Emmy Ball-Hennings
Märchen am Kamin
Emmy Ball-Hennings

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Die Zauberlampe

Wenige Tage später war Carola wieder auf den Beinen. Alle im Hause freuten sich, sie wieder in der Küche zu sehen. Bei Tisch teilte sie wieder das Brot und die Suppe aus, ging ihrer Arbeit nach, obwohl die Schwägerinnen sie ermahnten, sich noch ein wenig zu schonen, denn eine heftige Bronchitis hatte ihre Kraft doch mitgenommen. Die jüngste Schwägerin wollte nicht dulden, daß Carola in den Stall gehe, um die Kühe zu melken, und sagte ihr: »Carola, du denkst immer an dich selbst zuletzt oder gar nicht.«

Dazu lächelte Carola nur: »Ja, ich mache es genau wie du und habe es erst von dir gelernt.«

Die Schwägerinnen mußten schon eine List anwenden, um Carolas Arbeitseifer ein wenig zu dämpfen, und so gab es tagsüber ein paar Streitereien, die nur in der Fürsorge füreinander ihren Grund hatten, so daß man schließlich herzlich darüber zu lachen begann.

Maso meinte scherzend: »Wir haben zu wenig zu tun. Wir haben Zeit, Märchen zu erzählen, und es bringt uns keinen Rappen ein.«

»Nein, das ist wahr«, sagten die Frauen, »aber es bringt uns Freude, und das ist mehr wert als Geld. 166 Es hilft uns wenig, wenn wir noch soviel verdienen und uns die Freude fehlt.«

»So also faßt ihr es auf, Kinder«, sagte die Regina. »Gut. Dann will heut abend ich einmal wieder einen kleinen Beitrag zur Freude oder zur Unterhaltung liefern. Während ich erzähle, könnt ihr euch am Kastanienkuchen gütlich tun. Sagt, ihr ganz kleines Volk, wird es euch nicht zu viel sein, Carolas Gesundheitskuchen zu essen und dabei zuzuhören? Es sind ja zwei Beschäftigungen zu gleicher Zeit.«

Die Kleinen sagten lachend, sie würden es schon schaffen. Und dann begann die Großmutter zu erzählen.

Die Zauberlampe

aus »Nel Cerchio Magico«, Luigi di San Giusto.

Es war einmal eine arme Frau, die sich beim benachbarten Krämer eine Lampe kaufte. Es war eine alte, gebrauchte Lampe aus Eisen, und da sie schon recht unansehnlich war, gab der Kaufmann sie um wenige Soldi. Die Frau ging zufrieden mit ihrer Lampe nach Hause, putzte die drei verrosteten Schnäbel und den Fuß, goß Öl in die Lampe, zündete sie am Abend an und stellte sie mitten auf den Tisch, wo sie für sich und ihren Sohn zwei Teller mit Suppe aufstellte. Ja, die Suppe war mager genug, bestand aus gekochtem Wasser, Salz, ein wenig Öl, Zwiebel und Brot, aber die Lampe gab ein freundliches Licht, das sowohl der Mutter als dem Sohne recht gut gefiel. So verzehrten die beiden denn in Frieden ihr Abendbrot und bewunderten daneben ihre nette Lampe.

»Ja, das war ein guter Einkauf«, sagte die Mutter, und indem sie die Teller vom Tische räumte, fragte sie noch: »Bist du auch satt geworden, mein Junge?« 167

»O ja, danke, Mutter, es hat gut geschmeckt. Wenn es dir recht ist, will ich dir heut abend eine Geschichte vorlesen. Hast du Lust, sie zu hören?«

»Das will ich gerne. Dann habe ich eine hübsche Unterhaltung, während ich stricke. Die Nachbarin hat ein paar Strümpfe bei mir bestellt.«

»Recht so, dann will ich das Buch aus der Truhe holen und eine schöne Geschichte auswählen, während du die Teller wäschst.«

Als Silvio, so hieß der Junge, sich zur Truhe wandte, blieb er plötzlich verwundert stehen und rief: »Mutter, komm doch rasch mal her. Was ist das hier? Du hast eine Truhe aus Glas?«

Da sah die Mutter mit großem Erstaunen, daß die Holztruhe durchsichtig war, so daß man Kleider, Bücher, kleine Kästchen, kurz alles, was sich in der Truhe befand, von außen sehen konnte. Man sah durch das Holz wie durch Luft hindurch.

