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Nächst dem Botanischen Garten von Buitenzorg auf Java gehört derjenige am Mahaveli-Ganga auf Ceylon, Peradenya-Garten genannt, zu den schönsten Erdenwinkeln und ist ein vielbegehrtes Ziel aller Reisenden, die Colombo berühren. Natur und Menschenhand, hohe, mit dichtestem Urwald bedeckte Berge und Gärtnerkunst haben hier im stillsten, heißesten Winkel des Eilands ein Treibhaus geschaffen, das den Fremden mit seinem Formen- und Farbenreichtum wie ein indisches Märchen umfängt. In ihm blühen und duften die Blumen aller Erdteile und aller Jahreszeiten, grünen alle Sträucher der Erde, ragen neben den zahllosen Palmen der Tropenreiche Urwaldriesen wie graue, versteinte Massen feierlich und hoch über bergestiefen Abgründen. In ihm träumen die heiligen Lotosblumen auf regungslosen, silbernen Weihern, rauschen leise Papyros- und Bambushaine, leuchten Orchideen, klettern Lianen die Stämme empor, ranken Blütentrauben und Blütenglocken in allen Farben des Regenbogens. Es ist ein Wettstreit der Flora aller Welten, und die Riesenarena ist, wie gesagt, Peradenya-Garten benannt.
Dieses Paradies – in dem übrigens auch die Schlange nicht fehlt und in dem die zwei- bis sechsfüßige Kreatur ihre hervorragendsten Vertreter am Platz hält, Flamingos zum Beispiel, Fliegende Hunde, farbenblitzende Eisvögel, mächtig große, mit fluoreszierenden Flügeldecken dahingaukelnde Schmetterlinge, von einer besonders bissigen und giftigen Art von fußlangen Tausendfüßlern ganz zu schweigen! – dieses Paradies verließ in den ersten Tagen eines lachenden Dezembers eine kleine Reisegesellschaft, die aus zwei Ehepaaren bestand. Das eine war schon älter, das andere um so jünger. Als fünftes Rad am Wagen muß ich hier mich einreihen. Außerdem kam noch ein kaffeebrauner Führer hinzu, ein Singhalese, der das blauschwarze Haar wie ein europäisches Schulmädchen, glatt aus der Stirn herausgekämmt und mit einem blanken, halbmondförmigen Schildkrotkamm geziert trug, und der uns, ein mustergültiges Englisch und ein brockenweises Deutsch meisternd, als freundlicher Dolmetsch durch die Zauberwelt des Gartens geleitet hatte.
Unser Besuch hatte, indes uns die Zeit wie im Flug verrann, mehrere Stunden gedauert, und wir waren vom Wandern und Schauen müde geworden. Nun hatten wir die Wahl, eine Rickschaw – das von den Eingeborenen gezogene und geschobene Gefährt – zu besteigen, um noch vor Anbruch des Abends die alte Königsstadt Kandy zu erreichen, oder wieder, wie wir gekommen waren, die Peradenya-Station aufzusuchen, um in vierstündiger Fahrt talwärts nach Colombo zurückzufahren.
Es war sehr nach dem Herzen unseres dunkelhäutigen Mentors, daß wir uns zu letzterem entschlossen: denn da der Zug von der Peradenya-Station erst in anderthalb Stunden abgelassen wurde, bot sich ihm eine willkommene Erweiterung seiner Führerrolle und damit seines Trinkgeldes. Er suchte uns deshalb in beiden ihm mehr oder minder zu Gebote stehenden fremden Zungen von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß wir uns den Basar des Ortes noch ansehen müßten, an dem kein Sahib vorübergehe, und verhieß, uns Wunderdinge zu zeigen.
Dieser Basar war nichts anderes als der übliche bunte Rummel, der sich an den Pforten vielbesuchter Punkte in der ganzen Welt breitzumachen pflegt. In Europa beschränkt er sich auf ein bescheidenes Maß: auf Buden mit allerlei gläsernem oder, bestenfalls, perlmutternem Andenkenkram und unterschiedlichem Kunstgreuel, auf Ansichtspostkartenhändler und Drehorgelspieler, vielleicht auch auf einige Bettler. Der Orient und besonders Indien geben sich bekanntlich großartiger. So umlagert denn auch, während den Fremden ein ohrenbetäubender Lärm empfängt, die Zugangsstraßen zu dem Peradenya-Garten das bunte Wogen eines förmlichen Jahrmarktes, auf dem es von Malayen, Indern, Chinesen und Mohren – Moormen auf Englisch genannt – nur so wimmelt, und wo die Zelte und Schau- und Kaufbuden sich wie eine lange Kette jener wilden Wespennester ausnehmen, wie man sie drinnen im Garten zwischen den Ästen der Kittul- und Palmyrapalmen hingespannt sieht. In den Auslagen der Buden blitzen Perlen und Edelsteine in allen Farbenspielen. Flöten, Geigen, Kastagnetten und Tamburine lärmen als greuliche Katzenmusik durcheinander. Die Zahl der armen Teufel, die ihre bräunlichen Hände mit der umfangreichen Bettelschale den weißhäutigen und weißgekleideten Europäern entgegenstrecken, ist Legion. Das unsichtbar allgegenwärtige Netz der bewunderungswürdigen englischen Ordnungsgewalt mag unendlich viele Maschen haben, aber es hat nicht eine einzige, durch die nicht schon ein Bettler geschlüpft wäre. Es soll unserem Singhalesen zum Lob gesagt sein, daß er uns mit leidlicher Geschicklichkeit an der Scylla und Charybdis dieser Bettelschalen vorbeisteuerte. Was aber die Wunderdinge anbetraf, die nach seiner Vorhersage auf uns einwirken sollten, so hatte er den Mund etwas zu voll genommen.
Immerhin gab es seltsame Fakire und geschickte Gaukler. Abgerichtete Brillenschlangen tanzten nach Trommel und Pfeife. In taktmäßiger Bewegung gingen ihre braungelben Leiber mit der rötlichen Brillenzeichnung am Hals hin und her.
»Laß uns gehen«, sagte Frau Grogan zu ihrem Mann. »Ich kann keine Schlangen sehen. Als der Singhalese vorhin sagte, daß in den Gebüschen des Botanischen Gartens sehr häufig welche versteckt lägen, war mir die ganze Pracht verleidet.«
»Wie du willst, Grace«, sagte der Gatte, der es gewohnt war, seiner Frau die Wünsche an den Augen abzulesen. Er warf den musizierenden Gauklern ein paar Münzen in den ausgestreckten Turban. Nur sei daran erinnert, daß diese Gesellschaft hier ungefährlich ist. Die Giftzähne sind ihnen ausgebrochen.«
»Können aber sehr bald wieder nachwachsen. Es bleiben entsetzliche Tiere.«
»Darüber sind ja nun die Ansichten geteilt«, bemerkte der junge Lührmann, der mit seiner Frau und mir dem englischen Ehepaar folgte. »Die Brillenschlangen sind gefährliche, aber die schönsten Schlangen Ostindiens. In ihrem Blicke liegt Ausdruck und Geist, und der Orient hat sie zum Bilde der Schlauheit erhoben.«
»Insbesondere genießen sie bei den Brahminen göttliche Ehren«, setzte Mr. Grogan hinzu. Er war Professor in Oxford und alles andere als einer der auf Reisen so verschrieenen Stockengländer; und auch seine Frau besaß nicht die gewisse britische, hochmütige Unnahbarkeit, die die Gemütlichkeit, die wir Deutschen so ungern vermissen, nicht aufkommen läßt. Jedenfalls kamen wir, die zu einer Hanseatenfamilie gehörenden Lührmanns, ich und die Grogans, gut miteinander aus, ohne daß das heimatlich enge Stammesgefühl des einzelnen dabei zu kurz gekommen wäre. »Alexander der Große,« fuhr Mr. Grogan fort, »den die Indier Sikander Julkarn nennen, machte die Schlange zur Gottheit. Die Aspis ward an den Statuen der altägyptischen Götter abgebildet –«
»Oh, höre auf, Matthew«, sagte seine Gattin. »In Stein gehauen läßt man sich so etwas gefallen. Auch vergiß nicht, daß du hier nicht in deinem geschichtlichen Kolleg bist und unsere Freunde langweilst.«
»Da muß ich höflichst Widerspruch erheben«, meinte Lührmann.
