl meint.« –

»Ich gehe hinaus nach Deutschland«, fuhr ihr Mann fort, »weil jetzt die Stunde gekommen ist, wo ich mich einfügen will in mein Volk, wo ich aufgehen will in meinem Volk – in der höheren Idee seiner Gemeinschaft.« –

»Das Kind Gottes ist die höchste aller Ideen«, sagte Boris langsam, »das Kind Gottes im Reiche Gottes, geboren aus dem neuen Lebensbaum, Jesus Christus, dem neuen Adam, dem Gottmenschen, unserem Herrn.«

Wir schwiegen alle.

Aber nach einer Weile fuhr P. fort:

»Das Kind Gottes muß auch seine natürlichen Pflichten erfüllen, die Pflichten gegen die natürlichen Lebensgemeinschaften, besonders wenn diese in Gefahr sind. Steht nicht auch geschrieben: ›Mehr kann niemand, als daß er sein Leben hingibt für seine Freunde.‹ Darum gehe ich nach Deutschland, wenn es zum Kriege kommt.« –

Da sagte seine Gattin, indem ihr die Tränen kamen:

»Ich hatte geglaubt, daß die Familie auch eine Gottesidee ist! Und auch eine natürliche Lebensgemeinschaft – in der das Kind Gottes seine Pflichten erfüllen muß. Zuerst, so sagst du wenigstens, habest du dein Volk verlassen. Jetzt kehrst du zu ihm zurück, indem du deine Familie verläßt. Ja, in Wahrheit hast du sie schon verlassen. Und darum halte ich dich nicht. Du würdest dich nicht halten lassen. Aber wozu sollte ich dich auch halten wollen, nachdem du mich im Geiste schon verlassen hast! Es ist schon vorüber. Nur der Vollzug dauert an.« –

»Die Familie kann nicht bestehen, wenn die größere Gemeinschaft, innerhalb derer die Familien ihren Bestand haben, vernichtet wird. Deshalb muß man in Kriegsgefahr diese größere Gemeinschaft, sein Volk, sein Land, verteidigen helfen.« –

»Du hättest ja warten können, bis du gerufen wirst. Außerdem hat Gott nun einmal zugelassen, daß wir nicht in deinem Volk, in deinem Land leben. Wir haben unsere Familie hier auferbaut, hier sind wir glücklich gewesen, mit unseren Kindern. Aber ich halte dich ja nicht. Es ist alles vorüber.« –

»Die Kinder müssen doch wissen, meine Liebe, daß sie ein Vaterland haben und zu einem Volk gehören. Nichts ist vorüber. Vielmehr vollendet sich jetzt erst alles – auch unsere Familie selbst. Indem ich gehe, erlebt mein Sohn, daß er einen ganzen Vater hat, der seine Familie verteidigt und sein Volk.«

»Und was erlebe ich? – Aber laß uns von etwas anderem reden! ... Laß uns nicht unsere Gäste vergessen – nehmen Sie noch Tee, Herr Amwald?«

 

Als wir uns verabschiedet hatten, sagte Boris: »Jetzt brauche ich nicht mehr zu verschweigen, was es mit den Bildern auf sich hat. Herr P. opfert sie jetzt, weil er seine Familie unter allen Umständen gesichert wissen will. Wäre der Verkauf jetzt mißlungen, so hätte P. noch länger hier bleiben müssen.« –

*

Ich hatte mich mit Bromberger zu gemeinsamer Rückfahrt an den Bahnhof bestellt.

»Keine guten Nachrichten aus Frankreich!« rief er verdrossen aus. »Das Volk selbst will den Frieden, sagt mein Freund. Aber die Regierung hüllt sich in Schweigen. Und in der Armee erhalten die Soldaten derzeit keinen Urlaub mehr. Es steht nicht gut.« –

*

4. August 1914

Krieg!

Ende November 1914

Am 4. August war P. nach Deutschland abgereist, ich hatte ihn auf seiner Durchreise am Lausanner Bahnhof begrüßt.

An diesem gleichen Tage noch schrieb ich meine Immediat-Eingabe an den König; die Abschrift sei denn auch hier verwahrt: –

»Ew. Majestät!
Allergnädigster König und Herr!

Wenn ich, in diesen schicksalsschweren Tagen, es wage, Ew. Majestät Menschlichkeit für mich anzurufen, so geschieht dies in der Meinung, daß, wenn die ganze Volksfamilie in Not und Gefahr ist, es auch ihren unglücklichen und ausgestoßenen Kindern nicht ganz verwehrt sein kann, an irgend einem, wenn auch noch so bescheidenen Platze mit ihrem wertlos gewordenen, immerhin aber in der Barmherzigkeit Gottes noch inbegriffenen Leben ein letztes und sühnendes Zeugnis abzulegen für die unzerreißbare, weil mitgeborene Blutsgemeinschaft mit eben diesem ihrem Volke.

Wohl habe ich gegen göttliche und menschliche Gesetze gefehlt, und ich bin weit entfernt, diese Verfehlungen jetzt vor Ew. Majestät beschönigen zu wollen. Über sie wird vielmehr der Überbringer dieser Eingabe in aller geziemenden Offenheit berichten – soferne nicht ohnehin das Wesentliche hievon Ew. Majestät bekannt ist. An dieser Stelle darf ich mich daher einer näheren Darlegung enthalten.

Was mich zu der Bitte ermutigt, die ich hier unterbreiten möchte, ist – außer der Not der Zeit, einer Not, angesichts derer untätig bleiben zu müssen, meine schon erlittene Strafe nachträglich zur moralischen Todesstrafe steigern würde – eine besondere Tatsache, die ich aus den Zeitungen erfahren habe: ich meine den Gnadenerlaß, den Ew. Majestät, laut jenen Zeitungen, zugunsten unglücklicher Arbeiter vorbereiten, die im Verfolg ihrer Standeskämpfe gegen die Gesetze verstoßen haben, derzeit noch Strafen abbüßen, aber nunmehr aus ihrer Haft befreit werden sollen, damit auch sie die Möglichkeit haben, in die Reihen der Verteidiger des Landes einzutreten. Wenn ich auch weiß, daß meine Verfehlungen viel schwererer Natur sind, so gleiche ich doch jenen Proletariern bezüglich meines jetzigen Schicksals, das eine erzwungene Vaterlandslosigkeit ist. Wenn Ew. Majestät jene Menschen dem Vaterland, oder vielmehr das mitgeerbte Vaterland jenen Menschen zurückschenken wollen, so bitte ich Ew. Majestät vielleicht nicht vergebens, bezüglich meiner hochgeneigtest ein Gleiches zu tun; nämlich mir gestatten zu wollen, daß ich als gemeiner Soldat – da ich meinen Rang als Ew. Majestät Offizier verwirkt habe – in die Armee eintrete. Ich stehe allein auf der Welt, und wenn ich als Soldat an die Stelle eines Familienvaters treten darf, so geben Ew. Majestät meinem Leben Sinn und Wert wieder, und dazu die Möglichkeit einer ehrenvollen Sühne für meine Verfehlungen.

Indem ich mich der Hoffnung hingebe, Ew. Majestät meinen Dank mit meinem Leben selbst abstatten zu können, verharre ich,

allergnädigster König und Herr,
als Ihr treugehorsamster
P. A. Amwald.«

 

Die Immediateingabe sandte ich an den lieben Freiherrn von L. ab, der jetzt Gatte (seiner ersten Liebe, der Gräfin O.) und auch schon Vater ist. – Nein. Gewesen ist. Gefallen bei Wytschaete. † 29. Oktober. Liebe und Treue seinem Andenken! Er hatte mir, nach seinem Mißerfolge in Lausanne, manchmal geschrieben.

Ich sandte die Eingabe ab, obwohl sich während des Schreibens selbst meine erbärmliche Gesundheit mit zum Wort meldete: ich schrieb mit klopfendem Herzen und mit zitternden Händen. Es ging mir so schlecht, daß ich, während ich die Eingabe noch in der Tasche trug, meinen Arzt aufsuchte. Ich fragte ihn: »Werde ich den Militärdienst aushalten können, wenigstens eine gewisse Zeit ...?« – Er untersuchte mich genauer als je, und antwortete dann:

»Darf ich Ihnen die volle Wahrheit sagen?« –

»Wenn irgendwann, so vertrage ich sie jetzt. Wie steht's?« –

»Wer lange herzkrank ist, wird natürlich alt dabei. Aber wenn Sie jetzt in Militärdienst gingen, würden Sie nicht mehr allzulange krank sein ... Wenn Sie hierbleiben und sich schonen, können Sie bei stillem Leben ein gewisses Alter bestimmt erreichen.« –

»Das genügt mir.« –

»Ja, und?« –

»Ich werde gehen.« –

»Als Arzt verbiete ich es Ihnen, pflichtgemäß. Aber ich kann Sie nicht hindern, zu gehen.« –

»Leben Sie wohl! Vielen Dank!« –

 

Und ich schickte die Eingabe an L. ab, mit der Bitte, sich eine Audienz in meiner Sache zu verschaffen.

*

Das Ergebnis war, daß ich als Offiziersstellvertreter, unter Vorbehalt der Regelung meines Ranges beim Ausrücken ins Feld, dem in Bildung begriffenen ... Reserve-Infanterieregiment, zugehörig der künftigen ... Reservedivision, zugeteilt wurde. Das Regiment wurde in München gebildet und bestand aus Ersatzreservisten und Kriegsfreiwilligen. Ich war dem Regiment vorläufig nur zur Verwendung zugeteilt, als Abrichter. Das Weitere sollte frühestens zu dem Zeitpunkte, wo dieses Regiment kriegsfertig und marschbereit war, über mich verfügt werden. Glücklicherweise standen, den Major meines Bataillons und den Obersten des Regiments ausgenommen, nur Reserveoffiziere beim Regiment, von denen ich niemanden kannte. Der Oberst, ein milder und gütiger Mann, war vertraulich über meinen Fall unterrichtet worden. Aber er empfing mich durchaus herzlich, unterließ jede Anspielung, und vereinbarte mit mir, was er dem Major und dann auch den anderen Offizieren über meine militärische Vergangenheit – unter Weglassung alles für mich Peinlichen – sagen würde: daß ich lange krank gewesen sei, mich aber freiwillig zur Verfügung gestellt hätte. Als Abrichter. Ich sei vom Ausland gekommen, wo ich viele Jahre, meiner Gesundheit wegen, verbracht hätte. – So war denn nach dieser Seite alles erträglich geordnet.

L. stand übrigens beim Divisionsstab der gleichen Reservedivision, und er verdankte dieses Kommando vor allem seinen Sprachkenntnissen. Ich freute mich für ihn, für seine junge Frau, sein Kind, und für seine Mutter. Man konnte hoffen, daß er beim Divisionsstab persönlich nicht in übergroßer Gefahr sein würde. (Eine trügerische Hoffnung: er fiel bei einer Befehlsüberbringung. – Auch sonst hat sich dieser Divisionsstab nicht geschont.)

*

Ein edler Geist, guter Wille, und die Bereitschaft, sich einzuordnen, mußte in den neuen Regimentern zunächst die fehlende soldatische Erziehung ersetzen. Die Menschen, mit denen man es zu tun hatte, teils Bauern, in weitaus überwiegender Zahl aber Stadtmenschen, viele Arbeiter, Handwerker, Kaufleute und besonders Intellektuelle, waren ein Herz und eine Seele. Eine solche innere Einheit hatte ich im Friedensdienst immer erst im zweiten und dritten Dienstjahr der Mannschaften erlebt, als das Ergebnis der Arbeit, die an ihnen geleistet wurde, und die sie selbst an sich geleistet hatten, und als die Folge eines allmählichen Zusammenwachsens. Hier aber, unter diesen Freiwilligen und Ersatzreservisten, bestand Einheit vom ersten Tage an. Daß sie sich mehr als einiges Wehr volk fühlten, denn als soldatische Truppeneinheit, lag in der Natur der Sache, konnte nicht anders sein, und minderte die Bewunderung nicht, die soviel und so plötzlich aus dem Innersten des Volkes aufgebrochene Opferbereitschaft verdiente. Die elementare Kraft dieses inneren Aufbruches überwältigte mich – auch dort, wo ich sie mit einem gewissen, eigenartigen Trotz gemischt sah. Ich sage: Trotz. Es war aber nicht ein Trotz der persönlichen Widerspenstigkeit. Manche dieser Menschen hatten eine Haltung, als wollten sie sagen: Wir tun dies, wir tun das unsere, so gut wir können. Im Übrigen aber seht ihr zu! – Ich ahnte mehr, was sie sagen wollten, als daß ich es verstand. Aber soviel weiß ich: dieses Volk, dieses Wehrvolk lädt jedem Leitenden, ob an niedrigerer oder höherer Stelle, eine ungeheure Verpflichtung auf. Es wartet ruhig auf deren Einlösung. Aber es wartet darauf. –

*

Leider habe ich zu spät erfahren, daß P. (aus Genf) zum gleichen Regiment gehörte, allerdings zu einem anderen Bataillon. –

*

In der Ausrüstung fehlte es noch an allem und jedem. Unsere Leute bildeten, wenn sie zum Exerzieren ausrückten und die Straßen der Stadt durchzogen, einen Anblick, der in Friedenszeiten vielleicht lächerlich gewesen wäre. Jetzt aber erhöhte er nur die Solidarität des Volkes mit »seinen« Leuten. Die Notdurft des äußeren Aufzuges nahmen die Bürger, je nachdem, gerührt oder fröhlich hin. Es war eben Volkswehr und Wehrvolk. Es war Volk. Und man lief herbei, um ihm zuzustecken, was man eben hatte. –

*

Dieses habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen und solange ich lebe, werde ich es nicht vergessen:

Ich marschierte mit unserer seltsamen Truppe gegen Mittag heim, vom Oberwiesenfeld her. Die Leute waren seit vier Uhr morgens unterwegs gewesen, willig bis zuletzt, aber jetzt waren sie ehrlich müde und vor allem hungrig. Man sah es ihnen an. Auch mit Singen war es nichts mehr. Wir trotteten so dahin – in Friedenszeiten hätte es uns für immer unmöglich gemacht. Immerhin befanden wir uns noch in den äußersten Straßen der Vorstadt. Weiter im Stadtinnern würden sich die Leute nochmals zusammenraffen ...

Da stand, am Randstein des Bürgersteigs, eine arme und schon alte Frau mit einem Handkarren, auf dem sie Zwetschgen zum Straßenverkauf liegen hatte. Etwas Zeitungspapier zum Einwickeln und eine primitive Handwage vervollständigten die Handelsausrüstung. Sie guckte aus ihren altersschwachen Augen auf unsere Leute. Es kamen ihr die Tränen, vielleicht gedachte sie eines Enkels im Felde.

»Die Zwetschgen wären gut!« – rief ihr ein Mann zu.

»Meinst du« – gab sie zur Antwort, griff in die Zwetschgen und reichte ihm schnell eine Handvoll.

Als sie aber die hungrigen Augen einiger anderer von unseren Leuten sah, griff sie wieder in die Zwetschgen, gab dem nächsten, dem übernächsten – und schließlich jedem, der eben die Hand noch schnell hinstreckte.

Ich blickte mich um, und gewahrte, daß, als die letzten Glieder des Zuges an ihr vorüberkamen, sie auch all ihre Habe verschenkt hatte. Sie stand da, mit ihrem leeren Handwagen, und sah uns nach ...

*

Es ist ja viel geschenkt worden in dieser ersten Zeit, sehr viel. Von Reichen, Wohlhabenden, und auch von Ärmeren.

Diese aber hatte alles geschenkt, was sie hatte, ihren ganzen Lebensunterhalt ...

*

In diesem Augenblick war ich so von Grund auf erschüttert, daß ich nach Atem ringen mußte, eine solche Gewalt kostete es mich, nicht laut aufzuweinen, auf offener Straße. »Mir ist nicht gut«, sagte ich rasch dem Unteroffizier, »ich muß sogleich gehen.« –

Ich verließ unseren Zug, und kehrte zu der armen Alten zurück, die gerade ihren Handkarren in Bewegung setzte. Ich blieb vor ihr stehen. Sie erschrak. »Ich wollte Ihnen nur auch danken« – stammelte ich ... »weil Sie alles gegeben haben.« Da lächelte sie, und schob ihren Karren weiter. Ich sah ihren altersgebeugten Rücken, ihre armselige Kleidung, ihre magere, runzlige Hand am Griffe des Karrens.

 

In diesem Augenblick brach es auf in mir. Und es sprengte den Eisengürtel, in den all meine stumme Qual gepreßt war. Und sie strömte aus. Denn jetzt war die Zeit erfüllt, die mir gesetzt war. Und ich wußte es. Ich wußte es, und ich dachte in meinem Herzen: Siehe, in der Gestalt eines armen alten Weibes hast Du, Barmherziger Du, Deinen Engel zu mir gesandt, daß er die Fesseln von meinem Herzen löse ... Jetzt ist der Augenblick! ... Die Lähmung weicht, Herz und Zunge hast Du mir gelöst ... Jetzt werde ich hingehen und bekennen ... Jetzt ist meine Zeit!

 

Ich weiß nicht mehr, wie ich in mein Zimmer heimgefunden habe.

Aber ich kam zuhause an, in meinem Zimmer, mit der Heiligen Schrift in der Hand, die ich wohl unterwegs erstanden hatte. Und ich schlug die Stelle auf, die ich suchte, Markus 35.-44. Vers, im zwölften Kapitel:

»Jesus setzte sich gegenüber vom Schatzkasten und sah zu, wie das Volk Geld in den Schatzkasten warf. Viele Reiche warfen viel hinein. Da kam eine einzige arme Witwe und warf zwei Lepta, das ist ein Quadrans, hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: ›Wahrlich, ich sage euch, diese arme Witwe hat mehr hineingeworfen als alle, die in den Schatzkasten warfen. Denn alle haben aus dem, was sie übrig hatten, hineingeworfen. Diese aber hat aus ihrem Mangel heraus alles, was sie hatte, hineingeworfen, ihren ganzen Lebensunterhalt.‹«

*

An diesem Tage begann ich, mein Gewissen zu erforschen und mich zu meiner Beichte vorzubereiten. Ich wußte, daß ich nunmehr die Kraft besaß, zu bekennen. Nicht aus mir besaß ich sie. Denn diese Kraft, ich weiß es nunmehr, ist eine göttliche Gnade, die Kraft seiner Barmherzigkeit, und nicht Menschenkraft.

In der Gestalt eines armen alten Weibes hatte der Herr seinen Engel zu mir gesandt.

 

Als ich in Bayern angekommen war, hätte ich mich gern, wenigstens brieflich, bei meinen Verwandten angemeldet. Aber ich tat es dann doch nicht. Nicht einmal meinem Bruder schrieb ich; nach dem Ausmarsch ins Feld erst wollte ich es tun. So erhielt ich auf dem Umweg über Lausanne die Nachricht von dem ersten Opfer, das in unserer Verwandtschaft dem Krieg gebracht worden war. Meine schwäbische Base Anna, Gräfin S., bei der seinerzeit Tante Maria gestorben war, schrieb es mir selbst; sie hat es ja erleiden müssen.

In dieser unserer schwäbischen Verwandtschaft hat ja immer ein besonderer Ernst geherrscht, eine schwermütige und versonnene Frömmigkeit, eigenbrödlerischer Art. – In ihrer Gegend bilden die Katholiken eine kleine Minderheit, sind zwar in ihrem religiösen Leben unbehelligt, aber gelten sonderbarer Weise als weltlich gesinnt, gleichsam als noch mit etwas Heidentum belastet, und zugleich als unaufrichtig und schlau. Auch Tante Maria, so lieb man sie hatte, wurde von unseren Verwandten dort noch nicht als vollchristlich betrachtet, und obwohl sie sich in ihrer unzerstörbaren, inneren Heiterkeit mitsonnten, neigte man dazu, ebendarin noch einen Zug von Weltlichkeit an ihr zu sehen. Tante Maria hat mir früher oft von dem Kleinkrieg erzählt, den sie in ihrer flinken Weise mit den langsamen und bedächtigen Verwandten führte, deren tieffrommen Sinn sie übrigens nie bestritt.

Gräfin Anna S., mit dreiundzwanzig Jahren Witwe geworden, hat, zusammen mit ihrem leiblichen Kind, der kleinen Gertrud, noch den ihr weitschichtig verwandten Hans S. miterzogen, der seine Eltern an einem einzigen Tage durch Unglücksfall verloren hat (sie sind mit ihrem Segelboot auf dem Bodensee gekentert und ertrunken). – Schon nach Gertruds Konfirmation hieß es, sie habe erklärt, daß sie nie einen anderen Mann heiraten würde als eben diesen ihren Vetter Hans, der damals sein Gymnasium machte. Nachher studierte er Landwirtschaft in Hohenheim. Zufolge des drohenden Kriegsausbruches sollte die Verheiratung von Hans und Gertrud früher, als ursprünglich geplant war, stattfinden.

Es hatten aber in Gertrud schon die ersten Nachrichten von der wachsenden Kriegsgefahr eine seltsame Veränderung hervorgerufen, oder vielmehr eine plötzliche Steigerung ihrer frommen Versonnenheit. Sie erzählte der Mutter von furchtbaren Gesichten, die mit einem Male vor ihrem Geiste standen. Die sieben Plagen der Geheimen Offenbarung würden jetzt beginnen, die Greuel der Verwüstung. Schon zögen die Scharen des Fürsten der Finsternis durch die Lüfte, bereit, sich in die Herzen vieler Menschen herabzusenken und sie mit Wahnwitz zu erfüllen, auf daß sie ihrer Erlösung vergäßen und ihre miterlösten Brüder nicht mehr erkennten, sie vielmehr für wilde Tiere hielten, die sie austilgen müßten von der Erde. Sie sehe die Blutorgien der Schlachtgeister, die auf dem rauchenden Weltfriedhofe tanzten, zwischen blutigen Schädeln und abgerissenen Gliedmaßen, die in der Luft herumflögen. Sie höre das Wehklagen hungriger Weiber, die mit Skelettkindern durch die Nacht irrten und verbranntes Gras ausrissen und dessen faule Wurzeln verschlängen. Nebelschwaden der Verwesung stiegen allüberall auf, so dicht, daß das Licht der Sonne darin gelb und verfinstert erscheine. Die Endzeit habe begonnen, die geweissagte Endzeit ...

Vergebens versuchte ihre Mutter, Base Anna, ihr diese Gesichte auszureden, indem sie Gertrud darauf hinwies, was alle Leute sagten: daß, wenn überhaupt Krieg komme, er, zufolge der modernen Waffen, nur ein paar Monate dauern werde, höchstens bis Weihnachten. Das junge Mädchen blieb dabei, daß die Endzeit angebrochen wäre.

Unterdessen war ihr Vetter Hans damit beschäftigt, die Ernte zu beschleunigen, da er mit Recht befürchtete, daß bei etwaigem Krieg die meisten Knechte eingezogen würden. Im Übrigen dachte er nicht anders, als daß seine Heirat bevorstehe; allerdings erwog er, wie begreiflich bei einem jungen Menschen, ob er nicht auch als Freiwilliger zu den Fahnen eilen solle; denn bei dem Gedanken, die Knechte ziehen lassen, als Herr aber sich einer jungen Frau freuen und nur auf die Bestellung der Felder bedacht sein zu sollen, wurde er von Scham befallen.

Aber Gertrud, sei es, daß sie in ihrer Feinfühligkeit diesen Zwiespalt in der Seele des edlen jungen Mannes zu deutlich sah und ihn in ihrer Vorstellung noch vergrößerte, sei es noch mehr aus anderen und eigenen Gründen, schlug ihrer Mutter plötzlich vor, die Heirat hinauszuschieben. Nach einigen Tagen vollends erklärte sie, es sei nunmehr überhaupt zu spät. In der Endzeit sei es sinnlos, daß die Menschen sich zur Ehe nähmen. Vielmehr müsse man daran denken, den Zorn Gottes zu versöhnen und die Greuel der Verwüstung durch Opfer abzukürzen.

Obgleich der arme Hans – ein grundtreuer, herzenseinfältiger Mensch, schon als Junge, er war ja zweimal bei uns in Ferien –, obwohl er also selbst mit dem Gedanken umging, vielleicht gleich nach der Heirat, sofern der Krieg wirklich ausbräche, auch zu den Soldaten zu gehen, so war ihm doch, als er auch nur die allererste, leise Andeutung von Gertruds Sinnesänderung vernahm, zumute, als bräche ihm die Welt zusammen. Etwas anderes ist es eben, womit der Mensch selbst in Gedanken spielt, als das, was ihm dann von außen her wirklich zugemutet wird, und wäre es seinen eigenen Gedanken noch so ähnlich. – Es scheint übrigens, daß Base Anna versucht ist, auch Hans eine gewisse, wenn auch nur mittelbare Schuld zuzuschreiben. Meines Erachtens ganz zu Unrecht. – Jedenfalls aber hatte Hans zunächst keine Zeit, seinem ersten Schmerze nachzuhängen, weil ihn die Ernte ganz in Anspruch nahm.

*

Am Mittag des 31. Juli, kurz nach dem Essen, wo Gertrud fast nichts zu sich nahm, standen diese, ihre Mutter und Hans eine Weile noch im Gutshofe beisammen. Es herrschte trotz aller umgehenden Kriegsgerüchte, hochsommerlicher Frieden, strahlende Sonne, und richtiges Erntewetter. Hans war schier ungeduldig, die Arbeit drängte so sehr. Aber, entgegen ihrem abgekehrten Verhalten in den allerletzten Tagen, war Gertrud heute zu Hans sehr gut, ja gerührt, was der Mutter schon bei Tisch aufgefallen war. Auch sah sie noch im Hofe bald ihn, bald ihre Mutter seltsam zärtlich an. Schließlich aber trennten sie sich, Hans ging an seine Arbeit, die Mutter in den Garten, Gertrud aber in das Haus, dessen Läden gegen die Sonne geschlossen waren. Wie eine alte Hausmagd nachher erzählte, war ihr Gertrud auf der Treppe begegnet, hatte sie angehalten, und sie recht freundlich angeblickt. »Kathrein«, hatte sie gesagt, »weißt du, was das jetzt für eine Zeit ist.« – »Keine gute, gewiß keine gute«, hatte die alte Magd ahnungslos erwidert, »man sagt ja, es kommt mit Krieg.« – »Es ist der letzte Krieg, Kathrein, es ist die Endzeit! Wir Frauen müssen jetzt alle das unsere tun, wir müssen Opfer bringen, damit der liebe Gott versöhnt wird und alles abkürzt. Ich will mein Opfer bringen, und du, Kathrein, bete du nur fleißig, damit uns dieser Krieg und alles doch noch erspart wird. Damit alles abgekürzt wird ...« Dann war Gertrud die Treppe hinaufgegangen – bis zum Turmzimmer; die Magd hörte sie noch das Fenster öffnen, worüber sie sich wunderte.

Dann hatte Gertrud ihr Opfer gebracht – »mit engelreiner Absicht« – wie Base Anna Schrieb, »aber ach, unklaren Geistes.«

Gertrud stürzte sich vom Fenster in den Hof, und blieb zerschmettert liegen.