»Ja, was ist denn das nur?« fragten die beiden einander verwundert, und als Silvios Blick zufällig auf sein Bett fiel, sah er durch die Matratze hindurch einen alten, vergessenen Rappen dort liegen, von dem er keine Ahnung hatte, wie er dorthin geraten war.

»Mutter, ich will dir was sagen. Du hast eine Wunderlampe gekauft und nichts anderes.«

»Ja, gibt es denn das?«

»Du siehst es ja.«

»Jaja, ich sehe es. Das ist merkwürdig genug. Wer hätte das heute früh gedacht? Wie denkst du darüber, Silvio? Wahrhaftig, das ist eine richtige Wunderlampe.« 168

»Ich meine, das beste wird sein, wir sprechen zu niemandem davon. Vielleicht kann die Lampe uns einmal Nutzen bringen. Ich wäre aber dafür, daß wir sie nicht im Gebrauch behalten für alle Tage, sondern eine andere Lampe kaufen. Da ich für einige Wochen Holzfällerarbeit im Walde habe, werden wir uns wohl eine neue Lampe leisten können, die du morgen kaufen mußt, während wir diese in die Truhe stellen könnten.«

Mit diesem Vorschlag war die Mutter einverstanden, und schon am nächsten Abend stand ein Lämplein auf dem Tisch, das wie alle andern auch war. Es machte nichts durchsichtig, gab auch weniger hell, aber das Geheimnis blieb dadurch bewahrt, und das war sehr gut, denn schon am nächsten Abend kam Fatima, die Nachbarin, zur Mutter, um ein wenig zu plaudern. Fatima brachte einen Steinkrug, der mit Pergamentpapier oben geschlossen und mit einer Schnur zugebunden war. Sie setzte den Krug auf den Tisch und sagte zu Silvios Mutter:

»Anna, willst du mir den Gefallen tun und diesen Krug für mich aufbewahren? Es sind Oliven darin, die man mir aus Mitleid geschenkt hat, denn du weißt ja, ich bin ebenso wie du eine arme Frau und besitze augenblicklich nicht viel mehr als diese Oliven. Da wäre ich dir dankbar, wenn du sie für mich ein paar Wochen aufheben wolltest. Meine Tochter Lia, die in der Lombardei verheiratet ist, hat ein Kindchen bekommen, und da sie sich etwas schwach fühlt, hat sie mich gebeten, für eine Zeitlang zu ihr zu kommen. Ich denke, in vierzehn Tagen werde ich wieder zurück sein, und da wäre ich froh, wenn ich mir die Oliven wieder bei dir abholen dürfte.« 169

»Aber gewiß doch«, antwortete Anna, »ich will dir die Oliven schon aufheben, und du brauchst nicht zu besorgen, daß wir davon essen werden. Mein Silvio und ich sind nicht die Leute, die unrechtes Gut anrühren. Also du kannst ruhig reisen.«

»Meine gute Anna, wem sagst du das? Hätte ich nicht so großes Vertrauen zu euch, würde ich euch doch die Oliven nicht ins Haus bringen. Man ist ja heutzutage froh um jede Olive, wenn man so knapp daran ist wie wir zwei. Aber sollte ich mich in vierzehn Tagen, will's Gott, etwas besser stehen, wird es mir nicht darauf ankommen, euch ein paar Oliven abzulassen bei meiner Rückkehr, wenn ihr grad Oliven dringend nötig habt. Es ist ja eine Gottesgabe, die man nicht hoch genug einschätzen kann. So, jetzt muß ich aber gehen, weil ich mir noch eine Reisetasche bei Landa ausborgen will. Ach Gott ja, wenn man reisen muß und keine Reisetasche hat, dann ist man auf die Mildherzigkeit der Nachbarn angewiesen. Nun also, leb wohl, gute Anna. Leb wohl, guter Silvio. Bleibt gesund und: Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen und recht gute Reise, Fatima. Grüß auch deine Tochter vielmals. Wir wünschen ihr gute Besserung.«

»Danke, danke, und nochmals: Versorgt meine Oliven gut.«

»Wir werden an nichts anderes mehr denken«, rief ihr Silvio lachend nach. Als sich endlich die Tür hinter Fatima geschlossen hatte, sagte er zu seiner Mutter: »Was Fatima nur mit ihren Oliven hatte? Seit Jahren war die Olivenernte nicht so reichlich als heuer. Man bekommt sie geschenkt, und sie sind 170 in diesem Jahre lächerlich billig. Oliven aufheben, das ist ja zum Lachen.«

