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Ein olivengrauer Morgen in Südfrankreich; ein seichter graugrüner Hafen und ein weißer Hydroplan, der sich im Schatten eines Hebekranes auf dem Wasser schaukelt. – »Alles klar! An Bord, Monsieur, Madame!« – Der Hydroplan nimmt uns in seinen weißen Bauch auf; die Dachluke schließt sich über uns. – »Nein, denk' mal, wenn wir kapotieren! Vorige Woche kapotierte ein Hydroplan, und die Passagiere mußten durch das Fenster hinausbefördert werden. Glaubst du, du könntest durch das Fenster hinauskommen?« – Ich antwortete nicht auf diese Anzüglichkeit. Ich sehe zu dem erwähnten Fenster hinaus, das so groß ist wie ein Kuhauge, und im selben Augenblick beginnt der Motor zu zischen. Der Hydroplan macht eine Rundtour um den Hafen, bis er die Hafenöffnung gerade vor sich hat; das Motorzischen steigt zu einem Getöse an; das Fensterglas ist mit Salzwasserspritzern übersät Dunk – dunk – dunk – pocht es gegen die Unterseite des weißen Hydroplanbauches. Die kleinen Pontonboote tanzen auf und nieder wie Delphine; dunk – dunk – dunk – und plötzlich ist das Meer fünf Meter unter uns. Die Motormelodie und der Hydroplan steigen im Takte auf; der Luftdruck gegen die Fensterscheibe läßt einen bereits vorhandenen Stern nach allen Richtungen ausstrahlen; Antibes liegt tief unter uns, und schräg vor uns sichten wir das Deck eines Dampfers.
Wir sind fünf an Bord, der Aviatiker, der Mechaniker und zwei Passagiere. Der fünfte Reisende ist eine Taube. In dem Kämmerchen, hinter der Passagierkajüte, gibt sich der Mechaniker der drahtlosen Telegraphie hin; aber für den Fall, daß etwas passieren und der Telegraph versagen sollte, ist als letzte Ressource die Taube mit an Bord. Gleich sieben Mitschwestern, ist sie von der Gesellschaft – » Société Aéronavale Antibes-Ajacco« – fest engagiert.
Die Taube gibt meinen Gedanken eine biblische Richtung; das Meer, das unter uns sinkt und sinkt, scheint mir dem Meere zu gleichen, das nach der Sintflut sank. Es glitzert wie gehämmertes Metall; rings am Horizont liegen Wolken aus Silber und Rosen; aber plötzlich haben wir die Wolken näher als den Horizont. Der eine leichte Silberstreifen nach dem anderen wird von den donnernden Propellern zerrissen; aber sie verdichten sich, bis es so ist, als flöge man durch ein enormes Rauchzimmer mit treibenden Tabakwolken aus einer zyklopischen Zigarre. Der Flieger wendet den Kiel scharf aufwärts, und wir steigen höher und höher, bis die Wolken wie eine kompakte Schneelandschaft unter uns liegen. Aus dem Telegraphenkämmerchen steckt der Mechaniker ein abgerissenes Blatt mit Bleistiftschrift herein: »Wir sind in zwölfhundert Meter Höhe. Die Berge Korsikas schimmern vorne durch die Wolken.« – Richtig! Am südlichen Horizont leuchtet etwas Weißes unter den weißen Wolken: die schneebedeckten Berge um den Col de Vergio. Napoleons Insel kommt näher, wild, weiß, zerklüftet. Die Wolken sind fort; der Wind ist frischer geworden, und tausend Meter unter uns hat das Meer weiße Kämme; über diese sehen wir den Schatten des Hydroplans dahingleiten, leicht und elegant wie eine Schwalbe ...
»On est prié de ne pas fumer dans l'avion.« Diese Inschrift begegnet meinem Auge jedesmal, wenn ich den Blick von dem Panorama vor und unter mir abwende; und ich kann nicht umhin, daran zu denken, wie ich einmal vor dem Kriege bei Blériot in Buc aufstieg. Damals war es unnötig, das Tabakrauchen im Aeroplan zu verbieten; man saß in einer offenen Gondel, deren Seiten genau bis in die Höhe des Nabels gingen; ein Ledergürtel um die Mitte des Reisenden verknüpfte sein Schicksal und das des Aeroplans unlöslich miteinander; und während der Motororkan das Gesicht peitschte, hatte man freie Gelegenheit, zu beiden Seiten siebenhundert Meter hinunter auf die Erde zu sehen und die Reflexionen zu verfolgen, zu denen diese Aussicht Anlaß gab. Nun sitzt man in einem bequemen Korbsessel; man kann aufstehen und sich ein paar Meter nach jeder Richtung bewegen; und wenn man auch nicht rauchen darf, so ist doch kein Verbot erlassen, das Gemüt mit anderen mitgebrachten beruhigenden Mitteln zu stärken ...