»Sie hat gemeint, unserem Herrgott sei das Opfer ihres Lebens, ihrer jungen Gliedmaßen, wohlgefällig, nicht nur das ihrer frommen Seele.« – So schrieb die arme Mutter, die, indem sie mir schrieb – wie sie mir ja seinerzeit Tante Marias Tod angezeigt hat –, wohl glauben mochte, daß ich in meinem eigenen Lebensunglück vielleicht ein größeres Verständnis für ihr Unglück haben werde, als glücklichere Verwandte.

Ich antwortete ihr mit einem langen Briefe.

So erfuhr sie meinen Aufenthalt, und so kam es auch, daß sich der junge Graf Hans S. nachher zu unserem Regiment meldete. Er ist allerdings auch durch seine verstorbene Mutter mit dem Adjutanten des Divisionskommandeurs verwandt, von dem er auf seinen Wunsch uns zugewiesen wurde. Er gehörte zwar nicht zu unserer Kompagnie, aber ich habe ihn gesprochen; die Ausbildung ging ihm viel zu langsam, es drängte ihn hinaus nach der Front. Von seinem Verluste sprach er nicht; er war zu tief getroffen, in seinem Innersten getroffen. –

*

Die Ausbildung mußte bei uns nun ohnehin stark beschleunigt werden. Es war dazu besonderer Befehl ergangen, nach der Schlacht an der Marne, über deren Ausgang man auf Vermutungen angewiesen blieb. Mitte September war ich zum Divisionskommandeur bestellt worden, einem alten Herrn, der meinen Vater gut gekannt hat. Er empfing mich väterlich, ohne alle Umschweife. »Jetzt können Sie ja alles wieder gutmachen« – war das einzige Wort, das er über das Vergangene sagte. Beim nachfolgenden Essen traf ich wieder einen Bekannten, einen sehr begabten Stabsoffizier aus meiner Zeit. Aber auch er verlor über das Persönliche keine Worte. Hingegen schalt er mich freundschaftlich und derb, daß ich mich mit meiner Krankheit überhaupt gemeldet hatte. Er war schon draußen gewesen, mit einem Armschuß zurückgekommen, und sagte: »Du weißt nicht, wie's draußen zugeht! Sonst würdest du dir nicht einbilden, daß du es mit deiner Krankheit bei der Infanterie länger als drei Wochen aushältst. Es ist der pure Unsinn. Ich werde es aber der Exzellenz nachher auch sagen – sie sollen dich in der Garnison behalten.« – Dagegen verwahrte ich mich nachdrücklich. Wir kamen dann auf die Schlacht an der Marne zu sprechen, er schien sich darüber einigermaßen ein Bild gemacht zu haben, und sagte leise, um nicht von den jüngeren Herren an der Tafel gehört zu werden: »Der Ausgang ist mysteriös. Aber jedenfalls ist der Feldzugsplan, so wie er von Anfang an gedacht war, vorläufig gescheitert. Wir müssen in Belgien und Nordfrankreich überwintern. Damit muß man, glaube ich, rechnen.« –

Als ich mich vom Kommandeur verabschiedete, äußerte dieser seine Sorge, wie wir denn mit der Ausbildung der Leute noch fertig werden könnten. Es sei anzunehmen, daß wir Ende Oktober marschbereit sein müßten. Ich wies auf den guten Geist der Mannschaft hin. »Weiß ich, weiß ich alles. Aber wir sollten doch länger Zeit haben!« – meinte er besorgt.

*

Die Wochen gingen schnell hin, wir taten unser Möglichstes, um zum guten Willen dieser Leute auch das Können zu fügen. Aber wenn wir mit ihnen von vier Uhr morgens bis zum Mittag auf den Beinen gewesen waren, mußten wir zufrieden sein, am Nachmittag etwa noch zwei Stunden Kasernenhofübungen machen zu können. Was darüber hinausging, gedieh nicht mehr zum Guten. Und für gewöhnlich war das Arbeitsprogramm um vier oder fünf Uhr Nachmittags beendigt. Dann ruhten die Schwächeren aus, die Widerstandsfähigen trafen sich in kleinen Gruppen im Kasernenhof und warteten dort die Zeit bis zum Abendessen ab. Man hatte es ja nicht mit Zwanzigjährigen zu tun, die meisten standen im Alter von fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren, vor allem die Freiwilligen.

Unter dem Fenster des Zimmers, in dem ich, im ersten Stock, gerade an einer Aufstellung für den Ausrüstungsbedarf arbeitete – der Feldwebel war erkrankt –, hatten sich auch einige Mann versammelt. Ich wollte sie nicht wegschaffen, es hätte nach Kleinkinderschule ausgesehen. Aber ihre Unterhaltung störte mich beim Arbeiten. Ich wurde übrigens erst aufmerksam, als ich einen von ihnen sagen hörte: »Ihr seid ohnehin nichts als Zutreiber für den Profit der Heereslieferanten. Ihr seid mir die rechten Sozialisten. Dem schlimmsten Kapitalismus, dem von der Rüstungsindustrie, stopft ihr selber den Bauch aus ...«

Ich nahm ohne weiteres an, daß dies nicht einer der Soldaten gesagt haben konnte, sondern nur ein Besucher.

Zunächst gab ihm niemand Antwort. Das schien ihn zu ermutigen. Er fuhr fort: »Mir hat erst gestern einer von den Verwundeten im Lazarett erzählt, daß die französischen Arbeiter fest gehofft haben, wir deutschen Sozialisten würden den Krieg nicht mitmachen. Ihren Iaurès hat man ihnen erschossen, unsere Abgeordneten haben für die Kriegskredite gestimmt, den einzigen Liebknecht ausgenommen, und die deutschen Arbeiter sind zu Tausenden unter die Kriegsfreiwilligen gegangen. Das ist die internationale Solidarität der Arbeiterklasse. Schämt euch! Ihr werdet den Dank ja noch sehen.« –

Es antwortete einer: »Ja weißt du, mit den Gründen, die du da gesagt hast, vorhin, da kann man dir ja nicht ganz Unrecht geben. Aber weißt du, so von innen heraus, von innen heraus – ich kann mich da nicht gut ausdrücken, ich bin kein Redner –, ich meine nur: man handelt eben oft anders als man denkt. Es liegt einem eben so im Blut.« –

»Liegt dir das im Blut, daß du schießen lernst und dich herrichten läßt, damit du auf andere Arbeiter in einem anderen Land schießen kannst?« –

»Ja, jetzt weißt du, geschossen wird schließlich von drüben und herüben.« –

»Aber nicht wahr, die Franzosen stehen nicht in Bayern, sondern die Bayern in Frankreich und Belgien. Das ist ein Unterschied. Ich wollte noch nichts sagen, wenn die Franzosen nach Deutschland gekommen wären. Dann war immer noch Zeit für eure Kriegsfreiwilligkeit.« –

»Ich will dir was sagen: Deutschland ist eben so in der Mitten, die anderen sind draußen. Ist man so mitten dazwischen, muß man sich eben gleich Luft machen, sonst wird man zerdrückt.« –

»Mit dem willst du unsern Einmarsch in Belgien rechtfertigen? Bist du überhaupt noch ein Arbeiter? Schäm dich!« –

»Was hätt' unsereins tun sollen, nach deiner Meinung?« –

»Sehr einfach. Nichts, gar nichts. Wenn einer nichts tut und sich um keine Einberufung kümmert, holen sie ihn und erschießen ihn. Wenn hunderttausend auf diese Weise nichts tun, können sie nichts machen.« –

»Ja, hätte man jetzt einfach die anderen allein bluten lassen sollen?« –

»Wenn die Bourgeoisie bluten will, was willst du sie daran hindern?« –

»Ich will dir was sagen. Es liegt einem einfach doch so im Blut, magst du dagegen sagen, was du willst. Ich bin im Dorf auf die Welt gekommen, und erst mit siebzehn Jahren in die Stadt. Nun ja, wie ist's denn gewesen bei uns daheim im Dorf? Die Höfe waren weit auseinander, aber es hat immer wieder einmal Streit gegeben zwischen den Nachbarn. Meinetwegen. Aber trotzdem: wenn's einmal beim Nachbarn gebrannt hat, ist man doch auch hingelaufen und hat ihm geholfen, das Vieh aus dem Stall ziehen, und so weiter. Das ist doch einmal so. Man tut das, und denkt nichts weiter. Oder wenn beim Nachbarn die Bäuerin im Kindbett war, da ist eben meine Mutter hinübergegangen trotz früherem Streit, und hat ihr geholfen. Es ist einfach menschlich. Du kannst das nicht aus der Menschennatur austreiben. Ich weiß schon, der Bruder Bourgeois ist gegen den Arbeiter ein übler Bruder gewesen. Stimmt, und Recht hast du in dem. Aber ich will dir eine Geschichte erzählen: Mein leiblicher Bruder, der hat mir Jahre lang angetan, was ihm die Bosheit nur eingegeben hat, sogar Geld hat er mir, wenn ich geschlafen hab', aus der Tasche gestohlen, bis ich mir schließlich eine eigene Schlafstelle gesucht hab'. Aber da ist er einmal, in der Früh um vier Uhr, dahergekommen, hat wie ein Närrischer an meine Türe geklopft: ›Hans, Hans, laß mich rein, laß mich rein! Mir ist die Polizei auf den Fersen ...‹ Na und? Da hab' ich ihn trotz allem schnell hereingelassen, da hab' ich ihn nicht lang gefragt, was er denn wieder angestellt hat – sondern da handelt der Mensch einfach blutmäßig. Man ist eben so. Und so ähnlich ist es wohl jetzt gegenüber diesem üblen Bruder Bourgeois auch gewesen. Es sind ja schließlich doch Menschen vom gleichen Fleisch und Blut, man kann sie auch nicht im Stich lassen.« –

»Jawohl – und wenn ihr ihren Geldsack verteidigt habt, so daß er wieder von selber dick und fett stehen kann, dann spucken sie wieder auf euch herunter wie früher. Du wirst es schon noch erleben – wenn du's erlebst!« –

»Ich will dir was sagen: Jetzt ist es schon so, wie es ist. Jetzt bringst du mich nimmer weg. Ich geh jetzt mit, kommt's, wie's kommt. Ich kann einfach nicht anders, es ist blutmäßig. Aber das kann ich dir sagen: Wenn der Krieg aus ist, und ich leb' noch, und sie machen es uns wieder wie früher, und achten uns nicht, und wollen wieder von oben auf uns herunterschauen – dann, Xaver, dann treiben wir's ihnen einmal endgültig aus! Dann hast du mich ganz auf deiner Seiten. Dann kannst du mich beim Wort nehmen! – Aber jetzt, Xaver, sei gescheit und drück dich, denn weißt du, mit dem Herumreden da im Kasernenhof bringst du dich und uns noch in Gefahr. Ich bin nicht ängstlich, du weißt es von früher her. Aber warum willst dich denn jetzt erwischen lassen und einsperren? Du bist unvorsichtig. Es tät' mir leid um dich, du bist ein anständiger Kamerad. Ich bitt' dich, geh wenigstens nimmer in die Kaserne. Sie schnappen dich gewiß noch ...«

Damit war offenbar die Debatte beendigt. Ich hörte die Leute auseinandergehen. Erst jetzt sah ich zum Fenster hinaus und gewahrte einen älteren Arbeiter, der allein seines Weges ging. Er mußte der Sprecher gewesen sein. Sollte ich nachträglich feststellen lassen, wer er war? Ich blickte ihm nach. Er grüßte noch einige Leute, wahrscheinlich frühere Arbeitskollegen. Aber er blieb bei niemandem mehr stehen, sondern verschwand ohne Aufenthalt. Warum sollte ich ihn nicht laufen lassen? Sein eigener Genosse hatte ihn besser belehrt, als ihn irgendwelche Zwangsmaßnahmen belehren konnten. »Blutmäßig« –, wie der Mann immer wieder gesagt hatte.

 

Für den Drill im eigentlichen Sinne war die Zeit, die uns zur Verfügung stand, zu kurz. Wir erhielten Befehl, uns bis zum 20. Oktober marschfertig zu machen. Die Mannschaft sehnte sich, wie mir schien, von Kaserne und Exerzierplatz fort ins Feld. Die Leute schätzten vielleicht zu wenig, was sie in der Garnison zu lernen und zu üben hatten, obwohl sie es nicht an Willigkeit fehlen ließen. Es leuchtete ihnen wahrscheinlich nicht so ganz ein, daß sechs Monate Ausbildungszeit nützlicher gewesen wären als zweieinhalb. Daß sie draußen jetzt schon gebraucht wurden, entsprach ihrem hohen Sinne mehr, als die Kleinarbeit in der Garnison, deren Verlängerung die Lage leider nicht zu gestatten schien.

In den letzten Wochen waren wir allerdings sehr fleißig gewesen. Was mich anlangt, so fühlte ich mich körperlich wohler als seit langem. Die wachsenden Anstrengungen in der frischen Luft hatten mir, wie ich meinte, gut bekommen.

In den letzten Tagen vor Ausmarsch wurde den Leuten, die ihre Angehörigen nicht in der Stadt hatten, Urlaub zum Abschiednehmen gegeben, aber auch allen anderen Zeit gelassen, nochmals in ihren Familien zu weilen. Ein altgedienter Feldwebel, ein rauher, aber rechtschaffener Mann, hatte die Mannschaft kurz vorher zusammengerufen und ihr ans Herz gelegt, es möge in diesen letzten Tagen doch jeder auch Einkehr bei seinem Herrgott halten. Es könne keiner wissen, ob er nicht binnen kurzem schon vor den Thron desjenigen gerufen werde, vor dem Freund und Feind nur um Barmherzigkeit bitten könne, weil vor ihm keiner gerecht sei. Es genüge nicht, daß man, wenn es sein muß, zu sterben wisse. Schließlich lebe jeder nur, um zu sterben; aber man sterbe doch, um zu leben. Da schiene es ihm besser, daß man sein armseliges Nichts schon jetzt der göttlichen Barmherzigkeit bekenne und im voraus übergebe. Dann würde der Barmherzige auch uns gleich wiedererkennen. Er bäte gar jeden, daß er sich diese Stunde der Einkehr nicht reuen lassen solle. – Dann sang ein kleiner Chor, den sich dieser sonst so derbe Mann schon vorher zusammengebeten hatte aus den Leuten, für alle übrigen unvermutet, noch ein kleines Lied, jenes Lied, das die Schweizer gesungen haben auf dem Rückzug über die Beresina:

Unser Leben gleicht der Reise
Eines Wandrers in der Nacht.
Jeder hat auf seinem Gleise
Etwas, das ihm Kummer macht.

Aber unerwartet schwindet
Vor ihm Nacht und Dunkelheit,
Und der Schwergedrückte findet
Linderung in seinem Leid.

Darum laßt uns weitergehen,
Weichet nicht verzagt zurück!
Dort in jenen fernen Höhen
Wartet unser noch ein Glück.

Die Leute gingen still aus dem Turnsaal.

Ich hatte mich in den letzten Wochen vorbereitet und tat nun den Gang, der ja vielleicht mein letzter in dieser Art sein konnte. Diese Vorstellung selbst war es, die mir jetzt leicht und einfach machte, was mir ehedem immer wieder unmöglich gewesen ...

Der Priester gab mir zur Buße auf: Was mir nur in meinem neuen Leben aus den Wunden des sterbenden Erlösers zufließe, alles, was mir erwüchse und emporsteige aus den göttlichen Lebenskräften des Glaubens, der Hoffnung, und der Liebe, die mich jetzt neubelebten – das solle ich inskünftig in Gedanken, Worten und Werken, in allem Tun und Lassen, in allem Geben, Nehmen und Verzichten, in Schlaf und Wachen, als ein einziges immerwährendes Herzensgebet dem Erlöser zurückschenken durch die allerreinsten Hände seiner gebenedeiten Mutter der Jungfrau – zurückschenken in Dankbarkeit: zuerst für die Seele jener unglücklichen Frau, gegen die ich gefehlt hätte. Dann für alle anderen Menschen, denen ich je an Leib oder Seele geschadet hätte. Dann für alle, die mir je geschadet hätten an Leib oder Seele. Dann für alle, die mir je Gutes erwiesen hätten oder erweisen würden. Dann für alle Menschen, die ich je gekannt hätte oder kennen würde, seien es Freunde oder keine Freunde, inbegriffen jeden, der je meinen Weg gekreuzt hätte oder kreuzen würde, von der Wiege bis zum Grabe. – Für meine Eltern, Brüder, Schwestern, Verwandten und Dienstboten. – Sodann aber für alle Sünder. Und endlich und jeden Tag für alle, für die der Erlöser gestorben ist, Lebende wie Tote, aller Zeilen, aller Länder, aller Völker, von Anbeginn bis heute und bis zum letzten Tag. Für sie alle alles zurückschenken und aufopfern, in das sterbende Herz des Gekreuzigten, durch das mitleidende, schmerzdurchbohrte Herz der gebenedeiten Mutter, der er mich jetzt zum Kinde weihe und der ich mich selbst weihen solle, ganz und vollkommen, als ein Kind. – Denn alles neue Leben des Menschen ist Gotteskindschaft, Kindschaft aus Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei, von denen das Höchste die Liebe ist, der Odem Gottes, der Heilige Geist, in dem der Vater und der Sohn eins sind, und in dem die Menschenkinder eins sind mit dem Ewigen Vater durch den Sohn, der Menschengestalt angenommen hat in der Fülle der Zeiten, am großen Mittag, Jesus Christus. Jesus Christus, der Erstgeborene der Schöpfung, der Verheißene von Anbeginn, der ältere Bruder, dem wir nachgebildet sind. Der gekommen ist, um uns zu vergöttlichen, in der Kindschaft Gottes als seine angenommenen Brüder. Der uns darum erlöst und aus seinem Tode das ewige Leben gegeben hat. Aus dem ich Sie losspreche. – Und er sprach die Lossprechung im Namen des dreieinigen Gottes.

 

Am 17. Oktober, drei Tage vor dem Ausmarsch, kaufte ich mir einige Sachen für meine Feldausrüstung. Da wir nach dem Westen kommen sollten, konnte ich genügendes Kartenmaterial auftreiben, das ich Tags darauf studierte. Soweit unsere Stellungen bekannt waren, versuchte ich mir ein allgemeines Bild ihres derzeitigen Verlaufes zu machen. – Am 19. waren wir zum Regimentskommandeur befohlen, Offiziere und Offiziersstellvertreter.

Es kam mir so vor, als würde ich von einigen Herren etwas scharf fixiert, was mich in eine gewisse Unruhe versetzte. Heute glaube ich, daß es umgekehrt war, daß ich infolge einer körperlich fühlbar werdenden Unruhe die Herren meinerseits zu fixieren bemüht war, wahrscheinlich weil mein Sehfeld flimmrig wurde. Der letztere Umstand fiel mir dann nach einigem Sitzen selbst auf, ich schob das Flimmern auf die Übungen, die ich noch am Morgen im Pistolenschießen gemacht hatte, wie schon mehrere Tage vorher. Die Aussprache betraf zunächst den derzeitigen militärischen Ausbildungsgrad der Mannschaften, worüber die Meinungen geteilt waren, wohingegen über die moralischen Qualitäten nur eine Stimme des Lobes herrschte. Das letzte Wort, woran ich mich erinnere, war eine Aufforderung des Kommandeurs, all die Leute festzustellen, die irgend welcher Fremdsprachen kundig seien. Dann verstärkte sich der Schleier über meinen Augen, ich strengte mich an, die Zeilen auf dem vor mir liegenden Blatt zu lesen, was nicht gelingen wollte. – – –

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Matratze, griff unwillkürlich nach dem Munde, und entfernte irgend etwas Mißliebiges – es war der Schlauch, der an eine Sauerstofflasche angeschraubt war. Da schlug ich die Augen vollends auf. Der Stabsarzt sagte: »Nun, wieder zurück?« Ich fragte: »Was ist denn los?« – »Mein Lieber, was fällt denn Ihnen ein? mit einer solchen Herzgeschichte rennen Sie jetzt schon wochenlang auf dem Oberwiesenfeld herum? Sie können noch von Glück reden – ebensogut hätten Sie dort einmal hinfallen können und nicht mehr aufstehen. Sie sind ein unglaublich leichtsinniger Mensch. So was ist mir denn doch noch nicht untergekommen!«

Ich wollte mir einen Ruck geben, um mich zu erheben. Er drängte mich sanft zurück. »Jetzt keinen weiteren Unsinn mehr! Sagen Sie mir lieber, ob Sie vorläufig im Krankenquartier hier bleiben wollen, oder ob ich Sie ins Krankenhaus bringen lassen soll? es ist nur eine Geldfrage.« –

Noch war es mir unmöglich, zu glauben, daß es so ernst war. »Sagen Sie mir doch zuerst, was denn überhaupt gewesen ist?« –

»Nur eine Herzschwäche. Aber eine, die ebensogut was anderes hätte sein können. Ich kenn' Sie ja weiter nicht – aber offen gestanden: ich versteh' Sie nicht. Das kann doch nicht das erste Mal sein? Ausgeschlossen! Was sind Sie denn in Zivil, wenn ich fragen darf?« –

»Nichts.« –

»Für Ihren Zustand der vernünftigste Beruf! Sie hätten aber dabei bleiben sollen. In vier Wochen können Sie wieder in dieses Nichts zurückkehren. Mir scheint, Sie gehen lieber gleich ins Krankenhaus. Ich lasse Sie hinbringen.« –

Ich schwieg. Dann kamen mir die Tränen. »Es ist zum Verzweifeln«, rief ich, »soll ich denn überhaupt kein Mensch mehr sein!« –

»Unsinn! Wenn Sie sich jetzt noch aufregen, versteh ich keinen Spaß mehr. Da, trinken Sie lieber einen Schluck Kognak! Stellen Sie sich bloß einmal vor, Sie wären draußen auf Patrouille gegangen, und wären so umgefallen! Wenn Sie aufgewacht wären, hätten Sie die Franzosen gehabt. Die hätten Ihnen vielleicht keinen Schnaps gegeben. Trinken Sie jetzt!« –

Ich ermannte mich, trank, und schwieg.

Nach einer Weile sagte er: »Nichts für ungut. Aber schauen Sie, vor drei Monaten war kein Krieg, und da sind Sie doch auch ein Mensch gewesen ... Natürlich – im ersten Augenblick ist man verzweifelt. Ich kenn' Sie ja nicht näher, wie gesagt, aber ich kann mir schon denken, daß Sie sich nicht aus purer Lebenslust hier gemeldet haben. Aber schließlich: man kann als Mensch auch nach innen leben – wenn nach außen die Kraft nicht reicht! Ich bin kein Pfarrer. Immerhin ist mir noch bekannt, daß der Mensch aus Leib und Seele besteht ... Übrigens können Sie, wenn Sie sich halten, später wieder ganz gut herumlaufen. Aber jetzt ruhen Sie sich zuerst aus. Der Militärdienst ist nichts für Sie. Wenn's Ihnen recht ist, laß ich Sie fortbringen.« –

*

Vier Wochen lag ich im Krankenhaus. Die traurigsten Stunden hatte ich zu Anfang November, als in den Zeitungen die vielen, vielen Todesanzeigen der Gefallenen von Wytschaete erschienen. Ich wäre der Welt entbehrlicher gewesen, als all die Kameraden, die sich am 28. und 29. bei Wytschaete geopfert haben. »Die Blumen des Landes sind dahingemäht.« –

*

Über mich aber hatte Gott anders beschlossen.

Ich begriff in jenen Tagen, daß die mir aufgegebene Buße: alles in Dankbarkeit aufzuopfern, schwerer war, als ich, der ich damals vor dem Ausmarsch stand, mir vorgestellt hatte. Ein Nichts zu sein, wie ich es nun wieder bin, dafür zu danken, hält in der Tat nicht leicht. Mein Heldentraum und Heldensühne sind ausgeträumt. Aber vielleicht will Gott, daß ich eine schwerere Art der Dankbarkeit lerne.

*

Am 21. November erhielt ich meine endgültige Entlassung. Ich war versucht, meine Verwandten aufzusuchen. Aber was hatte ich, der einzige Privatmann, dem das Leben ohne weiteres geschenkt blieb, ihnen Erfreuliches zu bringen? Wie die Dinge jetzt wieder lagen, waren sie vielleicht froh, mich nicht zu sehen ...

Alles zurückschenken! also auch das mir geschenkte Leben. Aber wie nur? –

Ich fuhr am 22. November in die Schweiz zurück, mußte aber in Zürich unterbrechen. Es strengte mich zu sehr an.

Alles aufopfern – also wohl auch die Krankheit?

Es will gelernt sein.

März 1915

Mein erster Versuch, Ende November, das Leben in diesem Rest von Heim, den ich noch besitze, also in meinem hiesigen, stammgastlichen Hotelzimmer wieder auszunehmen, scheiterte schon während der ersten Woche. Dann ließ ich mich vom Arzt nach Bex-les-bains schicken, wo man für meinesgleichen vorgesehen ist, und wo ich viereinhalb Monate zugebracht habe. Der Erfolg ist gering. Aber ich trage den immerwährenden Druck, die Beengung, Herzstiche und Atemnot, als meinen bescheidenen Anteil am allgemeinen, herzzerreißenden Schicksal. Wohl ist das Land hier friedlich, aber von allen Seiten flutet, unsichtbar, die Qual herein. (Italien scheint jetzt auch in den Krieg eintreten zu wollen.) Man ist ja durchaus nicht allein. Kein Mensch ist allein.

»Von fernher klagt ein Sterbliches,
Und immer leidet ein anderes mit.« –

Es gibt ein System unsichtbar kommunizierender Röhren zwischen den Herzen der Menschen ... Mir ist, als habe mich jener Priester durch Gotteswort eingeschaltet ins allgemeine Leid. Welch geheimnisvolle Befreiung von mir selbst – welch noch geheimnisvollere Bindung an die Mitmenschen!

Meine Erfahrung in den stillen Monaten von Bex-les-bains: Das Menschenleben auf Gott und in Gott auf die Brüder bezogen, ist etwas wesentlich anderes als das Leben, das der Mensch auf sich selbst bezieht. Es ist ein absoluter Wesensunterschied – ähnlich dem zwischen Gefängnis und Freiheit, aber noch größer. Man weiß das vorher nicht! Mir war es jedenfalls vorher nicht bewußt. Man sollte eigentlich zweimal Religionsunterweisung haben, einmal als Kind, dann als Erwachsener. Man hat zwar alles als Kind schon gehört, aber bei unmündigem Gewissen, zu der Zeit, da einem befohlen wird. Man sollte alles wieder von vorn hören, bei mündigem Gewissen, wenn man sich selbst befehlen muß ...