»Nun ja, sie wird im Winter keine Oliven kaufen können und will ein bißchen vorsorgen. Das wird es sein. Freilich glaube ich nicht, daß jemand ihr die Oliven im eigenen Hause gestohlen hätte, zumal sie die Türe gut verschließt. Aber das geht uns nichts an. Wir heben die Oliven auf und damit fertig.«

Für Silvio war es damit nicht ganz fertig. Fatima selbst hatte durch ihr breites Geschwätz die Neugierde in ihm erweckt. Die Frau galt bei manchen Dorfbewohnern als Geizige, die gar nicht arm, sondern eher vermögend war, doch wußte man nichts Sicheres. Um sich nun Gewißheit darüber zu verschaffen, ob und was eigentlich sich im Steinkrug befand, wartete Silvio eines Abends ab, bis seine Mutter sich schlafen gelegt, er die Wunderlampe anzünden und den Steinkrug durchleuchten konnte. Es befanden sich tatsächlich Oliven im Krug, doch unter den Oliven am Boden des Kruges schimmerten eine Anzahl Goldmünzen. Durch solchen Anblick verführt, begann Silvio den Steinkrug zu entleeren, um sich die Goldstücke einmal genauer anzusehen. Ja, es stimmte. Es waren echte grundehrliche Goldstücke, die aber doch den Oliven nicht gut tun konnten. Darin hatte er ja schon recht. Wer Goldstücke hat, legt sie in einen Strumpf, soviel ich weiß und mir bekannt ist, wenn auch nicht aus persönlicher Erfahrung. Oliven in Öl? Gut, das mag stimmen. Aber Oliven und Goldstücke zusammen, das kann weder dem einen noch dem andern gut tun. So dachte wohl auch Silvio und legte zuerst die Oliven wieder in den 171 Steinkrug. Nun hätte er freilich die Goldstücke oben auf die Oliven legen können, wodurch Fatima es bequemer gehabt hätte, falls sie ein Goldstück brauchen würde, aber unser Silvio machte es noch anders. Er ließ sämtliche Oliven einsam für sich, band den Krug mit dem Pergamentpapier darüber zu und stellte ihn in den Küchenschrank. Die Goldstücke aber steckte er in die eigene Tasche, in der Platz genug war, doch sagte er seiner Mutter selbstverständlich kein Sterbenswörtchen von dem, was er angerichtet hatte, während wir uns unser Teil darüber denken, jeder für sich.

Die Tochter der Fatima schien sich indessen sehr rasch wieder erholt zu haben, denn wenige Tage nach Silvios Diebstahl stellte Fatima sich ein und verlangte ihre Oliven zurück. Sie nahm den Steinkrug gleich fest in ihre Arme, blieb aber doch noch ein halb Stündchen schwatzend und sagte nebenbei: »So, jetzt hab' ich meine Oliven wieder.«

»Jawohl«, sagte Anna lachend, »und nicht eine einzige fehlt. Und wenn du diese Oliven verzehrt hast, kannst du dir bei uns neue holen. Wir haben keine angerührt, das darfst du mir glauben.«

»Das weiß ich ja, gute Anna, sonst hätte ich dir niemals meine Oliven anvertraut.« Und dann ging sie nach freundlichem Gruß und Dank.

Silvio aber fühlte sich nicht grad wohl, wünschte noch ein wenig an die frische Luft zu gehen, versprach aber bald zurückzukommen. Während seine Mutter ihn auf einem Spaziergang wähnte, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als die Goldstücke im Hof unter einem Stein zu verbergen. Dann lief er noch zwei- bis dreimal ums 172 Haus herum und kam wieder zurück. Er hatte sich kaum hingesetzt, als auch Fatima aufgeregt angestürmt kam: »Wo sind meine zwölf Goldstücke?! Du, Anna hast sie mir gestohlen oder dein Sohn!«

»Was fällt dir ein? Bist du verrückt geworden? Wie können wir deine Goldstücke gestohlen haben, da wir nicht einmal wissen, ob du je ein Goldstück in deinem Leben besessen hast? Das ist ja empörend! Du hast uns einen Krug Oliven anvertraut, aber keine Goldstücke.«

»Aber die Goldstücke lagen ja unter den Oliven«, schrie Fatima.