Cap Cavallo! signalisiert der Mechaniker auf einem neuen Zettel. Wir sind an der nordwestlichen Ecke Korsikas. Napoleons Insel ist ganz sichtbar, und sie ist so wild und öde wie die Erde in jenen Tagen, als es noch keine Hydroplane waren, die über den Wassern schwebten. Bergkamm an Bergkamm, bald grau, bald rot, bald weiß – dann gleitet die Küste vorbei, bis wir plötzlich um die Inseln schwenken, die man »Die Blutigen« nennt, und mit dem Wind im Rücken, über den Golf von Ajaccio hineinsausen.
»Oft«, so schreibt König Joseph Bonaparte von Neapel und Spanien in seinen Memoiren, »wanderten wir des Abends mit Unserem Bruder Napoleon an den Ufern dieses Golfes entlang, der sich an Schönheit mit dem neapolitanischen messen kann. Wir erstreckten diese Wanderungen an der griechischen Kapelle vorbei; und während wir sprachen, sogen wir die Düfte der Myrthenbüsche und Orangenbäume ein, und oft kamen Wir erst nach Hause, wenn die Nacht sich über die Gefilde gesenkt hatte.« Diese Düfte und diese Gefilde erwarten uns im Augenblick! Jetzt biegt der Hydroplan um ein Konglomerat von Dächern, von denen eines die ersten Schreie des Welteroberers widerhallen hörte; der Flieger macht ein Manöver mit dem Steuerrad; für unsere, von der Relativitätstheorie gebundenen Augen, scheint die Insel des Welteroberers einen Katzenbuckel zu machen wie ein Kater; ein neues Manöver, und der Hydroplan läßt sich im Hafen nieder, weich und leicht wie eine Möwe, auf ausgebreiteten Flügeln.
Zwei Stunden nach der Abreise aus Antibes! In weiteren neun Stunden kommt das Dampfschiff mit den unzeitgemäßen Personen, die sich noch dieses Beförderungsmittels bedienen. Nein, ich muß mir einen Privathydroplan bestellen!
Die Franzosen eroberten Korsika erst im Jahre 1768, weshalb Napoleon gezwungen war, in seinem Taufschein zu radieren, um ein geborener Franzose zu werden; und im Jahre 1882 eroberten sie Tunis. Nach vierzig Jahren französischer Herrschaft ist Tunis französisch. Aber nach einhundertfünfzig Jahren französischer Herrschaft ist Korsika noch immer korsikanisch. Das ist das erste, was man konstatiert, wenn man in Ajaccio ans Land geht.
Ajaccio soll angeblich von Ajax gegründet worden sein (Ajax, dem Ersten oder Ajax, dem Zweiten, weiß man nicht). Es ist eine Sammlung von siebenstöckigen Häusern, so schmutzig und rußig, als ob die Stadt eine Brandstätte wäre, was sie bedauerlicherweise nicht ist. Die Straßen heißen Cours Napoleon, Rue du Roi Jérôme, Rue Napoléon und Place Létitia. Niemand in der Familie ist vergessen, nicht einmal Onkel Fesch, der sowohl einer Straße wie einem Kollegium und einem Museum den Namen gegeben hat. An der Place Létitia liegt das Haus, das der Stadt ihre Existenzberechtigung gibt.