Denn dies ist ein schwerer und unausgesetzter Kampf: daß man sich selbst in das Zentrum seines Lebens gesetzt hat, es aber nun für Gott, und in Gott für die Brüder räumen muß. »Mach Platz – Ich bin's!«

Am Anfang des Kampfes steht die Erkenntnis, daß Selbstsucht, Selbstvergottung unsere Ursünde ist, Luzifers und unsere. Wir wollen Gott gleich sein. Wie eindeutig hat uns Nietzsche verraten: »Wenn es Götter gäbe – wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein!« Der Wahnwitz, das Natur- und Übernaturwidrige ist eben, daß wir uns selbst vergöttlichen wollen, anstatt in der Kindschaft Gottes zu bleiben und in ihr der Vergöttlichung entgegenzuharren. – Nietzsche hat gewissermaßen Recht: wie sollte man es aushalten, Mensch zu sein und doch nur ein bloßes Naturwesen zu bleiben! Denn jeder, ob er will oder nicht, ist mehr: anima est naturaliter christiana. Nochmals ist es Nietzsche, der uns eindeutig verrät: »Ich lehre euch den Übermenschen.« Ganz recht. Denn auch er, Nietzsche, ist aus dem Gottmenschen wiedergeboren, und es muß ihn also nach der Gottmenschlichkeit immer wieder verlangen. Aber er legt unsere Ursünde bloß, indem er unser aller Sehnsucht nennt: »Die Sehnsucht nach dem Übermenschen.« – Denn Luzifer verführt uns, unsere Sehnsucht umzubenennen nach uns selbst. »Oh Untreue, wie bist du so groß auf der Welt!« – –

Ein Kind kann das alles sehen. Deshalb meine ich: ein zweites Mal Religionsunterricht – dann, wenn die Erwachsenen, sehr viele wenigstens, in Gefahr geraten, ihre Kindschaft zu verlieren.

 

»Sie sind mir ein guter Freund, Sie! Wenn Sie einem wenigstens alle paar Jahre eine Lebensanzeige schicken wollten! Ihre Teilnahmslosigkeit für Ihre Freunde ist unbegrenzt ... Aber diesmal habe ich Ihnen Gleiches mit Gleichem vergolten. Glauben Sie, ich wußte nicht, daß Sie in Bex waren! Nicht nur ich, sondern auch Boris M. hat es gewußt – durch mich. Aber diesmal wollten wir Ihnen die Tarnkappe nicht abziehen.« –

Natürlich war es Bromberger, der mich so überfiel. Er behauptete, ich hätte mich jedenfalls vor ihm und vor Boris meiner Abreise nach Deutschland geschämt, und es deshalb dem Hoteldirektor überlassen, über mein Verschwinden Auskunft zu geben. Er sei jetzt nur gekommen, damit ich sähe, daß er den Kummer um mich recht gut überlebt habe. Hingegen hätte ich selbst, meinem Aussehen nach zu schließen, offenbar an unserer Trennung viel schwerer getragen.

Ich mußte ihm das Notwendigste kurz erzählen. »Ja, dann müssen Sie aber mit P. zusammengekommen sein!« rief er aus, »P. war doch beim gleichen Regiment.«

»Das wußte ich wahrhaftig nicht. Aber Sie sagen: war?« –

»P. ist bei Wytschaete gefallen, schon im vorigen Herbst.« –

»Oh! auch er.« –

»Auch er. Ja, auch er.« –

Wir schwiegen eine Weile. –

»Ja, Bromberger, es ist wirklich so, wie das Volkslied sagt: ›Die Blumen des Landes sind dahingemäht.‹« –

»Die Blumen aller Länder, lieber Amwald. Und was davon noch steht, wird noch fallen ... Es wird noch lange so gehen, kein Ende abzusehen ... Neulich hat mir jemand geschrieben: ›Das Wesen dieses Krieges ist Fortsetzung‹. Es ist die Bluthochzeit der Völker. Das braucht seine Dauer.« –

»Und endigt mit dem Ruin von allen.« –

»Ja und nein. Ich glaube, es endigt hier ein ganzes Zeitalter. Und ein neues beginnt. Es ist der grausige Übergang. Denken Sie an die Völkerwanderung, dann können Sie sich vorstellen, wie viele Opfer dieser Übergang noch kosten wird. Und wie lang er dauern wird ... Die Menschheit überwintert, das braucht ein Jahrhundert, bis es wieder Frühjahr wird.«

»Wenn überhaupt? Vielleicht ist es das Ende. – Aber was machen Sie eigentlich in dieser Zeit?« –

»Ich habe mich autonom gemacht. Und exterritorial. Ich treibe exterritoriale Weltpolitik, auf eigene Faust.« –

»Wie machen Sie das? Sie haben sich wohl ein Schiff gemietet, für die Sündflut? Dahinein wollen Sie wohl Ihre Kunstschätze retten? Und den Kassenschrank? ...« –

»Hatte ich von Ihnen nicht anders erwartet! Ich weiß ja schon, daß Sie mein Geld ärgert.« –

»Jetzt könnten Sie einen guten Gebrauch davon machen. Oder nicht?« –

»Sie bilden sich vielleicht ein, ich solle Kriegsanleihe kaufen, wie? Damit das Morden weitergehen kann? Auf der einen Seite die Frauen zu Witwen machen helfen und die Kinder zu Waisen – und auf der anderen Seite, aus dem Erträgnis der Kriegsfinanzierung, großmütige Almosen hinwerfen, zu Füßen der gleichen Witwen und Waisen! Nein, mein Lieber. Ich bin nicht auf Kriegsgewinn angewiesen.« –

»Um so besser. Aber die Not ist doch da, nicht wahr?« –

»Nein, sie kommt erst. Sie kommt. Das jetzt ist nur der Anfang. Sie werden mich nicht für einen Geizhals halten. Aber das bloße Geldhingeben ist armselig. Kalt und abstrakt ... Ich tue jetzt einiges für die Kriegsblinden. Da weiß ich wenigstens, was und wie und wohin. Aber das geht Sie nichts an. Sie stehen, wie mir scheint, rechts. Ich aber weit links. Weit links. Und die Rechte braucht nicht zu wissen, was die Linke tut, nicht wahr?« –

»Das Ganze ist nicht rechts und nicht links. Das Ganze ist in uns, und erst, wenn wir es in uns haben, wir alle, dann können wir zusammen ein Ganzes werden.« –

»Ihrer jüngsten Vergangenheit nach zu schließen, denken Sie dabei nur an das deutsch« Volk. Aber ich denke an die Menschheit, das ist der Unterschied.« –

»Es ist kein Widerspruch. Wenn Sie die Menschheit als eine Völkerfamilie ansehen, so sind die Völker die Individuen – Volksindividuen. Die Volksindividuen leugnen, hieße eine Familie wollen, in der es einem gleich ist, was aus den Kindern wird. Das geht doch nicht.« –

»Was ist zuerst? Doch die Familie. Das Ganze. – Es kommt darauf an, wovon man in der Idee ausgeht. Geht man nur von den Kindern aus, so ist die Familie gesprengt, bevor sie richtig gelebt hat. Man muß von der Familie ausgehen, vom Ganzen. Ich habe noch etwas Morgenland in mir, wissen Sie. Da versteht man das besser.« –

»Sie wollten mir von Ihrer privaten Weltpolitik erzählen?« –

»Es paßt ganz gut hieher. Wissen Sie, was das Neue in diesem Krieg ist – der verborgene Anfang des neuen Zeitalters, zu dem wir im Übergang sind?« –

»?« –

»Nicht. Natürlich nicht! Darüber muß Sie ein gewesener Jude belehren. Und da nennen Sie sich katholisch ... Nichts wissen Sie, natürlich nichts. – Das Neue an diesem Krieg ist, daß er ein Weltkrieg ist.« –

»Ich habe es gemerkt.« –

»Gehört haben Sie es, nicht gemerkt! – das Neue in diesem Krieg ist, daß auf der einen Seite die Türken mitkämpfen, auf der anderen die Afrikaner und Asiaten. Wissen Sie, was das heißt? Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß der tausendjährige Rangunterschied, den das Abendland zwischen sich und dem Morgenland gemacht hat, aufgehoben ist! Das heißt: daß die alte Kolonialwirtschaft beendigt ist ... daß die zwei Hälften der Menschheit unversehens wieder ein Ganzes geworden sind! Zunächst in einem Krieg, aber in einem Weltkrieg. In einem Weltkrieg ohne den bisherigen Rangunterschied. Asiaten hier – Asiaten und Afrikaner dort, zusammen mit Europäern! Ein Weltfrieden kann – verrottet, wie die Menschheit nun einmal ist – nur aus einem Weltkrieg kommen. In wieviel Jahrzehnten weiß ich nicht. Aber das weiß ich, daß eben dies das Neue ist. Der geheime Anfang des neuen Zeitalters im Untergang des alten. Das ist der Sinn, den dieser Weltkrieg hat, den er haben muß, den wir ihm geben müssen. Das ist mein Mitleid mit den Kriegsopfern, meine Liebe zur Menschheit, daß ich nicht will, daß diese schauerliche Bluthochzeit der Völker unfruchtbar bleibt! Verstehen Sie mich! Das ist meine Weltpolitik, daß ich will, daß aus diesem Weltkrieg der Weltfrieden gezeugt wird! Aus dem Blute der Gefallenen, damit sie nicht umsonst gefallen sind! Verstehen Sie jetzt?« –

»Das hätten die Menschen und Völker auch ohne Blut haben können – wenn sie nur ernsthaft gewollt hätten.«

»Ja hätten ... hätten! Sie selber nennen sich doch katholisch – Verzeihung, sind es natürlich für Ihren Teil. Aber die Christenheit hat eben ihre eigene Idee nicht in die Praxis übersetzt.« –

»Und Sie meinen, der Teufel, der diesen Weltkrieg in Szene gesetzt hat, bringt es besser fertig?« –

»Weil er muß, lieber Freund, weil er muß! Das ist ja das gewaltige Gottesgeheimnis: daß der Teufel immer meint, er könne in irgend etwas gegen Gott handeln, und doch immer nur tut, was Gott zuläßt! Der Teufel haßt alles, was lebt, haben Ihre Kirchenväter gesagt, nicht wahr? Und so hat der Teufel diese Bluthochzeit angerichtet. Den Weltkrieg. Aber was daraus geboren wird, das wird gegen seinen Willen geboren werden! Der Weltfrieden aus dem Weltkrieg. Ein neues Zeitalter, die wiederhergestellte Menschheit. Gerade das, was der Teufel hintertreiben wollte, das muß er tun. – Als Katholik sollten Sie das übrigens besser verstehen als unsereins.« –

»Und Ihre Weltpolitik?« –

»Besteht darin, daß ich mein Haus für eine gewisse Zeit zum Zentrum aller Asiaten mache, deren ich in der Schweiz habhaft werden kann! Und einer schickt mir jetzt schon den anderen. Die einen haben ja in Berlin zu tun, die anderen in Paris, andere in London, und so weiter. Leute von allen möglichen Völkerschaften. Die Kriegs- und Tages-Politik, deretwegen die einzelnen in Europa sind – darum kümmere ich mich grundsätzlich nicht. Das geht mich nichts an. Aber ich mache den Leuten den Sinn dieses Weltkrieges klar, den Sinn, den er haben muß! Und solche Menschen verstehen mich. Denn für sie alle, für ihre Völkerschaften, handelt es sich dabei ja um ihre künftige Freiheit, um die Fortdauer der Gleichberechtigung, die man ihnen jetzt von europäischer Seite nur für Kriegsdauer eingeräumt hat, damit sie mitbluten können ... Aber die nächste Folge dieses Weltkrieges, die nächste, nicht die letzte, wird die Emanzipation der asiatischen Völker sein. Ohne solche käme es nie, nie zu einem wirklichen Weltfrieden – der später kommen muß und wird! Und das liegt im Interesse der europäischen Völker, aller, durchaus aller. Auch wenn sie das jetzt nicht sehen und nicht wahr haben wollen! Auch wenn sie die Asiaten jetzt nur als Hilfstruppen für den Krieg betrachten – um sie nachher wieder zurückzustellen. Es wird ihnen nicht gelingen. Man kann einen Weltkrieg nicht ungeschehen machen. Was daraus wächst, geht die ganze Menschheit an. Unweigerlich. Denn wir wollen dem Teufel nicht Recht lassen. Wir wollen mit Gottes Hilfe dem Krieg seinen Sinn geben, und wenn es viele Jahrzehnte dauert, bis dieser Sinn sich vollendet ...«

»Derzeit sieht es nicht danach aus. Was sich jetzt zu vollenden anschickt, ist Untergang. Selbstmord und Ende ...«

»Ich wollte, ich könnte Ihnen etwas von meinem morgenländischen Instinkt leihen. Das Abendland gibt sich zu allen Teufeleien her, aber wenn sie dann geschehen, verliert es das Augenmaß und wird chiliastisch.« –

»Sie haben Boris öfter gesehen. Was macht er?«

»Das wollen Sie ihn nun doch gefälligst selber fragen!

Glauben Sie, ich bin Ihretwegen zu Ihnen gekommen? Könnte mir einfallen. Ich bin lediglich gekommen, Ihnen mitzuteilen, daß Boris Sie in nächster Zeit erwartet. Sie dürfen mit mir fahren, zu ihm. Aber bald!«

 

Aus dem geplanten Besuche bei Boris wurde nichts. Boris ist für längere Zeit nach England verreist, in Erbschaftsangelegenheiten der Witwe P. Deren Mutter ist gestorben, sagte mir Bromberger, ließ sich aber nicht näher auf Erklärungen ein. Es dürfte damit zusammenhängen, daß Frau P. der Staatsangehörigkeit nach jetzt Deutsche ist, also nicht selbst nach England reisen kann.

Oktober 1915

Mein älterer Bruder hat mir geschrieben, den ersten Brief seit damals.

Und zugleich den letzten.

Denn meine Antwort ist zurückgekommen, mit der Aufschrift: Unbestellbar. – Fast gleichzeitig erhielt ich die Todesanzeige durch meine Schwägerin.

– Der Brief soll meinem Neffen Paul gehören. – (Beigefügt):

Lieber Bruder!

Es scheint mir, daß der Augenblick gekommen ist, Dir Lebewohl zu sagen. Ich bin noch bis morgen hier im Urlaub. Es ist wohl mein letzter.

Falls ich Dich in irgend etwas beleidigt oder Dir wehgetan habe, bitte ich Dich um Verzeihung. – Im Geiste habe ich heute auch von Haus und Hof und Herd Abschied genommen. Ich bin überall herumgegangen, und an unseren alten Spielplätzen im Park habe ich Deiner gedacht. Vielleicht habe ich Dich nicht immer so richtig verstanden. Es tut mir leid.

Ich habe nicht zu denen gehört, die diesen Krieg mit Begeisterung begrüßt haben. Das habe ich den Städtern überlassen. Wenn die Felder durch Frauen bestellt werden müssen, weiß man vom ersten Tag an, was Krieg ist. Nach meiner Meinung ist es zum Krieg gekommen, weil vorher schon kein Friede war. Der Tanz um das Goldene Kalb ist kein Maienreigen. Er endigt immer in allgemeiner Besessenheit.

Für alles, was die kämpfenden Regierungen wechselseitig über ihre eigene Unschuld und der anderen Schuld am Kriege schreiben, habe ich nur ein Lachen der Verachtung. Sie sind alle schuldig, und müssen jetzt sich und ihre Völker betrügen.

Allezeit habe ich meine Pflicht lieber ohne den Weihrauch von Illusionen getan. So auch diesmal. Nüchtern habe ich gelebt, nüchtern will ich sterben. Der Glaube, den ich gelehrt worden bin, bedarf nicht des Rausches und der Umnebelung. Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und daß ich auferstehen werde und ihn schauen. Er aber hat vor seiner Kreuzigung den betäubenden Trank, den ihm die mitleidigen Frauen reichten, nicht getrunken.

In wenigen Tagen werde ich wieder draußen im Graben stehen. – Sage Du dereinst meinem Sohne, daß wir dort stehen und sterben mußten, weil die Gottlosigkeit überhand genommen hat. Aus diesem Grunde, letztlich aus diesem, und aus keinem anderen. Alles was man sonst noch darüber sagen mag, ist müßig.

Du also wollest meinem Sohne dereinst sagen, daß ich in dieser Gesinnung dahin- und heimgegangen bin!

Ich brauche Dich weiter um nichts zu bitten. Wenn etwas zu tun sein sollte, wirst Du es ohnehin tun.

Im Grunde habe ich daran nie gezweifelt. Aber es gab Zeiten, wo ich Dich nicht so gut verstanden habe, wie heute.

Es fällt schon Licht auf den Pfad, und ich sehe alles viel klarer.

Verzeihe mir, daß ich Dir zuweilen weh getan habe. Es war nicht böse Absicht; nur Unklarheit.

Bruderherz, leb wohl. Ich sage Dir, es war hart für mich. Unsagbar hart, lieber Bruder. Aber jetzt ist die Hauptsache durchgelitten. Gottes Engel hat mich gestärkt. – Was jetzt noch kommt, ist der äußere Ablauf.

Lebe wohl!
Dein Bruder Fritz.

Ich habe seit einiger Zeit begonnen, mich an der Liebesarbeit für die in der Schweiz verbliebenen Angehörigen armer deutscher Wehrmänner zu beteiligen. Dabei tue ich nichts von Belang. Aber es braucht meine Zeit auf, und ich bemühe mich, das wenige im Sinne dessen zu tun, den ich immer wieder vernehme, und der da zu mir spricht: »Mach Platz – Ich bin's!« –

Weihnachten 1916

Das ganze Jahr habe ich nichts von Belang getan, aber die geringe Arbeit, die ich für deutsche Wehrmannsangehörige und Kriegshinterbliebene mitgeholfen habe zu tun, hat meine schwache Kraft doch beansprucht. Es hat auch seine guten Seiten, wenn man nicht von allzu robuster Konstitution ist. Mich hat meine nichtige Arbeit schon so viel Anstrengung gekostet, daß mir wohl in keinem Jahr meines Lebens so wenig Zeit für mich übrig geblieben ist wie Heuer.

Boris war acht Tage in Genf, ich aber in dieser Zeit nicht in Lausanne – mußte gerade in diesen Hilfswerkangelegenheiten etwas herumreisen. Er scheint sich in England gut eingelebt zu haben. Bis vorgestern, bis zum Heiligen Abend war er bei Frau P. und ihren Kindern. Ich kam aber selbst erst am Heiligen Abend zurück. Bromberger erzählte mir, daß er, Boris, Frau P. in England sehr nützlich sein konnte.

An diesem Heiligen Abend ist mir ein Überfall auf Bromberger geglückt, der mehr Wert hat als das bißchen Arbeit, die ich im ganzen Jahr geleistet habe.

Allerdings hat er schon früher mehrmals geholfen, wenn ich in ganz traurigen Fällen für hilflos gewordene Menschen keinen Rat mehr wußte. Aber diesmal ging es doch wesentlich anders her.

Ich begab mich, fast unmittelbar nach meiner Rückkunft, einer eigentümlichen inneren Anmahnung folgend, zu ihm. Er hatte gerade wieder einen seiner Asiaten hinauskomplimentiert – er ist darin würdevoll.

»Gut gemacht, Bromberger! wie ein Padischah!« –

»Ja, solche Menschen vertragen kein asthmatisches Gezappel.« –

»Diese Ihre exterritoriale Privat-Hausmacht kommt Sie wohl auch ziemlich teuer zu stehen?« –

»Anfangs ja. Aber schon seit längerer Zeit verbinde ich das Nützliche mit dem Angenehmen. Schade, daß Sie nichts davon verstehen – ich habe in diesem Jahr eine Menge prachtvollster asiatischer Sachen gekauft, der Louvre und das Britische Museum werden mich beneiden. Noch dazu spottbillig! Und dabei ist doch auch diesen Leuten, die mich hier aufsuchen, geholfen. Außerdem hat unser Verkehr dadurch eine größere Klarheit gewonnen. An der Art der Sachen, die mir jemand bringt, kann ich die Leute viel besser abschätzen als früher, wo ich manchmal daneben gegriffen habe. Das passiert mir jetzt nicht mehr.« –

»Hören Sie, ich komme heute in einer sonderbaren Angelegenheit ...«

»Wann wären Sie je in einer anderen gekommen!« –

»Sie wissen, wir haben heute unsern Heiligen Abend.« –

»Ja, wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich Sie geholt. Sehen Sie einmal in das Zimmer nebenan!« –

Ich tat es, und war nicht wenig gerührt. Bromberger hatte da tatsächlich einen Weihnachtsbaum aufgestellt.

»Sehen Sie, daß meine Köchin an Sie denkt! Ich selber habe in diesen Sachen zu wenig Übung ... Sie bleiben den Abend bei mir?« –

»Aber natürlich. Es ist lieb von Ihnen.« –

»Ja, ich habe eine brave Köchin, wie gesagt ...«

»Sie machen es mir allerdings schwer, jetzt auch noch mit meiner anderen Sache herauszurücken!« –

»Sie sind nicht mehr der Alte. Seit wann leiden Sie mir gegenüber an dieser Schüchternheit? Haben Sie sich das auf der Reise zugezogen?« –

»Erinnern Sie sich noch an das Perlenkollier?« –

»Ist das Ihre Weihnachtsbeschäftigung, daß Sie mir meine – – meine übelste Erinnerung vorhalten?« –

»Durchaus nicht. Aber ich habe einen sonderbaren Einfall gehabt.« –

»Ich sehe!« –

»Hören Sie! Es ist mir tatsächlich auf der Reise eingefallen. Auf einmal ...«

»Immer, auf einmal, bei Ihnen!« –

»Auf einmal ist mir eingefallen: Geh zu Bromberger und sag ihm: Bromberger, Sie haben sich schon viel verändert, seit ich Sie kenne ...«

»Kein Wunder. Wer's mit Ihnen zu tun hat, fährt von selbst aus der Haut. Dann ist die Änderung fertig.«

»... Sich viel verändert, seit ich Sie kenne. Wie wär's, wenn Sie jetzt ... wenn Sie jetzt gegen arme Menschen ebenso großmütig wären wie Sie, in einer weniger ...«

»Soll ich Ihnen vielleicht ein Perlenkollier umhängen?!« –

»Nicht mir. Kurz und gut: Wie wär's, wenn Sie mir für ein bestimmtes Hilfswerk ... den Gegenwert des Perlenkolliers von damals schenkten?« –

»Unglaublich. Hilfe! Hilfe! Räuber und Diebe!« – rief er.

»Gesagt habe ich's.« –

»Allerdings. Und das hat mir noch niemand gesagt. Bin ich ein Kriegsgewinnler?!« –

»Warum sollten Sie für etwas Gutes weniger großzügig sein, als ...«

»Was als ...? Eine Unverschämtheit! Wie getrauen Sie sich nur? Ich soll Ihnen meine frühere Dummheit in bar bezahlen?« –

»Nicht mir.«

»Das ist ja noch schlimmer ... Wirklich – Sie haben sich wahrhaftig auch verändert! Aber nicht zu meinem Vorteil. Ich will die Köchin rufen, daß sie den Baum fortträgt in Ihr Hotelzimmer, und Sie auch mit!«

Er beschimpfte mich in allen Tonarten.

Endlich sagte er: »In fünfzig Jahresraten. Meinetwegen. Von jetzt bis 1966!« –

»Ich werde Ihnen genau erklären, wofür es sein soll. Dann machen Sie es schneller, übrigens stelle ich eine Bedingung.«

»Was? Sie stellen die Bedingung?!« –

»Ja, daß Sie diese Sache selbst in die Hand nehmen und als Ihre rein persönliche betreiben. Wie Sie es dann machen, ist Ihre Angelegenheit. Sie verstehen das ja auch besser, wie man die Dinge praktisch durchführt.« –

Er schimpfte aufs neue, daß er nun auch noch arbeiten solle, um etwas schenken zu dürfen, ließ sich aber jetzt alles ruhig erklären. Es handelte sich darum, einigen Kriegswitwen eine Existenz zu gründen, etwas, das nicht im Rahmen der allgemeinen Kriegshilfe getan werden konnte; denn diese hatte für eine große Schar vorzusorgen und mußte bedacht sein, daß die Bedürftigen wenigstens nicht dem Elend anheimfielen, sie mußte jedem etwas geben, der es bedurfte. – Was mir da in den Sinn gekommen war, konnte nur ein großmütiger Privatmann auszuführen versuchen, auf eigene Faust. Noch dazu mußte er geschäftlich erfahren sein.

Bromberger überlegte denn auch schon das Wie und Was. Er sagte, daß er nötigenfalls noch einen Bekannten für diese Sache gewinnen wolle. Die Kosten würden davon abhängen, wie man es in den einzelnen Fällen anfinge, und wie man es durchführe. Das bloße Geldhinlegen habe da nicht viel Wert, damit sei doch nur halb geholfen. Was er mache, müsse immer Hand und Fuß haben. Und werde es haben.

Das glaubte ich ihm aufs Wort. Natürlich überließ ich ihm alles Weitere. – Den Abend verbrachten wir zusammen. Als ich dann zur Christmette ging, überlegte ich auf dem Wege die Lehre, die mir gegeben worden war: daß sich nämlich ein einziger Einfall, besser gesagt, eine mir gewordene Einflüsterung, für die ich sozusagen nur Übermittler gewesen, wichtiger und wertvoller erwies, als alles, was ich im ganzen Jahre gearbeitet habe.

»Mach Platz – Ich bin's!«

April 1917

Ich kenne zufällig einige von den Herren, die im Laufe der letzten Jahre unserer Berner Gesandtschaft zugeteilt worden sind. Da jetzt ja so ziemlich die ganze Welt gegen uns im Kriege steht, ist Bern einer der wenigen Plätze, an denen überhaupt noch eine Möglichkeit, Auswärtigen Dienst zu tun, gegeben ist. Sie haben dort jetzt auch eine Wirtschaftsabteilung, Pressereferenten, und was weiß ich noch alles. Es gibt auch Bayern dort.

Vor etlichen Wochen erklärte mir Bromberger, daß der Moment, wo er sich für das Perlenkollier und dessen Folgen an mir zu rächen gedenke, gekommen sei. –

Eine junge Schweizerin aus gutem Hause, die er im Laufe der ihm von mir aufgebürdeten Hilfsaktion kennen und als Beraterin schätzen gelernt hat, ist mit einem deutschen Reserveoffizier verlobt. »Mit einem Juden, wie ich Ihnen von vornherein sage, lieber Amwald. Apropos – wie nennen Sie sich eigentlich: einen katholischen Deutschen oder einen deutschen Katholiken?« –

»Das kommt ganz auf den Zusammenhang an! Fragt mich jemand zuerst nach meiner Religion und dann nach meiner Nation, so antworte ich: ich bin ein deutscher Katholik. Wenn aber umgekehrt: ein katholischer Deutscher.« –

»Das heiße ich, der Hauptfrage geschickt ausweichen! Sind Sie zuerst ein Christ und dann ein Deutscher, oder umgekehrt?« –

»Auch ein Christ wird irgendwo geboren. Dem Volke, aus dem er geboren ist, bleibt er als Christ zugehörig, und auch verpflichtet. Er lebt ja nicht im hohlen Raum.« –

»Aber nicht wahr, man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.« –

»Selbstverständlich, wenn die Menschen einem etwas befehlen, was wider Gott ist. Der menschlichen Autorität gehorcht man übrigens nur in Bezug auf Gott.« –

»Wieso?« –

»Man gehorcht ihr doch nicht nach persönlichem Ermessen, sondern weil sie Autorität ist!« –

»Welchen Autors?« –

»Des Autors der Welt.«

»Und in der Demokratie? Demokratie heißt doch Volksherrschaft.« –

»Bezüglich der Autorität ist es im Prinzip das gleiche. Sonst hätte Gott keine Demokratien wachsen lassen.« –

»Demokratie ist also nicht des Teufel«?« –

»Das kommt auf die einzelne Demokratie selber an.« –

»Aber die Autorität hat auch sie von Gott?« –

»Woher denn sonst?« –

»Vielleicht müssen Sie sich selbst eines Tages beim Wort nehmen ... Der König von Preußen hat übrigens eingesehen, daß im Schützengraben nur ein Wahlrecht herrscht ... Es ist dieselbe Geschichte wie mit meinen Asiaten und Afrikanern – die kämpfen auch nicht mit, um nachher wieder unfrei zu werden ... Es wäre übrigens von Nutzen, wenn die Osterbotschaft des Königs von Preußen recht bald in die Tat umgesetzt würde ... Soviel ich höre, wäre dies nützlich – für ganz Deutschland!«

»Darf ich fragen, was das mit Ihrer Schweizerin zu tun hat? Und mit deren Verlobten?« –

»Nichts. Denn der Mann ist ein Bayer. Und deshalb hat die Sache mit Ihnen zu tun.« –

»Nämlich?« –

»Dieser Mann muß nach Bern versetzt werden. In die Presseabteilung. Damit ihn seine Schweizerin wieder lebend zurückbekommt. Verstehen Sie?« –

»Allerdings. Aber was habe ich damit zu tun?« –

»Sie belieben schwerhörig zu sein. Sie sollen natürlich dazu helfen. Es ist meine Rache für das Perlenkollier.« –

Ich erklärte Bromberger, daß ich nicht helfen könne. Aber er bestand darauf, daß ich es mit Hilfe meiner Berner Bekannten versuchen müsse. Ohnehin sei der Mann derzeit in einem längeren Erholungsurlaub. Das schiene ihm, Bromberger, der richtige Augenblick. Ich solle bitten, daß er von Bern irgendwie angefordert würde. Als Soldat sei der Mann ausgezeichnet qualifiziert, Eisernes Kreuz erster Klasse ...