»Als ob ich Ihnen etwas Neues sagen könnte«, dankte der Professor. »Meine Bemerkungen galten nur den Damen, die in jeder Schlange etwas Abscheuliches sehen. Sie haben nämlich recht, diese Naja tripudians ist die schönste Vertreterin der giftigen Großmäuler.«
»Aber ebenso recht hat Ihre Gattin«, sprach Frau Lührmann dagegen. »Ich möchte nicht einmal im Traum mit einer Schlange zu tun haben.«
»Dann war Eva tapferer«, lachte der Professor. »Mich könnte keines dieser Reptilien aus dem Gleichgewicht bringen ... die mit den Giftzähnen freilich ausgenommen. Und sobald ich an Bord bin, träume ich von den wunderbaren Seeschlangen.«
»Die es nur in Märchen gibt!«
»O nein, gnädige Frau! In von Augenzeugen eidlich verbürgten Sagen. Das Meer ist tief, und das Licht vermag nur in eine Tiefe von etwa siebenhundert Fuß zu dringen. Die Erfahrung aber hat entschieden, daß auch in den größten bis heute erreichten Tiefen sich noch ein verhältnismäßig sehr reiches organisches Leben entfaltet. Warum sollen nicht in der ewigen Finsternis, die nach jenen siebenhundert Fuß einsetzt, riesenhafte Seeschlangen hausen, die irgend ein Zufall einmal an die Oberfläche schnellt?«
»Das ist ja ein furchtbarer Gedanke«, sagte Frau Lührmann.
Professor Grogan schmunzelte. »Es müßte natürlich sehr, sehr heiß sein. Die Seeschlange –«
Auch hier legte sich Frau Grogan ins Mittel. Jetzt sei der Wissenschaft, erklärte sie bestimmt, reichlich Genüge getan. Und es gäbe hier, wie der Führer versichere, noch viel zu sehen.
»Und was wäre das zum Beispiel?«
Der Singhalese wiegte den schönfrisierten Kopf. »Niemals versäumen die Herrschaften, sich weissagen zu lassen. Ich werde Sie zu dem besten Wahrsager führen, den der Basar hat. Bena-Elwara kam von sehr weit her.«
»Na, dann kurz und schmerzlos, es wird wieder ein schöner Humbug sein.«
Doch der Singhalese machte ein ernsthaftes Gesicht: »Nie hat Bena-Elwara etwas Falsches geweissagt. Ihm erscheinen die großen Götter in einer Vision. Es ist keiner von der Sorte der Wahrsager, die an der Landstraße sitzen.«
Vor einem Bambusgestell, von dem Gebetteppiche herabhingen, wurde Halt gemacht. Auf der Erde, hinter einem Harzfeuer, saß ein Greis mit verwitterten Zügen und einem langen, schneeweißen Bart. Er war blind.
»Hier ist es«, flüsterte unser Singhalese. »Das ist Bena-Elwara.«
Der Alte hielt den Nacken steif und das Gesicht dem Zeltdach zugewandt. Seine Finger bewegten einen Rosenkranz. Zwei, nur mit dem Sarong bekleidete, gelbe Knaben, des Greises Schüler, hockten im Hintergrunde. Auch in ihren Händen klapperten Gebetsschnüre.
»Es ist keiner der Unseren«, wiederholte der Singhalese flüsternd. »Der heilige Mann kam aus den Bergen, die ewig in Eis und Schnee liegen.«
Jetzt entdeckten wir auch vor einem der bunten Teppiche eine Hindugottheit aus Holz geschnitzt. Der Alte war demnach nicht Buddhist, sondern eher ein Tamule. Vielleicht auch von den Sekten, die hoch im Norden Vorderindiens wohnen. Afghanen und Parsi gab es auf diesem Budenplatz genug. Aber es war schwer sich auszukennen, und der Singhalese konnte oder wollte nichts Näheres sagen; er fuhr fort, uns zu versichern, daß Bena-Elwara ein gottgesandter, frommer Mann sei, mit dem die Götter, die hinter den hohen Bergwällen wohnten, Zwiesprache zu halten pflegten.
Frau Grogan ließ sich herbei, sich die Weisheit des Alten künden zu lassen. Der Rosenkranz des verwitterten Mannes hörte auf zu klappern, und Bena-Elwara nahm, von seinen Bet- und Bettelbuben unterstützt, die rechte Hand der Engländerin in seine knöcherne Rechte. Der Mittelfinger seiner anderen Hand fuhr nun sorgsam tastend, ohne daß der Blinde sein Haupt mit den himmelan gerichteten, starren Augen geneigt hätte, über Frau Grogans Handfläche, wobei uns der Singhalese, der von Minute zu Minute ein feierlicheres Gesicht machte, zuraunte, daß der Alte die Linien der Menschenhände bis in ihre winzigsten Ausläufer besser zu fühlen vermöge, als der scharfsichtigste Sehende sie mit seinen Augen verfolgen könne.
Eins war jedenfalls zuzugeben: der Mann ging gründlich zu Werke und nahm sich zu seiner Tastübung, die uns nur ein müßiger Mumpitz zu sein schien, Zeit und Muße. Da der Mensch inmitten seiner Handfläche kitzlich zu sein pflegt, bedauerten wir Frau Grogan, und nicht weniger uns selbst wegen des unerträglich süßen Harzgeruches der Orakelstätte. Endlich öffnete der Alte den Mund und gab in einer Sprache, die Hindostanisch oder Tibetisch sein konnte, ein paar kurze Sätze von sich. Der Singhalese übersetzte.
»Der Mann, den du lieb hast«, sprach Bena-Elwara, »wird in Gefahr geraten, denn Ihr werdet ein großes Schiff besteigen.«
»Angenehme Aussichten!« sagte Mr. Grogan leise zu Lührmann und mir.
»Der Vater der Lüge«, fuhr der Weise fort, »wird mit euch das große Schiff besteigen.«
»Wer ist denn das nun wieder? Geht das etwa auf Herrn Tellermann?« flüsterte mir Eduard Lührmann zu.
»In vier Tagen wird euer Schiff die Petta zwischen den Felsen verlassen.«
Damit gab der Wahrsager Frau Grogans Hand frei. Wir sahen uns fragend an. Wenn das alles war, so war es nicht viel. Lächelnd und achselzuckend ließ der Professor eine Silbermünze auf den von den Buben blitzschnell dicht vor ihn hingereichten Bronzeteller fallen. Bena-Elwara klapperte schon wieder mit seinen zweiundachtzig Perlen. Er gab damit zu erkennen, daß seine Götter nicht länger mit uns zu sprechen wünschten. Oder wenigstens mit Frau Grogan nicht. Unser Dolmetscher versuchte vergeblich, auch uns andere noch zur Entgegennahme einer Orakelweisheit zu veranlassen. Doch davon wollten wir nichts wissen. Die eine Probe genügte uns vollauf; auch war uns die altorientalische Gepflogenheit nicht unbekannt, daß die Dolmetscher ihre festen Bezüge von jedem Budeninhaber bekommen, zu dem sie einen Sahib oder eine Mem-Sahib heranschleppen. Wir hatten keine Lust, uns länger gängeln zu lassen, und allmählich ward es Zeit, die Station aufzusuchen. Am Rande der lärmenden Budenstadt mit ihrem Völkergemisch, ihren Wohlgerüchen und ihren zahllosen großen und kleinen, frommen und unfrommen Betrügern sagten wir denn auch unserem Singhalesen mit einem metallischen Händedruck Lebewohl für immer. Eine Viertelstunde später trug uns der Zug auf seinen schmalen Schleifenwegen durch die Engpässe hinab in die purpurroten Täler, an deren Fuß die Zimmetgärten Colombos liegen.