Es ist ein vierstöckiges Haus mit glattgestrichener Fassade und Fenstern ohne Ausbuchtungen. Über dem Eingang ist eine Marmortafel, die mitteilt, daß Napoleon der Erste hier am 15. August 1769 geboren wurde. Man geht eine schmale Treppe hinauf, und im ersten Stockwerk kommt man in eine Flucht kleiner und großer Räume mit Möbeln aus dem achtzehnten Jahrhundert – des Vaters Carlo Buonapartes Arbeitszimmer, wo Taufscheine revidiert wurden, Frau Létitias Boudoir, ein Empfangsraum, ein Festsalon, der ganz imposante Dimensionen hat, und schließlich die Schlaf- und Studierkammer des Welteroberers, die auf ein meterbreites Hintergäßchen geht. Alles wirkt ärmlich-vornehm. Ein Tragsessel (Frau Létitias) sticht unter den wenigen Stühlen hervor. Auf diesem Tragsessel wurde die Mutter des Welteroberers in aller Eile aus der Kathedrale heimgebracht, als ihre schwere Stunde gekommen war. Nach der mündlichen Überlieferung kam der Kaiser der Franzosen auf einer Chaiselongue zur Welt, die sich noch im Schlafzimmer der Mutter befindet; nach der schriftlichen Tradition, die mehr auf Etikette hält, wurde er in dem Bett geboren, das im Zimmer steht. Auf der Chaiselongue liegen zwei verblichene Huldigungsgirlanden von bonapartistischen Vereinen und eine von einer Gesellschaft russischer Flüchtlinge, die Ajaccio im Jahre 1921 passiert haben. Welchen Grund sie hatten, dem Andenken des Gewaltigen zu huldigen, wird nicht mitgeteilt. Aber möglicherweise ist es ein unausrottbarer Instinkt des russischen Charakters, dem zu huldigen, der in der einen oder anderen Weise ihr Land verwüstet und Moskau brennen läßt. Lenin ist ja jetzt auch Väterchen Lenin geworden.
Wenn man in den alten Räumen umherwandert, erinnert man sich unwillkürlich einer Erzählung in »Der Garten des Epikur«, von dem Manne, der sich in eine öde, entlegene Gegend zurückgezogen hatte, wo er in fast gänzlicher Isolierung lebte. Er war in seinen Meditationen zu dem Schlußresultat gekommen, daß man jede bewußte Handlung vermeiden müsse, da jede solche Handlung die unübersehbarsten Konsequenzen mit sich bringen kann. Anatole France besucht ihn in seiner Einsamkeit und hört ihn seine Philosophie entwickeln; er lebt nur von den einfachsten Kräutern und Wasser, er unternimmt den lieben langen Tag gar nichts, er verkehrt mit niemand anderem als seiner Dienstmagd, deren Seele so simpel ist, daß er sie unmöglich irgendwie beeinflussen kann.
»Ah?« sagt Anatole France, »darf ich fragen: ist sie nur deine Dienstmagd?«
Der nihilistische Philosoph zuckt die Achseln, wie um zu sagen, daß das gleichgültig ist.
»Hüte dich, mein Freund!« sagt Anatole France. »Die Handlung, durch die Napoleon entstand, kann man kaum bewußt nennen – aber willst du leugnen, daß sie die unübersehbarsten Konsequenzen nach sich zog?«
Der nihilistische Philosoph schlägt sich an die Stirne und ruft: »Du hast recht! Mir bleibt nichts anderes übrig als zu sterben.«
»Hüte dich wohl, mein Freund! Wer weiß, ob nicht dies, zu sterben, eine Handlung ist, die die unübersehbarsten Konsequenzen nach sich ziehen kann?«
Außer in Napoleons Geburtshaus sind noch an zwei, drei anderen Orten Reliquien zu sehen, aber keine von ihnen ist überwältigend oder besonders stimmungsvoll. Die Stadt Ajaccio hat sich auch redlich befleißigt, die Erinnerung auszumünzen; man bekommt Napoleon in Form von Büsten, Napoleon in Form von Pfeifenköpfen, Napoleon in Form von Zigarrenmundstücken und Napoleon in Form von Messergriffen. Die Klubs heißen Napoleon, die Cafés heißen Napoleon und der Likör heißt Bonapartine. Aber trotz der Cafés, der Klubs, der Messergriffe, der Zigarrenmundstücke und Pfeifenköpfe hat das moderne Ajaccio wenig oder nichts mit Napoleon zu tun, hingegen sehr viel mit Napoli.