»Um so weniger wird man ihn abkommandieren, lieber Bromberger!« –

»Versuchen Sie's zuerst einmal! Ich habe auch nicht geglaubt, daß ich mein Perlenkollier nochmals bezahlen, und sogar den Kaufpreis persönlich abverdienen müßte. Es hat mich Scherereien genug gekostet. Diese junge Schweizerin weiß es.«

Ich wollte es also versuchen, ließ mir von Bromberger genaue Daten über den Mann geben, und fuhr damit nach Bern.

Wider Erwarten glaubte mir ein Bekannter eine gewisse Hoffnung geben zu können, bat mich aber, doch zuerst einmal selbst mit dem Manne zu sprechen und ihm dann ganz offen zu berichten, ob ich ihn wirklich empfehlen könne.

Als ich dies Bromberger erzählte, triumphierte er. »Wenn Sie die Schweizerin sehen, werden Sie ihren Verlobten bestimmt empfehlen!« Und er ruhte nicht, bis ich mich mit ihm zu ihr begab. »Sehen Sie«, sagte er, »das ist die Verlobte! – wagen Sie zu behaupten, daß er nicht äußerst empfehlenswert ist!«

»Aber er selbst weiß ja noch gar nichts von unserem Anschlag«, gestand sie mir errötend, »Sie müssen ihn fragen, ob er überhaupt will.« –

»Wie?« rief Bromberger, »er steckt im brennenden Haus, und da soll man ihn erst fragen, ob man ihn herausholen darf?!« –

Das junge Mädchen versicherte, daß ihr Verlobter, wie sie ihn kenne, durchaus nicht stürmisch zugreifen werde. »Dafür ist er viel zu deutsch!« sagte sie zu mir, »und wenn Sie ihm nicht beweisen, daß er in Bern für sein Land, in dieser Presseabteilung, wirklich etwas leisten kann, so werden Sie einen schweren Stand mit ihm haben.« – Ich beruhigte sie darüber, indem ich ihr erwiderte, daß, wenn man ihn dort überhaupt nähme, er sicherlich zu arbeiten haben würde. »Wirklich rührend«, meinte Bromberger noch – »wie Sie immer dafür besorgt sind, daß andere zu arbeiten haben, auch ich und die junge Dame hier!«

*

Die Schweizerin schrieb also ihrem Verlobten, daß ich ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen wünschte, womöglich nahe an der Grenze, etwa in Konstanz.

Dort fand denn auch meine Begegnung mit dem Manne statt.

Es war ein Hüne an Gestalt, so blond und so blauäugig wie nur ein Friese, und ich hätte ihn nie für einen Juden gehalten. Sein sonstiges Aussehen bewies auch auf den ersten Blick, daß er nur von Kriegsrationen lebte; seines Geständnisses, daß er sich in diesem Jahre noch nicht richtig satt gegessen habe, bedurfte es nicht. Er äußerte Sorge, ob die Zivilbevölkerung den Hunger noch lange aushalten könne, den Hunger, das Frieren, den täglich zunehmenden Mangel an allem und jedem; unzählige stürben an Entkräftung dahin.

Ich gab ihm dann Nachrichten über seine Verlobte, so wie diese es mir aufgetragen hatte, und legte ihm schließlich die Angelegenheit dar, deretwegen ich gekommen war. Er verbarg seine Rührung nicht, dankte mir für unsere gute Absicht, und ließ sich von mir, so gut ich dies vermochte, über die ihm etwa zugedachte Tätigkeit Aufschluß geben. Leider wußte ich darüber selbst nicht allzuviel, bemühte mich aber zu tun, was mir seine Verlobte eingeschärft hatte: diese Tätigkeit als wichtig für unser Land zu erweisen, und setzte auch hinzu, daß natürlich erst abgewartet werden müsse, ob man ihn anfordern würde; daß seine Verlobte und ich es immerhin hofften. –

Er erbat sich Bedenkzeit bis zum anderen Morgen, und wir verbrachten den Abend zusammen. Er war Artillerist und konnte mir viel von draußen erzählen. Immer wieder kam er darauf zurück, daß er – besonders wenn nun auch die Vereinigten Staaten unseren Gegnern mit Menschen und Kriegsmitteln noch wirksamer als bisher zu Hilfe eilten – den Hunger und allgemeinen Mangel als eine schauerliche und unerbittliche Gefahr für den Ausgang der Dinge ansehe ... Selbst wenn wir mit Rußland früher zu Ende kämen, erhoffe er sich davon nicht viel, weil die russischen Transportverhältnisse nicht gestatten würden, unsere Versorgung zu verbessern; die Russen litten ja selbst immer mehr darunter ...

Eine so tiefernste und illusionslose Betrachtung unserer Lage schien mir darauf hinzudeuten, daß dieser Mann sich nicht weigern würde, gebotenen Falles in die friedliche Schweiz und zu seiner harrenden Verlobten zu kommen.

Am andern Morgen erschien er zum armseligen Frühstück übernächtig, aber ruhig und gefaßt.

»Ich habe«, begann er, »alles überlegt und die ganze Nacht kein Auge zugetan ... Auf der einen Seite die Front, unser armes Land, der Hunger – und infolge des Hungers früher oder später das bittere Ende ... Auf der anderen Seite die friedliche Schweiz, meine Verlobte, die ich wahrhaftig liebe, Heirat, und Sicherheit des Lebens, Glück und Freude, und die stille Arbeit in einem warmen Zimmer ...

Stoff genug für eine schlaflose Nacht ... eine Lebensentscheidung ...

Vielleicht – vielleicht hätte ich so gewählt, wie es meine Verlobte erwarten darf ...

Vielleicht! Aber ich bin Jude – falls Sie es noch nicht wissen sollten – ein deutscher Jude.

Und sehen Sie: mag es schon deutsche Juden geben, die anders handeln, wie es ja auch deutsche Christen gibt, die anders handeln ... als sie sollten – ich aber schulde es meinen deutschen Glaubensgenossen, daß ich ausharre ... daß ich ausharre bis zum bitteren Ende. Denn nicht nur habe ich, wie jeder andere Deutsche, für mein Vaterland einzustehen – das hätte ich auch in Bern gekonnt, weil die Arbeit dort, in ihrer Art, für das Land ebenso nützlich sein kann als das Schießen draußen, wo schließlich meinen Platz ein anderer einnehmen würde, ohne Gefahr fürs Ganze – aber als deutscher Jude stehe ich draußen auch für die Ehre meiner deutschen Glaubensgenossen ...

Nun, mit einem Wort: ich kann nicht! Ich bleibe Soldat. Erklären Sie es meiner Verlobten, sagen Sie ihr, wie weh es mir tut – sie wird mich verstehen!« –

 

So fuhr ich denn ergebnislos zurück.

Aber ich bin um eine Menschenerfahrung reicher geworden. Es freut mich doch, daß dieser deutsche Jude ein bayerischer Landsmann ist.

November 1917

»... Natürlich wissen Sie wieder nicht, was das Neue in Rußland ist?« –

»Die neue Revolution?« fragte ich.

»Ja, der Sieg Lenins über Kerensky. Wissen Sie, was das bedeutet?« rief Bromberger laut.

»Nein. Aber Sie?« –

»Allerdings, ich! Das bedeutet, daß sich Rußland vom Westen, von Europa, abgewandt hat, und daß es sich dem Osten, Asien, zugewandt hat. Kerensky, das war Europa. Und das ist vorüber. Der Bolschewismus, das bedeutet Asien.«

»Das scheint Sie zu freuen?« –

»Lieber Herr, das ist keine Gefühlsangelegenheit. Das ist die Ankündigung eines geschichtlichen Faktums.« –

»Welches Faktums?«

»Des Faktums, daß das englische Imperium, wenn es jetzt den Krieg gewinnt, in spätestens fünfzig Jahren, vielleicht schon in fünfundzwanzig oder dreißig, seinen Sieg verlieren wird! Des Faktums, daß Deutschland, wenn es jetzt den Krieg verliert – wie soll es ihn gewinnen? –, in spätestens fünfzig Jahren, vielleicht auch in der Hälfte Zeit schon, eine ganz, ganz andere Weltlage vor sich haben wird!« –

»Ich verstehe Sie nicht recht, lieber Bromberger. Erstens wissen Sie ja nicht, ob sich das neue Regime in Rußland hält. Zweitens: wenn auch – wo sehen Sie den Nutzen für Deutschland, was hilft ihm Asien und Afrika?«

»Erstens wird sich das Regime halten. Es hat den russischen und russisch-asiatischen Völkern sofort die Freiheit gegeben, es hat sich mit ihnen zu einer föderalistischen Republik zusammengetan. Das haben Sie wieder einmal nicht bemerkt ... Föderalistische Reiche halten sich immer, weil sie ihre Kräfte vervielfachen, weil freie Völker hundertmal mehr Kraft haben als solche, die in einem einzigen Verwaltungstopf ausgekocht, zu Brei verkocht werden ... Das sollten Sie als Bayer zur Not verstehen, dickköpfig genug wären Sie dafür! – Zweitens: wenn sich die Völker Asiens und Afrikas freigemacht haben werden, dann wird Deutschland unter ihnen nicht einen einzigen Feind haben! Weil es nämlich nicht zu ihren Unterdrückern gehört! Das muß Ihnen doch einleuchten. Oder nicht?« –

»Ganz recht. Aber darüber gehen Generationen hin.« –

»Natürlich, Sie erleben es vielleicht nicht. Aber das deutsche Volk lebt länger als Sie – man kann es auch nach der Niederlage nicht wegtransportieren und im Meer ertränken! Daran müssen Sie sich nun schon gewöhnen, an den Gedanken, daß die Völkergeschichte nicht mit dem Maß Ihres persönlichen Lebens gemessen werden kann! Das ist mein einziger Trost ...«

»Mag wohl sein, aber es lebt und stirbt doch eine ganze Generation mit uns, und es werden doch alle mitgetroffen.« –

»Das ist gewiß sehr traurig. Aber Weltkriege werden nun einmal von Völkern geführt. Da ist es doch immer noch ein Trost, daß aus einem Volke Generationen nachwachsen. Daß also mit uns nichts zu Ende geht – als unser Zeitalter, das wohl dazu reif gewesen sein muß ... daß es überhaupt noch einen Übergang in ein neues Zeitalter gibt!« –

»Das dann aber vielleicht doch das letzte ist, wie mir scheint, lieber Bromberger – – –.«

Ich bin mitschuldig an alledem und für alles mitverantwortlich! Und es sind alle an alledem mitschuldig und für alles mitverantwortlich. Denn unschuldig sind nur die Gerechten, die Seinen Frieden angenommen haben, den Er uns allen angeboten hat; den Frieden, den die Welt nicht gibt, noch geben kann, den aber die Seinen erkannt und angenommen haben. Die Seinen, das sind die Geringen, die Kleinen, die Kind-gebliebenen oder wieder Kind-gewordenen, die nichts aus Eigenem sein wollen, sondern aus der Kraft ihres wahren und lebendigen Glaubens das Leben einfältig und tapfer als ihr Kreuz tragen. Als die Geringen und Kleinen sind sie auserwählt; denn es steht geschrieben: »Ich danke Dir, Vater, daß Du es den Geringen geoffenbart hast.« Diese allein sind unschuldig, auch an diesem Kriege, dessen Opfer sie mit den Schuldigen sind. Von ihnen, den Unschuldigen, aber gilt auch in diesem Kriege, was geschrieben steht: »Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Brandopferaltar die Seelen derer, die geschlachtet waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie hatten. Sie schrien mit lauter Stimme und sprachen: ›Bis wann, o heiliger und wahrer Herr, richtest Du nicht und rächst unser Blut nicht an den Bewohnern der Erde?‹ Es wurde einem jeden von ihnen ein weißes Gewand gegeben; und es wurde ihnen gesagt, sie sollten noch eine kurze Zeit Ruhe geben, bis die Zahl ihrer Mitknechte und Brüder erfüllt würde, die getötet werden sollten, wie auch sie.« –

Ich aber und wir anderen alle sind mitschuldig, mitverantwortlich. An alledem, was seither gekommen ist: – auch an der Sommeschlacht, und an Verdun, und Donaumont ... und an der Abschlachtung des armenischen Volkes; und an allem, was unser ganzes Volk leidet, und was alle anderen Völker in diesem Kriege erleiden müssen; und auch an der russischen Revolution.

Wir haften alle mit, wir stehen in einer Haftung, wir in allen diesen Völkern. Mag des einen oder des anderen Anteil verschieden groß sein, er bleibt für jedes schuldträchtige Gewissen schwer genug.

Der Papst hat diesen ganzen modernen Krieg »ehrlose Menschenschlächterei« genannt.

Nicht die unschuldigen Opfer sind ehrlos, ob sie in den Schützengräben stehen, oder in der Heimat verhungern; sie wahrlich nicht.

Wir anderen aber, wenn wir uns aus dieser Schuld je retten wollen, müssen Kind werden wie sie. Ich danke Dir, o Gott, daß Du mich hast erkennen lassen, daß ich nichts bin.

Hilf uns allen!

Denn das Morden geht fort:

Morden vom Aufgang bis zum Untergang, im Abend- und im Morgenland – wahnwitziges Morden, Morden an Männern, Frauen, Greisen, Kindern, Morden und Mordbrennen ohne Unterlaß. Und das Morden an den Seelen!

Geheime Offenbarung 8, 10-21:

»Der sechste Engel posaunte. Da hörte ich eine Stimme von den Hörnern des goldenen Altars, der vor Gott steht, zum sechsten Engel, der die Posaune hatte, sprechen: Löse die vier Engel, die am großen Flusse Euphrat gebunden sind. Und die vier Engel wurden gelöst, die auf Stunde und Tag und Monat und Jahr gerüstet waren, den dritten Teil der Menschen zu töten. Die Zahl des Reiterheeres war zwanzigtausendmal zehntausend; ich hörte ihre Zahl. Und so sah ich die Rosse im Gesicht und die auf ihnen saßen: sie hatten feurige und hyazinthen- und schwefelfarbene Panzer, und die Häupter der Rosse waren wie Löwenhäupter; aus ihrem Munde kam Feuer und Rauch und Schwefel heraus. Von diesen drei Plagen wurde der dritte Teil der Menschen getötet, von dem Feuer und dem Rauch und dem Schwefel, die aus ihrem Munde aufgingen. Denn die Macht der Pferde ist in ihrem Munde und in ihren Schwänzen. Denn ihre Schwänze sind Schlangen gleich und haben Köpfe, und mit ihnen verderben sie. Und die übrigen Menschen, die nicht getötet wurden durch diese Plagen, bekehrten sich nicht von den Werken ihrer Hände – – und sie bekehrten sich nicht von ihren Mordtaten, noch von ihren geheimen Mitteln, noch von ihrer Unzucht, noch von ihren Diebstählen.«

Weihnacht 1917.

15. März 1918

Ich bin in Deutschland gewesen. –

*

Durch meine armselige Mitarbeit an der und jener Hilfsaktion war ich manchmal auch mit edlen Schweizern zusammengetroffen, Menschen, die gewissermaßen täglich den Horizont absuchten, ob nicht eine Morgenröte das Ende des Weltgrauens anzeige. Es fragte mich einer von diesen Menschen, ob ich nicht einmal mit einem seiner Freunde sprechen wolle, der allerdings einer mit Deutschland kriegführenden Macht angehöre, aber seit langen Jahren friedlich in der Schweiz wohne. Er (der erwähnte Schweizer) halte diesen Freund für gut unterrichtet, aber es sei durchaus meine Sache, ob ich eine Aussprache riskieren wolle. Für seinen Teil denke er, jeder Mensch solle heute jeder noch so unwahrscheinlichen Friedensspur nachgehen, und wäre es nur, um selber damit zu bezeugen, daß er den Frieden wolle.

Der Schweizer machte mich also mit seinem Freunde bekannt. Es war ein Mensch, der es vorzog, mehr über die mögliche Gestaltung einer besseren Zukunft nachzudenken als über die grausame Gegenwart. Mir schien es wichtig, daß es überhaupt noch solche Menschen gab, und was dieser Mann dachte, dünkte mich wert, es auch Landsleuten zur Erwägung anheimzustellen.

Diese Begegnung hatte ich Ende Februar.

Um eben diese Zeit wurde in der Schweiz plötzlich mit aller Bestimmtheit behauptet, daß am 21. März eine neue deutsche Offensive beginnen werde. Es hieß nicht: nächstens, bald, oder in einigen Wochen, sondern: am 21. März. Mir selbst wurde das Datum von einem Schweizer mitgeteilt. Bromberger hatte davon gehört, ebenso Boris. Die Behauptung tauchte in Bern, Genf und Zürich mit der gleichen hartnäckigen Bestimmtheit auf. Man sprach davon sogar schon in meinem Hotel. Es war also anzunehmen, daß in der Verbreitung dieses Gerüchtes eine gewisse Absicht lag; welche, ließ sich schwer erraten. Auch blieb mir dunkel, von wem es in Umlauf gesetzt worden war. So oder so, machte es seinen Weg sehr rasch und entfesselte natürlich, unter Deutschen wie unter Schweizern, manche heftige Meinungsstreitigkeiten. Die einen hörte ich laut sagen, der Endschlag und Endsieg stände somit endlich bevor; die anderen erklärten ebenso laut, wir müßten mit Blindheit geschlagen sein, wenn wir unter den gegebenen Verhältnissen wirklich noch eine Offensive wagen würden. Alle aber schienen überzeugt, daß die letzte Entscheidung dieses Krieges nunmehr in der Tat naherückte.

Das Aufkommen dieses Gerüchtes war für mich ein Grund mehr, ernstlich zu überlegen, wer von früheren Freunden und Bekannten derzeit etwa in Berlin sei, und wem von ihnen ich die Gedanken jenes friedlich gesinnten, deutschfreundlichen Ausländers darlegen könnte. So ungern ich noch vor wenigen Jahren jede Berührung mit Menschen aus meinem früheren Leben ins Auge gefaßt hätte, so sagte ich mir jetzt, daß ich in einer solchen Sache nicht im geringsten an mich selbst denken dürfte. Es handelte sich um Friedensgedanken ... »Mach Platz! – Ich bin's!« –

Bromberger drang heftig in mich, nichts zu versäumen, was jetzt auch nur die geringste Aussicht hätte, in Berlin von vernünftigen Menschen weitererwogen zu werden; jetzt komme jede, halbwegs noch rechtzeitige Abkürzung des Krieges vor allem den Deutschen zugute ... »Sie können den Leuten auch zugleich sagen, sie möchten doch wenigstens jetzt an ihren Bismarck denken und sich nicht unheilbar mit Rußland verfeinden – davon profitieren nur die Gegner ...«

So reiste ich denn nach Berlin, wo ich am 5. März ankam. Es war mir empfohlen worden, im Hotel H... abzusteigen; dort verkehre die Generalität, und infolgedessen werde man von den unvermeidlichen Kontrollen dort am wenigsten heimgesucht.

Auf einem ersten morgendlichen Gang durch die Straßen wurde ich neuerdings, mit unsagbarer Deutlichkeit, der Leidensfähigkeit und Dulderkraft unseres arbeitenden Volkes gewahr. Hunger und Erschöpfung sprachen aus allen Augen. Dennoch gingen alle diese Menschen mit einem gewissen stillen Eifer an ihre Arbeitsstätten, in ihre Bureaus, in ihr Geschäft. Armselig hing ihre Kleidung über den abgemagerten Körpern, den gebeugten Rücken; die Schuhe waren zerrissen und abgetreten. Aber die Blicke dieser Menschen streiften die wenigen Gutgekleideten auf der Straße nicht eigentlich mit Neid, sondern eher mit Befremdung, etwa so, wie Betende in der Kirche einen unfrommen Touristen betrachten mögen, der sie durch geräuschvolles Umherwandern in ihrer Andacht stört. Es lag wirklich auf den grauen Leidensgesichtern dieser erschöpften und doch immer noch willigen Arbeitspilger eine gewisse Weihe und Heiligkeit. Von ihnen belebt, bot der ganze Potsdamer Platz um diese nebelgraue Morgenstunde ein geheiligtes Bild ... es schien zu sagen: Ja, Wanderer, halte still und betrachte uns – wo ist ein Volk, das so leidet wie wir? ... Am furchtbarsten ergriff mich der Anblick eines alten Briefträgers, der nur noch Skelett war, eine wandelnde Leiche. Und dennoch ging er seinen Botengang mit einer gewissen tapferen Eile ... »und läuft den Weg gleich als ein Held!« – Ich sah aufs neue: das Volk in Deutschland ist das beste der Welt. – – –

Die Aufgabe jedoch, die ich mir in Berlin gesetzt hatte, brachte mich mit einer ganz anderen Schicht von Menschen in Berührung. Persönlich wurde ich überall gut empfangen, man schien sich meiner Geschichte von ehedem kaum noch zu erinnern, soviel hatte jeder seither erlebt. Aber in der Sache, um die es mir zu tun war, erzielte ich nicht den geringsten Erfolg. Nach vier Tagen vergeblichen Geredes konnte ich nicht mehr daran zweifeln, daß ich ebensogut hätte in der Schweiz bleiben können.

Am letzten Tag ging ich übrigens noch zum Freiherrn von R..., einem Mann, der überall, und mit Recht, für seinen gesunden Menschenverstand bekannt war. Leider hatten ihn schwere Schicksalsschläge in seiner Familie – er hatte seine drei Söhne im Kriege verloren und ihre Mutter war ihnen nachgefolgt – der Tatkraft beraubt, und ein gewisser melancholischer Zynismus, in dem er sich zeitweise gefiel, versteckte nur seine innere Müdigkeit und Einsamkeit ... Immerhin war an diesem Tage sein Vorzimmer voll von wartenden Leuten, wir mußten uns alle sehr lange gedulden, und ich war zudem noch der letzte in der Reihe. Die Menschen in diesem Raum unterhielten sich ohne besondere Scheu. Einige, die mir durch ihr flackriges Wesen auffielen, beratschlagten über Geschäfte mit Treibriemen und ähnlichen Dingen, die sie vielleicht besser im nächsten Café abgewickelt hätten. Andere, die sich über die Weltlage aussprachen, verrieten mehr eifrige Gesinnung als Einsicht. Ihr Anblick war gewiß edler als der jener nervösen Privatgeschäftsleute, und ersichtlich hatten sie die Prüfungen der Zeit gekostet ... Aber die allgemeine Unruhe hier im Raum, die hektische Lebhaftigkeit der Besucher stimmte entmutigend. Nur zwei Menschen verhielten sich still, ein würdiger Greis und eine verschleierte junge Frau, vielleicht seine Tochter, die beide gleich Statuen am Fenster saßen und niemanden zu sehen schienen. Man mußte sie für vornehme Fremde halten, noch mehr wegen ihrer Bewegungslosigkeit als wegen ihres gewissen morgenländischen Aussehens. Vielleicht waren es Flüchtlinge aus dem asiatischen Rußland. Ich hatte neben dem Greis Platz genommen und ergab mich einem unfrohen Schweigen. Der Alte beachtete mich gar nicht. Schließlich aber, als ein Besucher nach dem andern vorgelassen worden war, saßen der Greis, die junge Frau und ich allein noch im stillgewordenen Raum ... Plötzlich sagte er zu mir mit fremdartiger Stimme: »Ich weiß, was der Herr denkt.« – Ich blickte ihn erstaunt an, er lächelte. »Ich weiß, was der Herr denkt«, – wiederholte er.

»Ich denke aber gerade an gar nichts«, – antwortete ich.

»Doch, der Herr denkt, daß Deutschland muß verlieren den Krieg, durch Hunger ... und durch anderes.« –

Ich sah ihm ruhig ins Gesicht. Er lächelte wieder und sagte: »Ja, das denkt der Herr.« –

»Nicht gerade verlieren«, erwiderte ich, »aber doch schwerer gewinnen.« –

»Verlieren!« sagte der Alte und schwieg.

»Verlieren«, begann er nach einer Weile wieder, – »aber das geht nicht zuletzt.« –

Ich sah ihn fragend an. Er begriff, daß er sich mangelhaft ausgedrückt hatte. »Das bleibt nicht«, sagte er erklärend ... »Sondern kommen später andere Bilder ... Mensch lebt Jahr, Volk lebt Jahrhundert ... Hunger ist nicht Sieg von Feind ... Hunger ist Intervall ... Intervall, was ist das? ... Pause, gut ... Hunger ist Pause ... kommen später andere Bilder ... nicht sehr spät, zwanzig, dreißig Jahr ... Deutsches Volk bestes Volk ... kommen wieder andere Bilder, Wechsel über ganze Welt, und alles ... Möge der Herr nicht Schmerz tragen! Volk lebt Jahrhundert.« –

Er schwieg. Antwort schien er nicht zu erwarten. Die junge Frau neben ihm saß noch immer bewegungslos da und sah zu Boden. Die Beiden waren wirklich wie eine Erscheinung aus dem Morgenland, ich werde sie nicht so leicht vergessen.

Sie wurden endlich vorgelassen, und nach ihnen, als vorläufig letzter an diesem Tag, auch ich. Die Besprechung mit Baron R... verlief persönlich angenehm, aber in der Sache ergebnislos. Ich bewunderte seine Klarheit, seinen Witz, und erstaunte über seine Apathie. »Wir können nun einmal hier nichts machen, fragen Sie mich gar nicht, ich will nicht darüber reden –«, mit diesen Worten beendigte er das Gespräch.

»Ja, wird denn für das Kriegsende hier gar nichts vorbereitet ...?« sagte ich, schon halb im Weggehen.