»Das wissen wir nicht. Hättest du uns einen Sack mit Goldstücken zur Aufbewahrung gegeben, würdest du ihn unversehrt und unangerührt zurückerhalten. Wir sind nicht die Leute, die fremdes Eigentum anrühren. Hab' ich recht, Silvio?«

»Du hast schon recht, Mutter.«

»Da ist die Tür. Sieh zu, daß du weiterkommst, oder mein Sohn wird dich hinauswerfen. Wir werden dich vor Gericht wegen Beleidigung verklagen.«

Da ging Fatima scheltend fort und lief von Haus zu Haus, um die aufregende Angelegenheit zu erzählen.

Am nächsten Tag wurden Anna und ihr Sohn vor den Richter geführt. Beide beteuerten hoch und heilig ihre Unschuld. Den Richtern kam's mit der Fatima, mit ihren Goldstücken und Oliven etwas verdächtig vor, dazu kam noch, daß im Hause Annas nicht ein einziges Goldstück gefunden wurde, kurzum, Anna und ihr Sohn wurden freigesprochen und durften heimgehen. Anna beruhigte sich wieder, aber ihr Sohn, der ein schlechtes Gewissen hatte, wurde 173 immer unruhiger, bis die Mutter ihm eines Tages sagte: »Hör, mein Junge, du solltest ein wenig in die Fremde gehen. Du findest auch anderswo Arbeit, und wenn du gut verdienst, kannst du mir etwas Geld senden, und wenn nicht, werde ich mich schon allein durchbringen.«

Das war dem Silvio recht, und er nahm sogleich von seiner Mutter Abschied, verließ das Haus, aber nicht ohne die zwölf Goldstücke, die er in seine Tasche steckte. Als er nun so über Land ging, die Blumen auf den Wiesen blühen sah und die Vögel sorglos singen hörte, wurde er recht traurig, weil er seine junge Seele mit einer Sünde befleckt hatte. Gegen Abend kam er an einen Fluß, über welchen eine Brücke führte. Es kam ihm vor, als würde ihm das Gehen etwas schwer, und als er bis zur Mitte der Brücke kam, wurden ihm Füße und Beine so schwer, daß er sich nicht mehr vorwärts bewegen konnte. Da stand ein alter Mann, der die Brücke bewachte. Der sah, wie wacklig Silvio auf den Beinen stand, und rief ihm zu: »Höre, junger Mann, ich sehe, du bist nicht gut auf den Beinen. Diese Brücke hier ist nämlich verzaubert, und solltest du etwas bei dir tragen, das dir von Rechts wegen nicht gehört, möchte ich dir raten, umzukehren und einmal zu bedenken, daß unrecht Gut niemals gedeihen kann.«

Silvio wurde rot bis über die Ohren und sagte stotternd: »Das hab' ich mir gleich gedacht, und ich sage Euch vielen Dank für den guten Rat.«

Dann machte Silvio kehrt und gelangte noch am selben Abend nach Hause. Die Mutter sagte: »Das war aber eine kurze Wanderschaft, mein Sohn.« 174

Silvio aber warf sich ihr weinend zu Füßen und gestand seine schlechte Tat. »Verzeih mir, Mutter, ich will es gewiß nie wieder tun.«

»Gut, mein Sohn, ich will dir nicht böse sein, doch bringe das Geld sofort zur Fatima zurück. Sie wird wohl noch nicht zu Bett gegangen sein.«

Silvio ging sofort, fand aber Fatimas Tür verschlossen, doch sah er durchs Küchenfenster. Fatima saß beim Schein einer Kerze am Tisch und zählte ihr Geld. Silvio klopfte ans Fenster: »Fatima, mach mir die Tür auf, ich bringe dir deine Goldstücke zurück.«

Rasch versorgte die Fatima das Geld, das sie auf dem Tische liegen hatte, kam an die Tür und ließ Silvio eintreten.

»Wo ist das Geld? Wo? Wo?«

»Ich werde es auf den Tisch legen, damit du nachzählen kannst. Meine Mutter hat das Geld nicht gestohlen und nichts davon gewußt, ich hab's allein getan. Du siehst, ich bin ein Dieb.«

Der ehrliche Dieb kam kaum recht dazu, die Goldstücke einzeln auf den Tisch zu legen. Fatima ergriff eilends einen Besen und bearbeitete damit den armen Jungen so kräftig sie es nur vermochte, doch hatte Silvio gegen die Prügel nicht viel einzuwenden, sondern fühlte sich bedeutend erleichtert, wenn er sich auch schleunigst auf und davon machte. Dann kam er vergnügt wieder bei seiner Mutter an, die ihn nochmals ermahnte, doch ja ehrlich zu bleiben.