Eines Morgens, in aller Frühe, tutet es unter unserem Fenster, und wir beeilen uns, unsere wenigen Reiseeffekten zusammenzupacken. Wir sollen eine fünftägige Autotour um die Insel des Gewaltigen antreten, und der vorige Abend hat uns einen Vorgeschmack gegeben, was wir zu erwarten haben. Wir gingen denselben Weg den Golf entlang, wie König Joseph und sein Bruder. Die Berge lagen in Emailblau getränkt da. Hier und dort, an ihren Abhängen, brannten Feuer im feuchten Dunkel. Das Wasser der Bucht war purpurn und smaragden, und von den Berghängen kam eine Flut von Düften, süßen, betäubenden Düften, wie sie nur der Süden hat, und frischen herben Düften, wie sie nur im Norden zu finden sind. Die Frösche sangen ihre Liebeslieder, die intensiver waren als alle, die ich je irgendwo gehört habe, mit Ausnahme der Oase Tozeur, aber dort klangen sie auch, als würden sie auf der großen Trommel gespielt. Aber nicht genug an dem Gesang der Frösche; es sangen Vögel aus allen Gebüschen, und aus einem sang eine wahrhaftige lebendige Nachtigall. Wir trauten unseren Ohren kaum. Der Vogel im Süden, der dem Bratspieß entgehen will, darf nie vergessen, ein stummer Vogel zu sein. Sollte es auf dieser Mittelmeerinsel Singvögel geben, die sangen, ja, geradezu Nachtigallen? Es zeigte sich, daß es wahr war; zur größeren Sicherheit schlugen wir im Führer nach und fanden, daß Madame Emilia Guilichini, 5 Cours Napoleon, ob ihrer Vögelchenpasteten berühmt war. Vor diesem doppelten Zeugnis beugten wir uns und warteten mit Spannung ab, was der Morgen auf dieser Insel bringen würde.
Der Anfang war eine Enttäuschung. Ajaccio, diese Wunde der neapolitanischen Krankheit, verbreitet seine Gifte weit um sich. Die Landschaft war öde, die Luft eine Staubwolke, der Weg elend. Unser kleines Fiat-Auto, das sich später als ein vortrefflicher Bergkletterer entpuppte, humpelte wie ein verdrossener Esel. Wir sahen einander zaghaft an: Fünf Tage in diesem Beförderungsmittel waren im voraus bezahlt! Aber plötzlich kletterte das Auto über einen Bergkamm; die letzten Spuren von Ajaccios Nähe verschwanden; Häuser und Kirchen verschwanden, die Wildnis lag vor uns und rings um uns. Wie durch einen Zauberschlag wurden die Wege glatt wie ein Parkett. Und wie durch einen Zauberschlag veränderte sich die Luft: aller Staub war weg, und wir fuhren durch einen warmen Zaubertrank von Düften.
Ich habe versucht, die Luft in Korsika ohne Laboratorium und Apparate zu analysieren. Das ist mißlungen. Ich bin ein zu schlechter Botaniker und will es auch nicht mit dem Parfümfabrikanten Coty aufnehmen, der Korsika im französischen Parlament vertritt. Es ist eine Luft, so betäubend und so anregend, so berauschend und so stärkend, daß ich eigentlich kaum glaube, daß irgendein Laboratorium sie in seinen Apparaten analysieren oder irgendein Parfümfabrikant in den seinen herstellen kann. Sie hat die Süßigkeit der Orangenblüte und die Herbheit der wilden Reiser, die aromatische Würze des Eukalyptusbaumes und den scheuen Duft der Heckenrose. Aber der Grundton dieses Parfüms ist immer derselbe: es ist der Duft eines dunkelgrünen Gesträuchs, das »Ciste« genannt wird. Sein Duft umhüllt einen auf den durchsonnten Berghängen und macht die Täler zu dampfenden Parfümbädern. Nie werde ich das Tal des Chioniflusses vergessen. Die Luft vibrierte in der Mittagssonne. Das Auto stieg sausend den braunen Bergweg hinan. Tief unter uns rieselte der Chioni über sein steiniges Bett. Und uns umschlingend wie Arme, uns berauschend wie heiße Atemzüge und Küsse, strömte die parfümierte Luft an uns vorbei – Kirschenduft, Rosenduft, Hagedornduft, aber vor allem der herbe und süße, betäubende und aufreizende Duft von tausend dunkelgrünen, weißblühenden Cistusbüschen.
Nein, ich werde das Chionital nie vergessen. Es ist nur gerecht, daß man die Wahl Herrn Cotys, Fabrikanten künstlicher Parfüms, als Abgeordneten für Korsika, annulliert hat.