Frau Grogan blickte ihren Mann besorgt an. »Ich bereue, daß ich mich auf den Schwindel einließ«, sagte sie. »Statt mir etwas Schönes zu prophezeien, hat mir der blinde Mann das Herz mit Sorgen angefüllt. Wie schonungslos, Matthew, mir zu sagen, du würdest in Gefahr geraten!«
Der Professor lächelte. »Ich danke dir, Grace, daß du sofort an mich denkst. Er sprach aber lediglich von dem ›Mann, den du lieb hast‹. Nun freue ich mich, daß ich das also bin –«
»Aber, Matthew!«
»Und im übrigen stimmt die Rechnung deines Propheten nicht. Er sagte, daß unser Schiff in vier Tagen ›die Petta zwischen den Felsen‹ verlassen werde. Mit der Petta ist Point-de-Galle gemeint. Petta nennt sich die Eingeborenenstadt. Nun verläßt unsere »Harriet« aber bereits in zwei Tagen den Hafen von Galle und nicht erst in vier. Der weise Bena-Elwara hat sein Kursbuch schlecht im Kopfe gehabt. Was er uns sonst verriet, war noch weniger welterschütternd. Daß wir Ceylon nicht mittels der Eisenbahn oder im Luftschiff verlassen, sondern ein großes Schiff erklimmen, wenn wir wieder weiter wollen, kann sich jeder kleine Negerboy an den fünf Fingern abzählen. Daß jede Seereise ihre Gefahren hat, ist gleichfalls eine Binsenweisheit: denn absolut sicher ist bekanntlich nichts auf dieser Welt. Darauf, daß die »Harriet« gelegentlich ein stürmisches Wetter durchmacht, sind wir beide gefaßt; glücklicherweise sind wir nicht zur Seekrankheit veranlagt. Bliebe nur noch die spaßige Aussicht, daß »der Vater der Lüge« uns auf der Reise begleitet. Nun ist es bekannt, daß unter zehn Seehelden, die uns an Bord die Zeit vertreiben, mindestens drei bis vier auf den Spuren des seligen Münchhausen wandeln, und Herr Tellermann, der es vorzog, in Colombo zu bleiben, scheint mir ganz das Zeug von einem amüsanten Aufschneider erster Klasse zu haben. Wenn demnach von den Wahrsagern hierzulande keine größeren Offenbarungen verlangt werden, als sie der würdige Bena-Elwara verzapft hat, hätte ich, wofern das Geschäft nichts zu wünschen übrig läßt, nicht übel Lust, vor dem Peradenya-Garten ein Konkurrenz-Orakel aufzumachen.«
»O, Matthew! Welch ein Gedanke!«
Wir lachten, gaben im übrigen dem Oxforder Professor recht und vergaßen den Wahrsager bald. Nur als abends Herr Wingolf Tellermann aus Plauen bei Dresden im Speisesaal des Hotels auftauchte ... rosig, wie immer – der boshafte Lührmann hatte ihm wegen seiner rundlichen Fülle den Spitznamen ›das Marzipanschweinchen‹ gegeben – da sahen wir uns wie auf Verabredung lächelnd an.
»Hören Sie mal, Verehrtester«, redete Lührmann ihn an. »Werden Sie uns auf unserer etwas länglichen Fahrt auch so fleißig aus dem Schatz Ihrer Erlebnisse erzählen, wie in den letzten Tagen?«
»Warum nicht?« antwortete der Sachse arglos. »Ich bin ja glücklicherweise immer noch nicht auf den Mund gefallen. Das ist 'n angeborenes Talent von mir. Ich verfüge über mehrere. Und Erlebnisse sagten Sie? Ich erlebe immer. Andere können sechsmal rund um den Äquator fahren, ohne ihn gesehen zu haben. Ich dagegen brauche nur die Schiffskarte zu lösen, da gehen meine Erlebnisse schon los. Die erste interessante Reisebekanntschaft schließe ich meistens schon am Schalter. Habe ich erst die Planken eines Dampfers unter mir, kenn' ich bereits ein gutes Dutzend und am nächsten Morgen das ganze Schiff. Schüchternheit is nich! Kommt gar nicht vor in meinem Lexikon. Na, und mit den Bekanntschaften fliegen einem die Erlebnisse und Abenteuer nur so zu. Ich hol' aus jedem heraus, was er Interessantes zu sagen weiß. Und selbstlos, wie ich bin, gebe ich dann weiter, was sich auf diese Weise im Schatz meiner Erinnerungen aufspeichert ... Abenteuer, Unfälle, Anekdoten. Darf ich mir die Frage erlauben, wie Sie sich in dem grünen Garten da oben unterhalten haben?«
»Sie haben sehr viel versäumt! Dieser botanische Garten ist ein Stück Märchenland!«
Der dicke Tellermann langte sich ein saftiges Filetbeefstück von der Platte, die herumgereicht wurde. »Pflanzen ... na ja. Gnädigste, an sich ganz was Niedliches, nur in Massen serviert ... ist das nicht etwas ermüdend, wenn man nich'n ausgesprochener Vegetarier ist? Und dann schlagen Pflanzen so wenig in mein Anekdotenfach. Ich brauche Menschen und Tiere.«
»Da wären Sie auch auf Ihre Kosten gekommen«, belehrte ihn Frau Lührmann, und sie erzählte ihm von den Schlangenbändigern und dem blinden Bena-Elwara.
»Schlangen? – Nich in die Hand! Aber Wahrsager ... schon eher mein Fall!«
Wir wollten dem Sachsen gerade Näheres erzählen, als ein indischer Diener in der enganliegenden Uniform des Hotels meinem Gegenüber Lührmann eine Depesche überreichte. Er entfaltete sie und machte ein überraschtes Gesicht.
»Meine Damen und Herren«, sagte er, »eben telegraphiert mir Kapitän Frederiksen, daß sich Schwierigkeiten im Heranführen seiner Ladung eingestellt haben. Das Schiff kann infolgedessen nicht, wie beabsichtigt, übermorgen, sondern erst am 13. Dezember von Point-de-Galle auslaufen. Bis dahin hofft Frederiksen seine Ladung bei Caltura eingebracht zu haben. So sehr ich bedauere, daß sich dadurch unsere Ausreise verzögert ... die Ladung an langen Hölzern ist zu kostbar –«
»Versteht sich!« nickte Mr. Grogan. »Dann müssen wir eben noch die zwei Tage warten. Wir werden Ihnen deswegen nicht untreu.«
Auch wir übrigen, die wir uns vorgenommen hatten, unsere Fahrt von Ceylon nach Mauritius mit der »Harriet« zu machen, waren über die Verzögerung nicht weiter unglücklich. Die »Harriet«, ein britischer Dreimaster, war ein seetüchtiges Schiff, das das deutsche Handelshaus Lührmann & Co. vor wenigen Tagen angekauft hatte. Unter dem Namen »Henriette Lührmann« – so hieß Eduard Lührmanns junge, schöne Frau – sollte es fortan die deutsche Flagge an der Gaffel führen. Gegenwärtig lag es in der Kaluganga-Mündung bei Caltura, also etwa 25 km südlich von Colombo, vor Anker. Wir erwarteten von dieser Fahrt viel, weil sie etwas ganz anderes zu werden versprach als die gewöhnlichen Reisen auf den Schnelldampfern, die zwischen Ceylon und Madagaskar laufen, und wollten alle die längere Fahrtdauer dafür gern in Kauf nehmen. Die Gelegenheit, an Bord eines Schiffes, das nicht zu den Ozeanriesen zählt, gut aufgehoben zu sein, ist nicht häufig. Die »Harriet« aber oder, wie sie nun in den Schiffsregistern heißen sollte, »Henriette Lührmann«, bot uns alle Vorteile, die wir uns zu unserer Behaglichkeit wünschen konnten, ohne die Nachteile der Überseeschnelldampfer zu haben, auf denen man leider recht oft das Mißgeschick hat, unter eine einem wenig zusagende Gesellschaft zu geraten. Ungleich mehr als bei Reisen zu Lande aber fällt das ins Gewicht.