»Das will ich«, antwortete Silvio treuherzig, »aber wenn es dir recht ist, möchte ich mich noch ein wenig in der Fremde in der Ehrlichkeit üben.« 175

»Mach, wie du willst, mein Sohn. Sieh dich nur ein bißchen um in der Welt.«

»Aber nicht ohne die Zauberlampe, wenn du so gut sein wolltest, mir diese mitzugeben.«

»Meinetwegen, doch richte nur keinen Unfug damit an, mein Sohn. Vergiß nicht, wie es dir einmal damit gegangen ist. Ich will nicht mehr darauf zu sprechen kommen. Laß dir nur ein für allemal gesagt sein: Ehrlich währt am längsten.«

Nun ging Silvio in die weite Welt und kam an die Brücke, wo ihm der Wächter schon von weitem zuwinkte. Er sah wohl, wie flott und frisch Silvio ausschritt. Die beiden grüßten einander als gute Bekannte, und der alte Mann sagte: »Jetzt sehe ich, daß du ein braver Bursche bist, dem was Rechtes schon aus den Augen leuchtet. Hast du Mut – und ich traue dir den zu –, kannst du ein gutes Werk ausführen. Sieh mal, dort jenseits der Brücke, wo du ein Licht funkeln siehst, befindet sich ein Schloß, das von einem Werwolf bewacht wird, und im Schlosse selbst wird eine Prinzessin gefangengehalten. Der Werwolf wird dich nicht eintreten lassen. Hier jedoch gebe ich dir ein paar Fleischbrocken, und wirfst du ihm diese hin, wird er sie fressen und danach einschlafen. Dann mußt du die Schlüssel fürs Schloß suchen und zusehen, ob es dir gelingt, die Prinzessin zu befreien. Du mußt wissen, daß sie die Tochter eines mächtigen Königs ist, und er wird sie demjenigen zur Frau geben, dem es gelingt, sie der Macht des Werwolfes zu entreißen.«

»Ich will mein möglichstes tun«, versprach Silvio und ging mit kühnen Schritten über die Brücke. 176

Das Schloß lag einsam auf dem Vorsprung eines Berges. Während Silvio hinanstieg, hörte er schon von weitem ein schweres Schnarchen. »Aha«, dachte sich Silvio, »das wird wohl der Werwolf sein. Nun, wir werden es mit dem Bürschchen schon aufnehmen.« Da er aber nur wenige Schritte entfernt vom Schloßeingang war, sah er das gewaltige und wüste Tier auf die Füße springen. Es brummte bedrohlich:

»Hunger, Hunger tut nicht gut,
Riecht man Menschenfleisch und Blut.
Komm nur her, du kleiner Christ,
Wenn du nicht zu mager bist.«

Oha, die Einladung klang bedenklich. Schon wollte sich der Werwolf auf Silvio stürzen. Der aber, nicht faul, warf ihm eilends die drei Fleischbissen hin, über die sich der Werwolf sofort hermachte, sie verschluckte, schläfrig wurde und sich dann hinwarf. Silvio wartete noch ein Weilchen, um sich zu überzeugen, daß der Werwolf auch gründlich eingeschlafen war. Jaja, es war gut so, er begann zu schnarchen. Silvio bedauerte, keine Waffen bei sich zu haben, so daß er die Gelegenheit, den Werwolf auf der Stelle zu töten, nicht ausnutzen konnte, denn sein winziges Taschenmesser hätte ja längst nicht genügt, einem solch mächtigen Ungeheuer den Garaus zu machen. Es war zwar kein angenehmer Augenblick, als Silvio genötigt war, über das schlafende Tier hinwegzusteigen; doch zum Glück für Silvio erwachte es nicht, und so konnte er ungehindert durch das große Tor ins Schloß gelangen.

Er kam in einen geschlossenen Hof, blickte sich um und bemerkte ein erleuchtetes Fenster zu ebener Erde. Das Fenster war aber vergittert durch 177 armdicke Eisenstäbe, die so nahe aneinandergesetzt waren, daß ein schmales Kind nicht hätte hindurchgelangen können. Silvio überlegte, was zu machen sei, und pfiff nachdenklich vor sich her. Da zeigte sich plötzlich ein wunderschönes Mädchengesicht am Fenster, das sogleich geöffnet wurde.

»Bitte, erschrick nicht, ich bin's nur, Silvio. Und bist du vielleicht die Prinzessin, die hier gefangen ist?«

»Ja, ich bin die Prinzessin Amanda, und was willst du hier?« Sie lächelte ihn mit einer gewissen Wehmut, doch zugleich sehr freundlich an.