Unser Weg ging von Ajaccio über Piana nach Punta Revellata; dann vorbei an dem kleinen Städtchen Calvi und Ile Rousse nach Bastia; dann quer über die Insel zurück nach Ajaccio. Wir fuhren fünf Tage, und nicht einen Augenblick ermüdeten wir.
Was der korsikanischen Landschaft das Gepräge gibt, ist ihre phänomenale Abwechslung. Diese Insel hat alle Naturen von den wildesten norwegischen Fjordlandschaften bis zu eigentümlichen roten Felsenpartien, die die Dolomiten schlagen, und fruchtbaren Hochebenen, die nur in Bayern ihr Gegenstück finden. Sie hat Strecken von südlicher Üppigkeit und von mehr als nordischer Kargheit; und damit gar nichts fehlt, hat sie gewaltige Buchenwälder, gegen die der dänische Tiergarten ein Villagärtchen ist. Aber nichts von alledem ist protokollarisch an seine Stelle gebunden. Alles fließt, alles wechselt von Minute zu Minute; eine Beschreibung von Napoleons Insel muß auch aus nicht-historischen Gründen das höchste Mißfallen eines Preußen erregen.
Als das Auto bei Listincone über die ersten Bergkämme geklettert war und Ajaccio und all sein Wesen von uns abfiel wie der Staub von der befreiten Seele, hatten wir die Sagonebucht unter uns. Was ist Sagone? Wir wußten es nicht, aber bei dem Anblick der Regelmäßigkeit, mit der jeder Kilometerstein den Namen einschärfte, erwarteten wir uns etwas Monumentales – Sagone fünfzehn Kilometer, Sagone zwölf Kilometer, Sagone acht Kilometer, schließlich: Sagone ein Kilometer, und unsere Spannung war auf dem Siedepunkt. Sie löste sich: wir fuhren an sechs Häusern vorbei, von denen fünf aufrecht standen, und eines am Boden lag. Das war unser erster Eindruck einer korsikanischen Stadt, und es war nützlich, daraus zu lernen. Mit Ausnahme von Ajaccio und Bastia besitzt Korsika keine Städte, die dieses Namens würdig wären. Hie und da saust man an ein paar Häusern vorbei, die an einem Strand zusammengeduckt liegen oder eine Berglehne hinaufgeklettert sind – das ist alles, was die Insel an plünderbaren Städten hat. Kein Wunder, daß ihr größter Sohn seine Tätigkeit anderswohin verlegte. Erstaunlicher ist, daß man Jahrhunderte hindurch um das Besitzrecht einer solchen Insel gekämpft hat. Bevor die Franzosen sie im Jahre 1768 eroberten, hatten die Genueser sie von den Sarazenen erobert und sie durch mehrere Jahrhunderte gehalten. Als Wahrzeichen dessen ist die ganze Küste von runden genuesischen Wachttürmen besäumt. Nach der Vertreibung der Genueser wurden diese Türme von den berühmten Banditen und jenen ihrer Freunde übernommen, die durch das Anzünden falscher Leuchtfeuer den Fremdenverkehr an der Küste zu beleben versuchten. Ihrer waren nicht wenige, und überhaupt haben die Korsikaner durch alle Zeiten das gehabt, was man eine »schlechte Presse« nennt. Seneca, allerdings durch seine Sittenstrenge bekannt, sagte von ihnen: »Diese Menschen sind mit drei Dingen beschäftigt, ulcisci, sich zu rächen, raptu vivere, vom Raube zu leben, und negare deos, die Götter zu leugnen, unbestreitbar, eine schlechte Verwendung der Zeit. Dafür heben die Korsikaner mit Sperrschrift hervor, daß Nero Senecas Schüler war.
Was dem von Seneca nicht beeinflußten Fremden am Charakter der Korsikaner auffällt, ist vor allem ihre Scheu. Sie haben nichts von der neugierigen Zudringlichkeit ihrer italienischen Sprachverwandten. Sie sind zurückhaltend und schweigsam; in der Stadt Ajaccio werden die für Napoleon schwärmenden Touristen nicht von einem einzigen freiwilligen Führer belästigt und kaum von einem Bettler; auf dem Lande, und namentlich in den Gebirgsgegenden, könnte man sich bei einem Naturvolk glauben, für das der Anblick eines weißen Menschen ein Erlebnis ist. Und diese stolze Menschenscheu währt nicht nur das ganze Leben, sie dauert auch nach dem Tode an. Es gibt allerdings Kollektivfriedhöfe in Korsika; aber kein Korsikaner von Selbstachtung liegt dort. Nein, jeder hat seinen eigenen Begräbnisplatz. Weit draußen, in öder Wildnis, stößt man plötzlich auf solche Grabdenkmäler. Das ist ein Korsikaner, der seinen individualistischen Trieb bis ins letzte verfolgt.