»Doch, doch«, antwortete er bitter, »ich und noch ein paar Herren hier haben unser Testament schon gemacht ... wollen Sie nun, daß ich auch das Sterben noch einübe?« –

Als ich durch sein Vorzimmer fortging, sah ich dort schon wieder jemanden am Fenster stehen und warten, irgendein hochaufgeschossenes junges Mädchen, wie mir schien. –

Andern Tags wollte ich in die Schweiz zurückkehre». Ich sah, daß nichts zu tun war, ich mußte mich darein ergeben – ganz wie Baron R... und wohl viele andere auch.

Den Nachmittag und Abend wollte ich nun noch allein in Berlin verbringen, allein mit meinen Enttäuschungen, aber doch wenigstens ohne weitere erfolglose Besprechungen. Auf einem kleinen Umweg ging ich ins Hotel zurück. Ich wollte etwas essen, aber es gab nichts, und für das Abendessen war es noch viel zu früh. Im ganzen Saal befand sich ein einziger Gast, eine junge Dame; sie saß so, daß sie auf die Straße sehen konnte, und trank leeren Tee oder dergleichen. Ich setzte mich an den nächsten Tisch, dicht neben dem ihren, weil ich auch das Straßenleben betrachten wollte. Aber alsbald versank ich in trübe Gedanken und sah eine kleine Weile nichts mehr. Dann fiel mir plötzlich die Stunde im Vorzimmer des Barons R... wieder ein, auch die Worte jenes »Alten aus dem Morgenland«: ... ›sondern kommen später wieder andere Bilder, Wechsel über ganze Welt, und alles ...‹ wiederholte ich in Gedanken.

»Verzeihen Sie«, sagte da die junge Dame am Nebentisch halblaut und wandte sich mir zu. »Bitte?«, fragte ich mechanisch und sah sie an. Sie schien schlank und groß zu sein, noch ein ganz junges Mädchen.

»Ich möchte etwas fragen«, sagte sie. Da erhob ich mich und begab mich an ihren Tisch.

»Oder störe ich Sie?« fragte sie jetzt.

»Ich erwarte niemand«, antwortete ich ausweichend.

»Ich möchte Sie etwas fragen, entschuldigen Sie!« –

»O bitte ...« Ich setzte mich.

»Sie kommen vom Ausland?« –

»Ich komme vom Ausland und gehe ins Ausland. Aber ich bin ein Deutscher.«

»Gehen Sie in die Schweiz?«

»Ja, in die Schweiz.«

»Nun eben ... ich habe es erraten. Sie sind kein Kaufmann.«

»Nein.«

»Nun eben«, sagte sie nochmals, offenbar ihre eigenen Gedanken bestätigend.

Ich sah sie fragend an. Sie schien ernst und bekümmert zu sein ... wie alle guten Menschen in dieser Zeit.

»Was denken Sie vom Krieg?« fragte sie, »wie steht's mit uns, was sagt man draußen?« –

»Nun ja, die Leute reden ... dies und das –«, erwiderte ich zögernd.

»Wird es noch lang dauern?« fragte sie weiter. –

»Solange wir's eben noch aushalten.« –

»Den Hunger, meinen Sie?« –

»Nicht nur.« –

»Sie wollen nichts sagen. Aber ich muß mit Ihnen reden. Entschuldigen Sie!« –

Der schmerzliche Ernst ihrer Miene entschuldigte sie auch ohne Worte. »Verfügen Sie nur über mich – «, sagte ich teilnehmend.

»Sie kommen von draußen und gehen wieder fort?« –

»Schon morgen gehe ich wieder.« –

»Und dann sind Sie fort?« –

»Ja, dann bin ich wieder fort.« –

»So muß ich Ihnen etwas erzählen ... Ich bin ... ich war ... ich bin verlobt. Mein Verlobter ist vor drei Tagen vom Kriegsgericht zum Tode verurteilt worden. Zum Tod durch Erschießen.« –

Ich schrak zusammen und konnte kein Wort sagen.

»Ja ... ja, so ist es«, beteuerte sie, ... »ja, es ist sogar noch mehr.«

»Noch mehr ...?« rief ich fassungslos.

»Ja, ja ... noch Ärgeres, noch mehr ... das ist es doch, was ich Ihnen erzählen will ... denn ich bin jetzt ein armer Mensch, wissen Sie ... ein ganz armer Mensch bin ich jetzt.« –

»Ja wahrhaftig! – –«

»Mein Verlobter ist aber ein sehr schöner Mensch, so groß wie ich, aber nicht blond, sondern dunkel, schwarzhaarig ... sehr schön ...

Ich habe ihn vor drei Monaten kennen gelernt, im Hotel K..., das kennen Sie jedenfalls. Im Hotel K... beim Tee, wissen Sie.

Es war so ein Tee zugunsten von irgend etwas, wie man es jetzt so hat ... habe vergessen, was ... nein doch nicht ... es war für ein Marinesanatorium.

Sagte mein Vater des Morgens zu mir: ›Geh hin, Trude, geh du hin!‹

Mein Vater ist eigentlich Ingenieur, wissen Sie ... für Marinesachen, auch Unterseeboote und so – er ist ein großer Erfinder. Bis zum Krieg haben wir natürlich eine eigene Fabrik gehabt, in Moskau ... Waren 1914 gerade in Hamburg, sonst wären wir wohl heute nicht hier. Baronesse St... bin ich.«

Sie nannte einen baltischen Namen, und ostseedeutsch sah sie auch aus. Als ich mich ihr vorstellte, sagte sie: »Ja, ja ...«, als ob sie bestimmt erwartet habe, meinen ihr doch völlig unbekannten Namen zu hören. Die Teilnahme an ihrem Kummer verbot mir, sie um nebensächliche Erklärungen zu bitten. –

»Sagt mein Vater also: ›Trude, geh du hin, ich habe keine Zeit, das heißt, ich komme später und hole dich ab.‹ Ich bin also gegangen ... ja. Waren viel Leute im Hotel K..., es ging da nicht so genau, es ging ziemlich durcheinander. Saßen da unsere Bekannten ... wir sind natürlich Deutsche ... dazwischen Leute, von denen man nur so eben den Namen wußte, ganz obenhin ... dann wieder Bekannte, und so ...

Nun, da sitzt mir schräg gegenüber ein ... nun ja, so ein ganz einfacher Infanterieoffizier, Oberleutnant. Und der fällt mir plötzlich auf. Vielleicht, weil er mir soeben einen Blick zugeworfen hatte, vielleicht auch, weil er so ganz anders aussah, als alle anderen Menschen, die da herumsaßen. Ich erinnere mich noch gut: ich dachte nämlich, es könnte vielleicht ein Pole sein, der Familie nach ... Polen gibt's ja auch dunkle ... ziemlich viel, nicht wahr ...?«

Sie hielt einen Augenblick inne, und es kam der leise Schimmer eines Lächelns in ihre Augen, während sie durch das Fenster auf die Straße hinaussah ... eine Sekunde lang, dann verflog sich der Schimmer, und ihr junges Gesicht blickte wieder starr und bekümmert wie vorher.

»Ja, er hatte mir gerade einen Blick zugeworfen, da fiel er mir plötzlich auf ... Es ist schon sonderbar, wissen Sie: er ist ja nicht bloß sehr schön ... sondern er hat in seiner Physiognomie etwas so ganz Eigenes, etwas, was wir hier gar nicht kennen ... irgendwie so geistig, meine ich natürlich, und dabei doch so ausdrucksvoll ... nicht so, wie soll ich sagen ... nicht so streng wie hier oben – nun, das läßt sich nicht beschreiben, es liegt ja auch nicht am äußeren Aussehen ...

Ach ja ... Wissen Sie, und wie er mir da so auffällt, sehe ich ihn ganz fest an. Und denke mir: das kann kein Bürgerlicher sein, so sieht kein Bürgerlicher aus ...

Ja, das habe ich gedacht. Ich sage es ganz offen, denn sehen Sie, so bin ich: Wenn ich schon einmal etwas erzähle, dann alles ganz offen. Oder dann überhaupt nicht. Ja, so bin ich ...

Und er hat mir eben gut gefallen, natürlich. Ich sage leise zu Liese Strachwitz – die saß nämlich neben mir – ›du‹, sag' ich, ›wer ist denn der da drüben?‹ –

›Das ist ein Bayer‹, sagt Liese.

›Wie heißt er denn?‹ –

›Ach, der heißt so ... wie heißt er gleich nur ... Schulze haben sie da unten nicht ... na, wie denn nur ... ich hab's doch gewußt ... ja doch: Köfler heißt er.‹ –

›Köfler? was ist Köfler? ist das eine Familie?‹ –

›Nein, gar nichts, natürlich nicht. Ist eben so ein Name. Von uns kennt diesen Köfler auch niemand näher. Sehe ihn heute zum zweitenmal ... hat anscheinend Urlaub.‹ – So sagte Liese Strachwitz.

Aber sehen Sie, mir kam das nun ganz merkwürdig vor, daß dieser Mann nicht von Familie sein sollte. Ich war einen Augenblick lang vor den Kopf geschlagen ... ich bin da eben so ... wie gesagt ... Aber dann habe ich ihn doch noch mal angesehen – ach, ich weiß ja alles noch so genau ...«

Wieder kam, kürzer noch als das erstemal, jenes leise Leuchten eines Lächelns, kaum merklich, in ihre Augen und erlosch wieder.

»Tja, also noch mal angesehen ... und er mich. Lang und fest ... bis ins Herz hinein ... Und das war eben der Augenblick, das ist der Augenblick gewesen ... nicht wahr ... Nun, und da war mir dann auf einmal, ich weiß es noch wie heut, so ganz eigen zumut, ganz so wie manchmal früher, am Sonntag in Moskau, wenn wir nach der Kirche ausgefahren find in den alten Park, herrlich und wunderbar ... wir, nämlich Vater und ich ... Ach ja, Vater und ich ... und jetzt sind wir zwei arme Menschen ...

Aber das kommt später.

Damals also, vor drei Monaten, das war der Augenblick für Fritz ... genannt Köfler ... und für mich. Da ist er in mein Leben eingetreten und ich in das seine ... eben dadurch, daß wir uns so angesehen haben ... dadurch war alles eröffnet und dann beschlossen ... Nun hatte ich ihn eben lieb ...

Ich habe darüber nachgedacht, in den letzten drei Tagen ... und Nächten besonders ..., ob er damals eine bestimmte Absicht gehabt haben könnte ..., denn ich bin ja nicht sehr schön. I am not fishing for compliments, Sie verstehen ...«

Ich nickte.

»Nein, not fishing for compliments, natürlich nicht ... Mein Verlobter ist zum Tode verurteilt! ...«

Sie schwieg wieder und sah ins Leere. Und dann fuhr sie fort, mit ihrer etwas singenden Stimme: –

»Ja, ich habe darüber nachgedacht ... darüber, und wie es überhaupt gekommen ist ... Ich habe nie geflirtet, aber nur weil ich das nicht kann ... will mich durchaus nicht loben, bin nur zu schwerfällig dazu ... vielleicht zu deutsch ... So war es eben gleich Liebe ... Aber auch er kann damals keine schlechte Absicht gehabt haben ... es war auch bei ihm nicht, um zu flirten.

Aber wie war's mit mir! ... Ach, wie schön, wie traurig, wie bitter und süß, wie verloren und gewonnen ...! Alles, alles in einem ... es hat sich einfach mein ganzes Menschenwesen erfüllt ...«

Ich betrachtete sie voll Rührung. »Ja, so ist es«, sagte ich.

»Nicht wahr«, sagte sie traurig lächelnd. »Ich werde Ihnen schon noch sagen, warum ich gerade Ihnen das alles erzähle ... Natürlich auch, weil Sie fremd sind, auch deshalb ... Reisen Sie wirklich bald fort?« –

»Morgen früh reise ich.« –

»Und dann sind Sie fort.« –

»Dann bin ich fort.« –

»Einem solchen Menschen erzählt sich leichter ... entschuldigen Sie nur! – Wie war's also ... ja, Liese Strachwitz ruft mir plötzlich in die Ohren: ›Du hörst ja gar nicht zu‹, sagt sie ... Und das war richtig, denn ich hatte mir gerade gedacht: Mag er auch Köfler heißen, meinetwegen – –

Liese Strachwitz ging aber bald heim, da wurde der Platz neben mir frei, und er setzte sich neben mich, sagte seinen Namen, und ich sagte ihm den meinen. Sagte nicht Baronesse, weil er ja auch nur Köfler hieß ... sondern sagte: ›Trude St...‹, tout court. Aber er gab mir doch gleich die Baronesse, da wußte ich, daß er den Namen kennt ... Ich fragte ihn, woher er ihn kenne ... ›Nun, den Namen kennt man doch‹, sagt er. Ganz einfach ... ist überhaupt ein einfacher Mensch ... trotz allem ... was Sie noch hören werden ... Und dann begannen wir zu reden... Er hat eine leise Stimme, aber spricht sehr deutlich ... Alle mußten ihn hören, das ärgerte mich ein wenig ... Er sei auf Urlaub in Berlin, sagt er. ›Wie lang noch?‹ fragte ich ihn sehr schnell, so daß ich mich nachher schämte ... ich bin sonst eher langsam, schwerfällig ... aber dies hat mich eben aufgeweckt ... besonders in den letzten Tagen ... Aber das kommt noch.«

Sie atmete tief auf und fuhr fort:

»Schließlich kam Vater, und da war mir auch wieder ganz eigen zumute. Wissen Sie, was ich dachte, als Vater hereinkam? ›Wie gut, daß du da bist, Vater, es ist hier so herrlich!‹ – das dachte ich, aber sagte es nicht, sondern machte Vater mit ihm bekannt, voller Stolz. ›Oberleutnant Köfler aus Bayern‹, sagte ich. Mein Vater hat mich überrascht angesehen. Nun, und dann unterhielten wir uns zu dritt. Wieder spricht dieser Köfler ganz einfach, so ganz au pair, wissen Sie ... Woher hat er das nur? fuhr mir durch den Kopf ... Und ich freute mich über seine Sicherheit und über die Ruhe, auch über die Gescheitheit von allem, was er zu Vater sagte. Sie redeten bald von Politik, ich hörte nur zu. Er schien viele Länder gesehen zu haben, Frankreich, Italien, alles ... Mein Vater freute sich auch ... ja, mein armer, armer Vater ... Ich höre noch, wie er Köfler fragt: ›Und wie wird's weitergehen, wie wird's werden, was denken Sie?‹ da antwortet er ganz langsam: ›Ich glaube, es wäre Zeit, Schluß zu machen, sonst wird's zu spät, meinen Sie nicht?‹

›Hm, ja ...‹, sagt mein Vater, ›hm, ja, warum meinen Sie denn?‹ –

›Das Volk hungert schon zu lang ... so geht es nicht mehr lange ... es gibt sonst bald Revolten.‹

›Ja, ja, das ist wahr ... nun ja ... ich habe aber noch was Schönes für die Unterseeboote erfunden, etwas ganz Schönes ... da können sie viel länger in See bleiben ... Betriebsstoffersparnis, Motorenverbesserung und so weiter.‹ –

›Oh, das interessiert mich sehr – sehr!‹ sagt er zu meinem Vater.

›Verstehen Sie etwas davon?‹

›Ein wenig, ein wenig.‹ Und sie geraten sogleich in ein technisches Gespräch, von dem mein Vater begeistert war. ›Hören Sie‹, sagt Vater, ›haben Sie denn eigentlich das Fach studiert?‹ –

›Manches davon.‹

›Manches? Allerlei sogar, wie mir scheint‹, lobt ihn mein Vater.

Da war ich wieder sehr stolz. Die beiden Männer unterhalten sich weiter, teils wissenschaftlich, teils politisch. ›Wie lange bleiben Sie noch?‹ fragt plötzlich mein Vater begeistert ... er ist immer so glücklich, wenn er einem gescheiten Menschen begegnet ... und dann gleich so vertrauensselig ... mein lieber Vater ... ich habe auch über ihn soviel denken müssen, in diesen Tagen ...

›Wie lange bleiben Sie noch?‹ fragt er also Köfler.

›Höchstens zwei Wochen.‹ –

›Sie müssen uns unbedingt besuchen.‹ –

Ich erinnere mich, daß Fritz ... Köfler ... in diesem Augenblick gezögert hat ...

Dann aber schaut er mich an, und ich ihn ...

›Oh, sehr gern!‹ sagt er endlich, ›sehr gern ...‹

Am andern Tag kam er denn auch, zum Tee.

Ich hatte eine fast schlaflose Nacht hinter mir ... Und als er nun da war, die ganze Zeit über, war ich in einer so glücklichen Müdigkeit ... ich sah sogleich, daß er ... nun ja, daß er mich liebte.

Er gab sich auch während der Unterhaltung alle Mühe, das Gespräch so zu führen, daß ich alles verstehen mußte ... hohe Politik und all dies.

›Nichts für ungut‹, sagte schließlich mein Vater, ›ich sehe schon, ich habe bisher von den Bayern zu wenig gehalten ... haben Sie da unten noch mehr solche Leute wie Sie?‹ –

›Ich habe eben viel im Ausland gelebt‹, antwortet Fritz.

›Ja, ja, ausgezeichnet‹, sagt mein Vater, ›ausgezeichnet ... gibt nichts Besseres, als in jüngeren Jahren die Welt kennen zu lernen ... auch nach diesem Krieg, und immer!‹ –

Dann aber verwickelt er Fritz wieder in ein technisches Gespräch – vielleicht um seine Kenntnisse zu prüfen, ›Sie müssen mich unbedingt in meinem Arbeitszimmer besuchen, darf zwar für gewöhnlich niemand hinein, aber Sie müssen ... unbedingt ... will Ihnen einiges zeigen ... Kommen Sie morgen!‹ –

Es schien mir aber, als ob Köfler wieder etwas gezögert habe, diese Einladung anzunehmen. ›Ja, das interessiert mich natürlich ungemein‹, gibt er zur Antwort, ›ganz ungemein ... ich werde hoffentlich kommen können.‹

Und dann ging er.

Am Abend sagte mein Vater zu mir: ›Trude, dieser Köfler ist wirklich ein gescheiter Mensch.‹ –

›Das mußt du besser verstehen als ich‹, sagte ich.

›Gefällt er dir nicht?‹ fragt er mich und lächelt.

›Ich finde ihn herrlich!‹ – fuhr mir heraus.

Da sah mich mein Vater an, und dann wußte er schon alles. ›Ei Trude‹, sagt er, ›das ist ja ... nun ja ... sei nur immer aufrichtig zu mir, das ist die Hauptsache.‹ – Und dann wurde er ganz schweigsam und nachdenklich; denn er kennt mich und weiß, daß ich nicht flirten kann, daß es also ernst war.

Nun, sonderbarer Weise kam Fritz ... Köfler ... am folgenden Tag doch nicht zu Vater. Auch nicht den nächsten, und nicht den übernächsten. Ich lebte in großer Angst ...

›Vielleicht hat er plötzlich abreisen müssen‹, sagte mein Vater, ›vielleicht zu seinem Truppenteil zurück.‹ –

Oder vielleicht liebt er mich doch nicht, dachte ich ... Als der vierte Tag gekommen war, sagte ich mir, daß alles Täuschung von mir gewesen sein müsse ... oder er sei ein unernster Mensch ... oder er habe jemand anderen, den er liebe, unten in Bayern wahrscheinlich.

Aber an diesem vierten Tag, kurz nach Tisch, kam er doch. Vater hatte schon ein wenig geschlafen und bat mich, ihn einstweilen zu empfangen. Ich ging also in den Salon. Fritz Köfler sah angegriffen aus, übermüdet. ›Sind Sie denn krank gewesen?‹ frage ich ihn ohne alle Umschweife.

Er lächelt ein wenig. ›Ach nein ... nur so ... wie soll ich sagen ... indisponiert. Ich habe mich ausgelaufen, in den Wäldern um die Havelseen. Ich brauche das von Zeit zu Zeit.‹

›Eigentlich wollten Sie aber zu meinem Vater kommen‹, sagte ich.

›Ja‹, antwortet er gepreßt, und sah mich an. Sein Blick sagte mir aber, daß er mich ... ja, daß er mich lieb hatte ... aber daß er litt, um irgend etwas, was ich noch nicht wußte. Da vermutete ich wieder, daß er an eine andere gebunden sei, unten in Bayern.

›Aber es ist etwas mit Ihnen nicht in Ordnung‹, sage ich, ›haben Sie denn einen Herzenskummer?‹

Das war nun gewiß einfältig gefragt, aber ich verstehe eben nicht diese Schliche, Aushorchen, und so weiter.

›Ja‹, erwiderte er ernst.

Ich meinte, ohnmächtig zu werden. Denn nun war es ja sicher, daß eine andere Frau mit im Spiel war.

Endlich gebe ich mir einen Ruck und stottere hilflos:

›Das ist sehr arg ... tut mir gewiß leid für Sie ... aber warum macht sie Ihnen Kummer?‹ –

Da blickt er mich erstaunt an und sagt: ›Wer? Wen meinen Sie?‹ Auf einmal lächelt er, wird rot und sagt leise: ›O nein, keine andere, gewiß nicht.‹ –

›O, dann ...!‹ rufe ich aus, glückselig ... So hatte ich mich natürlich wieder verraten ... Aber so bin ich eben. Ich war auch gar zu froh in diesem Augenblick!«

Ein drittes Mal kam jenes kurze Leuchten eines kindlichen und rührenden Lächelns in ihre grauen Augen. Aber es huschte schnell wieder fort. –

»Jetzt also fing die glückliche Zeit an. Mein Vater und er haben sich ausgezeichnet verstanden. Mein Vater hatte ein so großes Vertrauen zu ihm. Fast jeden Tag mußte er zu Vaters Laboratorium kommen, er zeigte ihm alles. Alles. Und ich war froh und stolz.

Nun ging aber sein Urlaub zu Ende, die Zeit meines Glücks. Er mußte abreisen, nach München, und dann, wie wir dachten, jedenfalls wieder an die Front.

Am letzten Tag kam er nochmals, und da traf es sich, daß ich einmal ein paar Minuten mit ihm allein sein konnte ... Nun, vielleicht wundern Sie sich, – aber wir wußten beide nicht, was wir sagen sollten. Wir brachten vor Glück und Schmerz kein Wort heraus. Wir haben uns nur immer angesehen, er mich und ich ihn. Endlich sagt er: › Come tutto è triste!

›Was heißt das?‹ – frage ich ihn, erstaunt, daß er sich in einem solchen Augenblick einer fremden Sprache bediente; denn er war sonst gar nicht affektiert. Übrigens kann ich nicht Italienisch. – Er wird etwas rot und sagt: ›Wie traurig ist doch alles! das heißt es‹ –

... Wir schweigen weiter. Er erhebt sich von seinem Stuhl, und ich denke: jetzt wird er auf mich zugehen. Aber statt dessen geht er langsam ein paar Schritte zurück und bleibt an einem Schranke stehen, sieht mich aber unendlich lieb an.

Ich merke, daß er sich selbst Gewalt antut, indem er sich von mir entfernt ...

Eine solche Zurückhaltung ist sonderbar, nicht wahr. Er war immer so. Jetzt verstehe ich diese Zurückhaltung viel besser ... Darin war er doch sehr vornehm. Vornehm war er überhaupt, trotz allem ...

Wir haben also damals mit Blicken Abschied genommen. Mir kamen freilich die Tränen, schließlich sah ich nichts mehr. Als Vater hereinkam, tat er, als ob er diese Tränen nicht sähe. Sie plauderten noch ein wenig zusammen, und nach einer Viertelstunde ging Fritz von uns fort.

Schon nach zwei Tagen erhielten wir aber einen Brief von ihm, offensichtlich in der Eile geschrieben, ohne Datum und Adresse. Er schrieb, es bestände vielleicht die Möglichkeit, daß er später wieder einmal nach Berlin komme, er wolle uns wieder schreiben.

Das nächste Ereignis war, daß mir Vater eine Auskunft über die Familie Köfler in München zeigte. Es hieß da ungefähr: ... Der verstorbene Kirchenrat Köfler und seine ebenfalls verstorbene Gattin hätten sich in Ulm, wo sie zuletzt Pastors waren, guten Rufes und großer Beliebtheit erfreut. Auch in München, wo sie kurze Zeit pensioniert gelebt hätten. Einiges Vermögen wäre von Seiten der Frau Pfarrer vorhanden gewesen. Von den zwei Kindern – drei andere seien ganz früh gestorben – habe sich die Tochter im Ausland verheiratet, wie erzählt wird, in Amerika ... Der Sohn Fritz Köfler sei – nun hören Sie! – Fritz Köfler sei als Infanterie-Oberleutnant im Herbst vorigen Jahres gefallen ...

›Nun‹, sagt Vater, ›daß er nicht gefallen ist, wissen wir glücklicherweise. Hoffentlich übersteht er es auch jetzt ... Übrigens kommt das öfter vor, daß Soldaten totgesagt werden und dann wieder auftauchen ... das kann vorkommen ... Aber daß er von seiner Schwester nie etwas erzählt hat, wundert mich.‹ –

›Vielleicht hat er gemeint, es könne ihm schaden, wenn die Leute erfahren, daß jemand von der Familie ins feindliche Ausland verheiratet ist?‹ – So sagte ich.

Wir schickten dann auch ein kleines Liebesgabenpaket an ihn. An die Regimentsadresse ins Feld. Aber es kam keine Antwort darauf ...

Eines Tages aber kommt Vater ganz erregt nach Hause und erzählt, er sei dem alten Geheimrat T... auf der Straße begegnet, der Fritz Köfler einmal bei uns getroffen hatte. Der Geheimrat behauptete nun steif und fest, er habe Köfler in Köln gesehen, aber in der Uniform eines Ulanenrittmeisters. Er habe getan, als ob er ihn, den Geheimrat, nicht sähe. – Mein Vater hatte es aber dem alten Herrn ausgeredet. In einer Millionenarmee können sich wohl ein paar Menschen ähnlich sein, auch bis zum Verwechseltwerden.‹ – Das letztere kränkte mich beinahe; ich wollte mir gar nicht vorstellen, daß jemand dem Menschen so ähnlich sähe, den ich liebte. Für mich war er eben der Einzige ...

Nun, wie ging's weiter? ... Es ist schnell erzählt ... Zwei Wochen später kam eine Karte aus Brüssel, daß er hoffe, uns bald in Berlin zu sehen. Er fühle sich nicht ganz wohl, sei durchaus nicht verwundet, aber werde sich trotzdem erholen müssen. Von unserm Paket kein Wort, wir nahmen an, daß er es nicht erhalten habe.

Es vergingen weitere drei Wochen. Ich war unruhig, weil er keine Nachricht gab. Dann kam er eines Tages plötzlich zu uns, ohne sich vorher noch anzumelden ...

Um so größer meine Freude! ... Er hat uns dann erzählt, daß er schon auf der Fahrt von Brüssel nach München krank geworden sei. Ein kleiner Malariarückfall, von früher her ... Er habe sich legen müssen ... Jetzt sei er in Rekonvaleszenz, und glücklicherweise noch eine Woche frei.