»Am 13.?« rief plötzlich Frau Grogan und sah betroffen ihren Mann an. »O, Matthew, das wäre demnach in genau vier Tagen. Dann hat der Mann ja richtig geweissagt!«
»Wahrhaftig! Der Mann hat Glück. Der Zufall gibt ihm recht. Das ist merkwürdig, aber eben nur ein Zufall und beweist bloß, daß auch einmal eine blinde Henne – o, verzeihen Sie mir den garstigen Vergleich! – ein Korn findet. Ich wette, der alte Herr Bena-Elwara würde, wenn er hört, daß seine vage Prophezeiung zufällig stimmt, genau so überrascht sein, wie du es bist.«
»Aber es ist doch seltsam! Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!«
»So will es uns manchmal im Leben scheinen –«
»Und die Lösung kann hier einfach die sein«, meinte Tellermann, der sich genau den Besuch bei Bena-Elwara schildern ließ, »daß der alte Gaukler angenommen hat, Frau Grogan führe mit der »Batavia«, die geht nämlich zufällig auch am 13. Dezember ab, und zwar nach den Sunda-Inseln. Und von einem »Vater der Lüge« zu reden, das ist weiter nichts als eine Niederträchtigkeit. Das ist echt hindostanisch, in jedem Europäer einen Schwindler und Betrüger zu wittern. Man sieht den Splitter im Auge des anderen und wird den eigenen Balken nicht gewahr. Und im übrigen vergeß' ich Ihnen das nie, liebster Herr Lührmann, daß Sie gleich so freundlich an mich gedacht haben. Ich erzähle lebhaft, aber lauter und wahr. Und die besten Geschichten habe ich Ihnen noch nicht einmal versetzt.«
»Um so besser!«
»Nee! Nu nich ... nicht eine einzige bring' ich Ihnen mehr meuchlings bei!«
Lachend trennten wir uns. Wir wußten alle, daß ›das Marzipanschweinchen‹ nicht ernstlich zürnen konnte.
*
Die »Henriette Lührmann« erreichte den Hafen von Point-de-Galle am 12. Dezember, und am Nachmittage desselben Tages gingen wir an Bord. Kapitän Frederiksen zeigte uns mit Stolz die neu angeheuerte Mannschaft. Es waren durchweg deutsche Jungens und, wie der erste Blick lehrte, nicht die schlechtesten. Es war ein Rätsel, wie der Kapitän das fertig gekriegt hatte, aber es war Tatsache: vom Steuermann bis zum jüngsten Schiffsjungen hatte er deutsches Blut auf die Beine gebracht, gab später allerdings zu, daß er ganz Colombo und die nächsten Häfen habe abstreifen müssen.
»Hätt' selbst nicht gedacht, daß hier noch so viel prächtige, kecke, frische Landsleute aufzutreiben wären. Einige hab' ich ausfindig gemacht, die waren schon Landratten geworden und hatten sich bei den Zimmtgärtnern verdingt. Denn – dem Herrn sei's geklagt! – es sind gar zu viel schwarz-weiß-rote Wimpel von den Masten herniedergesunken und keine Tage, die einem Seemann von altem, guten deutschen Schlag gefallen. Na, das soll ja nun langsam wieder besser werden – genau so, wie in alten Väterzeiten die trübe Luft vorüberging, als Hannibal Fischer die deutsche Flotte unter den Hammer brachte. Gestern haben die Jungens bis spät in die Nacht hinein das alte Flaggenlied gesungen ... jung und ehrlich, trotzig und hell, daß einem die Augen blank wurden. Mit den Leuten werden Lührmann & Co. keine Unehre einlegen.«
Lührmann drückte dem Kapitän die wetterfeste Rechte. »Eine freudigere Überraschung konnten Sie mir gar nicht machen, Frederiksen. Herzlichen Dank! Na, und bei Caltura haben Sie Überstunden machen müssen?«
»Lag an den verflixten Niggern, Herr Lührmann. Die hatten sich sträflich betrunken und dann mit den Holzhändlern Krakeel angefangen. Bis der Unternehmer sein kaffeebraunes Ersatzheer beisammen hatte, mußten wir in der Bucht liegen und zwo Nächte lang dem Konzert der Affen lauschen. Der dicke Urwald reicht ja bis ans Wasser in jener Affen- und Moskito-Bucht. Tja, aber endlich kam doch wieder Leben in die braune Gesellschaft, und die Baumstämme bekamen Beine. Ich hab' sie gleich durch das viereckige Stück in der Bordwand in den langen Raum schieben lassen.«
»Also ist alles an Bord ... die Gäste wie die Ladung?«
»Drei Englischmänner kommen noch dazu, die unsere Rückfahrt mitmachen wollen. Ich werd' dafür sorgen, daß sie sich nützlich machen. Rauswerfen konnt' ich sie ja nicht, wo sie so lang mit der »Harriet« gefahren sind. Es sind verheiratete Leute, die nach England wollen. Halben Lohn, dacht' ich –«
»Wenn sie anstellig sind, dann ruhig vollen Lohn, Frederiksen. Ist der Mann da im Boot einer von ihnen? Himmel, was hat der für'n brandroten Vollbart!«
»Der war vordem Zimmermannsgast. Ja, das ist einer von den dreien. Ich wollt' sie nur'n büschen seitab halten von unseren Jungens. Häkeleien lieb' ich nicht. Ich hab' ihnen 'ne Koje achter der Kambüse angewiesen. Eng geht's etwas her. Aber da Sie sagten, daß die Passagiere sich bescheiden und vertragen wollen –«
»Ja, da seien Sie unbesorgt, Kapitän. Geben Sie Professor Grogan vor allem den besten Platz ... den, den Sie für meine Frau und mich bestimmt hatten. Meine Frau ist ebensowenig anspruchsvoll wie ich. Tun sie uns ruhig auch weiter achter. Morgen früh kommen dann also nur noch das portugiesische Ehepaar und der Arzt. Die Kajüten sind gut. Handelt es sich nur noch um Herrn Tellermann und –«
»Wir haben uns bereits erlaubt, von unseren Wigwams Besitz zu ergreifen«, ließ sich in diesem Augenblick Tellermanns Stimme vernehmen, hinter dem ich die Treppe heraufklomm. »Es ist ja kein Tanzsaal, aber wir« – er schloß meine Person durch eine Handbewegung ein – »werden uns quietschvergnügt fühlen. Haben Sie großartig gemacht, Herr Kapitän. Sah ich gleich dem ersten Deckjungen an, daß hier Ordnung herrscht ... beinahe alte, liebe deutsche Ordnung. Nur eins – Ihre Mannschaft versteht mein Englisch nicht. Soll ich mit den Männeckens etwa Hindu reden?«
Kapitän Frederiksen grinste. »Nee, das soll tja wohl nicht unbedingt verlangt werden, Herr Tellermann.«
Der Dicke schüttelte den Kopf. »Sehn Sie, jetzt lachen Sie auch bereits! Genau so wie Ihre Leute. Was verlangt man denn nun von mir?«
Der Kapitän schmunzelte. »Daß Sie einmal den Versuch machen, Herr Tellermann, mit der Mannschaft, statt englisch, deutsch zu reden!«
»Wa – as? Ist es die Möglichkeit?« Der gemütliche Sachse mochte selten in seinem Leben ein verdutzteres Gesicht gemacht haben, als eben jetzt, während keines von uns mehr mit dem Lachen an sich hielt.