Der Weg schlängelt sich Berglehnen hinauf, Berglehnen hinab, bald fünfhundert Meter oben, bald unten am Meeresufer, vorbei an Sagone, Calcatoggio und Cargese nach Piana. All die genannten Orte sind kleine Bergdörfchen im Stil Sagones. Bei Piana kommt man in eine Landschaft aus roten Sandsteinfelsen, die die seltsamsten Formen angenommen haben; da ist ein Hund, ein Vetter des Cerberus, ein Menschenprofil, genannt Poincaré, ein anderes genannt Napoleon, und schließlich eine Gestalt in weißem Mantel, die die Gedanken nach Belieben zu den Figuren auf dem Turm von Notre Dame oder zu meinem Freund, dem Filmschriftsteller Sam Ask, führen kann. Vorbei an diesem Sandsteinpantheon ringelt sich der Weg weiter zu neuen Gebirgsdörfern, Porto, Partinella, Osani. Die Dörfer werden immer kleiner und kleiner, die Landschaft einsamer und einsamer. In den anderen Dörfern, die wir durchfuhren, standen kleine Kinder mit Blumensträußen da, die sie in das Auto warfen. In Partinella werfen die kleinen Kinder Nesseln, und in Osani, das zwei und ein halbes Haus hat, werfen die Leute Blicke, die dasselbe sagen wie die Vendettamesser der Touristen in Ajaccio: »che mia ferita sia mortale« – »möchte meine Wunde tödlich sein«. (Das waren auch die einzigen unfreundlichen Blicke, die uns auf der Autotour zugeworfen wurden.) Nach Osani ist es nicht genug, die Landschaft öde zu nennen; kein anderes Adjektiv paßt darauf, als erschreckend. Die nächsten siebzig Kilometer sollten wir nicht ein Haus sehen – nichts als Gestein, Schluchten, Berge und ein paar armselige Sträucher. Der Weg steigt und steigt; plötzlich sind die Wolken ganz über unseren Köpfen, und dann sind wir mitten drinnen. Anfangs sind sie ein feiner Schleier, der von dem Auto zerrissen wird; aber sie verdichten sich, bis das Tal unter uns ein kochender grauer Kessel ist und der Himmel über uns ein grauer Kesseldeckel. Dann senkt sich der Deckel über den Kessel. Wir sehen nicht fünf Meter weit vor uns. Der Weg krümmt sich wie eine Schlange, auf die man getreten ist. Der Chauffeur tutet und bremst bei jeder zweiten Raddrehung, wenn er um die steilen Ecken biegt. Auf der anderen Seite des Wegrands liegt ein beinahe lotrechter Abhang aus zerklüfteten Felsen. Wenn dem Chauffeur nur einen Augenblick die Hand zitterte, würden wir über den Rand des Weges in einen Hades hinabstürzen, ebenso grau wie der Homers. Es vergehen zehn Minuten, eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. Von grauen Dünsten eingehüllt, eilen wir endlich vorbei an einem Schild, das Col de Parma sagt. Ein Loch öffnet sich in den Felsen. Wir fahren durch, wir sinken. Nach zehn Minuten haben wir den Hades passiert und sind wieder draußen in der Sonne.