»Ich bin gekommen, dich vom Werwolf zu befreien.«

»Oh, das wäre herrlich, aber das Schloß hat nur eine Tür und nur ein Fenster. Die Querstangen am Fenster lassen sich ausheben, doch bedarf es hierzu eines kleinen Schlüssels, der irgendwo im Hause verborgen sein muß. Ich weiß nicht, wo. Und wie kann ich einen solch kleinen Schlüssel finden?«

»Nimm diese Lampe, zünde sie an und gehe damit durch alle Räume. Es ist eine Zauberlampe, die alle festen Gegenstände durchleuchtet.«

Die Prinzessin nahm die Lampe durch das Gitter in Empfang und ging den Schlüssel suchen. Es dauerte eine geraume Zeit bis sie wiederkam, und währenddessen schnarchte der Werwolf nicht mehr so fest wie vorher.

»Ich finde ihn nicht, ich finde den Schlüssel nicht«, hörte Silvio die Prinzessin klagen, während er in höchster Ungeduld und Unruhe wartete. Endlich stieß sie einen Freudenschrei aus. Sie hatte den Schlüssel, der nicht größer war als ihr kleiner Finger, 178 unter einem Haufen Kichererbsen entdeckt, und ohne die Wunderlampe würde sie ihn sicherlich niemals gefunden haben.

Sie reichte den Schlüssel Silvio durchs Fenster, er schloß auf, öffnete das Gitter und reichte der Prinzessin die Hand, damit sie leicht vom Gesims herabspringen konnte.

Jetzt hieß es nochmals über den Werwolf hinwegsteigen. Er brummte unwillig, als fühle er sich im Schlafe gestört, doch zum großen Glück der beiden Flüchtlinge erwachte er nicht. Hand in Hand eilten sie jetzt dem Flusse zu. Silvio trug in der rechten Hand die brennende Lampe, die ihm auf dem Wege ein wahrer Segen war, denn die Nacht war schon angebrochen. Kaum waren sie bei der Brücke angelangt, als der Werwolf ihnen nachgesetzt kam. Oh, der kam rascher vorwärts als Amanda und Silvio. Sie liefen, so rasch sie nur konnten, und der Wächter sah, daß Silvio nicht allein kam. Die weißen Kleider der Prinzessin leuchteten im Licht der Lampe, und im Haar schimmerte ein Diadem. Der Wächter rief ihnen mit lauter Stimme entgegen: »Fürchtet euch nicht, der Werwolf wird euch nicht mehr erreichen.« Und wahrhaftig, sobald er sich auf der verzauberten Brücke befand, vermochte er sich nur schwerfällig vorwärts zu bewegen, weil er die Prinzessin geraubt hatte; und als er schnaubend und keuchend bis zur Mitte der Brücke gekommen war, konnte er nicht weiter und warf sich vor Ärger in den Fluß, in dem er sogleich versank.

Silvio und die Prinzessin aber hatten gleichwohl noch Angst und liefen so sehr, daß dem Silvio die 179 Lampe aus der Hand glitt und in den Fluß fiel. Der Wächter lachte und sagte: »Du mußt der Lampe nicht nachspringen, sie hat dir genug gedient. Und jetzt kommt mit mir, ich will euch zum König Majo führen.«

Der König war überglücklich, als er seine Tochter wieder hatte, und fragte sofort Silvio, den Retter, ob er sie zur Frau haben wolle.

»Ja, wenn sie mich haben will«, antwortete Silvio schüchtern und sah fragend auf die Prinzessin. Sie lächelte, gab ihm beide Hände und sagte: »Ich will, Silvio.«

Nun sollte sofort die Hochzeit gefeiert werden. Der König ließ auf Silvios Wunsch hin durch zwölf Grafen die Mutter Silvios holen. Zu gleicher Zeit schickte Silvio hundert Goldstücke an Fatima, damit auch sie eine Freude habe. Fatima, durch die noble Gabe beschämt, eilte an den Hof, um sich Silvio zu Füßen zu werfen. Sie bat ihn inständig um Entschuldigung, weil sie ihn doch einmal verprügelt hatte. Er aber lachte: »Nein, das hast du gut gemacht. Ich habe an deinen Schlägen leichter getragen als an meinem bösen Gewissen.« Als Silvio später König wurde, verstand er das Regieren ausgezeichnet. Er stellte recht vernünftige Gesetze auf, und man sagt, es habe während seiner Herrschaft nur sehr wenig Diebe gegeben. 180

 


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