»Grundgietiger Himmel, warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?« platzte er endlich heraus. »Es ist einfach nicht zu sagen, was man erlebt! Kaum, daß man den ersten Schritt an Bord macht. Habe ich nun recht, wenn ich sage, daß mir die tollsten Erlebnisse nur so zufliegen?« ...
Als am folgenden Morgen das Leben im Hafen von Galle erst am Erwachen war, löste sich schon die »Henriette Lührmann« vom Kai. In blauen Schleiern lag das schöne Land mit seinen herrlichen Gebirgsketten. Auf dem Gipfel des sagenumwobenen Adams-Pik funkelte die Sonne. Städte und Dörfer, Hügel und Wälder schimmerten uns noch einmal entgegen. Als sich die Küste dem sonnengoldigen Tage entschleierte, waren wir längst auf hoher See. Der günstige Wind nahm das Takelwerk in seine Arme und schwellte die Segel. Die grünen Goldleiber der Wellen rollten rauschend ihren Schaum an die Flanken des Schiffes, das, seitab von der großen Dampferstraße, seinen neuen Zielen und seiner neuen Bestimmung entgegenzog.
Es ließ sich nicht leugnen, daß die »Henriette« ein wenig anders schwankte, als unter gleichen Verhältnissen die großen Ozeandampfer es tun, aber die See war nicht sonderlich bewegt und kein Sturm tollte in den Wanten, bis wir die Region der Windstillen erreichten. An sich ist sie für den Seefahrer eine ebenso schlimme, ja fast noch fürchterlichere Erscheinung als das Wüten des Orkans, weshalb er sie auch die Höhle getauft hat, wo Frau Holle das Wetter braut für die ganze Erde. Die Glut der senkrechten Sonne lastete mehrere Tage und Nächte drückend über uns, aber die »Henriette Lührmann« hatte einen guten Stern. Ein kurz anhaltender Gewittersturm, dem dichte Ströme von Regen folgten, erfrischte die Luft gerade zur rechten Zeit, und als wir den Äquator überschritten, war die oft so grauenhaft geschilderte Not der Kalmen glimpflich an uns vorübergegangen, ohne daß unsere Fahrt eine nennenswerte Verzögerung erlitten hätte. Und so abgespannt und matt wir vorher gewesen waren, so erleichtert atmeten wir auf, als ein klarer Himmel und eine reine Luft den Bann der schläfrigen Trägheit wieder von uns nahm.
Dank dem Erzählertalent Tellermanns, der uns aus dem schier unerschöpflichen Schatz seiner Abenteuer unermüdlich vorplauderte, waren sogar die Abende während der Windstille recht leidlich. Auch im übrigen verstand sich unsere kleine Reisegesellschaft aufs beste. Der Arzt zeigte sich als ein Mann von tiefem Wissen. Er kehrte von einem ehemaligen deutschen Außenposten heim, wo er sich durch seine biologischen Untersuchungen einen Namen gemacht hatte. Und diese Forschungen setzte er zum Teil auch auf unserem Schiff fort, höchst diffizile Untersuchungen chemischer Natur, die die Nährstoffe des Meeres und die Tätigkeit der im Meerwasser enthaltenen Bakterien betraf. Immer sah man ihn entweder, wie er mit einem feinen Fangnetz die obersten Schichten der See durchsiebte, oder beim Mikroskop. Tellermann, der durch dieses Mikroskop ab und zu einen Blick werfen durfte, versicherte, gegenüber dieser reizenden und zierlichen Miniaturwelt, deren Studium zu den interessantesten Phänomenen gehöre, träten alle übrigen Erlebnisse der Fahrt in den Hintergrund.
»Sie scheinen sich in der Tat für alles zu interessieren?« fragte ich ihn eines Morgens.
»Sogar für Sie«, gab er mir zur Antwort. »Ich habe in der letzten Nacht festgestellt, daß Sie ein heimlicher Kummer bedrückt.«
Ich sah ihn in lächelndem Staunen an, da ich glaubte, seine Bemerkung laufe auf einen seiner beliebten Scherze hinaus. Er aber fuhr fort: »Sie sollten mir oder dem Arzt ihr Herz erleichtern.«
»Aber ich verstehe nicht ... mich bedrückt doch gar nichts.«
»Hm ... und dabei werfen Sie sich fast die ganze Nacht so furchtbar ruhelos im Bett herum –«
»Ich?«
»Allerdings! Sie sind doch mein Kajütnachbar. Ich muß es doch am besten wissen. Außerdem haben Sie eine eigentümliche Art zu schnarchen. Ich nehme an, Sie sind schon von anderer Seite darauf aufmerksam gemacht worden. Solche Nasenleiden kommen ja nicht von heute zu morgen. Schnarchen ist auch nicht der richtige Ausdruck für dieses nasale Konzert, das Sie heute nacht von sich gaben: wir nennen so etwas bei uns zuhause ›fieben‹.«
»Ich bin einfach sprachlos! Meines Wissens habe ich den ruhigsten Schlaf von der Welt. Ich will Ihnen aber zugeben, daß ich letzte Nacht einmal aufgewacht bin, weil ich Ratten hörte.«
»Nanu? Sollte ich mich wirklich getäuscht haben? Dann war es mein Wandnachbar zur Linken. Das ist der vierschrötige Engländer mit dem fuchsigen Bart. Und, apropos, Ratten, sagen Sie? Davon hab' ich wieder nicht das geringste gespürt. Was die Ratten für Spuk aufführen, kenne ich ... das ist ein ganz anderes Geräusch. Obwohl man auch hier noch immer Neues erleben kann. In der Welschschweiz eines Nachts bin ich lange nicht dahinter gekommen, wohin ich den Heidenspektakel tun sollte, der mir den Schlummer raubte. Frühmorgens erst wurde ich darüber belehrt, daß es Ratten gewesen waren, die in der Warmwasserleitung des Hotelchens ihr Heimwesen aufgeschlagen hatten. Sie machen sich keinen Begriff von dem eigenartigen Geräusch, das einsetzte, als die Rattenschaft ihre wilde Jagd in den Windungen dieser Heizanlageröhren antrat. Man muß das erlebt haben ...«
Der rotbärtige Engländer wurde geholt, verwahrte sich aber gleichfalls dagegen, der nächtliche Ruhestörer zu sein. Aber auch er hatte seltsame Geräusche vernommen; ihm war es gewesen, als wenn sich ein schwerer Körper gegen die Kajütwand drücke und sich daran reibe. Auch eine Art Pfeifen – also den Ton, den Tellermann mit ›Fieben‹ bezeichnete – wollte der Mann gehört haben. Letzteres könne sehr wohl von Ratten herkommen. Es habe auf der »Harriet« – so nannte der ehemalige Schiffszimmermann in begreiflicher Beharrlichkeit unsere »Henriette« – zu allen Zeiten Ratten gegeben, aber ein Bulldogg und drei Fox-Terriers hätten für gute Ordnung gesorgt und seien dabei rund und fett geworden. Leider seien sie außerdem räudig geworden, so daß man sie in Madras hinausgeworfen habe.