Nun, an der Front war damals eine ruhigere Zeit, es geschah weniger, in den Zeitungen stand auch nichts. Wir wunderten uns ohnehin nicht, sondern freuten uns, daß er diesmal so glimpflich davongekommen war ... Meinesteils war ich der glücklichste aller Menschen, natürlich, und am Abend eben dieses Tages sagte ich meinem Vater, daß ich Fritz nie wieder verlieren möchte.

›Das ist mir nicht ganz neu‹, sagt mein guter Vater, ›wir können nach dem Krieg wieder einmal darüber reden.‹

Am anderen Vormittag war mir ein großer Glückszufall beschieden. Wir, Fritz und ich, begegneten uns nämlich zufällig am Brandenburger Tor – zufällig, ja ... welchen Grund hätte ich, zu lügen? – und gingen eine Viertelstunde im Tiergarten spazieren. Es war ein regnerischer Tag ... Nun, und jetzt sagte er mir eben mit richtigen Worten, daß er mich lieb hatte ... Ich aber brachte vor Freude kein Wort heraus, er sah ja, wie lieb ich ihn hatte, und daß er auf mich bauen dürfe. Schließlich fragte er mich, ob er jetzt mein Versprechen habe, daß ich auf ihn warten wolle ... bis nach dem Krieg ... dann werde er mir noch einiges erzählen, wovon er bisher nicht gesprochen habe ... Da sagte ich: ›Ja, ganz und gar, und das gilt für immer!‹ –

Nun, und von dieser Stunde an haben wir uns als Verlobte betrachtet, in der Stille natürlich, einstweilen in der Stille ...

Diese höchste Freude dauerte ganz, ganz kurz ... Meine Geschichte geht zu Ende. Zum schrecklichen Ende.

Drei Tage nach der Ankunft von Fritz lud ihn Vater ... mir zuliebe, wie mir schien ... zusammen mit mehreren von unsern Bekannten zum Tee ... etwas anderes als Tee haben wir natürlich auch nicht ... zum Tee nach dem Abendbrot.

Diesem Abend, Sie werden es mir glauben, habe ich so glücklich entgegengewartet wie eine erklärte Braut ihrer offiziellen Verlobungsfeier ...

Meiner wartete zuerst noch eine freudige Überraschung. Ich erfuhr nämlich zum ersten Male, daß Fritz überaus musikalisch war ... ist, natürlich noch ist ... Er kennt so ziemlich alles Gute in der Musik, besonders in der italienischen und deutschen. Er spielte dann eine halbe Stunde auf dem Klavier. Wir kamen alle aus dem Entzücken nicht heraus, ich war so glücklich ...«

Das junge Mädchen hatte einige Mühe, fortzufahren.

»Mein Vater sagte ihm: ›Ich möchte nur wissen, woher Sie Ihre Bildung haben, Ingenieur, Soldat, Musiker ... es ist erstaunlich.‹ –

Dann fragte mich Fritz, ob er singen dürfe.

Also sang er und begleitete sich selbst und schließlich fragte er, ob es uns unangenehm sei, wenn er etwas Italienisches singe. Es seien doch manche Sachen soviel schöner im Original ...

Niemand sagte etwas dagegen, obschon einer von den Gästen, der junge von R..., uns als ein fanatischer Hasser der Italiener bekannt war.« –

»Ist das der Neffe von Egon R... fragte ich, sie unterbrechend. (Bei Egon R... war ich ja an eben diesem Nachmittag gewesen.) –

»Ganz recht, sein Neffe, ich weiß ... Nun, auch dieser sagte nichts dagegen, und so fing Fritz an, italienisch zu singen ...

Er sang und sang, und wir waren – vielleicht den jungen R... allein ausgenommen – alle wie unter einem anderen Himmel. Er sang nichts als Liebeslieder, ich fühlte es, obwohl ich den Text nicht verstand. Es waren Liebeslieder aus Opern ... dann Volksliebeslieder, und so zu. Es galt alles, alles mir ... ich wußte es wohl ... Aber in der ganzen Zeit sah er mich nicht ein einziges Mal an, vermied es sogar, mich mit dem Blick zu streifen. Dafür war er zu vornehm ... Er sang mir da lauter Liebeserklärungen, aber er wollte nicht demonstrieren ...

Wiederum waren wir also alle ergriffen, mit Ausnahme des jungen R..., der übrigens Musik nicht hören mag, und natürlich am wenigsten die italienische. Er konnte nicht mehr an sich halten und behauptete plötzlich, es sammelten sich Leute auf der Straße, Zaungäste ... es könne uns vielleicht schaden, wenn aus unserer Wohnung soviel italienischer Gesang gehört werde ...

... Nun, wir wohnen am Schöneberger Ufer, lauter niedrige Häuser, Sie wissen wohl? ... es mag schon sein, daß sich ein paar Menschen unten auf der Straße aufgehalten haben. Aber R... brachte seine Warnung so ungeduldig vor, daß das Singen mit einem peinlichen Mißton endigte ...

Um sich so recht Luft zu machen, fängt jetzt R... auch noch mit seinen wüsten Haßreden gegen die Italiener an. Wir haben sie alle schon gekannt ..., neu waren sie also nur für Fritz ... Verräter, Verräter, das war noch das geringste Schimpfwort ...

Fritz sagte dazu kein Wort. Er wurde nur etwas rot – ich meinte damals, er fühle sich von R... quasi in seinem Patriotismus verdächtigt, nur weil er jetzt einmal italienisch gesungen habe –, er wurde ein wenig rot, aber schwieg still.

Schließlich schien R... doch am Ende seiner Tiraden zu sein und sagte nur noch grollend: ›... und überhaupt, was könne man von den Italienern verlangen, ... es sind eben Katholiken ... und sie taugen so wenig wie die Österreicher ... und wie leider auch manche katholischen Deutschen, wir haben deren genug ... Der ganze Katholizismus ist und bleibt ein römischer Götzendienst ... und von Götzendienern kann man nichts Anständiges verlangen – – –!‹

Da sagt Fritz, bleich, ernst, langsam, ganz langsam ... und betont jedes Wort: ›Beleidigen Sie mich, aber beleidigen Sie nicht meine Religion – –.‹

Nun, Sie können sich denken, – unser Schreck war unbeschreiblich! Niemand hatte einen Katholiken unter uns vermutet ... am wenigsten Vater und ich ... Wie konnten wir denken, daß der Sohn eines evangelischen Pastors selber katholisch war!

Wir waren also alle buchstäblich starr vor Schreck. Ich habe mich zuerst gefaßt ... leider ... aber es sollte eben so sein ... Und ich rief: ›Aber hören Sie, Herr Köfler, das tut uns wirklich allen leid ... hatten doch keine Ahnung ... dachten, weil Ihr verstorbener Herr Vater evangelischer Pastor war – – –.‹

Da erblaßte er ein wenig, wurde dann rot und sagte: ›Ja, ich bin Katholik.‹–

Also war es unwiderruflich wahr. Der junge R... steht sofort auf, geht auf Fritz zu und bittet ihn, freilich überaus steif, um Entschuldigung ... entschuldigt sich auch bei uns, Vater und mir, daß er einen Gast unwissentlich gekränkt habe ... Nun, alle andern entschuldigen sich mit, obwohl sie nichts gesagt hatten ... ›ja, natürlich ... Herr Köfler, das tut uns gräßlich leid ... tragen Sie uns nichts nach ...‹ Und so weiter.

Fritz nimmt alle diese Entschuldigungen höflich an, gibt sich noch Mühe, das Gespräch auf etwas anderes zu bringen ... aber natürlich war nicht mehr viel zu machen ... und nach einer Viertelstunde mühevollen Hin- und Herstotterns war dieser unglückliche Abend zu Ende. – –

Nun, und das war nur der Anfang der Katastrophe.

Der junge R... hatte ein merkwürdiges Mißtrauen gegen Fritz gefaßt – er, R., hat mir das nachher ganz treuherzig selber erzählt! –, überlegte sich alles hin und her, Umstände und Nebenumstände, wußte zufällig auch, daß Fritz meinen Vater mehrmals im Laboratorium besucht hat, findet das noch besonders verdächtig ... läßt sofort Erkundigungen einziehen ... über Fritz Köfler ... und zwei Tage später wurde mein Verlobter, der angebliche Fritz Köfler, verhaftet ... als Spion! ... und es stellt sich heraus, daß er Italiener ist, italienischer Offizier, Marchese Federico O. T... heißt ... und schon seit vollen zwei Jahren, heil und unentdeckt, in Deutschland, Belgien und Österreich in verschiedenen Uniformen umhergereist ist ... seine Großmutter war Deutsche, er hat selber deutsche Gouvernanten gehabt, hat fünf Jahre in Deutschland an technischen Hochschulen studiert ...

... ja, und wäre vielleicht immer unentdeckt geblieben, wenn er die Beschimpfung seiner Religion ruhig hingenommen hätte ... wenn er sich nicht zu seinem Glauben bekannt hätte, an jenem Abend bei uns ...

Mein Vater hat die Sache vom Untersuchungsrichter erfahren ... das Entsetzen darüber, daß er Fritz alles, alles gezeigt und erklärt hatte, alles, was es in seinem Laboratorium überhaupt an Geheimnissen zu sehen gab ... das Entsetzen darüber hat ihn so gepackt, daß ihn noch beim Untersuchungsrichter der Gehirnschlag getroffen hat ... gelähmt und schwerkrank haben sie ihn mir nach Hause gebracht – – –

Ja. Und wie gesagt, ist mein Verlobter nun vor drei Tagen vom Kriegsgericht zum Tode durch Erschießen verurteilt worden.

Ja. Das ist, was ich Ihnen erzählen wollte ... Meinem Vater geht es freilich inzwischen doch etwas besser, der Arzt meint, es könnte wieder werden ...

Und weil zufällig ein paar Deutsche in Italien wegen schwerer Spionage festsitzen und wahrscheinlich auch zum Tode verurteilt werden sollen ... bestände eine leise Möglichkeit ... daß, wenn diese Deutschen begnadigt werden, auch mein Verlobter nicht erschossen wird – – –

Ja. Und jetzt könnten Sie vielleicht, Sie, diesen Deutschen – und freilich auch ... meinem ... früheren ... meinem Verlobten – einen Dienst in Todesnot erweisen ... ich würde vielleicht nichts sagen wollen, wenn nicht eben auch diesen armen Landsleuten ... indirekt eigentlich durch Fritz ... geholfen werden könnte ...

... kurz gesagt, es handelt sich darum, ob Sie morgen früh ein paar Briefe mit in die Schweiz nehmen und dort sofort an ihre Adresse weiterbefördern wollen ...?!

... Man könnte das alles auch durch die hiesige Schweizer Gesandtschaft oder durch das Rote Kreuz machen ... aber das kostet acht Tage Zeitverlust, bis die Briefe an Ort und Stelle kommen ... übrigens geschehen auch Schritte bei der Schweizer Gesandtschaft und beim Roten Kreuz, versteht sich ... aber die Briefe, die mit Ihnen gehen sollen, helfen Zeit zu gewinnen, kostbare Zeit ... Sie verstehen ... auch für unsere deutschen Landsleute, die in Italien gefangen und in Todesangst sitzen ...

Sehen Sie, ich habe Ihnen alles erzählt, Ihnen, weil Sie auch Katholik sind! – R... hat es mir erzählt, der alte R..., ich war ja heute bei ihm, gleich nach Ihnen ... Sie haben mich gesehen, aber nicht beachtet ... als Sie fortgingen – erinnern Sie sich?

... Also, Baron R... hat mich an Sie verwiesen ... hat mir gesagt, er verbürge sich dafür, daß ich Ihnen alles sagen könnte ...

Nun, und da bin ich hieher gegangen ... wollte dann nach Ihnen fragen ... Da sind Sie selber gekommen, ich habe Sie sofort wiedererkannt ...

Baron R..., das wissen Sie, ist ein unendlich guter Mensch, nur sehr unglücklich ... er hat mir zu Ihnen geraten – seien Sie jetzt so gut zu mir, wie R... gewesen ist!«

 

Ich habe die Briefe mitgenommen. – Schweizer Bekannte, die zu italienischen Stellen zufolge ihrer Betätigung in der Kriegsgefangenen-Fürsorge gute Beziehungen unterhalten, und die ich auch von dieser ihrer Liebestätigkeit her kenne, haben noch eiligst miteingegriffen. Die Begnadigung der Deutschen, und somit auch des Italieners, steht außer Zweifel. –

In der Sache, deretwegen ich nach Berlin gefahren bin, habe ich nicht das Geringste erreicht, nichts, gar nichts. Aber ich sollte eben um dieser ganz anderen Sache willen nach Berlin reisen. Für sie war ich das Werkzeug. »Mach Platz – Ich bin's!«

Ende April 1918

Die Schlacht steht. Unser Schicksal in diesem Kriege ist besiegelt.

November 1918

 

Dezember 1918

Auch neunhunderttausend Milchkühe also haben wir ihnen zutreiben müssen; und sie wissen, daß wir seit anderthalb Jahren Hungersnot haben.

Juni 1919

Zu Versailles im Spiegelsaal, damit die Führer des untergehenden Zeitalters ihr Spiegelbild sähen: – »Damit sie mit ihren Augen schauen und doch nicht sehen.«

Blind und ganz geblendet.

Und nicht nur, daß sie ihre Mitschuld nicht erkennen, sondern sie brüsten sich noch ihrer Blindheit; denn ohne Furcht vor dem allwissenden Gott haben sie, nachdem sie den Präliminarfrieden vom vergangenen November zu brechen entschlossen waren, ein eigenes Dokument ausgefertigt, worin sie sich alle unschuldig erklären und die Deutschen allein für schuldig. Und dieses Dokument haben sie dem ganzen Erdkreis bekanntgegeben und ihre Bedingungen damit begründet! Dergleichen ward nie erhört, auch nicht bei den Heiden, vor Christi Geburt; denn selbst diese übten die Gewalt des Siegers nur kraft des Sieges aus und begingen nicht den Frevel gegen den allwissenden Gott, sich unschuldig zu nennen und die Besiegten alleinschuldig. –

» Er aber antwortete und sprach: Jede Pflanzung, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird entwurzelt werden. Lasset sie! Blinde sind Führer. Wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.« –

Mai 1920

Bromberger brachte mir die Nachricht, daß Boris M. für kurze Zeit nach Genf zurückgekommen war. Er selbst hatte ihn schon gesehen. Jetzt erst erzählte er mir, daß Boris mit seiner Hilfe – er stellte das Kapital leihweise zur Verfügung – vorbehaltlich späterer Abrechnung die Erbschaftsansprüche, welche Frau P. an die Hinterlassenschaft ihrer Mutter hatte, damals aufkaufte, und dann nach England ging, um sich als den eigentlichen Besitzer des Frau P. zugefallenen Erbes zu melden. Als Russe vermochte er, es mit einiger Mühe vor der Sequestrierung zu retten, der es sonst, zufolge der deutschen Staatsangehörigkeit Frau P.'s, verfallen wäre. Es handelte sich unter anderem um zwei Miethäuser, die Boris nunmehr verkauft hatte. Was Frau P. im ganzen zufiel, überstieg das ihm von Bromberger seinerzeit Geliehene, so daß er, der Geldgeber, nunmehr das Seine zurückerhielt. Allerdings hatte er sich auch Pfandrechte auf die anderen Bilder P.'s gesichert, sagte mir aber, daß er dies nur der geschäftlichen Ordnung halber getan habe; er hätte lieber einen Verlust in Kauf genommen, als je die Pfandrechte ausgeübt. Ich glaubte ihm aufs Wort. –

 

Gestern bin ich nach Genf gefahren. Boris empfing mich mit großer Liebe.

Wir begaben uns zu Frau P., die mit Packen beschäftigt war. Auch die Kinder, die inzwischen zu jungen Menschen herangewachsen sind – sechs Jahre hatte ich sie nicht mehr gesehen –, waren mit frohem Eifer an dieser Arbeit. Ich staunte.

Frau P. nahm mit Boris und mir den Tee im Freien, vor dem Hause; denn man konnte die Sonne wohl vertragen.

»Ich sehe, daß Sie packen«, sagte ich – »übersiedeln Sie nach England?«

»Ich habe unseren Besitz hier verkauft. Wir räumen, und wir übersiedeln. Aber nicht nach England ...«

Boris sah sie gütig lächelnd an. »Ja«, sagte er zu mir, »ich gehe jetzt natürlich auch wieder weg ...«

Frau P. fuhr fort:

»Nicht nach England. Vielleicht, wenn ich Ethel allein hätte – dann wären wir vielleicht nach England gegangen. Wie Sie ja wissen, Boris ... Aber sehen Sie, Herr Amwald, ich schulde es meinem Willy ... wir übersiedeln nach Deutschland. Es liegt so im Sinne, und im letzten Willen meines verstorbenen Mannes. Er ist als Deutscher gefallen, sein Tod ist sein Testament für seine Kinder und für mich. Ich kann dem nicht zuwiderhandeln. Es ist doch so, daß sein Tod uns zu Deutschen gemacht hat. Willy ganz besonders. – Am meisten seit der deutschen Niederlage. Seitdem drängt er unausgesetzt ... ›Nach Deutschland, Mutter, nach Deutschland ...!‹ Und wenn ich ihn allein schickte, wenn ich ihn jetzt allein schickte, würden wir aufhören, seines verstorbenen Vaters Familie zu sein ... ich fühle es zutiefst – Sie wissen es, Boris ... Ich durfte nicht anders handeln ... obwohl es mir schwer, furchtbar schwer gefallen ist ... Ich glaube zwar nicht, daß England und Deutschland, daß die Völker alle für immer entzweit sind. Das ist nicht wahr, das darf nicht sein. Was England übrigens anlangt – Boris wird Ihnen davon erzählen können, Herr Amwald – so sorgen jetzt unsere Kolonialvölker schon dafür, daß die Einsicht wächst – die Einsicht, daß es mit dem Sieg diesmal nicht getan ist, sondern daß die Folgen des Weltkrieges eben Weltfolgen sind ... Ihr Bromberger wird doch Recht behalten, mit seinen Asiaten ... Nur kann es sehr lang gehen, vielleicht länger als wir leben, bis das in Europa ganz begriffen wird ... das sagen Sie ja selbst, Boris, nicht wahr? ... Der Übergang inzwischen ist schmerzhaft ... für alle und jeden – für mich persönlich aber ist die Frage einfach diese gewesen: ob mein Sohn, Willy, ein Opfer des Übergangs werden sollte, oder ich ... Der Tod seines Vaters hat die Frage für mich schon im voraus beantwortet: Ich muß hier das Opfer sein, nur ich, die Mutter, kann und darf es sein, – und muß es sein, ja muß ... Sie haben es ja verstanden, Boris ... Und Sie verstehen es gewiß auch, Herr Amwald?« –

»Von Ihrem Sohn aus gesehen, ja ... Denn daß, wenn die Menschen einmal ... in einer neuen Welt ... auch freier im Raum dieser Welt durcheinanderfluten, jeder Deutsche an seinem Platz auf der Erde ohnehin seine mitgeborene Volkssendung hat – das wird Willy erst später begreifen ... Dann wird er vielleicht Fernweh haben, das alte deutsche Fern- und Weltweh ... Jetzt aber hat er Heimweh.« –

»Der Weg in die neue Welt ist weit«, sagte Boris, »und er führt über unsere Generation. Wir sind die Opfer des Übergangs ... Und ein solches Opfer sind Sie, Frau Ethel – ja, und Sie gehen den guten Weg, indem Sie es sein wollen ...«

»Es gibt für mich nur diesen einen Weg«, sagte sie leise und blickte Boris an.

Ich nahm also von Frau P. und von den Kindern Abschied – diese packten mit Begeisterung –, und ging mit Boris in sein kleines Haus.

»Der Abschied von Frau P. fällt Ihnen sehr schwer, Boris? Nicht wahr?« –

»Der Abschied von ihr und auch von den Kindern. Denn auch diese habe ich sehr lieb gewonnen ...«

»Ich verstehe, Boris, ich verstehe ...«

»Ja, so ist es! – Aber ich habe schon vor Jahren Abschied von hier genommen. Innerlich wenigstens ... es war ein Grund mehr, daß ich damals gern nach England ging. Jetzt kommt der äußere und endgültige Abschied. Ich habe Zeit gehabt, mich darein zu ergeben.« –

»Sie haben für immer verzichtet?« –

»Ich habe von Anfang an verzichtet. – Es war die Sehnsucht zweier heimatlos gewordener Menschen! Und als ich dies erkannte, brach ich auf, und ging fort ... nach England. Und blieb, bis zu diesem äußerlichen Abschied. Sie begreifen das?« –

*

Wir schwiegen lange.

»Was werden Sie selbst nun machen?« fragte ich endlich.

»Was ich machen will, habe ich zum Teil schon in England begonnen ... Meine Meinung über den Ursprung des Krieges kennen Sie ... Es hätte nie dazu kommen können, wenn es eine einige Christenheit gegeben hätte. Die Idee der einen Menschheit ist nur die natürliche Schwester der göttlichen Idee vom einen Gottesreich ... Und solange die Christenheit in sich uneins ist, solange bleibt es aussichtslos, eine wirkliche, nämlich innere, geistige Erneuerung der Menschheit zu erhoffen ... Die Welt wirtschaft wird wiederhergestellt werden, gewiß – ja, sie wird in den kommenden Jahrzehnten erst eigentlich zur Tatsache werden ... ob auf einmal, im ununterbrochenen Laufe, oder ob von Rückschlägen zeitweilig aufgehalten, das steht noch dahin ... Aber das schafft noch nicht die innere, die geistige Einigung ...

Glauben Sie denn, es wäre zur Revolution gekommen – unsere russische ist übrigens nur der Anfang –, wenn das soziale Gefüge der Völker nicht schon lange, im Innersten, unchristlich gewesen wäre? wenn es eine einige Christenheit gegeben hätte? ... wenn nicht, in den sogenanntchristlichen Völkern, das Christentum mehr und mehr verstaatlicht, verbürgerlicht und nationalisiert worden wäre – statt daß, umgekehrt, das bürgerliche und staatliche Leben von innen heraus verchristlicht worden wäre! Nein – sondern der soziale Zerfall ist erst die Folge des innersten, des geistigen Zerfalls. Und die erste Ursache von allem, von Krieg, Revolution und allem, ist der Zerfall der Christenheit. Denn die Christenheit ist entweder eine und eins, oder sie wird – so ohnmächtig wie wir sie gesehen haben! ... Denken Sie an die Abschiedsrede Christi, bevor er hinging, um zu leiden, an seine letzten Gebete: immer nur, daß die Seinen eins sein sollten, immer nur darum hat er gebetet, immer nur dazu ermahnt in dieser letzten Stunde – – –

Sie fragen, was ich machen will? Ich will den Rest meines Lebens für die Einigung der Christenheit mit darangeben, nach meinen bescheidenen Kräften ... Es muß wieder eine Herde werden, dafür werde ich nunmehr leben, beten und arbeiten ... Das habe ich, wie gesagt, schon in England zu tun begonnen. Es ist das einzige, was einem Heimatlosen wie mir noch zu tun bleibt.« –

»Und das weiß auch ...«

»Ja, das weiß auch Frau Ethel! Und so gehen wir in diesen Tagen voneinander fort, für immer, jeder an das Seine, zwei Opfer des Übergangs ... in Christi Namen, der unser beider Opfer segnen wird, aus der Segenskraft seines eigenen, des einen und einzigen, des ungeteilten Opfers – aus dem alle Leiden, alle, durchaus alle Leiden der Menschen, der ganzen Kreatur, ihren Lebenssinn, ihre Lebensweihe haben – – –.«

 

Boris will jetzt zuerst wieder nach England gehen, von dort nach dem Balkan und dem näheren Orient, dann vielleicht nach Rom.

Juni 1921

Bromberger hatte sich längere Zeit auf den Ankauf alter, persischer Sachen spezialisiert. Er tat dies, nachdem er in London wieder einmal auf einer Gemälde-Auktion gewesen war. Denn er hatte, auf dem Rückweg, in Paris einen vornehmen jungen Perser und dessen Schwester kennen gelernt. Sehr bald erfuhr ich, warum er jetzt einen so eifrigen Anteil an allem nahm, was persisch war. Das persische Geschwisterpaar – Bromberger sagte mir, daß sie in ihrer Heimat zu einer, nach unseren Begriffen fürstlichen Familie gehören – kam vor vier Wochen hier an und stieg in meinem Hotel ab. Von da an erschien Bromberger fast jeden Tag einmal, nicht selten auch zweimal hier. Anfangs scherzte ich über ihn, dann aber gestand er mir, daß er die Perserin liebe, und daß er so, wie er diese Perserin liebe, nie im Leben geliebt habe.

Ich habe vorher nie eine Perserin gesehen, es mag sein, daß Erscheinungen von der Art dieser jungen Dame in Persien selbst häufig sind. Jedenfalls dünkte sie mich ungewöhnlich schön; sie war von vollendeter, edelster Regelmäßigkeit in ihren Gesichtszügen, und nur ihre Augen zu sehen, war genug, um Brombergers Liebe zu begreifen. Übrigens hatte sie ihre Augen stets in ihrer Gewalt, oder aber es gehört zur Erziehung in ihrer Heimat, einen so ruhigen Blick zu bewahren, der dabei – vielleicht nur auf uns Europäer – leidenschaftlich durch sich selbst wirkt. Die gleiche Ruhe lag auch in ihren Bewegungen, und es war für unsereinen nicht zu entscheiden, ob sie sich mit bewußter Selbstbeherrschung bewegte, oder zufolge ererbter Gewöhnung. Sie ging und hielt sich wie eine Fürstin, und gewährte zugleich ein Bild der Anmut, des Liebreizes. Ich habe sie nur einmal gesprochen, und auch nur, weil Bromberger, der sie bewundert wissen wollte, nicht nachgab, bis ich mich den Geschwistern vorstellen ließ. Sie sprach ein sehr reines Französisch, und dabei doch in eigentümlichen Wendungen, wie aus einem Roman von vor hundert Jahren. Der junge Perser schien mir klug, hellhörig, wußte genau, was er scheinbar zufällig fragte, und hatte etwas lauernd-Leidenschaftliches, hinter einer gemessenen, eher phlegmatischen Haltung. Er ließ die Lider zuweilen über die Augen fallen, als sei er schläfrig. Aber seine Fragen waren nicht die eines schläfrigen, sondern vielmehr eines klaren, vielleicht fanatischen Geistes. Er hatte in Europa ersichtlich gut beobachtet, jedoch nicht mit Liebe. Aber auch seine Schwester, so wollte mir scheinen, dachte und sprach, trotz ihrer altertümlichen Sprachwendungen, von unseren europäischen Dingen mit kaum verhülltem Hochmut. Sie sagte, daß sie einmal die europäischen Frauen überhaupt, sodann aber die Frauenbewegung hatte studieren wollen. »Und Sie, mon prince, wohl die Männerbewegung?« fragte ich ihn, etwas gereizt durch seine gewisse Nachlässigkeit. – »Ja, Ihre soziale Bewegung – «, antwortete er gleichmütig. Und zu meiner Verwunderung ergab sich aus dem Gespräche, daß beide, Bruder und Schwester, die Dinge nicht nur von oben, sondern bis tief nach unten gesehen hatten. »Die Lage Deutschlands in Europa«, meinte er, »gleicht jetzt der sozialen Lage der europäischen Industriearbeiter im allgemeinen, Ihr Volk bildet die niedrige Klasse unter den europäischen Völkern. Etwa so, wie früher eine englische Kolonie in Asien, im Verhältnis zu England.« – Das »früher« betonte er sehr stark; offenbar hielt er mich für einen Gesinnungsgenossen meines lieben Bromberger. Ich mußte unwillkürlich lächeln. » Est-ce que vous trouvez cela ridicule? – finden Sie das lächerlich?« fragte er, gleichmütig im Tone, aber nicht ohne Tadel. Und er bemühte sich, mir zu erklären, daß eine gewisse Gemeinschaft zwischen manchen asiatischen Völkern und Deutschland bestehe, in der jetzigen Entwicklung der Dinge. Er war in Deutschland gewesen, sprach davon mit Hochachtung, und sagte, daß auch er seinem Schah die Deutschen empfehlen werde, als Berater für Technik und anderes. – »Nur Deutsche und Schweizer«, fügte die junge Dame hinzu; sie schien sich an meiner Verwunderung, daß sie, eine orientalische Frau, in Dingen dieser Art Bescheid wisse, insgeheim zu werden.