Aber bevor wir den Hades ganz vergessen können, sehen wir ein kleines Bild. Am Wege liegt eine Hütte aus Stein und Stroh, und davor stehen zwei alte Menschen. Er hat einen langen alttestamentarischen Bart und sie ein kleines knochiges Altweibergesicht. Sie grüßen freundlich, und der Chauffeur erzählt uns, wer sie sind. Es ist ein alter Hirt, der hier oben mit seinem Eheweibe lebt; die Ziegen sind ihre einzigen Gefährten und versehen sie mit allen ihren Lebensbedürfnissen, mit Ausnahme des Brotes. Das Brot ist das große Problem ihres Lebens. Wenn sie Brot haben wollen, muß eines von ihnen nach Osani gehen, vierzig bis fünfzig Kilometer den Berg hinunter und ebensoweit wieder zurück, mitten durch die Wolken durch, die fast immer um den Col de Parma kreisen! Mit Ausnahme dieser Expeditionen leben sie hier oben, zufrieden mit ihrem Dasein, ohne größere Kenntnis von Weltkriegen und Revolutionen, und sicherlich ohne Verständnis für die Gründe, weshalb das Brot in Osani (zweiundeinhalbes Haus) jetzt so viel mehr Ziegenbutter und Ziegenfleisch kostet als vor zehn Jahren. Lebt wohl, Corydon und Chloe! Wenn ihr durch euer Tal hinausseht, dann seht ihr eine halbe Stunde weit (Luftweg) einen blauen Streifen. Wisset, daß dieser Streifen ein großes Meer ist, genannt das Mittelmeer, und daß der weiße Vogel, den ihr täglich darüber hinschweben seht, kein Vogel ist, sondern eine Maschine, genannt Hydroplan, mit deren Hilfe Menschen, die nicht die bewunderungswürdige Langmut eures Nervensystems haben, durch die Luft nach eurer Insel fahren, um den Staub der Landstraße über euch zu wirbeln, wenn ihr alle drei Wochen einmal nach Osani wandert, um dort Brot zu kaufen!
Fango: ein Flußtal, Punta Revellata: ein Mausoleum von versteinerten Zyklopen; Calvi: eine kleine Garnisonstadt mit wenigstens einem Gasthaus; Algaloja: ein kleines Dörfchen in einer Landschaft von Feigenbäumen und Haferfeldern, die ebenso steinig sind wie irgendein Acker in Småland. Ile Rousse: eine zu rekommandierende Lunchstation; »le désert désagréable«; neue wilde Felsenlandschaft; St. Florent: ein kleines Städtchen am Wasser – dies die Etappen auf dem Wege zum Cap Corse, der vorspringenden nördlichen Landzunge der Insel der Parfüms. Von St. Florent fahren wir quer über die Landzunge nach Bastia; dort erweitert sich der Blick; man hat das große Mittelmeer hinter und das Tyrrhenische Meer vor sich. Unten liegt Bastia, Korsikas zweite Wunde der napolitanischen Krankheit. Aber siehe da, wenn man den Blick an Bastia vorbeischweifen läßt, dann sieht man draußen in dem blaugrünen Tyrrhenischen Meer die opalblauen Profile zweier gebirgiger Inseln, die einen vielerlei lehren können. Die eine heißt Elba und gemahnt alle Reisenden auf Korsika, die etwa das Napoleonfieber haben, an das Endschicksal auch der größten Abenteurer; die andere heißt Monte Christo und erinnert in ermunternder Weise, daß die Welt doch der Abenteuer und Abenteurer trotz alledem niemals müde wird.
Von Bastia (dessen Name und sämtliche Hotels verflucht seien!) ging unser Weg nach Ajaccio zurück über Calacuccia, Corte und Vizzavona. Calacuccia ist Oberbayern mit Schneebergen und blühenden Obstbäumen; Corte ist eine diskrete Provinzstadt, woselbst König Joseph Bonaparte geboren wurde (weshalb die lokale Tradition behauptet, daß Joseph sich Napoleons Taufschein auslieh – der doch leicht radiert war –, um in die Militärschule in Brienne kommen zu können, denn er selbst war zu alt, und daß eigentlich er Napoleon war und Napoleon er); Vizzavona schließlich ist ein dänischer Buchenwald mit Forellenbächen. Nein, nirgends gibt es eine Insel, die sich mit dieser messen kann! Nach Vizzavona fährt man nahe der Schneegrenze (Monte d'Oro) durch das entzückende Obstbaumflußtal von Gravona zurück nach Ajaccio (dessen Name mit sämtlichen Hotels, ausgenommen das »Continental«, verflucht sei!).
Und am Tage darauf besteigt man in Ajaccio seinen weißen Hydroplan, beschreibt einen Bogen über dem Konglomerat von Dächern, von denen eines einmal den ersten Schrei des Welteroberers widerhallen hörte, und fliegt zurück nach Europa, den Sinn erfüllt von unvergeßlichen Natureindrücken, und die Lungen voll von einem unvergeßlichen Elixier, gebraut aus Blumen, Felsen, Sonne und Harz – der Luft auf der Insel der Parfüms.