»Und mittlerweile haben sich die Ratten natürlich ins Uferlose vermehrt!«
Der Engländer schüttelte seinen auf einem wahren Stiernacken sitzenden Kopf. »No, Sir. Die »Harriet« ist ungezieferrein in den neuen Besitz übergegangen. Wenn wieder Rattengezücht an Bord ist, dann trifft uns keine Schuld.«
»Das behauptet ja auch keine Menschenseele, guter Mann. Es sind dann eben neue an Deck gestiegen.«
»Möglich! Ich habe die Bordwand im Bug mit dicht gemacht. Sie hat zwei Nächte offen gestanden, als die »Harriet« in dieser verdammten Sumpfbucht lag und die langen Hölzer in die Luke geschoben wurden. Da konnte an Ungeziefer hereinspazieren, was wollte.«
»Auch nicht schlecht! Dann haben wir am Ende einen blinden Passagier an Bord.«
»Glaub's kaum. Müßte ein wunderlicher Heiliger sein, der sich im Laderaum verstaut, wenn es durch die Kalmen geht.«
»Jedenfalls lassen Sie doch hoffentlich die Örtlichkeiten in unserer Nachbarschaft einmal gründlich revidieren? Seine Nachtruhe will der Mensch haben.«
Der Schiffszimmermann versprach, sein möglichstes zu tun.
Tellermann hatte an diesem Tage der Tischgesellschaft ein neues Reiseerlebnis aufzutischen. Er berichtete von einer Rattenplage – er verlegte sie taktvoll auf ein anderes Schiff – die so groß gewesen sei, daß sich die als Rattenfänger an Bord gehaltenen Hunde an ihrer täglichen Beute überfressen hätten und an Fettsucht eingegangen seien. Er habe selbst in Madras auf dem mohammedanischen Hundefriedhof ihr Grabmal gesehen: es trüge die Inschrift: »Hier ruhen fünf unermüdliche Jäger der Brigg »Maryland«, die als Opfer ihres Berufes ins Gras bissen.«
Nach dieser Kostprobe wußte ich, wenn es mir nicht schon früher klar geworden wäre, was es mit den »lauteren und wahren, wenn auch lebhaften« Geschichten unseres allverehrten ›Marzipanschweinchens‹ auf sich hatte.
Die Nachforschungen des Engländers führten zu keinem Ergebnis, und in der folgenden Nacht – eben jener, wo wir aus der Region der Windstille glücklich herauskamen – wurde niemand durch ein verdächtiges Geräusch gestört. Aber die Nacht danach wurden wir alle, die wir »achter« untergebracht waren, durch ein so anhaltendes Poltern und Herumschaben, das sich bald an dieser, bald an jener Kajütwand deutlich bemerkbar machte, um unsern Schlaf gebracht, daß gar nicht mehr daran gezweifelt werden konnte, etwas unter Deck sei nicht in Ordnung. Auch ein Pfeifen ließ sich wieder hören, und es wurde nachgerade unheimlich. Am Morgen hielten wir – der Zimmermann, der seine Landsleute mitbrachte, Tellermann und ich – in Tellermanns Kabine eine Beratung ab. Wir tauschten unsere Wahrnehmungen aus. Sie stimmten in der Hauptsache überein, und wir beschlossen, mit Kapitän Frederiksen zu reden. Die Damen sollten nicht beunruhigt werden, und deshalb kamen wir überein, Mr. Grogan, Lührmanns und den Portugiesen zunächst nichts zu sagen.
Kapitän Frederiksen schüttelte ungläubig den Kopf, traf aber dann doch die rechten Anordnungen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die Kammer mit den Vorratssegeln wurde genau durchsucht, ohne daß etwas entdeckt worden wäre. Sie war es, aus der nach unseren übereinstimmenden Wahrnehmungen das unerklärliche Geräusch kam. Es wurde nichts gefunden. Selbst der Kapitän steckte seinen Kopf in die Kammer. Er schimpfte, daß die Ordnung noch immer zu wünschen übrig lasse – das galt seinen Matrosen. Und zu uns meinte er, sich seine Tonpfeife stopfend: »Da is nix, was nicht in den Raum hinein gehörte. Und was unten im Laderaum vor sich geht, das konnten Sie unmöglich des Nachts in Ihren Kojen hören. Schon möglich, daß wieder Ratten da sind. Wir sind nicht allzu böse darüber. Sie kennen wohl den alten Schifferglauben, daß Holland in Nöten ist, will sagen, daß dem Schiff etwas Menschliches passieren soll, wenn die Ratten auswandern.«
»Es waren aber keine Ratten!« Tellermann wiegte den Kopf. »Das plumpste und polterte ja die letzte Nacht direkt gegen die Wand. Wiederholt sich der Skandal heute, werde ich Sie holen, Kapitän.«
»Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Ihre Nachtruhe darf nicht länger gestört werden. Warten wir also, bis es dunkel ist. Bis jetzt steht das eine, wenn ich Sie recht verstehe, fest, daß die Poltergeister nur im Finstern ihr Unwesen treiben.«
»Und Sie stehen also auch vor einem Rätsel, nachdem Sie hier nichts entdeckt haben?«
»Wenn es nicht doch ein Dutzend besonders mobile Ratten sind, allerdings. Aber das wär' ein schlechter Kapitän, der nicht hinter die Rätsel käme, die sein eigenes Schiff ihm aufgibt. Warten wir also bis zum Abend.«
An diesem Abend nun – wir schrieben den 23. Dezember – blieb wieder alles an Bord mäuschenstill, und so angestrengt wir auch, vor lauter Erwartung nur sehr leicht schlummernd, auf jedes leise Geräusch lauschten, etwas Verdächtiges ließ sich beim besten Willen nicht feststellen.