Bromberger schwelgte in Bewunderung ihrer. – Der Wahl seiner Liebe gab ich Recht; aber ich erklärte ihm, daß ich noch nie Fähigkeiten für Tagespolitik gehabt hätte und mich ihr auch jetzt fernhalten wolle. Ich vermied es unauffällig, wieder mit den Persern zusammenzutreffen, obwohl ich sie für ungewöhnliche, ja bedeutende Menschen hielt. Aber für meinen Teil konnte ich ihnen nicht auf ihren Weg folgen; es war nicht meine Sache und paßte nicht für einen kranken Menschen. –

Bromberger feierte die schöne Perserin, und damit zugleich ihren Bruder – denn trotz sonstiger Anpassung an unsere europäischen Gesellschaftssitten, schien er darin, daß er nie von der Seite seiner Schwester wich, ihrer Emanzipation eine gewisse Grenze zu setzen – auf alle erdenkliche Weise, gab ihnen Tees, veranstaltete Parties für sie, überhäufte sie mit Blumen und Artigkeiten, und erging sich, teils in seinem Hause, teils in der Halle des Hotels, in langen Diskussionen mit ihnen. Die Perser hatten an Bromberger einen unvergleichlichen › manager‹; als Kunstsammler von internationalem Ruf hatte er nicht einmal während des Krieges, geschweige denn seither, unter der gesellschaftlichen Blockade gelitten, der die Deutschen im Ausland seitens der Fremden aus Ententestaaten unterworfen waren. So kam es, daß er den Geschwistern » le monde de très-bien« von überallher einladen konnte. Waren sie gekommen, um Europa zu studieren, so hätten sie hiebei als Helfer niemand besseren finden können als ihn. Und obwohl ich ihn, im scherzhaften Geplänkel, einen vergoldeten Internationalisten nannte, so gab ich ihm doch neidlos zu, daß er von seinem Reichtum auch den besten Gebrauch für seine Bildung machte. In seiner Art war er ein intellektueller Welteroberer und auf dem Erdkreis geistig so zuhause wie ein anderer Mensch oft nicht in seinem Vaterland. Ich lernte von ihm und war ihm dankbar; denn durch Krankheit und auch durch Unwissenheit vielfach gehemmt wie ich war, fand ich an ihm einen allezeit willigen Lehrer, wenn ich etwas nicht verstand. Außerdem aber bewies er mir seine freundschaftliche Treue um so mehr, je stärker er mich durch zunehmende Kränklichkeit in allem behindert sah. Er hatte die Neigung, mich recht eigentlich zu betreuen, eine Neigung, der ich mich freilich meistens entzog, weil ich nunmehr doch im eigenen Leiden einen heiligen Sinn sah und mich ihm, soweit ich es über mich vermochte – denn die ichsüchtige Natur widerstrebt alledem –, als einer täglichen Pflichterfüllung hingab. –

Neulich fragte ich ihn, wie es zu erklären sei, daß dieser mohammedanischen Perserin eine solche Freizügigkeit gewährt werde, die doch gewiß allen ihren heimatlichen Lebensgepflogenheiten widerspreche. Er lächelte. »Sehen Sie«, sagte er, »das kommt davon, daß Sie mir nicht oder nur langsam glauben – sonst verständen Sie das von selbst ... Der ganze Orient ist in Bewegung geraten, und es wird hundert Jahre dauern, bis er – durch den Einbruch der modernen Wirtschaft, Technik, Zivilisation, jetzt in seiner ganzen Struktur erschüttert – wieder eine stabile Lebensform findet ...«

»Also wird sich das Morgenland europäisieren? Dann haben wir Europäer doch irgendwie gesiegt – etwa so wie die besiegten Griechen seinerzeit geistig über die alten Römer gesiegt haben ...?« –

»Mit dem großen Unterschied, daß der Sieg unserer Zivilisation, technischen Methoden, und so weiter nicht unser Sieg sein wird, auch nicht der Sieg Amerikas – das finanzpolitisch im ganzen Orient sich an die Stelle des mattgewordenen Europas drängen wird –, sondern vielmehr durchaus der Sieg der morgenländischen Völker selbst – dieser Völker, die jetzt, wenn auch unter konvulsivischen Erschütterungen, unter den maßlosen Opfern, wie sie eine solche Umwälzung überall kosten wird, zu modernen Nationen heranwachsen ... Ich rede nicht von dem schauerlichen Rückschlag, den die alten Industrieländer dann, früher oder später, von ihren unfreiwilligen Schülern zu erleiden haben werden – aber die Frage ist, wer, wenn es einmal eine, überall im Wesentlichen gleiche, Weltzivilisation gibt, dann geistig führen wird? ... Wir oder das Morgenland ...?«

»Das wird, denke ich, letzten Endes vom religiösen Leben abhängen.« –

»Ganz recht, ganz recht«, sagte er und lächelte wieder, »ich weiß schon was Sie sagen wollen ...«

»Natürlich – es kommt doch einfach darauf an, ob der Orient und seine Völker christianisiert werden oder nicht. Davon hängt alles ab.« –

»Wenn Sie es mir nicht übelnehmen – der Krieg war ja nicht gerade ein Missionsfeldzug für das Christentum!«

»Trotzdem.«

»Ja ... schließlich trotzdem. Aber gesetzt – bekanntlich bin ich darin kein Sachverständiger, lieber Freund –, aber gesetzt selbst, es gelänge ... Sagen Sie einmal, theoretisch darf ich Sie das immerhin fragen – wenn sich dann, schon rein zahlenmäßig, noch mehr aber politisch, das Schwergewicht der Welt nach Osten verlagern würde ..., könnten Sie sich etwa einen Papst chinesischer Nationalität in Rom denken?« –

»Theoretisch ja. Wir haben doch jetzt amerikanische und australische Kardinäle – und dann würden wir eben auch chinesische, indische und so weiter haben. Praktisch – wie Sie selbst sagen – könnte Ihre Frage in hundert Jahren vielleicht einmal gestellt werden ...«

»Ja, in hundert oder hundertfünfzig Jahren. Wenn die jetzige Völkerwanderung, Völkerumschichtung vielmehr, zur Ruhe gekommen sein wird. Bis dahin – welche Leiden, für alle, alle ...!«

»Aber Sie wollen doch, wie mir scheint, diese Umschichtung selbst?« –

»Mehr als das! ich möchte, daß ich sie beschleunigen könnte, von hundert Jahren auf fünfzig oder dreißig – damit ich wenigstens die Morgenröte des neuen Zeitalters noch erlebe – – noch mehr aber, damit die Leiden abgekürzt würden! Das ist meine Menschenliebe.«

»Ich habe bei Mirabeau gelesen: › Il faut faire les réformes lentement – man muß die Reformen langsam machen‹ ... sonst gehen die Menschen millionenweise dabei zugrunde.« –

»Auch richtig. Aber Sie vergessen, daß es sich nicht nur um eine äußere Völkerumschichtung handelt, sondern auch um einen inneren Umbau, um einen solchen der ganzen sozialen Lebensform ...« –

»Erlauben Sie – bin ich ein Kapitalist oder Sie?!« –

»Ich bin ... nun ja, ich bin auch nur eine Übergangserscheinung ... aber ich wehre mich wenigstens nicht gegen ... gegen dieses Werden einer neuen sozialen Lebensform, bei der die Menschen wieder ruhig leben können – was doch jetzt wahrhaftig nicht der Fall ist! ... Wissen Sie, ich bin ja eigentlich nur ein verhinderter Konservativer – ich sehe eben, daß noch weit ist, bis es wieder eine stabile Lebensform gibt, und deshalb möchte ich, wenn ich könnte, auch die soziale Bewegung beschleunigen ... damit ich wenigstens im Greisenalter noch einmal ein friedliches Menschengeschlecht sehe ... Aber es gibt auch andere Konservative ... solche, die jetzt die Reformen nicht nur langsam machen wollen, sondern sie am liebsten, wenn es nur ginge, hintertreiben möchten. Sie selber, lieber Freund, habe ich sogar in Verdacht ...«

»Seit wann wäre das Christentum gegen die sozialen Reformen? das beweisen Sie mir einmal!«

»Halt ... halt, mein Lieber! Das Christentum ist nicht dagegen, das Christentum als solches, da mögen Sie Recht haben. Aber, mit Verlaub, zwischen einer Idee und den Menschen, die sie tragen – tragen sollten, ist ein gewisser Unterschied ... und hier leider ein recht großer! Das Christentum – als solches – hat ja auch diesen Krieg nicht gefordert, scheint mir ... aber die angeblichen Christen haben ihn doch geführt, nicht wahr ...?«

»Sie haben Ihre Perserin ganz vergessen ... was hat dies alles mit ihr zu tun?« –

»Sogar sehr viel. Persien liegt zwischen Rußland und England ... Und es wendet sich notgedrungen nunmehr Rußland zu, und von England möglichst weit ab.« –

»Halten Sie das für einen großen Vorteil?« –

»Wie man es ansieht, ganz wie man es ansieht ... Jedenfalls ist es die Erklärung dafür, daß meine Perserin – diese wenigstens! – entgegen allen mohammedanischen Sitten jetzt eine gewisse Freiheit genießt. Dafür wollten Sie doch eine Erklärung haben ... In der Türkei sind die Dinge sogar viel weiter gediehen.« –

*

Bromberger wollte der schönen Perserin und ihrem Bruder ein großes Diner in seinem Hause geben. Denn ihre Abreise stand bevor. Ich war krank und hätte Brombergers Einladung, auch wenn ich gewollt hätte, nicht annehmen können. –

Zum erstenmal habe ich, am Tage nach eben diesem Diner, Bromberger unglücklich gesehen.

Er hatte, nachdem das Fest beendigt war, das persische Geschwisterpaar ins Hotel zurückgeleitet. Sie nahmen zu dritt noch Kaffee in einem kleinen Gesellschaftszimmer, plauderten und rauchten. Und bei dieser Gelegenheit hatte Bromberger in aller Form um die schöne Perserin angehalten, in der Gegenwart ihres Bruders und eigentlich bei diesem selbst, als dem Vertreter der Familie.

Der Perser verwies ihn, mit höflichem Gleichmut, an seine Schwester selbst. Er wolle zuerst hören, was diese sage.

»Und was hat sie Ihnen geantwortet?« –

»Ich muß Ihnen zuerst einmal gestehen, daß ich meinen Antrag, trotz der dauernden Anwesenheit des Bruders, auf Weg und Steg, doch nicht ohne Vorbereitung gemacht habe ... Es gibt ja schließlich eine Augensprache – und Sie haben ja ihre Augen gesehen ...«

»Ja, Bromberger. Unbeschreiblich schön ... das kann niemand anders sagen!« –

»Nicht wahr? Unbeschreiblich schön ... Und ich durfte hoffen.« –

»Durfte? Haben Sie die Hoffnung jetzt aufgegeben?« –

»Lassen Sie sich nur erzählen! Nachdem ich also wußte, daß ich nicht vergeblich um ihre Hand bitten würde ...« –

»Sie liebt Sie?« –

»Nun, da kennen Sie diesen Typus Menschen nicht. Eine orientalische Frau ist keine europäische – auch wenn sie Europa studiert hat. Ich will Ihnen sagen: sie war, sie ist ... gewissermaßen bereit, mich zu lieben ... bereit, sage ich ... wie soll ich Ihnen das erklären ... nun eben ... die Liebe ist vielleicht noch nicht so entschieden, so unbedingt, ich möchte fast sagen, nicht so individuell, so kategorisch-individuell bei diesen Menschen, nicht so wie bei einer Europäerin ... das macht, es ist doch, wie im Orient überall, jahrhundertelang, jahrtausendelang über das Schicksal der Frauen verfügt worden ... und das streift sich nicht auf einmal ab, nicht in einer Generation ...« –

»Das Christentum hat die Frau befreit, Bromberger, das Christentum, ob Sie es wahr haben wollen oder nicht!« –

»Ich habe es nie geleugnet ... Ich liebe alles, was den Menschen seelisch frei, seelisch selbstverantwortlich, alles was ihn zum Menschen, zum Vollmenschen macht ... Nun also, was ich im voraus wußte, und wessen ich mich vergewissert hatte: sie war bereit, mich zu lieben, – so bereit, daß ich unsagbar glücklich war ... und daß ich meinen Antrag wagen konnte. Ja ... so war's – – – «

»Und jetzt?« –

»Hören Sie nur. Der Bruder hat mich zunächst an sie selber verwiesen ... Und sie gab mir einen Blick ... einen Blick, unter dem ich jetzt noch vor Glück erzittere ... ja tatsächlich, lieber Freund! ... Und dann sagte sie: ›Ich mache nur eine einzige Bedingung!‹ – ›Machen Sie jede, die ich überhaupt erfüllen kann!‹ – ›Nur eine. Und Sie können sie erfüllen.‹ – ›Welche?‹ – ›Gehen Sie in unser Land, werden Sie Perser, hören Sie auf, ein Europäer zu sein! Mais une fois pour toutes, et evtièrement – aber einmal für immer, und ganz ...!‹

Dann bin ich einverstanden ›für meine Familie‹, sagte jetzt der Bruder. – – –«

»Und was haben Sie da geantwortet?« –

»Ich habe geantwortet: ›Ich biete Ihnen alles an, was ich habe. Mein Haus, meine Schätze, alles, ganz und gar alles. Ich bin bereit, vollkommen bereit, von Zeit zu Zeit mit Ihnen in Ihrer Heimat zu leben. Natürlich. Aber ein Perser bin ich nicht, kann es also nicht werden. Sie können bei mir persisch leben, ganz wie Sie wollen, können Sie bei mir leben. Bei keinem Perser können Sie so nach Ihrem Geschmack, nach Ihren Wünschen, so vollkommen frei leben, wie ich Sie leben lassen würde ... Ich verstehe Sie doch, ich werde Sie verstehen ...! Aber da ich nun einmal kein Asiate bin – wie kann ich es werden?! Das ist eine unmögliche Bedingung, unmöglich in sich selbst.‹«

»Und dann?« –

»Der Bruder mischte sich jetzt ein. Er sagte – – nun, Sie können das auch noch wissen, meinetwegen ... Er sagte also: ›Sie stammen doch von Juden ab. Da sind Sie doch kein Europäer! ...‹

Ja. So sagte dieser Mensch! Aber das war mir, für den Augenblick, denn doch zuviel. Und ich blieb ihm nichts schuldig ... es ging einfach mit mir durch, konnte den Gaul nicht mehr aufhalten ... ich sagte zu ihm: ›Hören Sie! Meine Urgroßeltern sind aus Russisch-Polen in Deutschland eingewandert – in Rußland, im damaligen Rußland, waren sie ... etwa wie Sklaven ... nein, noch weniger ..., wie Hunde, die man laufen und ihre Knochen suchen ließ, aber dann von Zeit zu Zeit totschlug ... wenn sie einen Knochen erwischt hatten! – in Deutschland aber wurden sie als Menschen aufgenommen, als freie gleichwertige Menschen ... haben Ruhe, Schutz, Sicherheit, Gleichberechtigung genossen ... deshalb waren meine Großeltern und Eltern Deutsche, dankbare Deutsche ... und auch ich bin immer noch ein Deutscher ... es gibt einen Rest von Dankbarkeit in mir, und dieser Rest bleibt ... bleibt und hält ... ich verstehe die orientalischen Völker, Sie wissen es, Prinz, Sie wissen es ... aber ich bin kein asiatischer Jude, sondern ein europäischer ... ein deutscher Jude – – –!‹«

»Und dann?« –

»Und dann? – Nun, ich hatte wohl auch zuviel Kaffee getrunken, zuviel geraucht ... Und da habe ich mich eben ... lächerlich gemacht! ... will's Ihnen gleichwohl erzählen ... ich habe mich vor sie ... vor sie niedergeworfen, ihre Knie umfaßt ... und gesagt: ›Sie haben mich, und alles was ich bin und habe, alles – nehmen Sie mich, wie ich bin ... es wäre ja Theater, wenn ich Ihnen in Zukunft einen Perser vorspielen wollte, einen Asiaten, der ich nicht bin ... Sie müßten ja selber lachen über mich ... Nehmen Sie mich, wie ich bin!‹« – –

»Und Ihre Antwort?« –

»Einem Europäer kann ich nicht gehören. Ich nicht. Niemals. Von mir aus niemals ... Vor fünf Jahren vielleicht ... als ich ein junges Mädchen war und von der Freiheit der europäischen Frauen zum erstenmal hörte ... Damals dachte ich: wie schön, wie herrlich ...! Aber jetzt will ich frei sein und eine Perserin. Denn ich bin es!«

 

Die Perser sind abgereist. Bromberger hatte sich aber insoweit wieder gefaßt, daß er sich von ihnen in guter Form verabschieden konnte. Nicht ohne mit dem Bruder zu vereinbaren, daß dieser für ihn eine Kollektion altpersischer Goldschmiedearbeiten einer bestimmten Epoche zusammenkaufen solle, die Bromberger dann in Konstantinopel abnehmen will. Dorthin sollen die Sachen durch sichere Leute gebracht werden. – Er schied in Frieden von dem persischen Geschwisterpaar.

1922
1923

Krankheit.

Innere Verlassenheit.

Dunkel.

*

Und immer noch kostet es mich Mühe, immer noch lerne ich es nur mühselig, zu tun, was mir aufgetragen ward: Gott dafür zu danken, auch dafür zu danken, wie für alles! Wie schwer ist es, wie schwer, die Ichsucht aus sich auszurotten, wenn man ihr einmal ergeben war! Und wie drängt sie sich immer wieder in den innerlichen Kampf ein, den man mit sich führt: und so kommt es, daß man immer nach Tröstungen verlangt. Man ist ja so feige!

»Viele loben und preisen Ihn, solange sie Tröstungen von Ihm empfangen. Sobald sich aber Jesus verbirgt und sie nur eine kurze Zeit allein läßt, so brechen sie in Klagen aus oder verlieren gar allen Mut.« –

Ja, so ist man! –

»Wo fände man wohl einen Menschen, der Gott ohne Lohn dienen möchte?

Selten findet sich ein so geistiger Mensch, daß er sich von allem Irdischen losgerissen hätte. Ja, einen wahrhaft Armen im Geiste, der frei von aller Anhänglichkeit an die Geschöpfe ist, wer findet den? ›Sein Wert ist wie Dinge, die weit herkommen, von den äußersten Grenzen.‹ Würde ein Mensch auch all sein Hab und Gut hingeben, so wäre es doch noch nichts; und würde er noch so ernstlich Buße tun, so wäre es doch ein Geringes; und hätte er alle Kenntnis erlangt, so wäre er doch noch weit von seinem Ziele entfernt. Wie groß auch seine Tugend, wie glühend seine Andacht wäre, viel würde ihm dennoch fehlen: das eine nämlich, was ihm am meisten nottut. Und was ist dies? Daß er, nachdem er alles verlassen, sich selbst verlasse, nichts von seiner Eigenliebe behalte – –

– – nur dann nämlich wird er wahrhaftig losgeschält und arm im Geiste sein, und mit dem Propheten sagen können: › Einsam bin ich und arm.‹« – Nachfolge Christi, des seligen Thomas von Kempen.

Ich höre es doch immer: »Mach Platz – Ich bin's!« Aber wie träg, wie widerwillig bin ich noch im Gehorchen!

November 1923

Nun ist also das, was die Russen in ihrer Revolution gemacht haben, bei uns in Deutschland mittels der Inflation gemacht worden: Die Enteignung von Millionen deutscher Bürger!

*

»Darf ich Ihnen das erklären?« fragte mich Bromberger.

»Was ist da noch zu erklären?« –

»Wenn Sie's verständen, würden Sie gar nicht fragen. Das ist der trockene Bolschewismus, mein Lieber! Den Rest werden die Steuern besorgen. Zur blutigen Revolution braucht es nicht mehr zu kommen. Denn erstens sind die Deutschen in ihrer Art doch immer human, mag man sagen, was man will. Sie haben, wie für die Arbeiter die soziale Versicherung, so für die überzählig gewordenen Bourgeois die öffentliche Wohlfahrt, und das ist doch menschenfreundlicher wie die Tscheka ... Zweitens darf man in Deutschland an Gott glauben, und wer nicht mehr arbeiten kann, darf wenigstens ruhig beten. Aber in einem Punkt hat es Rußland leichter ...« –

»Nämlich?« –

»Es zahlt keine Kontributionen, obwohl es unendlich viel größer und, wenigstens an ungehobenen Naturschätzen, unendlich viel reicher ist! Da aber unser Deutschland gar keinen Überschuß hat, um die Kontributionen zu zahlen, wird es sich jetzt neu verschulden ... und auf diese Weise wird es vollends proletarisiert, sozialisiert, nationalisiert, verstaatlicht werden. Es ist der trockene Bolschewismus, wie gesagt.« –

»Die abendländischen Völker sind blind und verrückt geworden!« rief ich aus.

»Hm ... ob die Völker, das wird sich zeigen. Einstweilen nur die Regierungen. Nämlich insofern, als sie das herbeiführen helfen, zunächst in Deutschland, was sie in Rußland gerne bekämpfen möchten: den Kollektivismus.«

»Völlig blind!« –

»Ja – aber wer weiß, ob es nicht sein Gutes haben wird ... auch wenn es für die jetzige Generation noch so schmerzlich ist! Ich sage Ihnen ja immer wieder: Zeitenwende haben wir! Deutschland geht jetzt schon durch das zweite Stadium des Kollektivismus – das erste hat es im Krieg durchgemacht: Fünf Millionen Soldaten, und die Zwangswirtschaft, um sie auszurüsten und zu ernähren ... das war schon Kollektivismus, das erste Stadium ...«

»Und worin sehen Sie das Gute?« –

»Wenn ich es Ihnen sage, werden Sie mich nicht verstehen wollen, weil Sie nicht zu den sozialen Konservativen gehören ... wie ich, sondern zu den antisozialen ...«

»Oho! Warten Sie doch! Sagen Sie zuerst, was Sie meinen!« –

»Ich meine, daß Deutschland, wider allen Anschein, eine große, wenn auch ungeheuer schmerzhafte Mission im sozialen Aufbau des neuen Zeitalters hat ... weil es ihn vorlebt ... schon im zweiten Stadium ... es wird noch in ein drittes kommen ... aber dann in ein viertes und fünftes, das hoffentlich schon weniger schmerzhaft sein wird ... und worin sich die schauerliche Grausamkeit des Übergangs verflüchtigen wird – –«

»Wie denn? von selbst?!« –

»Jawohl, lieber Freund, gewissermaßen von selbst! Und warum? – Jetzt, in den jetzigen Stadien, meine ich, wird das Naturrecht, die Naturlebenskraft des menschlichen Individuums völlig überrannt ... das ist die blinde Reaktion auf den Individualismus, in dem sich das alte Zeitalter verblutet hat und zersetzt und aufgelöst ... aber im vierten, fünften Stadium wird es sich wieder hervordrängen, das Individuum, ... wenigstens in einem vernünftigen Maße ... so daß es nicht wieder die ganze, neue, soziale Lebensform sprengt ... sie vielmehr ergänzt, ausgleicht, ausbalanciert ... und dann erst, dann erst, Sie irriger Konservativer, gelangen wir wieder in einen stabilen Lebenszustand, in dem das Volk beharren kann ... weil es wieder leben kann – –. Denn das will es, und das muß es ... Wenn wir lang genug leben, so werden wir vielleicht doch noch die ersten Anfänge sehen ... nach all dem Grauen, dem furchtbaren Grauen des Übergangs! Wenn man ihn nur abkürzen könnte ... wahrhaftig, ich gäbe viel darum ... so aber: – ›Menschenopfer, unerhört – –!‹«

 

Weihnacht 1923

Mein Neffe Paul ist angekommen. Er beglückt mich geradezu.

Als ihn meine Schwägerin mir meldete, das heißt, mir nahelegte, ihn einzuladen, erwartete ich ihn mit tausend Freuden, aber zugleich voll Angst. Denn ich fürchtete, der junge Mensch – er ist ja schon neunzehn Jahre alt, so vergeht die Zeit! – würde sich mit mir krankem Manne unausgesetzt langweilen. Weit gefehlt. Es interessiert ihn hier alles, bis herunter zum Pensionspreis für ihn selbst, den anzugeben er mich gepreßt hat, und über den er dann erschrocken ist. »Ich komme dir ja viel zu teuer, Onkel, von einem solchen Taggeld leben draußen in Deutschland zwei Familien!« –

Er kam dritter Klasse an, obwohl ich ihm das Fahrgeld für die zweite geschickt hatte. Schon das gefiel mir. Auch raucht er nicht, trinkt nicht, sieht an den jungen Mädchen vorüber, obwohl er ein schöner junger Mensch ist. Es ist offenbar eine ganz andere Generation! Er sagt mir, daß ein Teil seiner Altersgenossen so lebt wie er, um die anderen kümmere er sich nicht, oder nur selten, – wenn nämlich Aussicht bestehe, jemanden herüberzuziehen in seine eigene Lebensweise.

Am meisten aber erfreut mich seine Ruhe, sein ruhiger Ernst, und daß er für jede Kleinigkeit dankbar ist – ich kann ihm ja nicht viel anderes bieten als Dinge, die man zu unserer Jugendzeit als selbstverständlich hingenommen hat, ohne auch nur an Dank zu denken.