»Ist es nicht wie verhext?« jammerte Tellermann. »Ist es nicht gerade, als wenn uns einer einen Possen spielte? Dieser unsichtbare Geist scheint ganz genau zu riechen, wann Gefahr im Verzuge und wann die Luft rein ist. Ich habe kein Auge zugetan. Wie ein Posten – den Revolver in Reichnähe – habe ich dagelegen und auf jedes verdächtige Anzeichen gespannt ... der Kapitän wird uns auslachen. Wenn ich nicht wüßte, daß ich kerngesund bin, würde ich den Arzt fragen, ob –«
Doch er sollte den Satz nicht vollenden. Kapitän Frederiksen stand plötzlich vor uns, und er lachte durchaus nicht. Im Gegenteil, er schob die Unterlippe höchst brummig vor und setzte seine zur Faust geballte Hand wuchtig auf die Reling. »Nun wird mir die Geschichte aber langsam zu bunt. Kommt da eben einer meiner neuen Deckjungen, an allen Gliedern wackelnd, aus der Segelkammer angelaufen und sagt mir – mir, seinem Kapitän! – frech ins Gesicht, ihm sei vor zwo Minuten da unten der Klabautermann erschienen!«
»Großartig! Also doch ein blinder Passagier! Endlich zeigt sich der Ruhestörer also auch bei Tageslicht. Was mag der arme Kuli für Durst haben!«
»Der Klabautermann – hab' ich gesagt. Oder vielmehr der Deckjunge hat es mir ins Gesicht gesagt. Als Antwort habe ich ihm eine Backpfeife gegeben ... für alle Fälle. Und nun will ich Ihnen einmal sagen, wie ich mir die Lösung des Rätsels denke. Die Englischmänner sind schlechter Laune ... ich hab' mich gehütet, ihnen vorher zu verraten, daß sie ihren vollen Lohn haben sollen. Und nun treiben sie Allotria ... die Hallodris, um meine Leute kopfscheu zu machen. Den alten Trick kennt man. Sie haben diese Nacht nichts gehört? Um so mehr haben meine Leute in ihren Hängematten diese Nacht herumklabastern hören. Der Klopfgeist hat sein Revier ins Volkslogis verlegt. Heute abend wollen wir ihnen dafür gründlich das Fell über die Ohren ziehen!«
»Ob Sie da den Engländern nicht doch vielleicht zu Unrecht etwas zutrauen? Der Zimmerer sieht zwar wüst aus mit seinem Fuchsbart, aber er weiß von einem derartigen Komplott sicherlich nichts.«
Frederiksen schob die Pfeife in den anderen Mundwinkel. »Verstellung hin, Verstellung her. Sollt' ich mich irren, desto besser.«
»Dann bliebe als Lösung also doch nur – bitte, Sie tun mir doch nichts, Kapitän! – der Klabautermann, den der Deckjunge gesehen hat?«
»Gesehen haben will! Mit grünen Augen im Koppe noch dazu. Na, warten Sie nur ... wer sich da so 'nen Mummenschanz auf Kosten der Ruhe und Disziplin leistet, dem soll der Spaß gründlich versalzen werden. Straf' mich Gott, wenn ich da am Heiligen Abend handgreiflich werde!«
»Gut, daß Sie mich erinnern«, sagte Tellermann. »Ich habe noch alle Hände voll zu tun. Und wenn hundert Geister unter Deck ihr Wesen treiben, den heutigen Abend sollen sie uns nicht verderben.«
Tellermann war »Festordner«. Wir wollten ein deutsches Weihnachten feiern, mochte das Wetter auch warm sein, wie in unserer nordischen Heimat im Juli, und mochten wir noch so verschiedenen Nationalitäten angehören. Und da wir Deutschen – von der Besatzung ganz abgesehen – in der Überzahl waren, sollte der Abend nach unserem Brauche begangen werden. Tellermann hatte zu diesem Zwecke auch den Deckjungen, der mit Kapitän Frederiksen so unliebsam zusammengeraten war, unter Deck geschickt, mit der Weisung, »etwas Christbaumähnliches« aufzutreiben. Er war mit etlichem grünen Zweigwerk zurückgekommen, und Tellermann nickte zufrieden. Der Junge aber war noch immer furchtbar erregt – nicht über die lose Hand des Kapitäns. In dieser Hinsicht, versicherte er treuherzig, sei er nicht empfindsam. Aber die grünen Augen des Klabautermanns oder sonst eines Unholdes habe er deutlich aus dem Hintergrund funkeln sehen, als er, bis zum Laderaum mit den Hölzern vorkriechend, das Zweigwerk abgeschnitten habe.
Nun war es an uns, den Jungen zu belehren. Er sei doch ein fixer Kerl, der mit Aberglauben nichts zu tun habe. Doch hatten wir keine Zeit, uns lange aufzuhalten. Tellermann zog mich mit in die Bordküche. Statt eines internationalen Mahls sollten heute deutsche Speisen und Getränke aufgesetzt werden ... Hamburger Rauchfleisch und aus Rheinreben gekelterter Weißwein. Der Salon wurde mit den grünen Zweigen ausgeschmückt, ich mußte meine dichterische Ader in den Dienst der guten Sache stellen und Tischkartenverse schmieden, und der Arzt mußte sein Mikroskop beiseite rücken und seine Kabine als Schreibstube hergeben, damit alle Vorbereitungen geheim vor sich gehen konnten. Über ihnen verging der Tag, und den geheimnisvollen Störer unserer Nachtruhe hatten wir vergessen. Tellermann regierte das Schiff. Er war überall und nirgends. Kurz vor sechs, wo in den Tropen bekanntlich unvermittelt der Tag zur Rüste geht, erschien er festtäglich angezogen auf der Back, wo die Herrschaften unter dem ausgespannten Sonnensegel plauderten, und geleitete sie in den wunderschön dekorierten Salon mit der »Festtafel«.
Mit freudiger Überraschung wurden seine Vorbereitungen begrüßt. Sogar für Musik war gesorgt. Tellermann hatte in Colombo ein Grammophon gekauft und meuchlings an Bord gebracht. Der Weihnachtsabend war von dem vorsorglichen Allerweltskerl dafür ausersehen, die erste Probe des Apparates auf uns loszulassen. Über den Kunstgenuß eines Grammophons mögen die Ansichten auseinander gehen, aber rührend war es doch, nun inmitten des Indischen Ozeans die heimatlichen Klänge zu hören. Denn wie Kapitän Frederiksen es fertig gebracht hatte, echte Hamburger Jungens in Ceylon zusammenzutrommeln, so hatte Tellermann nicht geruht, bis er wenigstens zwei deutsche Schallplatten aufgetrieben hatte. Die eine gab das Abendständchen von Härtel »Ich grüße dich!« wieder, und die andere ließ zu den Klängen des Marsches der Kaiser Franz-Garde-Grenadiere die »Schloßwache« aufziehen ... und es blieb fraglich, was uns ernster und weihnachtlicher stimmte, der deutsche Abendgruß oder der flotte, schneidige, altpreußische Militärmarsch.
Seinen Zweck, uns in gehobene Stimmung zu versetzen, hatte Tellermann jedenfalls erreicht, und auch die Nichtdeutschen, Grogans und die Portugiesen, wußten ihm dafür Dank. Später sollten die Mannschaften in unserem Beisein mit kleinen Gaben beschenkt werden.
Der Wein löste die Zungen, die Unterhaltung wurde von Minute zu Minute fröhlicher. Als Kapitän Frederiksen unter uns erschien, schlug Tellermann ans Glas und begann mit wohlgesetzten Worten die Festrede.
»Immer schon«, fing er an, »wünschte ich einmal ein Weihnachtsfest zu erleben, wo ein sanfter Sommerwind die Wellen kräuselt. Heute, hochverehrte Damen und Herren, ist der Wunsch erfüllt –«
Er sollte nicht weiter kommen. Ein durchdringender Schrei, der uns jäh aufhorchen ließ, drang zu uns herein und schnitt Tellermann das Wort im Munde ab. Im nächsten Augenblick kam ein wilder Lärm von oben. Es wurde geschrien, geschimpft, man rannte und trampelte über uns. In einer halben Minute schien das ganze Schiff in Aufruhr versetzt zu sein. Mit hochrotem Kopf sprang Kapitän Frederiksen auf die Füße. Doch ehe er die Tafel verlassen und einen Schritt nach der Kajütentür gemacht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen, und das Entsetzen der Anwesenden ist schwer zu beschreiben, als sich plötzlich etwas Langes, Feuchtglänzendes, Furchtbares pfeilschnell durch den Eingang hereinschob und sich in greulichen Windungen heranwälzte.
Dieses fürchterliche glatte Etwas war eine Schlange von annähernd sechs Meter Länge und ungeheuerlicher Dicke!
Ihr bloßer Anblick genügte, sekundenlang alle vor Entsetzen zu lähmen. Dann gellte das Angstgeschrei der Damen durch den Raum. Am ganzen Leibe bebend sprangen sie in die Höhe. Im Nu war der Tisch leer. Nur Tellermann, das Grammophon wie einen Schild vor seinen Leib haltend, kniete mitten auf dem weißen Tafeltuch ... bleicher Schrecken auch in seinem Gesicht ...
Das wortlose Entsetzen ließ erst nach, als jetzt die Matrosen hereinstürzten. Ruder und Spieker schwangen sie in den Händen, eine Axt blitzte auf ... im nächsten Augenblick warf sich ein Mann mit rotem Bart auf das Ungetüm ... die Axt in der Rechten. Ehe er aber zum Schlag ausholen konnte, fuhr das Reptil gerade empor und schien auf Mr. Grogan fallen zu wollen. Einer der blauen Jungen traf jedoch so glücklich den Kopf der Emporfahrenden, daß sie sich wieder auf die Seite legte. Und nun sprangen zwei beherzte Kameraden mit dem Tau herzu. Als sie die geschickt geworfene Schlinge dicht hinter dem weit aufgesperrten Kiefer der Schlange verzurrten, vollendete der Engländer sein Werk. Sein Axthieb traf. Von zwei Seiten rissen die Matrosen das riesenhafte Tier zurück und schleiften es zur Tür hinaus.
In Sekunden war alles geschehen, aber es sollte noch lange dauern, bis sich Mr. Grogan und die Damen von ihrem Entsetzen erholten. Besonders der arme Professor, der von dem auffahrenden Reptil um Haaresbreite gefaßt worden war, machte viel Arbeit für den Doktor und brachte zunächst nur ein wirres Stammeln heraus. Lührmann glaubte, als er ihn grell auflachen hörte, der Schreck habe ihn um den Verstand gebracht. Um so tapferer zeigte sich Frau Grogan: »Sorgen Sie sich nicht um meinen Mann«, sagte sie, »es geht vorüber. Ich sehe es, daß es ihm besser geht. Ich sah das ja alles kommen.«
Der Arzt blickte sie fragend an.
»Es war uns ja prophezeit worden! Wörtlich, ganz und gar wörtlich hat sich erfüllt, was mir der blinde Wahrsager vor dem Peradenya-Garten voraussagte.«
Der Kapitän beruhigte die Damen vollends. »Es war kein giftiges Reptil ... es handelt sich um eine Reisschlange, die auch Amethystschlange genannt wird. Sie baumelt schon am Achterdeck am Mast. Sie greift Menschen nicht an, wenn sie nicht selbst angegriffen wird.«
Dabei war der gute Kapitän selbst noch nicht seiner Erregung Herr. Er zürnte mit sich selber. »Irren ist ja wohl nu menschlich, aber mit den Dingen auf dem eigenen Schiff sollt' das einem Kap'tain nicht so gehen, wie es mir gegangen ist. Den Englischmännern hab' ich meinen schwarzen Verdacht abzubitten, und der Deckjung' hat seinen Katzenkopf zu Unrecht bekommen. Und wie steh' ich Ihnen gegenüber da, Herr Lührmann!«
»Und mir!« ergänzte Tellermann. Er hatte noch immer den langen Trichter seines Grammophons unterm Arm, das er in der ersten blinden Hast ergriffen hatte. »Da hatte ich ja mit meinen Ratten noch richtiger getippt!«
»Dem Zimmermann zahlen wir den doppelten Lohn aus, Frederiksen«, sagte Lührmann. »Er hat Schneid bewiesen. Und unserer braven Besatzung wollen wir auch ein Weihnachtsgeschenk machen, daß ihnen der heutige Abend in keiner allzu unangenehmen Erinnerung, bleibt.«
»Was das anbelangt – das tut er bestimmt nicht. Die sind für solch' ein Abenteuer immer zu haben. Sehen Sie, da haben sie das Biest an der Schwanzspitze in die Takelung hochgezogen.«
Wir traten zu den Leuten, die die erlegte Riesenschlange umringten. Sie maßen ihre Länge und untersuchten ihren Rachen. Giftfänge waren nicht zu entdecken, aber an den gewaltigen Kiefern sah man wohl, daß es diesem ausgewachsenen Exemplar einer Reisschlange ein leichtes sein mußte, eine Ziege oder einen Schafbock mit Haut und Haaren zu verschlingen. Als der Kapitän bekannt gab, daß jedermann reichlich belohnt werden sollte, ward die Stimmung der Matrosen noch fröhlicher. Sie saßen bis in die tiefe Nacht um ihren aus Reisbesen künstlich gefertigten, grüngemalten Weihnachtsbaum und sangen bei ihrem Seemannsgrog, den der Kapitän gespendet hatte und der schwer und heiß war wie eine Tropennacht auf der Linie, ein heimatliches Lied nach dem anderen. Kapitän Frederiksen aber strich dem Deckjungen das blonde Haar aus der Stirn und sagte: »Nu hast du also doch richtig gesehen, Kord Struwe. Was die grünen Augen anbetrifft. Und nu ... nu hast du bei mir einen Katzenkopf – gut.«
»Und was den verflixten »blinden Passagier« anbelangt«, wandte er sich zu uns herum, »so sind die zwo Nächte in der Affen- und Moskito-Bucht im Kaluganga schuld daran, als die Klappe in der Bordwand offen stand. Da ist dieser Regenwurm hereinspaziert und hat seinen Platz unter den langen Hölzern eingenommen.«
»Und ab und zu, vornehmlich aber zu nachtschlafener Zeit, ist er von Unruhe gepackt worden und hat gepoltert und wider die Wände gedrückt und gepfiffen und gefiebt.«
»Jawohl, und wenn wir den Ruhestörer suchten, war er längst wieder unter die Baumstämme gekrochen, unter die natürlich kein Mensch sehen konnte. Nur Kord Struwe hat das Biest gesehen, als er den »Christbaum« holen ging. Durch die Latten der Segelkammer ist es dann heute ausgebrochen –«
»Weil es vermutlich Hunger hatte.«
»Das ist nicht gesagt. Diese Urwaldschlangen können monatelang fasten. Aber sie hatte Sehnsucht nach ihren Schlupfwinkeln in den Gestrüppen von Caltura bekommen –«
»Und vielleicht keinen kleineren Schreck als wir, als sie in unserer festlichen Tafelrunde landete – statt in der Affenbucht –«
»Bitte, keine Anzüglichkeiten!« sagte Tellermann abweisend.
Allmählich erholten sich alle von dem ausgestandenen Schrecken Professor Grogan kam mit seiner Gemahlin an Deck. »Meine Frau hat doch recht,« sagte er, »alle Schlangen bleiben entsetzliche Tiere. Und diese da war imstande, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Glücklicherweise ist es wirklich eine ungiftige gewesen ... allerdings eine der größten, die Indien hervorbringt.« Und gleich regte sich der Professor, der das Klassifizieren gewohnt ist: »Es dürfte sich um den Python javanicus handeln. Darauf deuten die kleinen Sporen und die bläulich-aschgraue Färbung. Die wie Amethyst glänzenden Flecken haben ihr den Namen Amethystschlange eingebracht. An und für sich eine der schönsten Riesenschlangen.«
»Wenigstens, sobald sie unschädlich in der Takelung hängt. Mein Fall sind solche Festgäste nicht«, erklärte Tellermann. »Aber der Schatz meiner Reiseerlebnisse hat eine ungeahnte Bereicherung erfahren. An ihm werde ich lange zehren. Ich erlebe eben immer, und an dem heutigen Begebnis können Sie ermessen, daß ich nicht aufzuschneiden brauche. Das geht auf Sie, Herr Lührmann, der Sie an mich dachten –«
»Als der Fakir vom »Vater der Lüge« sprach. Sie sind glänzend gerechtfertigt. Und nun ist mir endlich die wahre Lösung seiner Wahrsagerei gegeben. »Vater der Lüge« ist in gewissen Gegenden«, ergänzte der Oxforder Professor, »die Bezeichnung der Schlange. Soviel ich weiß, in Kaschmir oder in Tibet –«
»Siehst du, Matthew!« rief Frau Grogan. »Der blinde Greis hat alles, alles richtig vorhergesagt!«
»Das ist allerdings höchst seltsam und wunderbar. Man steht da wirklich unter dem Bann eines unerklärlichen, mystischen Gefühles ... der Zufall ist ein großer Kobold, und der alte Bena-Elwara scheint sich der besonderen Huld dieses Kobolds zu erfreuen. Doch Spott und Scherz beiseite ... es kommen auch für den zivilisierten Menschen Augenblicke, in denen er psychisch dem die Naturgewalten anbetenden Wilden nahe steht und sich erschauernd von feinen Fäden umsponnen fühlt, die seine beste Verstandeskraft nicht zu zerreißen vermag.«