Die finanziellen Nachrichten, die er mir von daheim mitgebracht hat, sind überaus trübe. »Seit der Stabilisierung sind wir bettelarm geworden, wir haben natürlich noch unser Haus und unser Land, wir haben wenigstens zu essen, was Hunderttausende nicht mehr haben, aber bares Geld haben wir überhaupt keines mehr. Wir bleiben den Schneider schuldig. Wenn wir aber Maschinen brauchen für unser Land, müssen wir den halben Stall verpfänden. Ich weiß noch nicht, wie ich weiterstudieren soll, ich bin jetzt im dritten Semester, studiere die Rechte.« –

Ich verstand, warum ihn meine Schwägerin jetzt zu mir geschickt hat; sie hat Recht getan. Übrigens hat ihr mein verstorbener Bruder seinerzeit empfohlen, sich nötigen Falles an mich zu halten. Paul hat mir dies auch erzählt. Am dritten Tage sagte er mir, daß er mit einem Auftrag in die Schweiz gekommen sei, nämlich mich zu bitten, ob ich ihnen nicht eine Hypothek zu niedrigem Zinsfuß geben könne. Sie wüßten sich sonst keinen Rat mehr; mit einer Hypothek zum jetzigen deutschen Zinsfuß würden sie in zwei, drei Jahren Gut und Heimat verlieren. –

*

Seit wir miteinander vertraut geworden sind, mußte mir Paul von seinem Leben als Student erzählen, während der ersten Semester, wo er »noch zu leben« hatte. Es geht aus allem hervor, daß er die guten Eigenschaften von Fritz alle geerbt hat, Klarheit, unbestechliche Nüchternheit, Redlichkeit gegen sich selbst, Tatkraft; aber daß ihm als Erbe von seiner Mutter eine milde Güte zugeflossen ist, nachsichtige Menschenliebe – ungewöhnlich für sein jetziges Alter. Aber ich bemühe mich, ihm zu verbergen, was ich von ihm denke. Ich ermuntere ihn nur. –

Mit Bromberger verstand er sich so gut, daß dieser ihn schon für die nächsten Sommerferien in sein Haus eingeladen hat. –

5. Januar 1924

Kurz waren diese glücklichen Tage, die mir heimatlosem Kranken, nach so langen Jahren, zum erstenmal wieder die menschliche Aura der Heimat geschenkt haben! Vorgestern ist Paul zurückgereist. Der Abschied fiel mir so schwer, daß ich geneigt bin, in diesem ganzen Besuch eine Prüfung von oben zu sehen: eine Prüfung darauf, ob ich endlich entsagen und verzichten gelernt habe. »Der Menschensohn hatte nicht, worauf er sein Haupt legen sollte ... nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach!« – –

Am letzten Abend ging Paul ganz aus sich heraus.

»Weißt du«, sagte er, »du mußt nicht meinen, daß ich von mir aus etwas tauge! Wie ich gelebt habe, während dieses ersten Jahres als Student, das beruht nur auf einem Versprechen. Ich habe ein bestimmtes Versprechen gegeben ...

Du weißt, ich habe das Gymnasium in N... gemacht, bei den Benediktinern. Nun, der Lehrer, den ich dort am liebsten hatte, schon vom ersten Jahr an, kam zu sterben gerade in meinem letzten Jahr, in der Oberklasse. Er hatte auch mich sehr lieb. An seinem Sterbetag war ich noch einmal bei ihm, in seiner Zelle. An seinem Sterbetag, wenige Stunden vor seinem Tod. Und das war so: ›Verstehst du, Paul‹, hat er mir gesagt, ›daß unser Volk und unser Land unglücklich sind? Über die Maßen unglücklich, Paul. Das verstehst du ja schon, ich weiß ... Und siehst du, das Volk hat ja gar keinen Glauben, gar kein Vertrauen mehr in die Menschen, die es führen sollen, in die sogenannten Gebildeten. Und deshalb braucht es jetzt Menschen, die dem Volk wieder zum Vertrauen helfen. Und siehst du, mit bloßen Sprüchen kann man da nichts mehr ausrichten, da lacht das Volk darüber. Man muß es ihm vor leben, Paul ... das Volk glaubt, wenn überhaupt, nur noch an die gelebte Religion, Paul ... Willst du mir das Sterben leichter machen, sag? – Wenn du kannst? – Ja, du kannst ... Also hör: Du hast ja in all den Jahren hier schon oft gehört, daß die gebildete Jugend für das Volk jetzt christliche Apostel stellen muß, Laienapostel, damit das Volk nicht ganz an der Religion verzweifelt ... Ja also ... Aber wie gesagt, Paul, mit dem bloßen Reden ans Volk kann man jetzt nichts mehr ausrichten ... man muß ihm das Christentum vorleben, und die Laien müssen das tun, die gebildeten Laien ... Und jetzt hab' ich mir die letzten Tage immer wieder gedacht: Bevor du stirbst, mußt du noch einmal mit dem Paul reden, ganz offen reden – der Paul muß dir altem Mönch und Priester das Sterben erleichtern ... Und das kannst du, Paul ... Schau, ich meine, du sollst einmal deinen Ehrgeiz vor unserm Herrgott dreinsetzen, daß du dem Volk wieder zeigst, daß ein junger christlicher Edelmann sein Volk so recht von Herzen lieb hat, daß er sein Unglück begreift, seinen Verfall, seine Verwahrlosung sogar ... du mußt denken, es sind ja doch die besseren Stände an all dem viel mitschuldig, es hat ja fast niemand mehr dem Volk das wirkliche Christentum, die Bruderliebe Christi, vorgelebt, viel eher das Gegenteil ... Ja, leider oft das Gegenteil, Paul ... Und jetzt will ich dir sagen, wie du mir das Sterben froh und leicht machen kannst ... du bist mein Lieblingsschüler gewesen im Leben, sei's jetzt in meinem Sterben! Also hör: versprich mir jetzt, auf mein Sterbekreuz hier versprich mir, Paul: daß du die Sendung, die ich dir jetzt für dein ganzes Leben mitgeben will ... eine wirkliche, wahrhaftige Sendung, Paul, die ich dir als sterbender Mensch gebe ... daß du diese Sendung wirklich in unserem Volk leben wirst! Ich will, Paul, du sollst ein lebendiger Apostel werden, der Bruderliebe Christi, in unserem armen Volk, in allem und jedem, was du tust ... ein wirklicher christlicher Edelmann sollst du werden und als solcher mitten im Volk leben ... ihm mit jedem Atemzug beweisen, daß du es lieb hast, daß du sein Elend, seine Armseligkeit in nichts verachtest, auch nicht in dem, was verkommen, was scheinbar ganz verloren ist, – sondern daß du ihm beistehen willst, aus allen Kräften ... aus allen deinen Kräften, Paul, und mit aller Liebe ... das ist die Sendung, die ich dir mitgebe – nimmst du sie an, Paul? und versprichst du, daß du sie leben wirst? versprichst du mir das auf dein heiliges Wort als junger, christlicher Edelmann?‹ – – –

Nun, das habe ich ihm versprochen, fest und feierlich versprochen. Und darum halte ich es auch ... Du siehst, ich handle nicht von mir aus, sondern nur aus dem Versprechen, das ich nun einmal gegeben hab'. –

Nachher erst, wie ich als Student nach München gekommen bin und das Volk in der Stadt kennen gelernt hab' –, erst da sind mir die Augen aufgegangen, was eigentlich mein Versprechen für mich bedeutet!

Wenn ich dir nur sage, daß ich – ich darf dir's doch sagen? Du mißverstehst es nicht? – in den ersten zwei Semestern, so lange ich noch selber Geld hatte, es mit zwei gewöhnlichen Straßendirnen geteilt habe –! Es ist mir gelungen, diese zwei armen Dinger – schlecht waren sie gar nicht, innerlich sicher nicht, nur hilflos, verlassen, verführt, verkommen! – es ist mir gelungen, ihnen eine kleine Existenz zu schaffen. Sie haben jetzt ein Kurzwarengeschäft zusammen, es ist sehr klein, aber es ernährt sie doch – ich muß allerdings jetzt noch Raten zahlen, für dieses kleine Geschäft – muß vielleicht suchen, mit Stundengeben etwas Geld zu verdienen ... Aber du glaubst gar nicht, wie unser Volk unglücklich ist und arm, so kann es nie vorher gewesen sein ... Mit meiner kleinen Mission, das sehe ich, werde ich mein Leben lang vollauf zu tun haben, wenn ich mein Versprechen halten will.« –

*

Ich habe Paul zugesagt, daß ich die Hypothek gebe. Es steht zu befürchten, daß ich eine gewisse Zeit überhaupt keine Zinsen erhalte. Noch während Paul hier war, habe ich mich bei unserem früheren Zimmermädchen – der gleichen Person, der Bromberger seinerzeit Geld geliehen hat erkundigt, ob ich in ihrer Pension ein Zimmer mit Verpflegung haben könnte. Sie will mich, zu sieben Franken täglich, aufnehmen – ist übrigens hocherfreut, daß ich komme.

So schreibe ich jetzt die letzten Zeilen in meinem alten Hotelzimmer! Ich kann es mir nicht mehr leisten, hier wohnen zu bleiben; denn ich muß mit dem Zinsausfall für die Hypothek, die zu geben ich zugesagt habe, rechnen. Und dann reicht es nicht mehr.

*

Schade, daß ich nicht gesünder bin! Der Umzug würde mir sonst leichter fallen.

Februar 1924

»Lieber Amwald,

es scheint zu Ihren Grundsätzen zu gehören, daß Sie meiner Freundschaft Steine geben anstatt Brot! Für Ihre Pensionsinhaberin haben Sie, zu einer Zeit, zu der Sie noch nicht einmal wußten, wer ich bin, Geld bei mir aufgenommen. Und jetzt verlassen Sie Ihr Hotel, ohne mir vorher auch nur ein Wort zu sagen, geben bei schlechter Gesundheit dieses letzte und gewiß nicht unsittliche Restchen von Komfort auf, und ziehen in diese Pensionshütte, deren Dach jeden Augenblick über Ihnen zusammenbrechen kann, weil das von mir gegebene Darlehen zu schwer auf dem leichten Gefüge lastet. Überdies scheinen Sie mich für dumm zu halten. Als ob ich mir nicht sofort gewisse Gedanken gemacht hätte, schon bei der Ankunft Ihres Neffen! Sie sind selbstverständlich angepumpt worden. Das zu erraten, bedarf bei den heutigen Verhältnissen draußen in Deutschland keines übermäßigen Scharfsinnes. Aber wahrscheinlich war ich Ihnen nicht vornehm genug, um Ihren Verwandten eine Hypothek geben zu dürfen, auf einen Besitz, der vermutlich immerhin diesen Namen verdient während ich Ihnen gut dafür schien, die Hütte zu belehnen, in die Sie sich jetzt geflüchtet haben. So gehen Sie mit meinem Gelde um, und so mißbrauchen Sie meine Freundschaft. Es ist Zeit für Sie, sich auf die elementaren Gesetze des menschlichen Anstandes zu besinnen, denen Sie sich mir gegenüber bewußt entzogen haben. Ich werde Ihnen Zeit zu dieser Besinnung lassen, Sie werden mich mindestens ein Jahr lang nicht in Ihrer lebensgefährlichen, baufälligen Behausung sehen.«

Gruß
Bromberger.

In Wirklichkeit ist das kleine Pensionshaus einfach, aber freundlich, sauber und in bestem Zustande. Außerdem werde ich von meiner neuen Wirtin verwöhnt. Sie läßt mir das Essen aufs Zimmer bringen; denn im Speisezimmer unten essen die Studenten, die hier wohnen, an einem gemeinsamen Tisch. Der Raum, in dem ich lebe, ist bequem möbliert, ich habe alles, was ich brauche. Es wundert mich, wie die Pensionsfrau für sieben Franken täglich Logis und Essen geben kann; denn ich habe meine eigene Krankenkost, die sorgfältigst zubereitet wird. Ich verstehe nicht, wie sie da mit den sieben Franken auf ihre Rechnung kommt. Wenn nur Brombergers Brief nicht ein schlauer Bluff ist! – es geht mir hier so gut, daß ich fast zum Verdacht neige, daß Bromberger sich bei der Wirtin irgendwie zu meinen Gunsten eingemischt hat ...? –

*

Übrigens war er natürlich acht Tage nach seinem Brief doch schon wieder bei mir, sah sich aufs genaueste im Zimmer um, erkundigte sich nach allem und jedem in meiner neuen Häuslichkeit, und geberdete sich ganz so, als ob er jetzt für mich verantwortlich sei. –

*

Gerade am Tage meines Auszuges aus dem Hotel begegnete mir in der Halle zu meinem nicht geringen Erstaunen jener Maschinenfabrik-Mitbesitzer aus Rostow am Don, den ich vor mehr als fünfzehn Jahren hier kennen gelernt habe. Da er mich offenbar überhaupt nicht mehr erkannte – entweder habe ich mich so verändert, oder er hat seither zuviel erlebt, oder beides – drängte ich mich ihm nicht auf. Der Hoteldirektor sagte mir dann, daß er eine Reihe von Geschäftsleuten bei sich empfangen hat, er gehöre zu den Beamten des russischen Außenhandelsamtes, und wolle nächster Tage schon nach Paris zurückfahren, woher er gekommen sei.

Heute aber las ich in der Zeitung, daß er in Paris von einem unbekannt gebliebenen Landsmann, vermutlich einem russischen Gegenrevolutionär, auf der Straße niedergeschossen worden ist.

Er tut mir aufrichtig leid. Ob er sich während der Revolution persönlich etwas gegen jemand zuschulden hat kommen lassen, weiß ich nicht. Es ist ja möglich, daß es sich um einen politischen Racheakt persönlicher Natur handelt. Aber dieser Mann hat sein Volk auf seine Weise geliebt und ist zum Opfer eines Kampfes geworden, den er zeitlebens nicht aus Eigennutz, sondern seiner Volksidee folgend, geführt hat. So habe ich ihn wenigstens kennen gelernt, und er war gewiß viel zu leidenschaftlich, um je gegen seine Überzeugung oder auch nur für seinen eigenen Profit zu handeln. Ein Opfer des Übergangs – wie vielleicht auch der Heimatlose, der ihm den Todesschuß gegeben hat: der Ermordete und der Mörder, beide Opfer des gleichen Übergangs!

Oktober 1924

Mein Neffe Paul hat also in der Tat den ganzen September im Hause Brombergers zugebracht. Er hat dort viel gelernt, Bromberger gab ihm eine Art summarischen Unterrichts in der Kunstgeschichte.

Vor mir hat sich Paul zuerst wohl etwas geschämt; aber ich hatte ja ohnehin damit gerechnet, daß ich die Halbjahreszinsen nicht bekommen würde. Ich werde wohl auch die nächsten und übernächsten nicht bekommen, ich bin schon zufrieden, wenn sie draußen überhaupt durchkommen; denn auf Rente aus der Landwirtschaft können sie ja derzeit, über das hinaus, was sie zum Leben brauchen, nicht hoffen.

Leider hat Bromberger Paul angedeutet, daß ich mich meinen Verwandten zuliebe eingeschränkt habe.

Paul kam dann zu mir, nach dieser voreiligen Enthüllung, und machte mir den Vorschlag, ich solle die Hypothek, die ich ihnen gegeben habe, an Bromberger verkaufen. Er sagte, daß er von sich aus auf den Gedanken gekommen sei und mit Bromberger schon gesprochen habe. Er ist viel reifer, viel umsichtiger, als wir in der Jugend gewesen sind. Ich dankte ihm, lehnte jedoch ab. Seitdem umgab er mich mit Aufmerksamkeiten. Zeitweilig las er mir sogar vor, wenn ich mein Augenflimmern hatte. Nie habe ich in den vier Wochen, obwohl er mich doch fast täglich besuchte, auch nur die Spur einer Langeweile an ihm bemerkt; das rührte mich am meisten. Dabei tat er alles mit solcher Selbstverständlichkeit, als wäre es nichts. Er hat darin etwas von Tante Maria. – Es scheint, daß, wenn jemand die Liebe von Jugend auf übt, er dann von dieser Ichverfettung (ich kann es nicht anders nennen) bewahrt bleiben kann, die in späteren Jahren zu bekämpfen dem Menschen soviel seelische Arbeit kostet. Das Ich zu mästen ist leicht; das einmal aufgequollene Ich zur heiligen Nüchternheit zu erziehen, schwer. –

 

»Verzeihst du mir, Onkel, wenn ich dir etwas ganz offen beichte?« –

»Was denn, Paul?« –

»Zu aller Anfang, als ich dich kennen lernte – auf letzte Weihnachten – habe ich nicht verstanden, wie du eigentlich lebst. Weil du keinen Beruf ausüben kannst ... Ich habe mir gedacht, du müßtest sehr unglücklich sein, oder ganz besonders sorglos. Jetzt aber merke ich, daß du sehr wohl einen Beruf hast, daß du ihn ausübst, und daß du in Wirklichkeit ein glücklicher Mensch bist ...«

»–? –«

»Ja. Denn du nimmst offenbar all deine Leiden, die körperlichen und die innerlichen, als deinen Beruf. Das ist viel, Onkel, das ist sehr viel ...« –

»Soweit bin ich leider noch nicht, Paul. Im Gegenteil, ich plage mich noch unausgesetzt.« –

»Ja, das ist es ja eben. Darüber wundere ich mich gerade. Es ist ein Leben für dich daraus geworden, ein Lebensberuf, in dem du dich abplagst und abmühst wie irgend ein anderer Mensch mit seinen Berufssorgen.« –

»Das wäre ganz recht – wenn es nur so wäre, Paul! Aber ich habe den Beruf unfreiwillig ergriffen, bin natürlich nicht gefragt worden, ob ich so krank und ohnmächtig werden will.« –

»Ja siehst du, gerade deswegen. Es ist viel schwerer, einen Beruf auszuüben, der einem aufgezwungen worden ist. Ich weiß da schon was davon, Onkel ... Nach den ersten zwei Semestern Jus hätte ich ums Leben gern zur Medizin umgesattelt. Aber es ist ein zu teures Studium. Jetzt habe ich mir Gewalt angetan, und studiere mit aller Kraft mein Jus. Und das ist mir eine große Befriedigung geworden. Ich habe übrigens gute Aussichten, weil ich mit einem Kameraden zusammen später die Anwaltskanzlei seines Vaters übernehmen kann – eine der besten, die es derzeit in Bayern gibt.«

 

Früh entsagen lernen, daran liegt sehr viel. Und deshalb glaube ich, daß der gute Teil der neuen Generation dem deutschen Volk vortreffliche Menschen, wirkliche Führer geben wird; sie haben früh lernen müssen, auf vieles zu verzichten, was wir uns gedankenlos gegönnt haben – man wird ärmer um das, was man sich nicht versagt, und reicher, um das, worauf man verzichtet.

*

Ich fühle, daß ich Paul zum letzten Mal im Leben gesehen habe. Ich habe wirklich Abschied von ihm genommen.

Mai 1926

Nach langen Jahren habe ich meinen Zahnarzt wieder aufsuchen müssen, und gerne aufgesucht.

» Tiens!« – rief er mir entgegen, »– daß Sie gerade jetzt kommen! Welches Zusammentreffen!« –

»Mit wem, lieber Doktor?« –

»Der Abbé B. ist zur Zeit in Lausanne. Und der Graf Viktor S.« –

»Oh, wie geht's ihnen?« –

»Dem Abbé, vom Alter abgesehen, leidlich. Dem Grafen leider sehr schlecht. – Sie wissen nicht, was ihm im Krieg geschehen ist?« –

»Nein.« –

»Er ist erblindet!« – – –

Nach der Sitzung bat ich den Zahnarzt, mich womöglich sogleich beim Abbé B. und Viktor S. anzumelden. Er tat es: die beiden befanden sich in der Klinik »Bon-Repos«.

Aber nur der alte Abbé empfing mich. Er sagte mir ohne Umschweife, daß Viktor S. noch nicht mit Deutschen verkehre. »Mag ja sein«, antwortete ich. »Aber bitte, sagen Sie ihm, ich ließe ihn höflich ersuchen, er wolle doch seiner Schwester, falls er sie wieder einmal trifft, mitteilen, daß ihr Gebet erhört worden ist ... ihr Gebet um meine Bekehrung, Abbé!« –

Er sah mich väterlich an. »Bleiben Sie noch einen Augenblick! ich will es ihm doch sofort sagen. Vielleicht ... vielleicht gibt eine solche Bitte – besonders, weil Sie sie jetzt ... nach erfahrener Abweisung stellen – unserem armen Viktor doch einen inneren Ruck. Warten Sie, ich komme sogleich zurück!« –

Er kam aber erst nach zehn Minuten. » Une dernière lutte, en dedans! – ein letzter Kampf, innen –« sagte er lächelnd, »aber jetzt will Sie Graf Viktor empfangen.« –

Ich ging mit dem Abbé zu Viktor hinein.

»Sie sind es?« fragte er, tief aufatmend.

»Ich bin es, Graf Viktor«, sagte ich und konnte, als ich seine erloschenen Augenhöhlen sah, die Tränen nicht zurückhalten. Ich weinte, beugte mich über ihn, um ihn zu begrüßen, und meine Tränen fielen auf seine Hand, » Mon Dieu –« sagte er leise, » me voilà immobilisé ... et réduit à rien, sauf la grâce de Dieu ... aveuglé par le feu allemand – mais enfin ... la France a vaincu l'Allemagne ... et comment allez-vous? – Mein Gott ja, da sehen Sie mich, hilflos, ein Nichts, wäre nicht noch die göttliche Gnade! – erblindet, vom deutschen Feuer ... aber immerhin ... Frankreich hat Deutschland besiegt – und wie geht es Ihnen?« – – –

*

Das Gespräch wollte nicht recht in Gang kommen; er kam immer wieder auf den Sieg Frankreichs zurück, und ich wollte nicht mit ihm, in dem Zustand, in dem er sich befand, rechten ...

»Wissen Sie«, sagte er, »was das Geheimnisvollste im ganzen Krieg war ... der Augenblick, wo der Engel Gottes am augenfälligsten für Frankreich eingetreten ist? Es war dies, daß Sie, daß die Deutschen nach der Schlacht an der Marne zurückgegangen sind – und sie hatten die Schlacht nicht verloren, sie glaubten es nur – und dies hat doch in Wirklichkeit schon den ganzen Krieg entschieden! Es ist geheimnisvoll, ganz geheimnisvoll –

»Ich weiß es nicht, Graf Viktor, ich weiß nicht ...«

»Es ist so, es ist bestimmt so ... Lieber Abbé, wollen Sie so gütig sein, uns die Prophezeiung der seligen Schwester Maria vom gekreuzigten Heiland, die Prophezeiung aus dem Jahr 1874, vorzulesen?« –

»Ich würde es lieber nicht tun, Graf.« –

»Bitte tun Sie es doch! Nicht wahr, Sie erlauben, daß der Abbé diese Prophezeiung vorliest. Denn sie hat sich ja schon erfüllt ... also kann es Sie nicht kränken ...«

»Dann doch erst recht, Graf!« warf der Abbé abwehrend ein.

»Lesen Sie nur, verehrter Abbé, lesen Sie immerhin, Graf Viktor zuliebe!« – sagte ich.

Widerwillig holte der Abbé das Buch herbei und las:

»Am 13. Mai 1874 prophezeite die Selige erstmals den großen Krieg, und am 14. August 1874 kam sie wieder auf den furchtbaren Gegenstand zurück:

Ce sera un massacre terrible. On marchera dans le sang jusqu'aux genoux – – Les Allemands reviendront en France, mais ils seront écrasés. On sera forcé de dire: Le doigt de Dieu est lá et la France sera plus brillante que jamais – – oui, oui, bientot la France triomphera, bientot elle sera la reine des royaumes – – la France deviendra reine ... Es wird ein entsetzliches Morden sein. Man wird bis zu den Knien im Blute waten – – Die Deutschen werden wieder nach Frankreich kommen, aber sie werden vernichtend geschlagen werden. Man wird alsdann gezwungen sein, es zu sagen: Hier waltet der Finger Gottes, und Frankreich wird glänzender dastehen als jemals ... Ja, ja, bald wird Frankreich seinen Triumph erleben, bald wird es die Königin der Königreiche sein. Frankreich wird die Königin werden – – –«

*

Ich schwieg zuerst, und wollte nicht sprechen. Aber dann mußte ich doch sprechen, ich konnte nicht mehr anders. Und ich sagte: »Es steht aber nicht in der Prophezeiung, verehrter Graf, wielange Frankreich Königin sein wird! Und andererseits, Sie wissen es, steht geschrieben: ›Wer steht, sehe zu, daß er nicht falle!‹ – «

Da griff der alte Abbé lächelnd ein. »Es steht aber auch nicht da, ob die Königin Frankreich ledig bleiben wird ... vielleicht kommt es doch einmal zu einer Vermählung ... zwischen der Königin und ihrem Nachbarn, zwischen Frankreich und Deutschland ... irgendwann, irgendwie – –!«

Dieses freundliche Wort, ob mehr zur Vermittlung in dem peinlich gewordenen Gespräch gesagt, oder im guten Glauben – dieses Wort vermochte jedenfalls soviel, daß wir wenigstens im Frieden von einander Abschied nahmen. »Und meiner Schwester werde ich ausrichten, was Sie mir durch den Abbé haben sagen lassen – sie wird sich darüber freuen! Leben Sie wohl!« – Und als ich an der Türe war, rief er nochmals: »Leben Sie wohl!« –

Weihnacht 1927

Das schwerste Jahr meines Lebens. Das leidensreichste; das einsamste. Und jetzt ist es das glücklichste geworden. Denn nunmehr habe ich es, mit Gottes Gnade, endlich gelernt. Gelernt, nur zu wollen, wie Er will. Und dies ist jetzt mein Gebet, das Gebet eines im Unglück glücklich Gewordenen:

»Verleihe mir, o Herr, daß ich allem absterbe, was in der Welt ist, und daß ich Deinetwegen gern in der Welt verachtet und unbekannt sei. Gib mir das Wünschenswerteste, nämlich Ruhe und den Frieden des Herzens in Dir. Du allein bist der wahre Friede, die wahre Ruhe des Herzens; außer Dir ist ja alles herb und unruhig. In diesem Frieden, ja in ihm, das ist: in Dir, dem einzigen, ewigen, höchsten Gute, will ich schlafen und ruhen. Amen.« – Nachfolge Christi.

Nachschrift:

November 1930,
Klinik Bon-Repos.

Ich hatte die Meinung gefaßt, daß es gut wäre, in der vollkommenen Armut unseres Herrn Jesu Christi zu sterben. Deshalb übergab ich das wenige, was ich noch besaß, meinem Freunde Bromberger mit der Bitte, es Paul und den Seinen als mein letztes Geschenk und zugleich als meinen letzten Willen zu übergeben. Ich setzte dies in Rechtskraft. Dann verließ ich die Pension und ging hinaus in die Nacht.

Dann bettelte ich mir mein Leben. Ich mußte allerdings oft hungern und viel harte Worte einstecken. Auch fror es mich viel, und ich mußte nicht ganz selten unter freiem Himmel übernachten, als ich so, bettelnd, durch das Land wanderte.

Dann wurde ich so krank, daß ich nicht mehr weitergehen konnte, sondern von guten Menschen aufgelesen und beherbergt wurde. Dies war in Plainpalais, ganz in der Nähe des Häuschens, wo Boris einmal gewohnt hat.

Wie mich Bromberger gefunden hat, weiß ich nicht. Er sagt es nicht, was er gemacht hat. Er hat mich hiehergebracht als seinen Gast; denn ich habe ja nichts mehr. Bromberger sagte mir heute, daß er jetzt glaubt und ein Christ werden will.

*

Dank ihm, Dank allen guten Menschen!

Ich hätte gern besser gelebt, aber ich war zu schwach. Bald werde ich alle wiedersehen, denen ich wehgetan habe. Gott sei mir armen Sünder gnädig. Bald darf ich sterben.

Allen Menschen Dank und Liebe!

Ich warte hier auf den Tod.

Hilf, Maria!


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